Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Kollektivität

Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Kollektivität

Eine Ver­an­stal­tungs­reihe der Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb fragt nach anti­se­mi­ti­schen Welt­bil­dern in gegen­wär­ti­gen Kunst­dis­kur­sen. Die Auf­takt­ver­an­stal­tung fin­det am 03.05.2023, 19.30 Uhr im BARBONCINO zwöl­phi statt.

Im Sep­tem­ber 2022 tra­ten zwei Ver­tre­ter des indo­ne­si­schen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruan­grupa eine Gast­pro­fes­sur an der Ham­bur­ger HfbK an. Seit­dem ist die Aus­ein­an­der­set­zung über die von Ruan­grupa ver­ant­wor­tete anti­se­mi­ti­sche Kunst­schau auch zu einem Streit in Ham­burg gewor­den. Bis­her gab es zwar ver­dienst­volle, aber ver­ein­zelte Pro­teste, zurück­hal­tende Ermah­nun­gen aus der Lan­des­po­li­tik sowie einige wenig ergie­bige Inter­views und Ver­an­stal­tun­gen mit den Ruangrupa-Leuten. Ins­ge­samt aber ist von Betrof­fen­heit oder gar (Selbst-)Kritik inner­halb des Ham­bur­ger Kunst- und Kul­tur­be­triebs wenig zu ver­neh­men. Woran liegt das – auch und gerade jen­seits des offen­sicht­lich unver­bes­ser­li­chen Ruangrupa-Kollektivs?

Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Ham­burg eine „Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb“ gegrün­det. In ihr haben sich in Kunst und Kul­tur Tätige zusam­men­ge­schlos­sen, die mit einer Ver­an­stal­tungs­reihe in das beredte Ham­bur­ger Schwei­gen inter­ve­nie­ren wol­len. Die Reihe unter­sucht anhand dreier für den gegen­wär­ti­gen Kunst­be­trieb zen­tra­ler Begriffe – Kol­lek­ti­vi­tät, Wider­stand und Soli­da­ri­tät – über wel­che Ein­falls­tore sich anti­se­mi­ti­sche Welt­bil­der im Kunst­dis­kurs immer wie­der ver­brei­ten können.

Die Reihe beginnt am 03.05. mit einer Ver­an­stal­tung zu „Kol­lek­ti­vi­tät“.

Die Redak­tion Untie­fen unter­stützt diese Inter­ven­tion (wie auch der Bag­rut e.V., die Untüch­ti­gen sowie der Textem-Verlag) und doku­men­tiert im Fol­gen­den den Ankün­di­gungs­text der Veranstaltung.

Wei­tere Infor­ma­tio­nen zu den fol­gen­den Ver­an­stal­tun­gen wer­den zu gege­be­ner Zeit hier auf Untie­fen und auf dem Insta­gra­m­ac­count der Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb veröffentlicht.


Zahl­rei­che anti­se­mi­ti­sche Dar­stel­lun­gen auf der Docu­menta 15 haben einen seit Jah­ren schwe­len­den Kon­flikt in die breite Öffent­lich­keit geholt – und alt­be­kannte Front­bil­dun­gen ver­schärft. Mitt­ler­weile kann ohne Über­trei­bung von einem Kul­tur­kampf gespro­chen wer­den. Gestrit­ten wird über eine ver­meint­li­che Kon­kur­renz zwi­schen der Erin­ne­rung an die Shoah und der Erin­ne­rung an deut­sche Kolo­ni­al­ver­bre­chen. Gestrit­ten wird nicht zuletzt auch über das jewei­lige Ver­hält­nis zu Israel. Spä­tes­tens durch die Beru­fung zweier Mit­glie­der des Künst­ler­kol­lek­tivs Ruan­grupa an die HFBK ist dies auch ein Ham­bur­ger Streit. Gerade im Kunst­feld wird er vehe­ment geführt. Das lässt die Frage auf­kom­men, ob zen­trale Begriffe in der aktu­el­len Selbst­be­schrei­bung künst­le­ri­scher Pra­xis nicht selbst ideo­lo­gi­sche Ele­mente ent­hal­ten, die gewollt oder unge­wollt anti­se­mi­ti­sche Welt­bil­der repro­du­zie­ren. Anhand der Begriffe Kol­lek­ti­vi­tät, Soli­da­ri­tät und Wider­stand stel­len sich die Gäste unse­rer drei­tei­li­gen Ver­an­stal­tungs­reihe die­ser wich­ti­gen, aber in der bis­he­ri­gen Debatte ver­nach­läs­sig­ten Frage.

Ers­ter Teil: Kol­lek­ti­vi­tät
03. Mai 2023 – 19:30 Uhr
BARBONCINO zwöl­phi

Soviel steht fest: Kol­lek­ti­vi­tät liegt im Trend. Noch nie gab es so viele künst­le­ri­sche Kol­lek­tive wie heute. Sie gewin­nen renom­mierte Preise, lei­ten Thea­ter, Bien­na­len und Groß­ereig­nisse wie die Docu­menta 15. Ihre Popu­la­ri­tät ver­dan­ken sie einem Ver­spre­chen: Basis­de­mo­kra­tisch und anti-hierarchisch, gerecht und inklu­siv sol­len sie sein, nah­bar und zum Mit­ma­chen anre­gend. Über glo­bale Gren­zen hin­weg und gleich­zei­tig lokal ver­bun­den gel­ten sie als Weg­wei­ser zu einer neuen soli­da­ri­schen Sharing-Ökonomie, von der alle pro­fi­tie­ren. Auf grund­le­gende Ver­än­de­run­gen der Gesell­schaft – so die ver­brei­tete Vor­stel­lung – reagie­ren heu­tige Kol­lek­tive mit einer grund­le­gen­den Ver­än­de­rung der Kunst. Sie inte­grie­ren poli­ti­schen Akti­vis­mus, um gesell­schaft­li­chen Fort­schritt anzu­sto­ßen. Aber geht diese Rech­nung auf? Wel­ches Welt­bild ent­wirft die Idee des Kol­lek­tivs in der zeit­ge­nös­si­schen Kunst? Was sind die pro­ble­ma­ti­schen Impli­ka­tio­nen der damit ver­bun­de­nen Vor­stel­lung von Gemein­schaft und kul­tu­rel­ler Identität?

Es dis­ku­tie­ren:

- Tina Turn­heim (Thea­ter­ma­che­rin, Insti­tut für Neue Soziale Plastik)

- Ole Frahm (Bild­theo­re­ti­ker, Comic­ex­perte und Mit­glied des Künst­ler­kol­lek­tivs Ligna)

- Patrice G. Pou­trus (His­to­ri­ker, TU Berlin)

- Hami­deh Kazemi (Men­schen­rechts­ak­ti­vis­tin)

mode­riert von Fabian Bechtle & Leon Kahane (Künst­ler, Forum demo­kra­ti­sche Kul­tur und zeit­ge­nös­si­sche Kunst)

Eine Ver­an­stal­tung von: FORUM DEMOCRATIC CULTURE CONTEMPORARY ART & Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb
Geför­dert von: Bun­des­zen­trale für poli­ti­sche Bil­dung
Unter­stützt von: bag­rut e.V. & Die Untüch­ti­gen & Stadt­ma­ga­zin Untie­fen & Tex­tem Verlag

Hamburgs Baseballschlägerjahre

Hamburgs Baseballschlägerjahre

Am 21. Dezem­ber jährt sich der Mord an Rama­zan Avcı in Ham­burg. Die Gewalt­tat steht auch für die zuge­spitz­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Migra­tion und Ras­sis­mus in der Bun­des­re­pu­blik wäh­rend der 1980er Jahre. Ras­sis­ti­sche Stra­ßen­ge­walt war bru­ta­ler Aus­druck die­ser Ent­wick­lung.  

Gedenk­ver­an­stal­tung für Rama­zan Avcı. Foto: Ramazan-Avcı-Initiative. 

Am 21. Dezem­ber 1985 war­tete der Arbei­ter Rama­zan Avcı mit sei­nem Bru­der und einem Freund an einer Bus­hal­te­stelle bei der S‑Bahnstation Land­wehr in Ham­burg. Es war Avcıs 26. Geburts­tag und die drei waren auf dem Nach­hau­se­weg. Als einige junge rechte Skin­heads, die sich vor dem Ein­gang einer nahe­ge­le­ge­nen Kneipe auf­hiel­ten, auf die tür­ki­schen Män­ner auf­merk­sam wur­den, beschlos­sen sie spon­tan, die War­ten­den anzu­grei­fen. Die erste Atta­cke konn­ten Avcı und seine Beglei­ter noch mit Reiz­gas abweh­ren, doch die laut Pres­se­be­rich­ten 30-köpfige Skin­head­gruppe kehrte kurz dar­auf bewaff­net zurück. Wäh­rend seine Beglei­ter sich in einen Lini­en­bus ret­ten konn­ten, rannte Avcı in Panik auf die Fahr­bahn, wo ihn ein Auto­fah­rer anfuhr. Den am Boden Lie­gen­den trak­tier­ten die Angrei­fer mit Knüp­peln. Er starb drei Tage spä­ter auf einer Ham­bur­ger Inten­siv­sta­tion an den Fol­gen eines Schädelbruchs.

Die Täter waren Mit­glie­der der berüch­tig­ten »Loh­brügge Army«. Diese Skin­head­grup­pie­rung, benannt nach einem Ham­bur­ger Stadt­teil, gehörte der Hoo­li­gan­szene um den HSV an. Für viele Beobachter:innen war sofort klar, dass es sich um eine ras­sis­ti­sche Gewalt­tat han­delte. Der Vor­fall war nicht der erste rechte Mord in Ham­burg und Umge­bung. Im August 1980 hat­ten neo­na­zis­ti­sche Terrorist:innen bei einem Brand­an­schlag in der Hals­ke­straße zwei Geflüch­tete aus Viet­nam getö­tet. In Nor­der­stedt, einem Vor­ort Ham­burgs, hatte am 19. Juni 1982 ein ras­sis­ti­scher Mob den 26-jährigen Tev­fik Gürel ange­grif­fen und töd­lich ver­letzt. Wie­derum rechte Skin­heads hat­ten am 24. Juli 1985 in Hamburg-Langenhorn den jun­gen Bau­ar­bei­ter Meh­met Kay­makçı auf bru­tale Weise erschlagen.

Rama­zan Avcı. Foto: Ramazan-Avcı-Initiative. 

Indes folgte erst auf den Mord an Rama­zan Avcı im Dezem­ber 1985 eine auf­brau­sende öffent­li­che Reak­tion. Inten­sive Pres­se­be­richt­erstat­tung, Bür­ger­schafts­de­bat­ten und eine Demons­tra­tion anläss­lich des Todes Avcıs deu­ten dar­auf hin, dass die Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Migra­tion und Ras­sis­mus eine neue Qua­li­tät erlangt hat­ten. Tat­säch­lich bro­delte es in Ham­burg und der Bun­des­re­pu­blik der 1980er Jahre um diese The­men, wäh­rend ras­sis­ti­sche Gewalt­ta­ten zunah­men. Im wei­te­ren Ver­lauf des Jahr­zehnts spitzte sich die­ser wider­sprüch­li­che Dis­kurs zu, zumal die Zuge­wan­der­ten mit ihren Stim­men gesell­schaft­lich mehr und mehr empor­dräng­ten und ihre Rechte einforderten.

Die doppelte Transformation der Bundesrepublik

Seit der ers­ten Hälfte der 1970er mach­ten die west­li­chen Län­der eine kri­sen­hafte Wand­lung durch, die den Beginn der neo­li­be­ra­len Epo­che mar­kierte. Mit der Abwick­lung wei­ter Teile der Indus­trie gal­ten die Arbeits­kräfte, die die Bun­des­re­gie­rung seit den 1950ern und 1960ern vor allem aus der Tür­kei, Grie­chen­land und Ita­lien ange­wor­ben hatte, als wirt­schaft­lich über­flüs­sig. Für große Teile der Öffent­lich­keit schie­nen sie außer­dem zuneh­mend die ver­meint­li­che eth­ni­sche Homo­ge­ni­tät Deutsch­lands zu stö­ren. »Über­frem­dung« war das ras­sis­ti­sche Schlag­wort der Stunde. Die Regie­run­gen Hel­mut Schmidts und Hel­mut Kohls ver­such­ten daher, die »Gastarbeiter:innen« mit Geld­prä­mien zur Rück­kehr in ihre Her­kunfts­län­der zu bewe­gen. Diese Rück­füh­rungs­po­li­tik ver­kehrte Kohls Parole »Deutsch­land ist kein Ein­wan­de­rungs­land« jedoch in ihr Gegen­teil. Vor die Wahl gestellt, mach­ten die meis­ten Arbeitsmigrant:innen die Bun­des­re­pu­blik zu ihrem dau­er­haf­ten Zuhause und hol­ten ihre Fami­lien nach. Hinzu kam eine wach­sende Zahl von Asyl­su­chen­den. Allein 1985 waren es 100.000 Anträge, auch wenn Bonn eine immer restrik­ti­vere Asyl­po­li­tik betrieb.

Im Jahr 1986 leb­ten in West­deutsch­land 4,5 Mil­lio­nen Men­schen ohne deut­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit. Sie soll­ten die deut­sche Gesell­schaft nach­hal­tig prä­gen, blie­ben als »Ausländer:innen« jedoch vor­erst Bürger:innen zwei­ter Klasse. Die Ras­sis­mus­welle die­ser Jahre ist also vor dem Hin­ter­grund einer Phase der dop­pel­ten Trans­for­ma­tion zu sehen. Ers­tens begann sich die Bun­des­re­pu­blik zu einer neo­li­be­ra­len Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft zu wan­deln, was starke sozio­öko­no­mi­sche Frik­tio­nen ver­ur­sachte. Von der hohen Arbeits­lo­sig­keit waren vor allem die »Gastarbeiter:innen« betrof­fen. Zwei­tens bil­dete sich das Land zuneh­mend als plu­ra­lis­ti­sche und libe­rale, aber wider­sprüch­li­che Ein­wan­de­rungs­ge­sell­schaft her­aus, die das tra­di­tio­nelle natio­nale Selbst­ver­ständ­nis herausforderte. 

Die Baseballschlägerjahre begannen vor 1990

Die Migra­ti­ons­ab­wehr der Bon­ner Regie­run­gen konnte sich der ras­sis­ti­schen Zustim­mung brei­ter Bevöl­ke­rungs­teile sicher sein. Diese Kon­junk­tur drückte sich beson­ders scharf in einer viel­sei­ti­gen rech­ten Mobi­li­sie­rung aus, die auch die Han­se­stadt erfasste. Dazu zähl­ten die erwähn­ten Gewalt­ta­ten, aber auch das Auf­tre­ten ver­schie­de­ner Orga­ni­sa­tio­nen. Im Jahr 1982 grün­dete sich aus dem Umfeld der NPD eine »Ham­bur­ger Liste Aus­län­der­stopp«, die bei den Bür­ger­schafts­wah­len antrat und ähn­li­chen Par­teien in ande­ren Bun­des­län­dern als Vor­bild diente. Die seit 1979 exis­tie­rende rechts­extreme »Frei­heit­li­che Deut­sche Arbei­ter­par­tei« (FAP) wurde 1983 vom bekann­ten Ham­bur­ger Neo­nazi Michael Küh­nen und den Anhän­gern sei­ner »Akti­ons­front Natio­na­ler Sozia­lis­ten« (ANS) unter­wan­dert. Die ANS, die die Behör­den im glei­chen Jahr ver­bo­ten hat­ten, rekru­tierte ihre Mit­glie­der wie­derum in der ham­bur­gi­schen Skin­head­szene, der auch die Mör­der Rama­zan Avcıs angehörten.

Avcı, Kay­makçı und Gürel waren nicht die ein­zi­gen Opfer sol­cher Gewalt­tä­ter. In  ver­schie­de­nen Ham­bur­ger Vier­teln waren Jugend­gangs aktiv, doch die Hoo­li­gan­szene um den HSV ragte als stramm rechts und beson­ders gefähr­lich her­aus. Eine Son­der­aus­stel­lung des HSV-Museums doku­men­tierte 2022 eine lange Chro­nik rech­ter Über­griffe und Gewalt­ex­zesse, für die diese män­ner­bün­di­schen Fan­grup­pie­run­gen ver­ant­wort­lich waren. Die Morde an Avcı und Kay­makçı sowie die Tötung des Bre­mer Fuß­ball­fans Adrian Maleika bil­de­ten trau­rige Höhepunkte.

Auf­ruf zur Gedenk­de­mons­tra­tion 1986. Quelle: Archiv Info­la­den Schwarzmarkt.

Es ist jedoch davon aus­zu­ge­hen, dass die Chro­nik nur einen Bruch­teil der Taten doku­men­tiert. Sowohl Flug­blät­ter anti­fa­schis­ti­scher Grup­pen als auch Berichte eta­blier­ter Medien aus den 1980er Jah­ren ver­mit­teln ein Bild all­täg­li­cher Gefahr für Men­schen, die als »Ausländer:innen« iden­ti­fi­ziert wur­den. »Skin­heads schlu­gen wie­der zwei Aus­län­der nie­der« titelte das Ham­bur­ger Abend­blatt am 2. Januar 1986 und am 13. Januar: »Skin­heads über­fie­len Tür­ken in der S‑Bahn.« Im Archiv des Spie­gels sind ver­gleich­bare Berichte ein­seh­bar. In den Vor­jah­ren sah die Situa­tion nicht anders aus. In einem »Bericht über (neo)faschistische und anti­fa­schis­ti­sche Akti­vi­tä­ten in Ham­burg« aus der Feder einer Anti­fa­gruppe hieß es 1984: »Hamburg-Bergedorf 20.5.: 50 Skins prü­geln sich mit Tür­ken am Bhf. Ein Türke wird mit einem Holz­knüp­pel schwer ver­letzt.« Eine ähn­li­che Antifa-Recherche von 1983 berich­tet: »29.11. Das ›Broad­way‹ zeigt den Film ›Under Fire‹. Die ›Savage Army‹ lief auf, beschimpfte Aus­län­der und Linke und ver­prü­gelte eine chi­le­ni­sche Frau.«[1] Vor weni­gen Jah­ren wurde der Begriff »Base­ball­schlä­ger­jahre« geprägt, um die Hoch­phase rech­ter Stra­ßen­ge­walt im Deutsch­land der 1990er zu beschrei­ben. Die­ser Aus­druck ist auch für Ham­burg im Jahr­zehnt vor der Wende angemessen.

Migrantische Selbstorganisierung gegen Rassismus

Gegen­über der migra­ti­ons­feind­li­chen Poli­tik sowie dem Stra­ßen­ter­ror regte sich jedoch zuneh­mend Wider­stand. Auf Sankt Pauli hatte sich am 26. Mai 1982 die tür­ki­sche Arbei­te­rin und Dich­te­rin Semra Ertan aus Pro­test gegen die­sen Ras­sis­mus selbst ent­zün­det. Ein weni­ger tra­gi­scher Aus­druck des Auf­be­geh­rens war die Avcı-Demo am 11. Januar 1986, zu der ein brei­tes Bünd­nis von 23 deutsch-türkischen Orga­ni­sa­tio­nen und Gewerk­schaf­ten auf­ge­ru­fen hatte. Je nach Quelle folg­ten zwi­schen 10.000 und 15.000 Men­schen dem Auf­ruf, was eben­falls auf den gro­ßen gesell­schaft­li­chen Stel­len­wert des Vor­falls hin­weist. Die zahl­rei­chen tür­kisch­spra­chi­gen Trans­pa­rente und Papp­schil­der, die die Presse doku­men­tierte, bewie­sen den hohen Anteil tür­ki­scher bezie­hungs­weise migran­ti­scher Per­so­nen an dem Pro­test. Die­ser wandte sich gegen »Aus­län­der­feind­lich­keit«, wie Ras­sis­mus sei­ner­zeit genannt wurde, und for­derte die gene­relle Gleich­stel­lung der Immigrierten.

Migran­ti­sche Selbst­or­ga­ni­sie­rung war in der Bun­des­re­pu­blik seit den 1970er Jah­ren auf­ge­kom­men und spielte über­dies eine wich­tige Rolle in indus­tri­el­len Arbeits­kämp­fen der neo­li­be­ra­len Trans­for­ma­ti­ons­phase, bei­spiels­weise bei der spek­ta­ku­lä­ren Beset­zung der HDW-Werft im Ham­bur­ger Hafen 1983. Diese Aneig­nung poli­ti­scher Sub­jek­ti­vi­tät erhielt nach dem Mord an Avcı neuen Schwung. Organisator:innen des Pro­test grün­de­ten nun das »Bünd­nis Tür­ki­scher Ein­wan­de­rer«, aus dem zehn Jahre spä­ter die »Tür­ki­sche Gemeinde Deutsch­land« her­vor­ge­hen sollte. In der Tat spie­gelte sich diese eman­zi­pa­tive Ent­wick­lung auch im Bereich der Jugend­gangs. Die »Champs« auf Sankt Pauli waren etwa stark migran­tisch geprägt und setz­ten sich gegen die Über­griffe der Skin­head­ban­den zur Wehr.

Die Wahr­neh­mung der Betrof­fe­nen geriet nach Avcıs Tod wenigs­tens vor­rü­ber­ge­hend in den Fokus der Medien. Den Zuschauer:innen des Ham­burg Jour­nals des Nord­deut­schen Rund­funks erklärte ein jun­ger tür­ki­scher Mann Anfang 1986 zum Bei­spiel: »Ich hatte so viele Schei­ben in der S‑Bahn gese­hen und so, wo die da geschrie­ben haben, ›Scheiß­tür­ken, raus aus Deutsch­land‹. Also ehr­lich gesagt, ich trau mich nicht … Ich habe Angst in Deutsch­land zu leben, denn ich habe Angst, dass wir irgend­wann mal aus Deutsch­land raus­ge­schmis­sen wer­den und dass wir über­haupt keine Rechte haben wie ein Deutscher.«

Widersprüchliche Liberalisierung

Dass Reporter:innen Betrof­fene zu Wort kom­men lie­ßen, hing auch damit zusam­men, dass die west­deut­sche Gesell­schaft zumin­dest teil­weise eine neue Sen­si­bi­li­tät gegen­über Ras­sis­mus und rech­ter Gewalt ent­wi­ckelt hatte. Diese blieb jedoch wider­sprüch­lich. So sam­melte die Pres­se­stelle des Ham­bur­ger Senats nach der Tat vom 21. Dezem­ber 1985 hun­derte ein­schlä­gige Pres­se­ar­ti­kel größ­ten­teils Ham­bur­ger Zei­tun­gen, die meis­ten davon aus dem Jahr 1986. Die Medien berich­te­ten inten­siv zum Vor­fall, zu »Aus­län­der­feind­lich­keit« gene­rell sowie über Skin­heads. Deren Gewalt gegen migran­ti­sche Grup­pen und linke Punks framte man jedoch häu­fig als unpo­li­ti­sche Auseinandersetzungen.

Ange­sichts der inten­si­ven Bericht­erstat­tung war es kein Wun­der, dass sich auch die Bür­ger­schaft mit Avcıs Tod befasste. Die Frak­tio­nen der »Grün-Alternativen Liste« (GAL) und der SPD berie­fen in der Ple­nar­sit­zung am 15. Januar 1986 eine Aktu­elle Stunde ein, in der es zu hit­zi­gen Schlag­ab­täu­schen kam. Es ent­sprach einer unter Lin­ken und Migrant:innen weit­ver­brei­te­ten Auf­fas­sung, wenn die GAL ras­sis­ti­sche Über­griffe in direk­ten Zusam­men­hang mit der bun­des­deut­schen Migra­ti­ons­po­li­tik stellte: »Die Mord­ab­sicht der Skin­heads ist gegen die Lebens­in­ter­es­sen der Aus­län­der in die­ser Stadt gerich­tet. Das Son­der­ge­setz für Aus­län­der, die Lager­hal­tung von Men­schen und die Abschie­be­pra­xis sind es ebenso.« Der Erste Bür­ger­meis­ter Klaus von Dohn­anyi (SPD) deu­tete die anhal­ten­den ras­sis­ti­schen Angriffe einige Tage spä­ter hin­ge­gen als Schlä­ge­reien zwi­schen Jugend­li­chen um und ver­harm­loste sie auf diese Weise. Die Betref­fen­den rief er dazu auf, »diese Kette der Gewalt abzu­rei­ßen. Ham­burg will Frie­den. Ich weiß wohl: diese Vor­fälle sind nicht typisch für das Zusam­men­le­ben der Deut­schen und Tür­ken in Ham­burg. […] Aber eine böse Tat droht die nächste hervorzurufen.«

Zu der erwähn­ten, in den 1970er Jah­ren ein­set­zen­den Trans­for­ma­tion gehör­ten schwere Kämpfe der Mehr­heits­ge­sell­schaft um ihr wich­ti­ger wer­den­des Selbst­ver­ständ­nis als libe­rale Demo­kra­tie. So kri­ti­sier­ten links­li­be­rale Stim­men die restrik­tive und dis­kri­mi­nie­rende Aus­län­der­po­li­tik der Bun­des­re­gie­rung mas­siv. Auch für die radi­kale Linke wurde Ras­sis­mus und Rechts­extre­mis­mus zu bestim­men­den The­men. Der Dis­kurs war extrem pola­ri­siert und domi­nierte die Innen­po­li­tik in der zwei­ten Hälfte der 1980er. Kaum zufäl­lig fie­len in diese Phase erin­ne­rungs­kul­tu­relle Weg­mar­ken wie der »His­to­ri­ker­streit« oder die Aner­ken­nung »ver­ges­se­ner Opfer« des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Ein wei­te­rer Grad­mes­ser ist der enorme Erfolg von Gün­ther Wal­raffs Buch »Ganz unten«, das zwei Monate vor dem Über­fall auf Rama­zan Avcı erschie­nen war und die Lage tür­ki­scher Arbeitsmigrant:innen skan­da­li­sierte. Nach zwei Wochen waren 650.000, nach vier Mona­ten vier Mil­lio­nen Exem­plare ver­kauft. Wall­raff sprach dann auch bei der Groß­demo am 11. Januar 1986 in Ham­burg. Wei­ter­hin fiel der Start einer anti­ras­sis­ti­schen Kam­pa­gne des Deut­schen Gewerk­schafts­bun­des unter der Parole »Mach‘ mei­nen Kum­pel nicht an« in den Auf­ruhr um den Mord an Avcı.

Diese Libe­ra­li­sie­rungs­ten­den­zen in Gesell­schaft und Geschichts­po­li­tik waren kei­nes­wegs ein­deu­tig und unum­strit­ten, son­dern kon­kur­rier­ten etwa mit einem erin­ne­rungs­kul­tu­rel­len Hype um »Preu­ßen«. Nicht zuletzt stand die pro­gres­sive Ent­wick­lung dem all­täg­li­chen und dem insti­tu­tio­nel­len Ras­sis­mus gegen­über, der sich auch im Urteil gegen die Mör­der Rama­zan Avcıs zeigte: Das Land­ge­richt Ham­burg ver­ur­teilte die Haupt­tä­ter im Juli 1986 zwar zu mehr­jäh­ri­gen Gefäng­nis­stra­fen wegen Tot­schlags, wei­gerte sich jedoch eine ras­sis­tisch moti­vierte Mord­ab­sicht anzu­er­ken­nen. Die Folge war ein empör­ter Tumult im Gerichtssaal.

Auf Betrei­ben der Ramazan-Avcı-Initiative 2012 vom Ham­bur­ger Senat ein­ge­weih­ter Gedenk­stein. Foto: privat. 

Trotz der inten­si­ven Aus­ein­an­der­set­zung um den Mord im Früh­jahr 1986, scheint diese Geschichte – wie der Ter­ror in der Hals­ke­straße – eben­falls im Schat­ten der extrem rech­ten Mobi­li­sie­run­gen der 1990er zu ste­hen. In der Tat ist die ras­sis­ti­sche Gewalt in West­deutsch­land vor 1990 heute gene­rell weit­ge­hend ver­drängt wor­den. In der Regel fokus­siert die Geschichte des rech­ten Ter­rors in der Bun­des­re­pu­blik auf die Zeit nach der »Wie­der­ver­ei­ni­gung« und die neuen Bun­des­län­der, was erin­ne­rungs­kul­tu­rell pro­ble­ma­tisch ist. So erschei­nen ras­sis­ti­sche Mobi­li­sie­run­gen zuvör­derst als ost­deut­sches Phä­no­men, wäh­rend die Kon­ti­nui­tät des bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Rechts­extre­mis­mus hin­ter der Nebel­wand der Epo­chen­grenze ver­schwin­det. Die west­deutsch domi­nierte Ber­li­ner Repu­blik kann unan­ge­nehme Aspekte der natio­na­len Ver­gan­gen­heit damit als Pro­blem post­so­zia­lis­ti­scher »Ossis« externalisieren.

Auch des­we­gen ist eine umfas­sende Gedenk­kul­tur um die Opfer rech­ter Gewalt umso wich­ti­ger. Anschub, die Erin­ne­rung an den Mord an Avcı wenigs­tens lokal wach­zu­ru­fen, kam »von unten«, aus den Rei­hen eines migran­ti­schen Zusam­men­hangs. Nach­dem sich 2010 eine Geden­kinitia­tive gegrün­det hatte, weihte der Ham­bur­ger Senat 2012 auf deren Betrei­ben einen Gedenk­stein ein und benannte den Platz bei der S‑Bahnstation Land­wehr nach Rama­zan Avcı fei­er­lich um. Jähr­lich am 21. Dezem­ber hält die Initia­tive eine Gedenk­ver­an­stal­tung am Ort des Gesche­hens, bei der Ange­hö­rige von Rama­zan Avcı spre­chen. Auch an den Mord an Meh­met Kay­makçı erin­nert seit Som­mer 2021 ein Mahn­mal im Kiwittsmoor-Park in Lan­gen­horn, jedoch besuch­ten nur rela­tiv wenige Men­schen die Ein­wei­hungs­ze­re­mo­nie. Das Geden­ken an die Ham­bur­ger Base­ball­schlä­ger­jahre erhält noch nicht die Auf­merk­sam­keit, die es verdient. 

Felix Mat­heis, Dezem­ber 2022. 

Der Autor ist His­to­ri­ker in Ham­burg. Auf Untie­fen schrieb er bereits über die Rolle Ham­bur­ger Kauf­leute im Natio­nal­so­zia­lis­mus sowie über den ras­sis­ti­schen Ter­ror in der Ham­bur­ger Hals­ke­straße im Jahr 1980.


[1] Die Doku­mente fin­den sich im Archiv des Ham­bur­ger Info­la­dens Schwarz­markt, Signa­tur A 5.1.1.

45 Jahre Frauenhäuser in Hamburg

45 Jahre Frauenhäuser in Hamburg

Im August 1977 eröff­nete das erste der auto­no­men Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser. Seit­dem sind sie uner­läss­lich für den Schutz vor Gewalt. Doch die Plätze sind rar und die Finan­zie­rung von poli­ti­schem Wohl­wol­len abhän­gig. Aus einer femi­nis­ti­schen Pra­xis sind pre­käre Insti­tu­tio­nen gewor­den. Anläss­lich des Inter­na­tio­nen Tags gegen Gewalt an Frauen fragt unsere Autorin eine Mit­ar­bei­te­rin: Wie geht es den Ham­bur­ger Frau­en­häu­sern heute?

Die For­de­rung bleibt bestehen. Trans­pa­rent auf einer »One Billion-Rising«-Aktion gegen Gewalt an Frauen 2014 in Ham­burg. Foto: www.sommer-in-hamburg.de Lizenz: CC BY-SA 2.0

Für die Frau­en­be­we­gung der 1970er-Jahre war die Orga­ni­sie­rung gegen Gewalt gegen Frauen zen­tra­ler Bestand­teil der poli­ti­schen Arbeit. Gewalt in der Bezie­hung galt zuvor lange als »Ein­zel­schick­sal«. Die Frauen der zwei­ten Welle des Femi­nis­mus the­ma­ti­sier­ten diese männ­li­che Gewalt durch Selbst­er­fah­rungs­grup­pen und Orga­ni­sie­rung als struk­tu­rel­les Pro­blem von Frauen im Patri­ar­chat. Auch in Ham­burg orga­ni­sier­ten sich im Jahr 1976 Frauen, um gegen geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt zu kämp­fen. Sie grün­de­ten den Ver­ein Frauen hel­fen Frauen e.V. und erschu­fen inner­halb eines Jah­res das erste auto­nome Ham­bur­ger Frau­en­haus. Das Selbst­ver­ständ­nis damals: Das Frau­en­haus ist ein Teil der Frau­en­be­we­gung und soll unab­hän­gig sein – alle Frauen ent­schei­den gemein­sam, was pas­sie­ren soll.

Da die Finan­zie­rung noch nicht staat­lich abge­si­chert war, muss­ten die Frauen zunächst alles selbst machen – reno­vie­ren, Möbel orga­ni­sie­ren, Spen­den sam­meln, das Haus schüt­zen. So erin­nert sich auch eine Zeit­zeu­gin in der fil­mi­schen Doku­men­ta­tion »Juli 76 – Das Pri­vate ist Poli­tisch« an die ers­ten Jahre des Hau­ses: »Selbst­or­ga­ni­sa­tion. Selbst­be­stim­mung. Das ist auch eine Uto­pie gewe­sen.« Das Frau­en­haus selbst war femi­nis­ti­sche Praxis.

Selbstorganisation und Professionalisierung

Die Selbst­or­ga­ni­sa­tion stieß jedoch auch an zeit­li­che, finan­zi­elle und emo­tio­nale Gren­zen, wie die ehe­ma­lige Redak­teu­rin der Ham­bur­ger Frau­en­zei­tung Dr. Andrea Lass­alle in einer Chro­nik der Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser im digi­ta­len deut­schen Frau­en­ar­chiv nach­zeich­net. Inner­halb der Frau­en­be­we­gung wur­den daher Debat­ten um die Orga­ni­sie­rung und Struk­tur der Frau­en­häu­ser geführt, die eng ver­zahnt waren mit den dama­li­gen poli­ti­schen und theo­re­ti­schen Ana­ly­sen um (unbe­zahlte) Sor­ge­ar­beit, Hier­ar­chie­frei­heit und Unabhängigkeit.

Mitt­ler­weile wur­den Frau­en­häu­ser durch bezahlte Mit­ar­bei­te­rin­nen aus der Sozia­len Arbeit pro­fes­sio­na­li­siert. Dadurch ent­stand ein Wider­spruch zwi­schen Selbst­wirk­sam­keit und Pro­fes­sio­na­li­tät, der im All­tag der Mit­ar­bei­te­rin­nen und Bewoh­ne­rin­nen bis heute eine Rolle spielt. Im Gespräch mit Untie­fen berich­tet eine Mit­ar­bei­te­rin eines Frau­en­hau­ses in der Metro­pol­re­gion Ham­burg, die Pro­fes­sio­na­li­sie­rung sei grund­sätz­lich der anspruchs­vol­len Arbeit mit Frauen und Kin­dern aus aku­ten Gewalt­si­tua­tio­nen ange­mes­sen. In vie­len auto­no­men Frau­en­häu­sern über­neh­men aller­dings auch die Bewoh­ne­rin­nen selbst noch Teile der täg­li­chen Arbeit, bei­spiels­weise die nächt­li­che Aufnahme.

In Ham­burg ist dafür seit 2016 die 24/7, die zen­trale Not­auf­nahme für die Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser, zustän­dig. Die Mit­ar­bei­te­rin­nen neh­men die akut betrof­fe­nen Frauen auf und ver­mit­teln sie dann an Häu­ser wei­ter. Dies ent­laste die Bewoh­ne­rin­nen von den nächt­li­chen und wöchent­li­chen Not­diens­ten, so die Mit­ar­bei­te­rin. Gleich­wohl könne es den Bewoh­ne­rin­nen auch Stärke zurück­ge­ben, einen Teil bei­zu­tra­gen und andere Frauen zu unter­stüt­zen. Aller­dings über­neh­men die Bewoh­ne­rin­nen diese Auf­ga­ben nicht in ers­ter Linie auf­grund die­ser ermäch­ti­gen­den Wir­kung, son­dern schlicht­weg, weil das Per­so­nal fehle.

Kein Frau­en­haus, son­dern der Sitz von Frauen hel­fen Frauen e.V., der ande­ren Trä­ger­ver­eine der auto­no­men Frau­en­häu­ser sowie der Koor­di­na­ti­ons­stelle der 24/7 in der Aman­da­straße.
Foto: Dirtsc Lizenz: CC BY-SA 3.0

Die befürch­tete Hier­ar­chie zwi­schen pro­fes­sio­na­li­sier­ten und ehren­amt­lich arbei­ten­den Frauen in den Häu­sern konnte trotz basis­de­mo­kra­ti­scher Struk­tur nicht ver­mie­den wer­den. Da die Frau­en­häu­ser mitt­ler­weile öffent­lich finan­ziert und tarif­lich gebun­den sind, wer­den auch die Anfor­de­run­gen an die Qua­li­fi­ka­tio­nen der Mit­ar­bei­te­rin­nen höher – und schlie­ßen damit viele Frauen, auch ehe­ma­lige Bewoh­ne­rin­nen, aus. Doch gerade diese Frauen brin­gen oft sowohl eigene Erfah­rung mit part­ner­schaft­li­cher Gewalt und dem Leben im Frau­en­haus mit als auch Sprach­kennt­nisse, die dem Leben im Haus zuträg­lich sein könn­ten. Die geringe Aner­ken­nung aus­län­di­scher Abschlüsse in der Sozia­len Arbeit und die struk­tu­relle Ungleich­heit im Bil­dungs­sys­tem in Deutsch­land tra­gen dazu bei, dass die Mit­ar­beit im Frau­en­haus nicht allen glei­cher­ma­ßen zugäng­lich ist – und die Teams ihrem Anspruch an Diver­si­tät nicht immer gerecht wer­den können.

Feministische Debatten in der Frauenhauspraxis

Mit dem Auf­tre­ten anti­ras­sis­ti­scher Dis­kurse an den Uni­ver­si­tä­ten und in der femi­nis­ti­schen Szene ent­brann­ten auch inner­halb der Frau­en­häu­ser Debat­ten über Ras­sis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung, im Zuge derer mit Quo­tie­run­gen in den Teams und bei den Auf­nah­men expe­ri­men­tiert wurde. Weni­ger dis­ku­tiert wurde hin­ge­gen jah­re­lang das hot topic der aktu­el­len femi­nis­ti­schen Debat­ten: Was ist eine Frau? Bis vor weni­gen Jah­ren, so eine Mit­ar­bei­te­rin, war die Dis­kus­sion darum, was Geschlecht eigent­lich ist, in Frau­en­häu­ser nicht anschluss­fä­hig. Dies ändert sich jedoch der­zeit, ins­be­son­dere durch jün­gere Kolleginnen.

Die etwa in der Debatte um das »Selbst­be­stim­mungs­ge­setz« geäu­ßerte Befürch­tung eini­ger Femi­nis­tin­nen, Frau­en­schutz­räume könn­ten unter­lau­fen wer­den, wenn Geschlecht an eine emp­fun­dene Iden­ti­tät statt an kör­per­li­che Merk­male geknüpft ist, erscheint ange­sichts des von der Mit­ar­bei­te­rin beschrie­be­nen Frau­en­haus­all­tags weni­ger eine prak­ti­sche als viel­mehr eine theo­re­ti­sche Frage zu sein: »Die Frau kommt – die kann mir auch irgend­was erzäh­len, wer sie ist – sie muss mir auch nicht ihren Perso zei­gen. So arbei­ten wir nicht. Die Frau erzählt, und wenn sie von häus­li­cher Gewalt betrof­fen ist, dann wird sie auf­ge­nom­men.« Der recht­li­che Per­so­nen­stand spielt in der Pra­xis keine Rolle. Jede Auf­nahme ist außer­dem eine Ein­zel­fall­ent­schei­dung und berück­sich­tigt die Erfah­run­gen der Bewoh­ne­rin­nen. Und: nicht jede sei für diese Art des Zusam­men­woh­nens geeig­net, auch das spielt bei den Auf­nah­me­ge­sprä­chen eine Rolle.

In Ham­burg wurde zudem vor zwei Jah­ren das 6. Frau­en­haus gegrün­det, das sich expli­zit als Schutz­raum für trans Frauen posi­tio­niert und die seit Jah­ren gän­gige Pra­xis unter­mau­ert.  Viel wich­ti­ger als die theo­re­ti­sche Defi­ni­tion von Geschlecht erscheint jedoch die Frage, ob in den Häu­sern über­haupt genug Plätze vor­han­den sind. Zu Beginn der Pan­de­mie fehl­ten in Ham­burg rund 200 Frau­en­haus­plätze.

Zu wenige Plätze, zu wenig Geld, zu wenig Personal

Obwohl aktu­elle inner­fe­mi­nis­ti­sche Debat­ten durch­aus zum Thema wer­den, nimmt das all­täg­li­che Rotie­ren, auch auf­grund feh­len­den Per­so­nals, in den Häu­sern einen Groß­teil der Zeit ein. Die Art und Weise der öffent­li­chen Finan­zie­rung unter­schei­det sich je nach Bun­des­land und Gemeinde. Wäh­rend in Ham­burg, Schleswig-Holstein und Ber­lin die auto­no­men Frau­en­häu­ser durch eine Pau­schale pro Platz im Haus finan­ziert wer­den, ist die Finan­zie­rung in ande­ren Bun­des­län­dern direkt an die betrof­fene Frau gekop­pelt. Da sie in eini­gen Län­dern über das Sozi­al­hil­fe­ge­setz abge­wi­ckelt wird, sind Frauen mit eige­nem Ein­kom­men, Stu­den­tin­nen und Frauen mit unsi­che­rem Auf­ent­halts­sta­tus davon aus­ge­schlos­sen. Diese Frauen wer­den, wenn mög­lich, in Län­dern mit Pau­schal­fi­nan­zie­rung unter­ge­bracht, da sie die Plätze sonst selbst zah­len müss­ten – vor­aus­ge­setzt, Auf­ent­halts­be­stim­mun­gen oder der Job las­sen einen Umzug zu und es sind freie Plätze vor­han­den. Die Zen­trale Infor­ma­ti­ons­stelle der auto­no­men Frau­en­häu­sern (ZIF) for­dert dem­entspre­chend eine bun­des­weite ein­zel­fall­un­ab­hän­gige Finan­zie­rung der Frauenhäuser.

Doch auch die pau­schale Finan­zie­rung bringt Schwie­rig­kei­ten mit sich. Der Erhalt sowie die Aus­wei­tung der Plätze sind vom Wohl­wol­len der jewei­li­gen Lan­des­re­gie­run­gen abhän­gig. Um einer dro­hen­den Schlie­ßung zu ent­ge­hen, wur­den im Jahr 2006 das 1. und das 3. Auto­nome Frau­en­haus zusam­men­ge­legt. Der CDU-geführte Senat hatte Kür­zun­gen beschlos­sen, da die Ver­sor­gungs­lage in Ham­burg bes­ser sei als in ande­ren Großstädten.

Femi­nis­ti­sche Per­fo­mance »Der Ver­ge­wal­ti­ger bist du« des Kol­lek­tivs Las Tesis aus Argen­ti­nien, die mitt­ler­weile auch in Ham­burg regel­mä­ßig zum 25. Novem­ber im Rah­men von Demons­tra­tio­nen auf­ge­führt wird. Foto: Paulo Sla­chevsky Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

Männergewalt und Femizide

Laut behörd­li­cher Aus­künfte wur­den in Ham­burg im lau­fen­den Jahr ins­ge­samt 16 Frauen getö­tet, sechs davon von ihrem (Ex-)Partner, bei den zehn ande­ren ist die Ein­ord­nung unklar. Die Zahl der Femi­zide, also der Tötung von Frauen und Mäd­chen auf­grund ihres Geschlechts, ist in jedem Fall alar­mie­rend. Aller­dings ist Femi­zid im deut­schen Recht kein eige­ner Tat­be­stand, er wird unter Part­ner­schafts­ge­walt sub­su­miert. Stu­dien und genaue Fall­zah­len zu Femi­zi­den feh­len ent­spre­chend im deutsch­spra­chi­gen Raum weit­ge­hend. Die frau­en­po­li­ti­sche Spre­che­rin der Links­frak­tion in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft Cansu Özd­emir kri­ti­sierte daher jüngst den Senat für seine Wei­ge­rung, eine Unter­su­chung zu Femi­zi­den in Ham­burg als »nötige wis­sen­schaft­li­che Basis für ein ziel­ge­rich­te­tes und wir­kungs­vol­les Prä­ven­ti­ons­kon­zept« in Auf­trag zu geben.

Bewoh­ne­rin­nen und ehe­ma­li­gen Bewoh­ne­rin­nen von Frau­en­häu­sern steht die Gefahr, Opfer eines Femi­zids zu wer­den, beson­ders deut­lich vor Augen. 2018 wurde die 42-Jährige Juliet H. von ihrem Expart­ner ermor­det. Nach­dem sie in einem Ham­bur­ger Frau­en­haus Schutz gesucht hatte, zog sie mit ihren Kin­dern in eine eigene Woh­nung, wo sie von ihrem Exmann getö­tet wurde. Doch nicht nur für die Bewoh­ne­rin­nen sind sol­che Fälle alar­mie­rend. Es setzt auch die Mit­ar­bei­te­rin­nen enorm unter Druck, die mit knap­pen Res­sour­cen und staat­li­chen Hür­den kämp­fen, um den Frauen Schutz und eine Per­spek­tive zu bieten.

Väter­rechte ste­hen über dem Schutz von Frauen und ihren Kin­dern. Die Ver­än­de­run­gen im Fami­li­en­recht der letz­ten Jahre machen die Situa­tion von Frauen aus Gewalt­be­zie­hun­gen gefähr­li­cher. Die Zeit unmit­tel­bar nach der Tren­nung vom gewalt­tä­ti­gen Part­ner birgt das höchste Risiko, Opfer eines (ver­such­ten) Femi­zids zu wer­den. Umso wich­ti­ger ist dann ein unkom­pli­zier­ter Zugang zu einem Frau­en­haus. Die­ser Schutz wird aller­dings durch das fami­li­en­recht­lich ange­strebte Wech­sel­mo­dell untergraben.

Das von der jet­zi­gen Bun­des­re­gie­rung in den Mit­tel­punkt von Sorge- und Umgangs­recht gestellte Wech­sel­mo­dell soll eigent­lich zu einer gleich­be­rech­tig­ten Auf­tei­lung der Erzie­hung und Ver­ant­wor­tung für gemein­same Kin­der füh­ren. Es bedarf jedoch einer Kom­mu­ni­ka­tion auf Augen­höhe, um die nöti­gen Abspra­chen für die­ses Arran­ge­ment zu tref­fen. Übt der Vater Gewalt über die Mut­ter aus, ist diese Augen­höhe offen­sicht­lich nicht gege­ben. Aus der Pra­xis berich­tet die Mit­ar­bei­te­rin, dass dem Vater durch das Umgangs­recht in die­sen Fäl­len ermög­licht wird, wei­ter­hin Kon­trolle und Gewalt aus­zu­üben. Das Wech­sel­mo­dell steht des­halb bei Femi­nis­tin­nen und Initia­ti­ven für Allein­er­zie­hende Müt­ter in der Kri­tik.

Gerichte ord­nen sogar bei Müt­tern, die im Frau­en­haus leben, das Wech­sel­mo­dell an. Die Mit­ar­bei­te­rin des Frau­en­hau­ses beschreibt: »Wenn die [Frau] Kin­der hat, geht’s sofort los mit Kon­takt zu Jugend­amt, Kon­takt zu Anwäl­ten, dann wird irgend­wer ver­su­chen sofort das Auf­ent­halts­be­stim­mungs­recht zu bean­tra­gen, es wer­den Sofort­um­gänge in die Wege gelei­tet mit den gewalt­tä­ti­gen Vätern – und das ist krass.«

Die Gerichte gin­gen ohne wei­te­res davon aus, dass die Gewalt durch den Aus­zug der Mut­ter auf­ge­hört habe und also bei Ver­fah­ren zum Sorge- und Umgangs­recht nicht berück­sich­tigt zu wer­den brau­che. Die Müt­ter müss­ten daher irgend­wie Vor­keh­run­gen tref­fen, um dem gewalt­tä­ti­gen Mann die Kin­der zu über­ge­ben, ohne sich selbst in Gefahr zu brin­gen. Durch Per­so­nal­man­gel ist es den Mit­ar­bei­te­rin­nen in den Frau­en­häu­sern oft nicht mög­lich, Frauen zu die­sen Über­ga­ben zu begleiten.

Nach 45 Jah­ren sind auto­nome Frau­en­häu­ser also zwar aner­kannte Insti­tu­tio­nen zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Aber ihre Exis­tenz bleibt pre­kär und die Situa­tion der Frauen selbst wird kom­ple­xer. Die Mit­ar­bei­te­rin und ihre Kol­le­gin­nen erwar­ten vom Senat und der Bun­des­re­gie­rung eine Erhö­hung der Anzahl der Plätze und eine bun­des­weite pau­schale Finan­zie­rung. Im Sorge- und Umgangs­recht müsse das Per­so­nal geschult wer­den, um den Gewalt­schutz kon­se­quen­ter berück­sich­ti­gen. Nicht die Frauen soll­ten im Haus Schutz suchen und dann um ihre Kin­der kämp­fen müs­sen, son­dern die Män­ner soll­ten bewei­sen, dass sie nicht gefähr­lich sind, schließt die Mitarbeiterin.

Lea Rem­mers

Die Autorin schrieb für Untie­fen bereits über die Her­bert­straße als Sym­bol männ­li­cher Herrschaft.

Kühne + Nagel: ›Arisierung‹, Sponsoring und Schweigen

Kühne + Nagel: ›Arisierung‹, Sponsoring und Schweigen

Am 27.11.2022 um 19 Uhr spre­chen wir mit Hen­ning Bleyl über die NS-Geschichte von K+N, ihre Nicht-Aufarbeitung durch Klaus-Michael Kühne, über die Debatte um das ›Arisierungs‹-Mahnmal in Bre­men und um den Kühne-Preis in Ham­burg. Eine Veranstaltungsankündigung.

Kühne ver­dankt sei­nen Reich­tum auch Möbel­trans­por­ten im NS. Er selbst steht gern im Ram­pen­licht, die »unschö­nen Dinge« aus der Ver­gan­gen­heit aber sol­len, geht es nach ihm, lie­ber im Dun­keln bleiben.

Die ursprüng­lich in Bre­men und Ham­burg behei­ma­tete Firma Kühne + Nagel (K+N), heute dritt­größ­tes Logis­tik­un­ter­neh­men der Welt, ist tief in die Ver­bre­chen des Natio­nal­so­zia­lis­mus ver­strickt. 1933 dräng­ten die Inha­ber Alfred und Wer­ner Kühne ihren jüdi­schen Teil­ha­ber, den Ham­bur­ger Kauf­mann Adolf Maass, aus dem Unter­neh­men. Spä­ter pro­fi­tierte K+N von den ›Ari­sie­run­gen‹ in den von Deutsch­land besetz­ten Län­dern: Im Zuge der soge­nann­ten ›M‑Aktion‹ trans­por­tierte K+N im gro­ßen Maß­stab Möbel aus den Woh­nun­gen geflo­he­ner und depor­tier­ter Jüdin­nen und Juden nach Deutschland.

Das Unter­neh­men hat diese Ver­stri­ckung lange ver­schwie­gen und nie auf­ge­ar­bei­tet; der Patri­arch und Fir­men­erbe Klaus-Michael Kühne wehrt sich bis heute dage­gen, seine Familien- und Unter­neh­mens­ge­schichte öffent­lich unter­su­chen zu las­sen. In Ham­burg, wo der 1944 in Ausch­witz ermor­dete Adolf Maass tätig war und wo lange Zeit der Haupt­sitz von K+N lag, erin­nert nichts an die Betei­li­gung des Unter­neh­mens an NS-Verbrechen. Zugleich ist Klaus-Michael Kühne in Ham­burg vor allem als wohl­tä­ti­ger Sport- und Kul­tur­mä­zen bekannt und omnipräsent.

Eines von Küh­nes Pres­ti­ge­pro­jek­ten ist das Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­val. Die Kühne-Stiftung war maß­geb­lich an sei­ner Grün­dung betei­ligt, fun­gierte seit­her als Haupt­spon­sor und finan­zierte den jähr­lich ver­ge­be­nen Klaus-Michael Kühne-Preis für das beste Roman­de­büt. Die­ses Jahr zogen zwei der für den Preis nomi­nier­ten Autor:innen ihre Teil­nahme zurück – mit Ver­weis auf die ver­wei­gerte Auf­ar­bei­tung der NS-Geschichte. Diese Rück­tritte sorg­ten Anfang Sep­tem­ber für einen Eklat, der einige öffent­li­che Kri­tik an Kühne nach sich zog, wäh­rend er und seine Stif­tung kei­ner­lei Ver­ständ­nis zeig­ten. Mit dem Rück­zug der Kühne-Stiftung aus der Finan­zie­rung des Fes­ti­vals und der Umbe­nen­nung des Prei­ses wurde die Debatte nach weni­gen Wochen vor­läu­fig beendet.

Die ent­schei­den­den Fra­gen, die der Eklat um den Kühne-Preis frei­ge­legt hat, sind aller­dings immer noch offen. Wir wol­len daher mit etwas zeit­li­chem Abstand zu die­sem Eklat dis­ku­tie­ren: Warum gibt es in Ham­burg kei­nen kri­ti­schen Umgang mit der NS-Geschichte von Kühne + Nagel? Wie könn­ten Erin­ne­rung, Auf­klä­rung und Kon­se­quen­zen aus­se­hen? Wie kann mit Klaus-Michael Kühne als Kul­tur­spon­sor umge­gan­gen wer­den? Wel­che Pro­bleme der pri­va­ti­sier­ten Kul­tur­för­de­rung ste­hen dahin­ter? Und was ist in der im Hin­blick auf diese Fra­gen in der öffent­li­chen Dis­kus­sion um den Kühne-Preis gut gelau­fen, was blieb unterbelichtet?

Vor­trag und Dis­kus­sion mit:

Hen­ning Bleyl, Jour­na­list und Initia­tor des Bre­mer ›Arisierungs‹-Mahnmals

Mode­ra­tion: Redak­tion des Blogs Untie­fen – Das Stadt­ma­ga­zin gegen Ham­burg (www.untiefen.org)

27.11.2022 | 19 Uhr | Semi­nar­raum der Fabri­que im Gän­ge­vier­tel (Valen­tins­kamp 34a, Zugang über Speck­straße) | Ein­tritt frei

Orga­ni­siert in Koope­ra­tion mit der Heinrich-Böll-Stiftung Ham­burg sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung Ham­burg, geför­dert durch die Lan­des­zen­trale für poli­ti­sche Bil­dung Hamburg.

Chronik eines Eklats

Chronik eines Eklats

Ges­tern, am 20. Okto­ber, wurde der ZDF-aspekte-Lite­ra­tur­preis an Sven Pfi­zen­maier ver­lie­hen. Mor­gen, am 22. Okto­ber, endet das dies­jäh­rige Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­val. Grund genug, auf den Eklat zurück­zu­bli­cken, den Pfi­zen­maier mit der Zurück­wei­sung sei­ner Nomi­nie­rung für den Kühne-Preis aus­löste. Was geschah – und was bleibt? Eine Chro­nik und Presseschau.

25./26. Juli 2022:

Acht Autor:innen (bzw. ihre Ver­lage) erhal­ten eine E‑Mail von der Redak­tion Untie­fen. Betreff: Klaus-Michael Kühne. In die­ser E‑Mail schil­dern wir den Nomi­nier­ten für den dies­jäh­ri­gen Klaus-Michael Kühne-Preis, der seit 2010 auf dem Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­val ver­ge­ben wird, die Hin­ter­gründe des Geld- und Namens­ge­bers Kühne: die tiefe Ver­stri­ckung des Unter­neh­mens Kühne+Nagel, das damals von Klaus-Michael Küh­nes Vater gelei­tet wurde, in den Natio­nal­so­zia­lis­mus sowie die beharr­li­che Wei­ge­rung Küh­nes, Ver­ant­wor­tung für diese Geschichte zu über­neh­men und sich um Auf­ar­bei­tung zu bemü­hen (siehe Kühne+Nagel, Logis­ti­ker des NS-Staats). Wir fra­gen die Autor:innen, wel­che Mög­lich­kei­ten des Umgangs mit die­ser Situa­tion sie für sich sehen, und bit­ten um Ant­wor­ten – sei’s off the record, sei’s als zur Ver­öf­fent­li­chung frei­ge­ge­be­nes Statement.

18. August 2022:

Sven Pfi­zen­maier, mit sei­nem im März erschie­ne­nen Roman Drau­ßen fei­ern die Leute für den Preis nomi­niert, zieht aus den Infor­ma­tio­nen über die Hin­ter­gründe Küh­nes seine Kon­se­quenz: Er teilt dem Lite­ra­tur­fes­ti­val intern und mit einer kur­zen schrift­li­chen Erklä­rung mit, dass er seine Teil­nahme am Fes­ti­val zurück­ziehe und auf die Nomi­nie­rung ver­zichte.1Der Zufall will es, dass am sel­ben Tag im Neuen Deutsch­land ein Bei­trag Bert­hold Selig­ers zur Kri­tik an (ver­meint­lich) Putin-nahen rus­si­schen Künstler:innen bzw. Spon­so­ren bei den Salz­bur­ger Fest­spie­len erscheint. Seli­ger weist in sei­nem Bei­trag auch auf die NS-Verbrechensgeschichte von Kühne+Nagel hin und for­dert: »Wer sich über das Spon­so­ring rus­si­scher Kon­zerne echauf­fiert, sollte auch den Mut haben, näm­li­ches bei Kon­zer­nen wie Audi, der Deut­schen Bank, Sie­mens oder der Kühne-Stiftung anzuklagen.«

24. August 2022:

Das Fes­ti­val reagiert auf die Absage, indem es in der denk­bar knapps­ten Form via Twit­ter und Pres­se­aus­sendung ein »Programm-Update« verkündet:

»Nach der Absage von Sven Pfi­zen­maier wurde ein soge­nann­tes Nachrück-Verfahren ein­ge­lei­tet, so dass Prze­mek Zybow­ski nun sei­nen Debüt­ro­man ›Das pinke Hoch­zeits­buch‹ beim 2. #Debü­tan­ten­sa­lon am 10. Sep­tem­ber vor­stel­len wird.« 

Kein Wort des Bedau­erns über Pfi­zen­mai­ers Rück­zug, kein Wort dazu, warum Pfi­zen­maier absagte. Und auch kein:e Pressevertreter:in scheint sich über die kom­men­tar­lose Absage zu wun­dern und sich für ihre Gründe zu inter­es­sie­ren. Auf der Fes­ti­val­web­site wird Pfi­zen­mai­ers Name kom­men­tar­los ersetzt.

29. August 2022:

Die Branchen-Website buchmarkt.de ver­öf­fent­licht die Erklä­rung, mit der Pfi­zen­maier seine Absage begrün­det. In ihr heißt es unter anderem:

»Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dage­gen wehrt, die NS-Historie sei­nes Unter­neh­mens auf­zu­ar­bei­ten, möchte ich mei­nen Text nicht in einen Wett­be­werb um sein Geld und eine Aus­zeich­nung mit sei­nem Namen stellen.«

Doch auch auf diese Erklä­rung folgt zunächst keine Reak­tion. Die Stra­te­gie des Fes­ti­vals, die Absage unter den Tep­pich zu keh­ren und erst gar kei­nen Eklat auf­kom­men zu las­sen, scheint zunächst aufzugehen.

1. September 2022:

Das Kal­kül des Fes­ti­vals schei­tert mit einem Knall: Die Mopo titelt Kühne-Preis: Eklat um NS-Vergangenheit des Ham­bur­ger Unter­neh­mens und ver­öf­fent­licht einen gro­ßen dop­pel­sei­ti­gen Bei­trag. Aus Pfi­zen­mai­ers Absage wird so tat­säch­lich ein Eklat. Am Nach­mit­tag des­sel­ben Tags erscheint ein Bei­trag in der taz. Wäh­rend die Kühne-Stiftung gegen­über der Mopo noch kei­nen Kom­men­tar abge­ben wollte, demons­triert sie nun gegen­über taz-Redakteur Jean-Philipp Baeck eine stu­pende Kom­bi­na­tion aus gekränk­ter Eitel­keit, Geschichts­ver­ges­sen­heit und Aggressivität:

»Die Kühne-Stiftung fühle sich ›in die­ser Ange­le­gen­heit im höchs­ten Grade unge­recht behan­delt‹. Und: ›Sie hat mit Vor­gän­gen, die ca. 80 Jahre zurück­lie­gen, nichts zu tun und wird die tra­di­tio­nelle Ver­lei­hung des Klaus-Michael Kühne-Preises jetzt überdenken.‹ «

Am sel­ben Tag ver­öf­fent­licht Untie­fen den Bei­trag Kühne+Nagel, Logis­ti­ker des NS-Staats, der for­dert, die NS-Geschichte von Kühne+Nagel auch in Ham­burg zum Gegen­stand erin­ne­rungs­po­li­ti­scher Arbeit zu machen. 

7. September:

Das Ham­bur­ger Abend­blatt greift die Ent­wick­lung auf. Abend­blatt-Redak­teur Tho­mas Andre zitiert nun auch das Jury-Mitglied Ste­phan Lohr sowie – ohne Nen­nung eines Namens – die Ham­bur­ger Kul­tur­be­hörde; die Behörde wür­digt die Kri­tik an Kühne als »Bei­trag zur Auf­ar­bei­tung unse­rer Geschichte«, lässt aber auch ihre Abhän­gig­keit von sei­ner Stif­tung durchscheinen:

»[…] Die Kühne-Stiftung leis­tet seit vie­len Jah­ren ins­be­son­dere für die Kul­tur und Wis­sen­schaft gute und wich­tige Unter­stüt­zung, die nicht ohne Wei­te­res durch die öffent­li­che Hand ersetzt wer­den kann.«

In einem Kom­men­tar, der den Arti­kel flan­kiert, erklärt Abend­blatt-Redak­teur Andre im Ein­klang mit der Kul­tur­be­hörde, dass Kri­tik an Kühne zwar »erlaubt« sei, aber es »mehr als schade« wäre, Kühne als groß­zü­gi­gen Kul­tur­spon­sor zu vergraulen.

Auch Fran­ziska Gäns­ler erklärt nun ihren Rück­zug vom Fes­ti­val. Anders als Pfi­zen­maier, des­sen Roman im sel­ben Ver­lag erschie­nen ist wie ihr Debüt Ewig Som­mer, hatte sie sich zunächst gegen einen Rück­tritt ent­schie­den. In einer Stel­lung­nahme, die auf buchmarkt.de ver­öf­fent­licht und in der Presse viel­fach zitiert wird, erklärt sie, dass der Umgang des Fes­ti­vals und der Kühne-Stiftung mit Pfi­zen­mai­ers Absage sie zu ihrem Schritt bewo­gen haben.

Die Fes­ti­val­lei­tung ver­öf­fent­licht eine (inzwi­schen nur noch via Inter­net Archive auf­find­bare) Stel­lung­nahme zu der Debatte rund um die Absa­gen von Pfi­zen­maier und Gäns­ler. Sie bekundet:

»Wir fin­den diese Absa­gen sehr bedau­er­lich. Für die Beweg­gründe der Betref­fen­den haben wir Ver­ständ­nis – auch wir sehen Dis­kus­si­ons­be­darf in die­ser Angelegenheit.«

Dass der »Dis­kus­si­ons­be­darf« der Fes­ti­val­lei­tung nicht so drin­gend ist, offen­bart sich jedoch in der nach­ge­scho­be­nen Aus­sage: »Wir hof­fen, dass es trotz der gegen­wär­ti­gen Dis­kus­sion gelingt, die Lite­ra­tur für die Zeit des Fes­ti­vals in den Mit­tel­punkt zu rücken.« Zeit­gleich mit der Stel­lung­nahme stellt das Fes­ti­val auch die bei­den Stel­lung­nah­men von Gäns­ler und Pfi­zen­maier auf seine Homepage.

Am sel­ben Tag erscheint auf Zeit Online ein Bei­trag von Chris­toph Twi­ckel. In ihm kom­men auch wei­tere nomi­nierte Schriftsteller:innen zu Wort: Dome­nico Mül­len­sie­fen und Annika Büsing. Beide heben den struk­tu­rel­len Cha­rak­ter des Pro­blems her­vor, das weit über den Fall Kühne hin­aus­weise, und regen eine breite Debatte über die Mecha­nis­men der (pri­va­ten) Kul­tur­för­de­rung an. In den Sozia­len Medien zieht die Arti­kel­über­schrift »Nazi­zeit? – Lange her!«, die sich auf die Stel­lung­nahme der Kühne-Stiftung bezieht, rechte Kommentator:innen an. Das ent­spre­chende Pos­ting auf der Facebook-Seite der Zeit erhält 570 Kom­men­tare, größ­ten­teils von rechts: Den Kühne-Kritiker:innen wer­den Neid und Mora­lis­mus vor­ge­wor­fen, die Ver­bre­chen von K+N wer­den rela­ti­viert. Nahezu alle Kom­men­tare schlie­ßen sich der For­de­rung der Kühne-Stiftung nach einem Schluss­strich unter die NS-Vergangenheit an.

Dome­nico Mül­len­sie­fen ver­öf­fent­licht die Stel­lung­nahme, um die er von der Zeit gebe­ten wor­den war, in vol­ler Länge auf sei­nem Blog.

Die Redak­tion Untie­fen ver­öf­fent­licht den Bei­trag »Kühne-Preis: Kul­tur­för­de­rung als Schwei­ge­geld?«. Der Bei­trag reka­pi­tu­liert die bis­he­rige Debatte und zitiert die der Redak­tion zuge­sand­ten Stel­lung­nah­men von Dome­nico Mül­len­sie­fen (die sich zu gro­ßen Tei­len mit der Stel­lung­nahme gegen­über der Zeit deckt) und von Daniel Schulz. Junge Autor*innen seien »auf die weni­gen För­de­run­gen ange­wie­sen […], die es noch gibt«, schreibt Schulz, und sieht daher eigent­lich andere Ange­hö­rige des Kul­tur­be­triebs in der Pflicht, gegen­über pro­ble­ma­ti­schen För­de­rern wie Kühne Stel­lung zu beziehen. 

8. September 2022:

Die dpa ver­öf­fent­licht eine Mel­dung zum Eklat und zu Gäns­lers Rück­tritt, die in zahl­rei­chen (Online-)Medien auf­ge­grif­fen wird. Darin wird auch die Kühne-Stiftung zitiert, die – auf etwas weni­ger brüske Weise – ihre Stel­lung­nahme vom 1. Sep­tem­ber bekräftigt:

»Die Kühne-Stiftung stellte klar, dass ihre För­der­leis­tun­gen kei­nen Bezug zu einer Zeit haben, ›die weit zurück liegt und zu der ganz andere Ver­hält­nisse herrsch­ten‹. Das teilte sie auf Nach­frage am Don­ners­tag mit. ›Hier­bei Zusam­men­hänge zu kon­stru­ie­ren, wür­den wir als eine bewusste Schä­di­gung unse­rer rein phil­an­thro­pi­schen Unter­stüt­zung des Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­vals betrachten.‹ «

Meh­rere Medien, dar­un­ter Mopo und Abend­blatt, berich­ten, dass sich das Fes­ti­val von der Kühne-Stiftung als Spon­sor trennt. Die Fes­ti­val­lei­tung bekun­det, dass die­ser Schritt jedoch nichts mit dem Eklat zu tun habe, son­dern bereits län­ger geplant gewe­sen sei. Im Mopo-Artikel heißt es dazu:

»Auf MOPO-Anfrage erklärte Heinz Leh­mann aus dem Lei­tungs­team: ›Die­ser Schritt hat über­haupt nichts mit dem aktu­el­len Wir­bel um die Ver­gan­gen­heit der Fami­lie Kühne zu tun, son­dern war seit Mona­ten geplant.‹ Die Kühne-Stiftung war für eine Stel­lung­nahme nicht zu erreichen.«

Am Abend des 8. Sep­tem­ber fin­det die Eröff­nung des Fes­ti­vals in der Elb­phil­har­mo­nie statt. Wie das Abend­blatt am 10. Sep­tem­ber berich­tet, kommt der Eklat hier von Beginn an zur Spra­che: Der Gene­ral­inten­dant der Elb­phil­har­mo­nie ver­harm­lost die Kri­tik an Kühne zu einem »Skan­däl­chen« unter ande­ren, das zudem ja den Kar­ten­ver­käu­fen zuträg­lich sei. Die Lei­te­rin des Fes­ti­vals Petra Bam­ber­ger äußert sich unver­bind­lich (»Wir dan­ken allen unse­ren För­de­rern, aber wir sind vor allem unse­ren Autorin­nen und Autoren ver­pflich­tet«). Der Mana­ger und Kühne-Vertraute Michael Beh­rendt, Mit­glied im Stif­tungs­rat der Kühne-Stiftung, hin­ge­gen zeigt sich »betrof­fen« – nicht aber von den ver­bre­che­ri­schen Geschäf­ten Kühne+Nagels oder vom Schick­sal des in Ausch­witz ermor­de­ten Ex-Teilhabers Adolf Maass, son­dern von den »kri­ti­schen Stim­men«. Schließ­lich, so Beh­rendt, sei Klaus-Michael Kühne bei Kriegs­ende erst sie­ben Jahre alt gewesen. 

14. September:

Die Fes­ti­val­lei­tung teilt mit: Der Klaus-Michael Kühne-Preis heißt ab sofort »Debüt­preis des Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­vals« – und er wird nicht in Küh­nes Luxus­ho­tel The Fon­tenay an der Außen­als­ter, son­dern im Nacht­asyl des Tha­lia Thea­ters über­reicht wer­den. Die Ände­run­gen ent­sprin­gen jedoch kei­ner sou­ve­rä­nen Ent­schei­dung des Fes­ti­vals, son­dern gesche­hen auf Anord­nung der schmol­len­den Kühne-Stiftung. In der Mit­tei­lung der Fes­ti­val­lei­tung, die unter ande­rem von der Mopo zitiert wird, heißt es:

»Nach der öffent­li­chen Debatte um die Absage der Teil­nahme zweier Autor:innen am Debü­tan­ten­sa­lon 2022 hat die Kühne-Stiftung das Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­val am 12. Sep­tem­ber 2022 dazu auf­ge­for­dert, den Namen des ›Klaus-Michael Kühne-Preises‹ und den Ort der Preis­ver­lei­hung zu ändern.«

Die Zeit kom­men­tiert die Umbe­nen­nung kri­tisch: »Sie dient bloß dazu, eine Debatte zu ver­mei­den, die über­fäl­lig ist. Das ist feige.« Von der im Bei­trag zitier­ten Spre­che­rin der Kühne-Stiftung lässt sich etwas über die Gründe für die Umbe­nen­nung erfah­ren: »For­mat und Benen­nung des mit dem Fes­ti­val ver­bun­de­nen Prei­ses sol­len von Dis­kus­sio­nen frei sein.« Das also ver­steht der Mäzen unter Frei­heit der Kunst – sie soll frei sein von Kri­tik und Diskussion.

15. September:

Über die Umbe­nen­nung des Prei­ses wird in einer dpa-Mel­dung berich­tet, die viel­fach über­nom­men wird.

Das »Ham­bur­ger Tüd­del­band«, die im Rah­men des Har­bour Front Fes­ti­vals ver­lie­hene Aus­zeich­nung für her­aus­ra­gende Kinderbuchkünstler:innen, wird in der Haupt­kir­che St. Katha­ri­nen an Axel Scheff­ler und Julia Donald­son ver­lie­hen. Schirm­her­rin die­ses Prei­ses ist Chris­tine Kühne, Klaus-Michael Küh­nes Ehe­frau. Anders als in ver­gan­ge­nen Jah­ren ist sie aber nicht anwe­send. Das Abend­blatt schreibt:

»Ob es das ›Ham­bur­ger Tüd­del­band‹ im kom­men­den Jahr noch geben wird […], ließ die Fes­ti­val­lei­tung auf Nach­frage offen.«

16. September:

Die Jury gibt den Preis­trä­ger des nun umbe­nann­ten Prei­ses bekannt: Behzad Karim-Khani mit sei­nem Roman Hund, Wolf, Scha­kal. In ihrer Begrün­dung geht die Jury aus­führ­lich auf die vor­her­ge­gan­gene Debatte ein:

»In die­sem Jahr haben zwei der acht von der Vor­jury aus­ge­wähl­ten Nomi­nier­ten ihre Teil­nahme zurück­ge­zo­gen. Wir hät­ten gerne auch über ihre Bücher dis­ku­tiert. Aber wir möch­ten Sven Pfi­zen­maier und Fran­ziska Gäns­ler für ihre Ent­schei­dung unse­ren Respekt aus­spre­chen. Und wir schlie­ßen uns ihren For­de­run­gen aus­drück­lich an: Wir wür­den uns wün­schen, dass Kühne + Nagel sein unter­neh­me­ri­sches Han­deln in der NS-Zeit durch Historiker*innen unab­hän­gig unter­su­chen las­sen und die For­schungs­er­geb­nisse öffent­lich machen würde.«

18. September:

Der Debüt­preis wird im Nacht­asyl (Thalia-Theater) ver­lie­hen. Am 19. Sep­tem­ber ver­öf­fent­lich die dpa zur Preis­ver­gabe eine Mel­dung, die auch auf die Stel­lung­nahme der Jury zum Eklat ein­geht und von vie­len Medien über­nom­men wird.

20. September:

Der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und Kul­tur­jour­na­list Johan­nes Fran­zen, der erst im Februar im Mer­kur über die Hete­ro­no­mie der Kunst ange­sichts der Abhän­gig­keit von ihren Geldgeber:innen schrieb, greift die Debatte in sei­nem News­let­ter Kul­tur und Kon­tro­verse auf. Er kommentiert:

»Was an der Geschichte beson­ders inter­es­sant erscheint, ist zunächst, wie ein Mil­li­ar­där einen Preis von läp­pi­schen 10.000 Euro stif­ten kann und dafür mit viel kul­tu­rel­lem Kapi­tal belohnt wird, wie dann aber die­ses kul­tu­relle Kapi­tal ihm plötz­lich in der Hand explo­die­ren kann. Man muss davon aus­ge­hen, dass über die schreck­li­che Ver­gan­gen­heit des Unter­neh­mens Kühne + Nagel aktu­ell weni­ger stark berich­tet wer­den würde, wenn nicht das Pres­tige des Lite­ra­ri­schen auf dem Spiel ste­hen würde.«

27. September:

Das Maga­zin Oper! ver­öf­fent­licht ein Inter­view mit Klaus-Michael Kühne (online nur aus­zugs­weise ver­füg­bar), über das kurz dar­auf ein Arti­kel im Abend­blatt erscheint. Kühne wirbt darin für sei­nen Vor­schlag, ein neues Opern­haus in Ham­burg zu errich­ten, und zeigt sich – vom Inter­viewer freund­lich sekun­diert – ver­ständ­nis­los über den Undank für sei­nen »gut gemein­ten Ratschlag«.

4. Oktober:

Im Hamburg-Teil der Zeit greift Flo­rian Zinne­cker die Debatte noch ein­mal auf. Er betont die enge Ver­zah­nung des Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­vals mit der Kühne-Stiftung und for­dert, dass die Dis­kus­sio­nen, die sich um den Kühne-Preis ent­wi­ckelt haben, wei­ter­ge­führt wer­den müssten:

»Die große Frage aber, die durch die Erup­tio­nen erst so rich­tig frei­ge­legt wurde, ist noch offen – und sie ist um ein Viel­fa­ches zu groß, als dass das Fes­ti­val sie allein abräu­men könnte. Die Kühne-Stiftung för­dert die Staats­oper und die Phil­har­mo­ni­ker; ohne Küh­nes Zuwen­dun­gen wäre Kent Nagano als Gene­ral­mu­sik­di­rek­tor wohl weder nach Ham­burg zu locken noch hier zu hal­ten gewe­sen. Kühne gab 4 Mil­lio­nen Euro für die Elb­phil­har­mo­nie, die VIP-Lounge des Hau­ses ist nach ihm benannt. Das Inter­na­tio­nale Musik­fest för­dert er mit einer hal­ben Mil­lion jähr­lich. Und für den HSV (Fuß­ball ist auch Kul­tur) wen­dete Kühne schon mehr als 100 Mil­lio­nen Euro auf. All diese Insti­tu­tio­nen beglei­ten die Debatte bis­lang mit vehe­men­tem Schwei­gen. Es wäre bil­lig, von ihnen klare Kante zu for­dern, wer ver­grätzt schon gern einen Haupt­spon­sor. Aber zu reden wäre dar­über schon. Denn sonst beant­wor­tet sich die Frage, ob das Stör­ge­fühl groß genug ist für eine Neu­be­wer­tung der Lage, von allein – mit Nein. Alles egal. Haupt­sa­che, er zahlt.«

20. Oktober:

Auf der Frank­fur­ter Buch­messe wird Sven Pfi­zen­maier der mit 10.000€ dotierte ZDF-aspekte-Literaturpreis für sein Roman­de­büt verliehen.

5. November:

Im Ham­bur­ger Abend­blatt erscheint auf einer Dop­pel­seite ein lan­ges Inter­view mit Klaus-Michael Kühne. Ganz kurz kommt der Inter­viewer – der stell­ver­tre­tende Chef­re­dak­teur Mat­thias Iken – auch auf die NS-Vergangenheit von K+N und den Eklat vom Sep­tem­ber zu spre­chen und lässt Kühne dabei unwi­der­spro­chen seine Schluss­strich­for­de­rung wiederholen:

»Ihr Lite­ra­tur­preis heißt nicht mehr Klaus-Michael Kühne-Preis, junge Lite­ra­ten ver­zich­te­ten auf eine Nomi­nie­rung, weil Sie die NS-Geschichte Ihres Unter­neh­mens inten­si­ver auf­ar­bei­ten sol­len …
Das hat mich per­sön­lich getrof­fen. Wir woll­ten uns zwar aus dem Harbourfront-Literaturfestival zurück­zie­hen, das wir maß­geb­lich geför­dert hat­ten, den Nach­wuchs­preis aber wei­ter finan­zie­ren. Das machen wir jetzt nicht mehr. Den Orga­ni­sa­to­ren habe ich ver­übelt, dass sie diese ein­sei­ti­gen Vor­würfe so über­nom­men und das Thema ein­sei­tig betrach­tet haben.

Sie könn­ten ja eine Unter­su­chung durch His­to­ri­ker beauf­tra­gen …
Die Archive sind zer­stört, die Fak­ten sind bekannt. Es wird vie­les hin­ein­in­ter­pre­tiert. Warum soll­ten wir die alten Wun­den nach so lan­ger Zeit wie­der auf­rei­ßen? Das hätte man viel frü­her machen müs­sen. 2015 kam das Thema zum 125. Jubi­läum zum ers­ten Mal hoch, das beim 100. Geburts­tag kei­nen inter­es­siert hatte. Wir haben die unschö­nen Dinge in unse­rer Jubi­lä­ums­schrift dar­ge­stellt und unser Bedau­ern dar­über mehr­mals öffent­lich geäu­ßert.«

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    Der Zufall will es, dass am sel­ben Tag im Neuen Deutsch­land ein Bei­trag Bert­hold Selig­ers zur Kri­tik an (ver­meint­lich) Putin-nahen rus­si­schen Künstler:innen bzw. Spon­so­ren bei den Salz­bur­ger Fest­spie­len erscheint. Seli­ger weist in sei­nem Bei­trag auch auf die NS-Verbrechensgeschichte von Kühne+Nagel hin und for­dert: »Wer sich über das Spon­so­ring rus­si­scher Kon­zerne echauf­fiert, sollte auch den Mut haben, näm­li­ches bei Kon­zer­nen wie Audi, der Deut­schen Bank, Sie­mens oder der Kühne-Stiftung anzuklagen.«

Kühne-Preis: Kulturförderung als Schweigegeld?

Kühne-Preis: Kulturförderung als Schweigegeld?

Am 18. Sep­tem­ber wird im Rah­men des Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­vals in Ham­burg der renom­mierte Klaus-Michael Kühne-Preis ver­lie­hen. Nun haben zwei Schriftsteller:innen ihre Nomi­nie­run­gen zurück­ge­zo­gen – weil der Geld- und Namens­ge­ber die NS-Historie sei­nes Fami­li­en­un­ter­neh­mens nicht auf­ar­beite. Wir hat­ten zuvor sie und die übri­gen Nomi­nier­ten kon­tak­tiert, um über die finan­zi­elle Abhän­gig­keit des Kul­tur­be­trie­bes von pri­va­ter För­de­rung und die Image­po­li­tik pro­ble­ma­ti­scher Mäzene zu spre­chen.

Weiß wie die Unschuld: In Küh­nes Luxus­ho­tel „The Fon­tenay“ an der Als­ter soll der Klaus-Michael Kühne-Preis am 18.09. ver­lie­hen wer­den. Foto: travelswiss1 Lizenz: CC BY-NC 2.0

Im Kunst- und Kul­tur­be­trieb rumort es: Das Lon­do­ner Bri­tish Museum benennt alle nach einem Groß­spen­der benann­ten Räume um, die Video­künst­le­rin Hito Stey­erl zieht eines ihrer Werke aus einer ange­se­he­nen Samm­lung zurück, die Salz­bur­ger Fest­spiele been­den in Reak­tion auf einen offe­nen Brief des Autors Lukas Bär­fuss und der Regis­seu­rin Yana Ross die Zusam­men­ar­beit mit einem Spon­sor. All diese Aus­ein­an­der­set­zun­gen ereig­ne­ten sich in den letz­ten Mona­ten. Und bei allen ging es um ganz ähn­li­che Fra­gen: Wer finan­ziert eigent­lich Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen und Kul­tur­schaf­fende? Aus wel­chen Quel­len stam­men die Mil­li­ar­den an pri­va­ten Mit­teln, mit denen Museen, Kon­zert­häu­ser, Preise und Fes­ti­vals geför­dert wer­den? Und wie kann oder soll man sich gegen­über ›schmut­zi­gen‹ För­der­gel­dern ver­hal­ten, die aus frag­wür­di­gen Quel­len stam­men und von den Geldgeber:innen zum Rein­wa­schen des eige­nen Namens bzw. dem Ver­de­cken von Schand­ta­ten genutzt werden?

Auf die Frage nach dem prak­ti­schen Umgang haben Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen und Künstler:innen in den genann­ten drei Fäl­len klare Ant­wor­ten gefun­den. Sie zogen Kon­se­quen­zen dar­aus, dass die Mil­li­ar­därs­fa­mi­lie Sack­ler mit ihrem Unter­neh­men Pur­due Pharma maß­geb­lich für die Opio­id­krise in den USA ver­ant­wort­lich war; dar­aus, dass die Unter­neh­me­rin und Kunst­samm­le­rin Julia Sto­schek ihr Mil­li­ar­den­ver­mö­gen ihrem Nazi-Urgroßvater ver­dankt, der den Auto­mo­bil­zu­lie­fe­rer Brose grün­dete, den NS-Staat belie­ferte und als treues NSDAP-Mitglied zum Wehr­wirt­schafts­füh­rer auf­stieg; und dar­aus, dass das Berg­bau­un­ter­neh­men Sol­way nicht nur mas­sive Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und Umwelt­zer­stö­rung ver­ant­wor­tet, son­dern zudem enge Ver­bin­dun­gen zum Kreml unter­hal­ten soll.

Die Kühne-Stiftung

Eine in Ham­burg beson­ders aktive und eben­falls frag­wür­dige Kul­tur­spon­so­rin ist die Kühne-Stiftung: Bei der Elb­phil­har­mo­nie, dem Phil­har­mo­ni­schen Staats­or­ches­ter und dem Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­val tritt die Stif­tung als Haupt­för­de­rin auf. Gegrün­det wurde sie 1976 vom Unter­neh­mer Alfred Kühne, sei­ner Frau Mer­ce­des und ihrem gemein­sa­mem Sohn Klaus-Michael Kühne. Das Stif­tungs­ka­pi­tal stammt aus den Erträ­gen der Kühne Hol­ding, also vor­ran­gig aus jenen des Unter­neh­mens Kühne + Nagel (K+N), eines der welt­weit größ­ten Transport- und Logistikunternehmen.

Damit aber ver­dankt sich das Kapi­tal zum einen dem Umstand, dass Alfred Kühne und sein Bru­der Wer­ner 1933 ihren jüdi­schen Teil­ha­ber Adolf Maass aus dem Unter­neh­men dräng­ten, und zum ande­ren der maß­geb­li­chen Betei­li­gung von K+N an der ›Ari­sie­rung‹ jüdi­schen Eigen­tums in den von Deutsch­land besetz­ten Län­dern wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs. Hinzu kommt: Klaus-Michael Kühne, der das Unter­neh­men von 1966 bis 1998 lei­tete und bis heute sowohl die Mehr­heit der Akti­en­an­teile als auch die Fäden in der Hand hält, zeigt kei­ner­lei Ver­ständ­nis dafür, dass die NS-Vergangenheit sei­nes Unter­neh­mens »immer wie­der hoch­ge­kocht wird«, und wehrt jeg­li­che Auf­ar­bei­tung die­ser – sei­ner – Familien- und Unter­neh­mens­ge­schichte vehe­ment ab.

Kulturförderung als Schweigegeld

Bis­lang scheint Klaus-Michael Küh­nes Stra­te­gie des Rela­ti­vie­rens und Ver­schwei­gens auf­zu­ge­hen. Zwar haben ins­be­son­dere aus Anlass des 125-jährigen Fir­men­ju­bi­lä­ums im Jahr 2015 viele Medien kri­tisch über die Unter­neh­mens­ge­schichte berich­tet, über die man dank der Recher­chen des ehe­ma­li­gen taz-Redak­teurs Hen­ning Bleyl und von His­to­ri­kern wie Wolf­gang Dre­ßen, Frank Bajohr und Johan­nes Beermann-Schön immer­hin eini­ges weiß. Doch einer brei­ten Öffent­lich­keit sind Klaus-Michael Kühne und sein Unter­neh­men nach wie vor nicht als NS-Profiteure bekannt. Das öffent­li­che Bild von Kühne bestimmt viel­mehr sein Enga­ge­ment als Inves­tor und Kul­tur­för­de­rer. Die Ham­bur­ger Mor­gen­post etwa ver­öf­fent­lichte in den letz­ten zwei Jah­ren 50 Arti­kel über Kühne; nur ein ein­zi­ger von ihnen behan­delt die Geschichte des Unter­neh­mens im Natio­nal­so­zia­lis­mus und seine Nach­ge­schichte. Statt­des­sen pro­du­ziert Kühne (über­wie­gend) posi­tive Schlag­zei­len mit sei­nem Enga­ge­ment beim HSV (dem er die Benen­nung des Sta­di­ons nach Uwe See­ler finan­zie­ren will), mit Inves­ti­tio­nen (er hat seine Anteile an der Luft­hansa und an der Immo­bi­li­en­ge­sell­schaft Signa Prime erhöht und Anteile am Elb­tower erwor­ben) und eben mit sei­nen Akti­vi­tä­ten in der Kulturförderung.

Es steht daher außer Frage: Klaus-Michael Küh­nes Mäze­na­ten­tum dient effek­tiv der Image­pflege des Fami­li­en­na­mens, dem Ver­schwei­gen bzw. Rein­wa­schen. ›Tue Gutes und sprich dar­über‹, sagt man; im Fall von Kühne ließe sich ergän­zen: ›damit über das Schlechte nicht gespro­chen wird‹. Dass er den von ihm gestif­te­ten Preis für das beste Roman­de­büt des Jah­res ganz unbe­schei­den nach sich selbst benannt hat, ist davon der wohl kras­seste Aus­druck. Es hat zur Folge, dass der Klaus-Michael-Kühne-Preis nicht nur eine Aus­zeich­nung für die Autor:innen dar­stellt, die ihn erhal­ten. Viel­mehr ver­schaf­fen die Preisträger:innen auch dem Mäzen, in des­sen an der Außen­als­ter gele­ge­nen Luxus­ho­tel The Fon­tenay die Preis­ver­lei­hung statt­fin­den wird, Anse­hen und Aner­ken­nung. Und sie drän­gen damit wider Wil­len die Betei­li­gung des Unter­neh­mens an der Ent­eig­nung von Jüdin­nen und Juden im NS aus dem Blick der Öffent­lich­keit. Wenn etwa, wie im Jahr 2014 mit Per Leos Roman Flut und Boden, die lite­ra­ri­sche Auf­ar­bei­tung einer deut­schen Fami­li­en­ge­schichte und Abrech­nung mit der NS-Täter:innengeneration den Klaus-Michael Kühne-Preis erhält, ohne dass die­ser zyni­sche Wider­spruch zur Spra­che kommt, dient der Preis ganz offen­kun­dig als Feigenblatt.

Suche nach dem angemessenen Umgang

Natür­lich haben fast alle deut­schen Groß­un­ter­neh­men, die vor 1945 gegrün­det wur­den, eine Ver­bre­chens­ge­schichte. Der nie­der­län­di­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler David de Jong hat das in sei­nem Buch Brau­nes Erbe kürz­lich noch ein­mal ein­drück­lich dar­ge­legt. Doch das Aus­maß der Kol­la­bo­ra­tion der Gebrü­der Alfred und Wer­ner Kühne mit dem NS-Staat, die anhal­tende Wei­ge­rung ihres Erben Klaus-Michael Kühne, diese Geschichte auf­zu­ar­bei­ten und Kon­se­quen­zen dar­aus zu zie­hen, sowie die Benen­nung des Prei­ses nach Kühne selbst machen den Klaus-Michael Kühne-Preis zu einem beson­ders her­vor­ste­chen­den Fall.

Was aber wäre ein ange­mes­se­ner Umgang mit dem pro­ble­ma­ti­schen Geld­ge­ber? Diese Frage stell­ten wir, die Redak­tion von Untie­fen, uns im Vor­feld der dies­jäh­ri­gen Ver­lei­hung des Kühne-Preises, ohne zu einer befrie­di­gen­den Ant­wort zu kom­men. Wir ver­such­ten daher im Juli, mit den acht Nomi­nier­ten des Prei­ses selbst ins Gespräch dar­über zu kom­men. In einer E‑Mail an die Autor:innen schil­der­ten wir aus­führ­lich die Ver­stri­ckung von K+N in die NS-Verbrechen und hoben vor allem die Wei­ge­rung Klaus-Michael Küh­nes her­vor, das Fir­men­ar­chiv zu öff­nen und die Unter­neh­mens­ge­schichte von unab­hän­gi­gen Historiker:innen unter­su­chen zu las­sen. In unse­rem Schrei­ben an die Nomi­nier­ten hoben wir auch die Kom­ple­xi­tät der Situa­tion her­vor und frag­ten die Autor:innen nach einem mög­li­chen Umgang:

»Klar ist einer­seits: Diese Umstände kön­nen und dür­fen nicht (wei­ter) beschwie­gen wer­den. Klar ist ande­rer­seits aber auch: Ein Lite­ra­tur­preis ist für eine Debü­tan­tin / einen Debü­tan­ten wie Sie auch über das hohe Preis­geld hin­aus von beträcht­li­cher Bedeu­tung. Hinzu kommt, dass Küh­nes eigene Ansich­ten bei der Ent­schei­dung der Jury gewiss keine Rolle spie­len wer­den. Die For­de­rung, den Preis oder gar schon die Nomi­nie­rung zurück­zu­wei­sen, wäre daher wohl­feil. Doch wir fra­gen uns – und Sie: Wenn die öffent­li­che Ableh­nung des Prei­ses keine sinn­volle Option ist, was könn­ten dann alter­na­tive Wege sein, mit dem pro­ble­ma­ti­schen Hin­ter­grund des Prei­ses und sei­nes Stif­ters den­noch einen Umgang zu fin­den? Diese Frage, auf die wir selbst bis­lang keine befrie­di­gende Ant­wort gefun­den haben, weist auch über den kon­kre­ten Fall hin­aus und zieht wei­tere, grund­sätz­li­che Fra­gen nach sich: Wie kann man sich zum Wider­spruch der Neu­tra­li­sie­rung von Kri­tik durch ihre Ver­ein­nah­mung, der auch nur die Zuspit­zung eines gene­rel­len Wider­spruchs im ›wie­der­gut­ge­wor­de­nen‹ Deutsch­land ist, ins Ver­hält­nis set­zen? Ist das Pathos etwa eines Tho­mas Brasch bei der Ver­lei­hung des Baye­ri­schen Film­prei­ses 1981 (noch) ange­mes­sen? Stellt die Lite­ra­tur selbst Mit­tel bereit, sich der Ver­ein­nah­mung zu wider­set­zen, oder ist sie ohn­mäch­tig ange­sichts der Macht­ver­hält­nisse eines Betriebs, in dem man es sich mit sei­nen Geld­ge­bern nicht ›ver­scher­zen‹ darf?«

Die Antworten der Nominierten: Zwischen Realismus…

Auf unsere Fra­gen und unsere Bitte um Aus­tausch erhiel­ten wir in den fol­gen­den Wochen von immer­hin drei der acht Autor:innen Rück­mel­dung. Dome­nico Mül­len­sie­fen, der für sei­nen Roman Aus unse­ren Feu­ern nomi­niert wurde, schreibt: »Ich denke, dass es ein gro­ßes Pro­blem ist, dass die öffent­li­che Kul­tur­för­de­rung in Deutsch­land stark ein­ge­schränkt ist.« Denn in die Lücke, die die öffent­li­che För­de­rung lässt, stie­ßen pri­vate För­de­rer. Was es bräuchte, so Mül­len­sie­fen, sei eine »breite und preis­un­ab­hän­gige För­de­rung von AutorIn­nen«. Bis dahin bleibe er auch beim Klaus-Michael Kühne-Preis „Rea­list“, denn: »Die Jury ist hoch­ka­rä­tig besetzt und frei in Ihrem Han­deln. Die nomi­nier­ten Schrift­stel­le­rIn­nen gefal­len mir sehr gut. Der Umgang mit den AutorIn­nen ist erst­klas­sig. […] Und ganz ehr­lich, wäre es mir eine sehr große Freude, mal eine Nacht in die­sem schi­cken Hotel von Herrn Kühne zu über­nach­ten.« In einem spä­te­ren State­ment gegen­über der ZEIT fügt er hinzu: »Deut­scher Reich­tum ist in vie­len, wenn nicht sogar in den meis­ten Fäl­len auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit ent­stan­den. So zu tun, als wäre alles in Ord­nung, wenn Herr Kühne die NS-Vergangenheit auf­ar­bei­ten ließe, wäre auch falsch. Wir haben ein struk­tu­rel­les Gesell­schafts­pro­blem, zu dem wir AutorIn­nen uns indi­vi­du­ell ver­hal­ten sol­len.« Und: »Und wäre es nicht an der Zeit, dass wir, und da darf DIE ZEIT gern vor­ne­weg gehen, ernst­haft über eine Umver­tei­lung der Ver­mö­gen in Deutsch­land sprechen?«

Ähn­lich ant­wor­tete Daniel Schulz, taz-Redak­teur und Autor des Romans Wir waren wie Brü­der. Er betont wie Mül­len­sie­fen: „Die Unab­hän­gig­keit und Fach­kom­pe­tenz der Jury ste­hen außer Zwei­fel. Klaus-Michael Kühne hat auf ihre Ent­schei­dun­gen kei­nen Ein­fluss“. Vor allem hält er die Autor:innen für die fal­schen Ansprechpartner:innen für die Frage nach dem Umgang mit dem NS-Erbe von Kühne + Nagel. Schließ­lich seien sie in der abhän­gigs­ten und pre­kärs­ten Lage von allen und „auf die weni­gen För­de­run­gen ange­wie­sen […], die es noch gibt“. Die Res­sour­cen und die Ver­ant­wor­tung dafür, einen Umgang mit pro­ble­ma­ti­schen För­de­rern wie Kühne zu fin­den, sieht er vor allem bei den Ver­la­gen und der Kulturpolitik.

Der Tenor die­ser Ant­wor­ten ist klar: In die­ser Gesell­schaft als Schriftsteller:in tätig zu sein bedeu­tet, in zahl­rei­che Wider­sprü­che ver­strickt und nicht weni­gen Zwän­gen unter­wor­fen zu sein. Solange die Kul­tur­för­de­rung maß­geb­lich über pri­vate Stif­tun­gen und Orga­ni­sa­tio­nen geleis­tet wird und die Autor:innen von deren Geld abhän­gig seien, müsse man letzt­lich damit leben, dass Gel­der im Kul­tur­be­trieb aus frag­wür­di­gen Quel­len stam­men Das zen­trale Pro­blem sehen die bei­den Autoren in der pri­va­ti­sier­ten Kul­tur­för­de­rung in einer post­fa­schis­ti­schen Gesell­schaft – und die Ver­ant­wor­tung auf Sei­ten der öffent­li­chen Hand.

… und Absagen

Sven Pfi­zen­maier, nomi­niert für Drau­ßen fei­ern die Leute, ist zu einem ande­ren Schluss für sei­nen indi­vi­du­el­len Umgang mit der Situa­tion gekom­men. Er hat seine Nomi­nie­rung zurück­ge­wie­sen und seine Teil­nahme am ›Debü­tan­ten­sa­lon‹ auf dem Har­bour Front Lite­ra­turfesti­val abge­sagt. In sei­ner am 29. August ver­öf­fent­lich­ten Erklä­rung schreibt er so knapp wie deut­lich: »Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dage­gen wehrt, die NS-Historie sei­nes Unter­neh­mens auf­zu­ar­bei­ten, möchte ich mei­nen Text nicht in einen Wett­be­werb um sein Geld und eine Aus­zeich­nung mit sei­nem Namen stellen.«

Andert­halb Wochen spä­ter, am 07.09., sagte auch Fran­ziska Gäns­ler, nomi­niert für Ewig Som­mer, ihre Teil­nahme am Har­bour Front Fes­ti­val ab. In ihrer Erklä­rung, die dies­mal durch die Fes­ti­val­lei­tung ver­öf­fent­licht wurde, führt sie die Nicht-Diskussion um die Absage Pfi­zen­mai­ers als Grund an:

»Mich hat der Rück­zug des mit­no­mi­nier­ten Autors Sven Pfi­zen­maier und die dar­auf fol­gende Reak­tion sehr beschäf­tigt. Ich denke, es hätte einen öffent­li­chen Dis­kurs gebraucht, der ein Ernst­neh­men sei­ner Kri­tik erkenn­bar macht und zeigt, dass es das Anlie­gen der Stif­tung ist, genau das zu för­dern – kri­ti­sche lite­ra­ri­sche Stim­men. Lei­der zeigt die Reak­tion für mich, dass dies nicht gege­ben scheint. Unter die­sen Umstän­den wei­ter auf die Aus­zeich­nung zu hof­fen erscheint mir, unab­hän­gig von der finan­zi­el­len Kom­po­nente, wie ein Weg­se­hen, das ich nicht gut mit mir und mei­nem Schrei­ben ver­ein­ba­ren kann.«

Pfi­zen­maier und Gäns­ler haben damit dras­ti­sche Schritte gewählt. Pfi­zen­maier betont in sei­ner Erklä­rung aber auch, dass er seine Ent­schei­dung »expli­zit nicht als Vor­wurf« gegen die Mit­no­mi­nier­ten und Mit­ar­bei­ten­den des Fes­ti­vals ver­stan­den wis­sen wolle: »Das Ver­hält­nis zwi­schen Geldgeber:innen und Kul­tur­schaf­fen­den in Deutsch­land ist ein der­ma­ßen kom­ple­xes Feld, dass es unzäh­lige Wege gibt, einen ange­mes­se­nen Umgang damit zu fin­den. Die­ser hier ist meiner.«

Dras­tisch sind diese Ent­schei­dun­gen nicht nur, weil beide damit auf die Mög­lich­keit ver­zich­tet, das statt­li­che Preis­geld von 10.000 Euro zu gewin­nen, son­dern auch und vor allem, weil der Debü­tan­ten­sa­lon und der Klaus-Michael Kühne-Preis in den letz­ten Jah­ren zu einem wich­ti­gen Sprung­brett für junge Autor:innen gewor­den sind. Bei Ver­la­gen, Buchhändler:innen und Autor:innen genießt der Preis ebenso hohes Anse­hen wie bei Kri­tik und Leser:innenschaft. Autor:innen, deren Debüt eine Nomi­nie­rung erhal­ten oder den Preis gar gewon­nen hat, stei­gern nicht nur die Ver­käufe ihres Romans, son­dern haben gute Aus­sich­ten, sich fest zu eta­blie­ren. Zu den bis­he­ri­gen Preisträger:innen zäh­len etwa Olga Grjas­nowa, Per Leo, Dmit­rij Kapi­tel­man, Fatma Ayd­emir und Chris­tian Baron.

Der Eklat

Pfi­zen­mai­ers und Gäns­lers Ent­schei­dung ist bis­her prä­ze­denz­los. Obwohl viele der frü­he­ren Nomi­nier­ten und Preisträger:innen als enga­gierte Stim­men in der öffent­li­chen Debatte bekannt (gewor­den) sind, hatte bis­her noch kein:e Autor:in öffent­lich Kri­tik an Kühne geübt – geschweige denn die Nomi­nie­rung oder den Preis zurückgewiesen.

Dem­entspre­chend über­for­dert und rat­los wirkt der Umgang des Har­bour Front-Fes­ti­vals mit der Situa­tion. Man glaubte dort offen­bar, Pfi­zen­mai­ers Absage ein­fach unter den Tep­pich keh­ren zu kön­nen. Am 24. August wurde in einer Pres­se­nach­richt und auf Twit­ter lapi­dar ein »Pro­gramm­up­date« ver­kün­det: Nach Sven Pfi­zen­mai­ers Absage trete Prze­mek Zybow­ski durch ein Nach­rück­ver­fah­ren an seine Stelle. Bis zur Absage Gäns­lers ging das Fes­ti­val weder auf die Gründe für Pfi­zen­mai­ers Absage ein, noch drückte es sein Bedau­ern dar­über aus. Auf der Home­page des Fes­ti­vals wurde Pfi­zen­maier still­schwei­gend ersetzt. Nach Gäns­lers Absage lässt das Fes­ti­val auf der Web­site knapp verlautbaren: 

»Wir fin­den diese Absa­gen sehr bedau­er­lich. Für die Beweg­gründe der Betref­fen­den haben wir Ver­ständ­nis – auch wir sehen Dis­kus­si­ons­be­darf in die­ser Angelegenheit.«

Vorher-Nachher Screen­shot: das Har­bour Front-Festival ersetzt auf sei­ner Home­page Pfi­zen­maier durch Zybow­ski und hofft, dass es keine:r merkt. Foto: Screen­shot https://harbourfront-hamburg.com/.

Die Reak­tion der Kühne-Stiftung aber über­trifft das anfäng­li­che Schwei­gen des Fes­ti­valsum Län­gen. Wäh­rend sie der Mopo noch kei­nen Kom­men­tar geben wollte und wohl auch hoffte, das Pro­blem löse sich von selbst auf, ging sie gegen­über der taz in die Offen­sive: Man habe »mit Vor­gän­gen, die ca. 80 Jahre zurück­lie­gen, nichts zu tun«. Und weil sich die Stif­tung »in höchs­tem Maße« unge­recht behan­delt fühlte, setzte man dort zum Gegen­an­griff gegen die undank­ba­ren Kul­tur­schaf­fen­den und ‑liebhaber:innen an: Man werde »die tra­di­tio­nelle Ver­lei­hung des Klaus-Michael Kühne-Preises jetzt über­den­ken« ließ die Kühne-Stiftung auf Anfrage der taz ver­lau­ten. Wer Kri­tik übt, erhält kein Geld – das ist die Bot­schaft, die die Kühne-Stiftung vermittelt.

Kulturförderung entprivatisieren

Die Reak­tion der Kühne-Stiftung zeigt: Man scheint sich dort sehr bewusst dar­über zu sein, wer hier am län­ge­ren Hebel sitzt. Der Kul­tur­be­trieb ist in hohem Grad abhän­gig von sei­nen (pri­va­ten) Gön­nern. Sie kön­nen den von ihnen geför­der­ten Ein­rich­tun­gen und Ver­an­stal­tun­gen ihre Bedin­gun­gen dik­tie­ren – und bei Kri­tik oder Nicht­be­fol­gen die För­de­rung been­den oder zumin­dest damit dro­hen. Die Kühne-Stiftung zeigt mit ihrem Ver­hal­ten gegen­über den Kul­tur­schaf­fen­den über­deut­lich auf, wo die Grenze(n) der Auto­no­mie der Kunst lie­gen: Don’t bite the hand that feeds you.

Die ers­ten Leid­tra­gen­den eines Rück­zugs wären die Schriftsteller:innen und Künstler:innen, also aus­ge­rech­net die schwächs­ten Glie­der in der Kette. Tat­säch­lich sind die ande­ren Nomi­nier­ten nicht zu benei­den. Durch Pfi­zen­mai­ers und Gäns­lers Absage ste­hen sie unter Druck, sich zu beken­nen, womög­lich gar, ihrem Bei­spiel zu fol­gen. Vie­les hängt davon ab, dass die Debatte soli­da­risch geführt wird, und das heißt: nicht indi­vi­dua­li­sie­rend und mora­li­sie­rend, son­dern im Bewusst­sein der Wider­sprü­che und des struk­tu­rel­len Cha­rak­ters des Problems.

Klar ist: Solange die Kul­tur den Markt­ge­set­zen unter­liegt und die För­de­rung der Kul­tur­schaf­fen­den nicht durch öffent­li­che Hand getra­gen wird, ist sie auf pri­vate Förder:innen ange­wie­sen. Denn wenn nicht allein die Markt­gän­gig­keit von Kunst, Musik oder Lite­ra­tur zäh­len soll, son­dern auch die inhä­ren­ten Maß­stäbe der Kunst, braucht es Kul­tur­spon­so­ring. An Bei­spie­len wie Kühne zeigt sich aber, zu wel­chen Pro­ble­men es füh­ren kann, wenn dies pri­vat orga­ni­siert und zwangs­läu­fig von beson­ders ver­mö­gen­den Unter­neh­men und Ein­zel­per­so­nen mit eige­nen Inter­es­sen über­nom­men wird. Des­halb muss im Sinne einer demo­kra­ti­schen Kul­tur­för­de­rung zumin­dest eine Reduk­tion des Anteils pri­va­ten Spon­so­rings durch die (Wieder-)Einführung öffent­li­cher För­de­rung durch­ge­setzt wer­den. Die Leid­tra­gen­den des pri­va­ten Kul­tur­spon­so­rings sind letzt­lich auch die Autor:innen selbst, denen in die­sem Sys­tem mit­un­ter nur eine Wahl bleibt zwi­schen Ver­zicht auf das, was ihren Unter­halt finan­ziert, oder der Annahme frag­wür­di­ger För­der­gel­der – eine infame Verantwortungsverschiebung.

In Bezug auf den aktu­el­len Eklat heißt das: Der Kühne-Preis muss umbe­nannt und öffent­lich finan­ziert wer­den. Wie wäre es etwa mit einem von der Stadt Ham­burg finan­zier­ten Peter-Rühmkorf-Preis? Wenn man sich anschaut, wie schnell die Stadt im Cum-Ex-Skandal bereit war, auf 47 Mil­lio­nen Euro an Steu­ern zuguns­ten der Warburg-Bank zu ver­zich­ten, soll­ten 10.000 Euro Preis­geld sicher­lich kein Pro­blem dar­stel­len. Und Küh­nes Geld könnte auch in einer unab­hän­gi­gen, wis­sen­schaft­li­chen Auf­ar­bei­tung der eige­nen Fir­men­ge­schichte sehr gute Ver­wen­dung finden.

Redak­tion Untie­fen, 7. Sep­tem­ber 2022

Kühne + Nagel, Logistiker des NS-Staats

Kühne+Nagel: Logistiker des NS-Staats

Kühne + Nagel ist eines der größ­ten Logis­tik­un­ter­neh­men der Welt. Die ent­schei­dende Grund­lage dafür schuf die Betei­li­gung des Unter­neh­mens an NS-Verbrechen – und seine ›Ari­sie­rung‹ im Jahr 1933. Wäh­rend in Bre­men nun ein Mahn­mal ent­steht, gibt es in Ham­burg bis­lang keine Pra­xis des Erinnerns.

Kühne + Nagel sorgte für volle Lager­hal­len: Möbel aus jüdi­schem Besitz, 1943 aus den besetz­ten Län­dern West­eu­ro­pas nach Deutsch­land abtrans­por­tiert. Quelle: Stadt­ar­chiv Oberhausen.

Bre­men erhält einen neuen Gedenk­ort: ein Mahn­mal zur Erin­ne­rung an die sys­te­ma­ti­sche Aus­plün­de­rung der euro­päi­schen Jüdin­nen und Juden im Natio­nal­so­zia­lis­mus – und an die maß­geb­li­che Betei­li­gung von Bre­mer Logis­tik­un­ter­neh­men an die­sem Ver­bre­chen. Initi­iert wurde das Mahn­mal vom ehe­ma­li­gen taz-Redak­teur und heu­ti­gen Geschäfts­füh­rer der Heinrich-Böll-Stiftung Bre­men, Hen­ning Bleyl. Als 2015 auf dem Bre­mer Markt­platz mit viel Pomp das 125-jährige Bestehen des Logis­tik­un­ter­neh­mens Kühne + Nagel (K+N) gefei­ert wurde, begann er, zur NS-Geschichte des Unter­neh­mens zu recher­chie­ren und zu publi­zie­ren.1Alle seit 2015 von Bleyl und ande­ren Autor:innen in der taz erschie­ne­nen Bei­träge sind in einem umfas­sen­den Dos­sier ver­sam­melt, das einen her­vor­ra­gen­den Über­blick über die Causa Kühne + Nagel verschafft.

Bleyl und seine Mitstreiter:innen for­der­ten ein Mahn­mal für die Ver­bre­chen, an denen K+N betei­ligt war, und erzwan­gen so eine Aus­ein­an­der­set­zung der Poli­tik und der Öffent­lich­keit mit dem lange Zeit beschwie­ge­nen Thema. Nun, sie­ben Jahre spä­ter, gegen viele Wider­stände und nach lang­wie­ri­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen vor allem um den Stand­ort, mate­ria­li­sie­ren sich diese Bemü­hun­gen: An den Weser-Arkaden in Sicht­weite der 2020 neu errich­te­ten Deutschland-Zentrale von K+N soll in Kürze mit dem Bau des Mahn­mals nach einem Ent­wurf von Evin Oet­tings­hau­sen begon­nen wer­den. Spä­tes­tens 2023 soll das Mahn­mal ein­ge­weiht werden.

Es wird eine Lücke schlie­ßen: das Bre­mer ›Arisierungs‹-Mahnmal (Ent­wurf). © Evin Oettingshausen

Willige Vollstrecker und Profiteure der ›Arisierung

Dort, wo jetzt der Neu­bau steht, befand sich seit 1909 die Zen­trale des 1890 in Bre­men gegrün­de­ten Unter­neh­mens Kühne + Nagel. Inner­halb kur­zer Zeit war das Unter­neh­men zu einem bedeu­ten­den Transport- und Logis­tik­kon­zern auf­ge­stie­gen und hatte Nie­der­las­sun­gen in zahl­rei­chen deut­schen Städ­ten gegrün­det, dar­un­ter auch in Ham­burg. 1932 starb der Fir­men­grün­der August Kühne; seine bei­den Söhne Alfred und Wer­ner über­nah­men das Geschäft. Unter ihrer Lei­tung war das Unter­neh­men dann an NS-Verbrechen betei­ligt, ins­be­son­dere an ›Ari­sie­run­gen‹. Die von den Nazis so bezeich­ne­ten Ver­bre­chen umfass­ten nicht nur die Ver­drän­gung von Jüdin­nen und Juden aus ihren Unter­neh­men, Beru­fen und Woh­nun­gen, son­dern auch den sys­te­ma­ti­schen Raub jüdi­schen Eigen­tums in ganz Europa.

K+N war an die­sem Raub ins­be­son­dere in Frank­reich, Bel­gien und den Nie­der­lan­den in beträcht­li­chem Aus­maß betei­ligt. Das Unter­neh­men trans­por­tierte im Rah­men der soge­nann­ten ›M‑Aktion‹ der ›Dienst­stelle Wes­ten‹ Raub­gut (vor allem Möbel) aus den Woh­nun­gen depor­tier­ter oder geflo­he­ner Jüdin­nen und Juden nach Deutsch­land. In die­sem wahr­schein­lich größ­ten Raub­zug der jün­ge­ren Geschichte wur­den zwi­schen 1942 bis 1944 etwa 70.000 Woh­nun­gen geplün­dert, davon wohl etwa die Hälfte mit Hilfe von K+N. In Deutsch­land wur­den die Möbel güns­tig an ›Volks­ge­nos­sen‹ wei­ter­ver­kauft oder ver­stei­gert. »Zwi­schen 1941 und 1945 ver­ging in Ham­burg kaum ein Tag, an dem nicht Besitz von Juden öffent­lich ver­stei­gert wurde«, schrie­ben Linde Apel und Frank Bajohr 2004.

So pro­fi­tier­ten unzäh­lige ›ganz nor­male Deut­sche‹ von den sys­te­ma­ti­schen Plün­de­run­gen, die ihnen güns­tig Haus­rat ver­schaff­ten. Ganz beson­ders pro­fi­tier­ten aber der NS-Staat, der mit den Erlö­sen zur Finan­zie­rung von Krieg und Juden­ver­nich­tung bei­trug, und das Unter­neh­men K+N, das für seine Dienst­leis­tun­gen gut bezahlt wurde. K+N ver­diente somit unmit­tel­bar an der Ent­rech­tung, Ver­fol­gung und Ermor­dung der euro­päi­schen Jüdin­nen und Juden.2Auch an der erzwun­ge­nen Flucht selbst ver­diente K+N als Trans­port­dienst­leis­ter für das Hab und Gut der Aus­rei­sen­den. Davon zeugt u.a. ein Pla­kat von 1935 im Bestand des Deut­schen His­to­ri­schen Muse­ums.

Möbel für ›Volks­ge­nos­sen‹: Anzeige für eine Ver­stei­ge­rung, Bre­men 1942. Quelle DSM Bre­mer­ha­ven.

Wie der His­to­ri­ker Johan­nes Beermann-Schön betont, waren die deut­schen Logis­tik­un­ter­neh­men, unter denen K+N sich wäh­rend des NS eine Quasi-Monopolstellung erkämpfte, dabei nicht bloße Hand­lan­ger, son­dern wil­lige Voll­stre­cker. Ihr Vor­ge­hen sorgte für eine Ver­schär­fung und Beschleu­ni­gung der Ent­rech­tung und der Aus­plün­de­rung Depor­tier­ter, urteilte er in einem 2020 erschie­ne­nen Bei­trag.3Vgl. Johan­nes Beermann-Schön: Taking Advan­tage: Ger­man Freight For­war­ders and Pro­perty Theft, 1933–1945, in: Chris­toph Kreutz­mül­ler, Jona­than R. Zat­lin (Hg.): Dis­pos­ses­sion. Plun­de­ring Ger­man Jewry, 1933–1953, Ann Arbor/Michigan 2020, 127–147, 142. Ein sol­ches Enga­ge­ment wurde vom NS-Staat nicht nur gut bezahlt, son­dern auch sym­bo­lisch hono­riert: K+N erhielt 1937 und von 1939 bis zum Kriegs­ende ein »Gau­di­plom« als »Natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Musterbetrieb«.

Entrechtet, enteignet, ermordet:
Adolf und Käthe Maass

Dass Alfred und Wer­ner Kühne deut­lich mehr waren als oppor­tu­nis­ti­sche Pro­fi­teure, zeigt nicht nur ihre Kol­la­bo­ra­tion mit dem NS-Staat im Rah­men der ›M‑Aktion‹. Ihr Vater, der Unter­neh­mens­grün­der August Kühne, hatte 1902 sei­nen vor­ma­li­gen Lehr­ling Adolf Maass mit dem Auf­bau einer Ham­bur­ger Nie­der­las­sung betraut und ihn auf­grund sei­nes gro­ßen Erfolgs bei die­ser Auf­gabe schon 1910 zum Teil­ha­ber des Unter­neh­mens gemacht. Ab 1928 hielt Maass 45 Pro­zent der Anteile am Ham­bur­ger Zweig von K+N. Nach August Küh­nes Tod und der Über­nahme des Geschäfts durch seine Söhne war für den jüdi­schen Teil­ha­ber aber kein Platz mehr bei K+N. Im April 1933 wurde er von den Kühne-Brüdern mit­tels eines Kne­bel­ver­trags aus dem Unter­neh­men gedrängt. Wenige Tage nach die­ser ›Ari­sie­rung‹, am 1. Mai 1933, tra­ten Alfred und Wer­ner Kühne in die NSDAP ein.

Der vor­ma­lige Teil­ha­ber Maass blieb in Deutsch­land und wurde Gesell­schaf­ter eines Import­un­ter­neh­mens. Doch die sich ver­schär­fende anti­se­mi­ti­sche Gesetz­ge­bung drängte ihn auch hier aus dem Unter­neh­men und raubte ihm zudem einen beträcht­li­chen Teil sei­nes Ver­mö­gens. Nach­dem Maass im Gefolge der Pogrom­nacht vom 9. Novem­ber 1938 für meh­rere Wochen im KZ Sach­sen­hau­sen inter­niert wor­den war, plan­ten er und seine Frau Käthe die Emi­gra­tion. Doch der Beginn des Kriegs ver­ei­telte diese Pläne. 1942 wur­den Adolf und Käthe Maass nach The­re­si­en­stadt depor­tiert. Von dort wur­den sie 1944 nach Ausch­witz ver­bracht, wo sie ver­mut­lich Anfang 1945 ermor­det wur­den. In der Blu­men­straße in Hamburg-Winterhude, in der die bei­den wohn­ten, bis sie ihr Haus 1941 weit unter Wert ver­kau­fen muss­ten, erin­nern seit 2006 zwei Stol­per­steine an sie. In der Ham­bur­ger Öffent­lich­keit sind ihre Namen jedoch weit­ge­hend vergessen.

Der ›wundersame‹ Wiederaufstieg von
Kühne + Nagel

Alles andere als ver­ges­sen ist hin­ge­gen der Name Kühne: Dass er gerade in Ham­burg so prä­sent ist, ver­dankt sich vor allem dem öffent­li­chen Auf­tre­ten des Mul­ti­mil­li­ar­därs und heu­ti­gen K+N‑Eigentümers Klaus-Michael Kühne, dem Sohn und Allein­er­ben Alfred Küh­nes. Kühne, gebo­ren 1937 in Ham­burg, ist der Zeit­schrift For­bes zufolge die zweit­reichste Ein­zel­per­son in Deutsch­land und ver­fügt über ein Ver­mö­gen von geschätz­ten 32 Mil­li­ar­den Dollar. 

K+N, an dem Kühne die Mehr­heit der Anteile hält, ist einer der zehn umsatz­stärks­ten Logis­tik­kon­zerne der Welt. Über die Kühne Hol­ding AG hält Kühne außer­dem große Anteile an Trans­port­un­ter­neh­men wie Luft­hansa und Hapag-Lloyd sowie an Immo­bi­li­en­pro­jek­ten wie dem in Ham­burg im Bau befind­li­chen Elb­tower. Als Spon­sor der Elb­phil­har­mo­nie, der Staats­oper und des Har­bourfront Lite­ra­tur­fes­ti­vals, als lang­jäh­ri­ger Groß­in­ves­tor des HSV und als Grün­der der pri­va­ten Kühne Logi­stics Uni­ver­sity (KLU) hat er immensen Ein­fluss auf die Ham­bur­ger Poli­tik und Gesell­schaft. Seit 2010 ver­leiht außer­dem der von Kühne gestif­tete und, gewohnt unbe­schei­den, nach ihm selbst benannte Lite­ra­tur­preis für das beste deutsch­spra­chige Roman­de­büt sei­nem Namen Glanz.

Doch wie kam Kühne zu der­ar­ti­gem Ver­mö­gen, Ein­fluss und Anse­hen? Um die­ser Frage nach­zu­ge­hen, muss man die Nach­kriegs­ge­schichte der BRD in den Blick neh­men. Klaus-Michael Küh­nes Vater Alfred Kühne galt nach dem Zwei­ten Welt­krieg zunächst als belas­tet, wurde dann aller­dings unter frag­wür­di­gen Bedin­gun­gen ent­na­zi­fi­ziert. Grund dafür war offen­bar, dass sein weit­ver­zweig­tes Unter­neh­men als Tarn­firma eine Rolle bei der Eta­blie­rung des BND spie­len sollte. Durch diese Ent­las­tung konnte Alfred Kühne an seine Tätig­keit als Logis­tik­un­ter­neh­mer wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus nahezu naht­los anknüp­fen. Durch die NS-Geschäfte hatte Kühne nicht nur ein beträcht­li­ches Ver­mö­gen erwirt­schaf­tet, son­dern war auch euro­pa­weit ver­netzt. Die­sen Wett­be­werbs­vor­teil konnte das Unter­neh­men sich zunutze machen, und so wuchs es rasant.

Anders als es der etwa von der FAZ bis heute fort­ge­schrie­bene Mythos will, bil­de­ten nicht »Fleiß, For­tune und eisen­harte Dis­zi­plin« der Küh­nes die Grund­lage für den wirt­schaft­li­chen Erfolg von K+N, son­dern zual­ler­erst der durch die Betei­li­gung an den NS-Verbrechen erwor­bene Akku­mu­la­ti­ons­vor­sprung. »Das Unter­neh­men ver­dankt sei­nem Enga­ge­ment in der NS-Zeit wesent­li­che, bis heute rele­vante Ent­wick­lungs­im­pulse«, resü­miert Hen­ning Bleyl. Der Wie­der­auf­stieg von K+N ist genauso wenig ›wun­der­sam‹ wie das bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche ›Wirt­schafts­wun­der‹, des­sen Grund­la­gen eben­falls in einer im Krieg u.a. durch Zwangs­ar­beit und ›Ari­sie­rung‹ expan­dier­ten und nur zu gerin­gen Tei­len zer­stör­ten Indus­trie lagen. Ange­sichts die­ser Par­al­lele ist es auch nicht ver­wun­der­lich, dass Alfred Kühne in der Bun­des­re­pu­blik hohe gesell­schaft­li­che Aner­ken­nung zuteil wurde: Er erhielt das Bre­mi­sche Han­sea­ten­kreuz, wurde 1955 zum Hono­rar­kon­sul der Repu­blik Chile in Bre­men ernannt und erhielt 1960 das Große Bun­des­ver­dienst­kreuz für seine »Ver­dienste um den Wiederaufbau«.

Sein Sohn Klaus-Michael Kühne über­nahm vom Vater im Alter von 29 Jah­ren die Füh­rung des Unter­neh­mens. Unter sei­ner Lei­tung ent­wi­ckelte sich K+N zu einem der welt­weit größ­ten Logis­tik­un­ter­neh­men der Welt – im Bereich See­fracht ist es heute sogar Welt­markt­füh­rer.4In den letz­ten Jah­ren pro­fi­tierte K+N zudem von den staat­li­chen Auf­trä­gen für den Impf­stoff­trans­port sowie von den durch die Lie­fer­ket­ten­pro­bleme her­vor­ge­ru­fe­nen enor­men Preis­stei­ge­run­gen für Fracht­trans­porte. K+N gehört damit zu den größ­ten Kri­sen­ge­winn­lern der letz­ten Jahre.

Und wie sein Vater erhält auch Klaus-Michael Kühne für diese Erfolge staat­li­che Ehrun­gen – ins­be­son­dere in sei­nen bei­den ›Hei­mat­städ­ten‹ Bre­men und Ham­burg: Im Rah­men der bereits erwähn­ten 125-Jahr-Feiern im Jahr 2015 mach­ten die dama­li­gen Ers­ten Bür­ger­meis­ter der bei­den Han­se­städte, Jens Böhrn­sen und Olaf Scholz, dem Unter­neh­men und sei­nem Patri­ar­chen die Auf­war­tung. Die Stadt Ham­burg hat Kühne eine Ehren­pro­fes­sur ver­lie­hen und ihm ihr Gol­de­nes Buch vor­ge­legt. Die BILD berich­tete 2017 gar von Bestre­bun­gen, Kühne zum Ham­bur­ger Ehren­bür­ger zu machen. Alfred und Klaus-Michael Kühne ver­leg­ten den Fir­men­sitz 1969 zwar in die Schweiz, um den unter der sozi­al­li­be­ra­len Regie­rung erlas­se­nen Mit­be­stim­mungs­ge­set­zen zu ent­ge­hen, doch Bre­men und Ham­burg sind als Deutschland- bzw. Euro­pa­zen­trale des Kon­zerns nach wie vor von gro­ßer Bedeutung.

Verweigerte und sabotierte Aufarbeitung

»Wir sind eine sehr offene Firma. Wir stel­len uns dar, wir wol­len nichts ver­ste­cken«, zitiert der Weser­ku­rier den Bre­mer Nie­der­las­sungs­lei­ter anläss­lich der Eröff­nung der neuen Deutsch­land­zen­trale im Jahr 2020. Schließ­lich böten die gro­ßen Fens­ter den Passant:innen einen trans­pa­ren­ten Ein­blick – in die Fir­men­kan­tine. Ein ande­res Bild bie­tet der Geschäfts­sitz von K+N in der Schweiz. Des­sen Fas­sade besteht rundum aus ver­spie­gel­tem Glas – und kann damit sinn­bild­lich für das Ver­hält­nis des Unter­neh­mens zur Auf­ar­bei­tung sei­ner Geschichte ste­hen. Klaus-Michael Kühne wei­gert sich näm­lich beharr­lich, die Geschichte des Unter­neh­mens auf­zu­ar­bei­ten und von Historiker:innen unter­su­chen zu lassen.

Trans­pa­renz à la Klaus-Michael Kühne: Die Zen­trale von K+N am Zürich­see. Foto: Roland zh, Wiki­pe­dia.

Erst 2015, als Reak­tion auf den durch Recher­chen der taz und des Baye­ri­schen Rund­funks erzeug­ten öffent­li­chen Druck, äußerte sich das Unter­neh­men erst­mals zu sei­ner NS-Geschichte: In einer Pres­se­er­klä­rung bekun­dete K+N sein Bedau­ern, »seine Tätig­keit zum Teil im Auf­trag des Nazi-Regimes aus­ge­übt« zu haben, attes­tierte sich selbst aber groß­zü­gig mil­dernde Umstände und rühmte sich, »in dunk­len und schwie­ri­gen Zei­ten seine Exis­tenz behaupte[t]« und »die Kriegs­wir­ren unter Auf­bie­tung aller sei­ner Kräfte über­stan­den« zu haben. Einen ähn­li­chen Ton schlägt eine fir­men­in­terne Jubi­lä­ums­schrift an, aus der bis­lang nur ein­zelne Zitate an die Öffent­lich­keit gelangt sind. Über das Aus­schei­den Adolf Maass’ im Jahr 1933 heißt es darin etwa: »Herr Maass hat von sich aus in freund­schaft­li­cher Abstim­mung mit uns die Kon­se­quen­zen getra­gen, indem er bei uns ausschied.«

Dass diese Aus­sa­gen mit der Wirk­lich­keit wenig gemein haben, ist offen­sicht­lich: Nichts spricht dafür, dass Maass das Unter­neh­men nach mehr als drei­ßig Jah­ren ›frei­wil­lig‹ und ohne Abfin­dung ver­las­sen habe. Um die Details des Vor­gangs in Erfah­rung zu brin­gen, bräuchte es jedoch den Zugang zum Unter­neh­mens­ar­chiv – und der wurde bis­her nie­man­dem gewährt. Klaus-Michael Kühne behaup­tet, die­ses Archiv sei im Krieg zer­stört wor­den – dabei konnte Hen­ning Bleyl für die taz nach­wei­sen, dass die Unter­la­gen aus Bre­men und Ham­burg wohl recht­zei­tig in Sicher­heit gebracht wor­den waren. Das Ver­zeich­nis »Deut­sche Wirt­schafts­ar­chive« jeden­falls weist ein Fir­men­ar­chiv von K+N in der Stadt Kon­stanz aus: mit Bestän­den ab 1902 und der Inhalts­an­gabe »Urkun­den, Akten, Pro­to­kolle, Geschäfts­be­richte, Druck­schrif­ten, Fotos etc. Benut­zung nur mit Geneh­mi­gung der Geschäftsleitung«.

»Milliardär mit eisenharter Disziplin«

Kühne ficht das nicht an. Er bleibt bei sei­ner unglaub­wür­di­gen Behaup­tung und geriert sich als Opfer einer Kam­pa­gne: Er habe kein Ver­ständ­nis dafür, dass die NS-Vergangenheit des Unter­neh­mens »immer wie­der hoch­ge­kocht wird«, sagte er 2019 gegen­über radio bre­men. Wäh­rend andere deut­sche Unter­neh­men zumin­dest in den letz­ten Jah­ren, da die Täter:innen längst unbe­schol­ten gestor­ben sind, Historiker:innen mit der Auf­ar­bei­tung ihrer Geschichte beauf­tragt haben, ver­hin­dert Kühne dies beharr­lich. Kein Wun­der ist es daher, dass er sich mas­siv dage­gen wehrte, als die Initia­tive um Hen­ning Bleyl die For­de­rung erhob, das ›Arisierungs‹-Mahnmal direkt vor der Fir­men­zen­trale auf­zu­stel­len. Auch jetzt, wo es ein wenig abseits ent­steht, betei­li­gen sich weder K+N noch ein ande­res der in den NS ver­strick­ten Bre­mer Trans­port­un­ter­neh­men an den Kos­ten des Mahnmals.

Kühne macht kei­nen Hehl dar­aus, dass er zur Unternehmens- und Fami­li­en­ge­schichte kei­ner­lei Distanz ein­nimmt. Häu­fig betont er die starke Prä­gung durch sei­nen Vater; im Fir­men­sitz hängt das Por­trät Alfred Küh­nes auto­ri­ta­tiv über der Tür des Bespre­chungs­zim­mers.5Chris­tian Rickens: Ganz oben. Wie Deutsch­lands Mil­lio­näre wirk­lich leben. Köln 2011, S. 177 Dass auch Küh­nes Geis­tes­hal­tung mehr Kon­ti­nui­tä­ten als Brü­che mit der sei­nes Vaters auf­weist, legt eine Äuße­rung von ihm im Jahr 2008 nahe. Mit Bezug auf seine Ableh­nung einer Über­nahme der Ree­de­rei Hapag-Lloyd durch aus­län­di­sche Unter­neh­men bekun­dete er damals: »Wir wol­len uns mög­lichst rein­ras­sig deutsch halten.«

Gleich­zei­tig insze­niert sich Klaus-Michael Kühne als kunst­sin­ni­ger Mäzen, visio­nä­rer Gestal­ter und sach­kun­di­ger Poli­tik­be­ra­ter. In den Medien wird er als »Mil­li­ar­där mit eisen­har­ter Dis­zi­plin« (FAZ) bzw. »Mil­li­ar­där, der Gedichte schreibt – und nicht auf­hö­ren kann zu arbei­ten« (SPIEGEL), hofiert. In Inter­views und Homes­to­ries darf sich Kühne über den ›sehr gro­ßen Sozi­al­neid‹ in Deutsch­land bekla­gen (NZZ), seine Ableh­nung der Über­ge­winn­steuer bekun­den oder seine Pläne für ein neues Opern­hau­ses für Ham­burg aus­brei­ten. Kri­ti­sche Nach­fra­gen zur NS-Geschichte von K+N blei­ben aus.

Klaus-Michael Kühne ›bringt Opfer‹ (FAZ) und er ›ver­langt Opfer‹ (Abend­blatt). Foto: Monster4711, Wiki­pe­dia.

Auch in Hamburg: NS-Verbrechen erinnern!

Kühne ist kein Ein­zel­fall. Zahl­rei­che Unter­neh­men in Ham­burg und dar­über hin­aus mach­ten ihr Ver­mö­gen im Natio­nal­so­zia­lis­mus.6Vgl. dazu etwa Frank Bajohrs Stu­dieAri­sie­rung‹ in Ham­burg und Felix Mat­heis‹ Bei­trag ›Ari­sie­ren‹ und Aus­beu­ten bei Untie­fen. Aber Kühne ist ein Extrem­fall inso­fern, als er nicht nur dank die­sem Ver­mö­gen heute einer der reichs­ten Men­schen der Welt ist, son­dern zudem jeg­li­che Auf­ar­bei­tung der Geschichte ver­hin­dert und sei­nen Namen durch Mäze­na­ten­tum und Kul­tur­spon­so­ring weiß­wäscht.

Das ist nun kein Geheim­nis. Vor allem Hen­ning Bleyl recher­chierte und publi­zierte seit 2015 ein­ge­hend zu dem Thema; hinzu kom­men Recher­chen von His­to­ri­kern wie Wolf­gang Dre­ßen, Götz Aly, Frank Bajohr und Johan­nes Beermann-Schön. Und auch viele Medien berich­te­ten in den letz­ten Jah­ren über die NS-Verstrickungen von K+N – sogar in der Ham­bur­ger Mor­gen­post und im HSV-Fanmagazin Bah­ren­fel­der Anzei­ger konnte man schon dar­über lesen. In Ham­burg hat diese Bericht­erstat­tung jedoch offen­bar kaum Konsequenzen.

Das muss sich ändern. Die NS-Geschichte der Ham­bur­ger Handels- und Trans­port­un­ter­neh­men muss in den Blick der erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Arbeit gera­ten. Am Bei­spiel Kühne offen­bart sich ein Skan­dal, der sich mit dem Selbst­bild des ›wie­der­gut­ge­wor­de­nen‹ Deutsch­land nicht ver­trägt und doch kon­sti­tu­tiv für die­ses Land ist: Die aktive Betei­li­gung an NS-Verbrechen zahlt sich für deut­sche Unter­neh­men bis zum heu­ti­gen Tag aus. Eine kri­ti­sche Stadt­öf­fent­lich­keit sollte es als ihre Auf­gabe begrei­fen, die­sen Skan­dal ins öffent­li­che Bewusst­sein zu rufen. Und sie sollte derer geden­ken, die – wie Adolf und Käthe Maass – die­sen Ver­bre­chen zum Opfer fie­len. Ein Mahn­mal wie in Bre­men wäre ein ers­ter Schritt.

Lukas Betz­ler

Der Autor schrieb für Untie­fen bereits über das Hols­ten­areal und das Stadt­ma­ga­zin SZENE Ham­burg. Eine Umfrage in sei­nem Freun­des­kreis hat erge­ben, dass eine Mehr­heit Klaus-Michael Kühne bis­lang für den Chef des gleich­na­mi­gen Ham­bur­ger Senf- und Essig­her­stel­lers hielt.

  • 1
    Alle seit 2015 von Bleyl und ande­ren Autor:innen in der taz erschie­ne­nen Bei­träge sind in einem umfas­sen­den Dos­sier ver­sam­melt, das einen her­vor­ra­gen­den Über­blick über die Causa Kühne + Nagel verschafft.
  • 2
    Auch an der erzwun­ge­nen Flucht selbst ver­diente K+N als Trans­port­dienst­leis­ter für das Hab und Gut der Aus­rei­sen­den. Davon zeugt u.a. ein Pla­kat von 1935 im Bestand des Deut­schen His­to­ri­schen Muse­ums.
  • 3
    Vgl. Johan­nes Beermann-Schön: Taking Advan­tage: Ger­man Freight For­war­ders and Pro­perty Theft, 1933–1945, in: Chris­toph Kreutz­mül­ler, Jona­than R. Zat­lin (Hg.): Dis­pos­ses­sion. Plun­de­ring Ger­man Jewry, 1933–1953, Ann Arbor/Michigan 2020, 127–147, 142.
  • 4
    In den letz­ten Jah­ren pro­fi­tierte K+N zudem von den staat­li­chen Auf­trä­gen für den Impf­stoff­trans­port sowie von den durch die Lie­fer­ket­ten­pro­bleme her­vor­ge­ru­fe­nen enor­men Preis­stei­ge­run­gen für Fracht­trans­porte. K+N gehört damit zu den größ­ten Kri­sen­ge­winn­lern der letz­ten Jahre.
  • 5
    Chris­tian Rickens: Ganz oben. Wie Deutsch­lands Mil­lio­näre wirk­lich leben. Köln 2011, S. 177
  • 6
    Vgl. dazu etwa Frank Bajohrs Stu­dieAri­sie­rung‹ in Ham­burg und Felix Mat­heis‹ Bei­trag ›Ari­sie­ren‹ und Aus­beu­ten bei Untie­fen.

Halskestraße 1980: rassistischer Terror

Halskestraße 1980: rassistischer Terror

Am 22. August jährt sich das neo­na­zis­ti­sche Atten­tat in der Ham­bur­ger Hals­ke­straße zum 42. Mal. Eine ange­mes­sene Gele­gen­heit, sei­ner Opfer zu geden­ken und sich die wider­sprüch­li­che gesell­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung um die­sen wohl ers­ten ras­sis­ti­schen Mord­an­schlag in der Bun­des­re­pu­blik in Erin­ne­rung zu rufen.

Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu. Foto: Initia­tive zum Geden­ken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân.

In der Nacht des 22. August 1980 schli­chen sich drei Gestal­ten an das Gebäude Hals­ke­straße 72 heran, die ein abge­le­ge­nes Gewer­be­ge­biet im Stadt­teil Bill­brook im Süd­os­ten Ham­burgs durch­zieht. Es han­delte sich um Ange­hö­rige der selbst­er­nann­ten »Deut­schen Akti­ons­grup­pen«. Sie schmier­ten die Parole »Aus­län­der raus!« an die Wand und schleu­der­ten bren­nende Molotow-Cocktails durch eine Scheibe im Erd­ge­schoss. Hin­ter dem Fens­ter schlie­fen Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân. Sie waren kurz zuvor als soge­nannte »boat peo­ple« aus Viet­nam geflo­hen und gemein­sam mit wei­te­ren Geflüch­te­ten in dem Wohn­heim unter­ge­kom­men. Die Brand­sätze explo­dier­ten und setz­ten das kleine Zim­mer sofort in Flam­men. Nguyễn Ngọc Châu starb wenige Stun­den spä­ter. Đỗ Anh Lân erlag neun Tage dar­auf sei­nen schwe­ren Ver­let­zun­gen in einem Ham­bur­ger Krankenhaus.

Der bru­tale Anschlag war ein rechts­extre­mer Ter­ror­akt. Er gilt heute als ers­ter doku­men­tier­ter ras­sis­ti­scher Mord in der Geschichte der Bun­des­re­pu­blik und stellt den Beginn einer gan­zen Reihe ähn­li­cher Mord­ta­ten Rechts­extre­mer wäh­rend der acht­zi­ger Jahre dar. Allein die »Deut­schen Akti­ons­grup­pen« hat­ten in den Wochen und Mona­ten zuvor zahl­rei­che ras­sis­ti­sche und anti­se­mi­ti­sche Anschläge ver­übt. Im April 1980 explo­dierte eine Bombe vor der Janusz-Korczak-Schule, der NS-Gedenkstätte »Bul­len­hu­ser Damm«, in Rothen­burg­sort unweit der Hals­ke­straße. Es folg­ten Atta­cken auf Geflüch­te­ten­wohn­heime in Bay­ern und Baden-Württemberg sowie auf eine wei­tere NS-Ausstellung. Die Ter­ror­bande war bei wei­tem nicht die ein­zige mili­tante Neonazi-Gruppe die­ser Zeit. Beim Okto­ber­festat­ten­tat vom 26. Sep­tem­ber 1980 tötete ein jun­ger Rechts­extre­mer mit Ver­bin­dun­gen zur »Wehr­sport­gruppe Hoff­mann« zwölf Men­schen und sich selbst. Der Ter­ror­an­schlag stellt das her­aus­ra­gendste Ereig­nis die­ser bis­lang kaum erforsch­ten bun­des­deut­schen Gewalt­ge­schichte dar.

Dabei war es kei­nes­wegs so, dass die zeit­ge­nös­si­sche Öffent­lich­keit das Thema igno­rierte, wie sich anhand einer klei­nen his­to­ri­schen Pro­be­boh­rung in Ham­burg zei­gen lässt. Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen um rechte Gewalt inten­si­vier­ten sich im Laufe der acht­zi­ger Jahre. Sie deu­ten exem­pla­risch auf die ras­sis­ti­sche Stim­mung in der Bun­des­re­pu­blik hin, die zu die­ser Zeit eine Kon­junk­tur erlebte. Die öffent­li­chen Reak­tio­nen sowohl im bür­ger­li­chen wie im lin­ken Spek­trum blie­ben indes wider­sprüch­lich und dreh­ten sich um eigene Befindlichkeiten.

Die egozentrische Empörung der Mehrheitsgesellschaft

Die ham­bur­gi­sche, aber auch die bun­des­deut­sche Öffent­lich­keit nahm den Anschlag in der Hals­ke­straße auf­merk­sam zur Kennt­nis. Das öffent­li­che Inter­esse in Ham­burg lässt sich exem­pla­risch an der Bericht­erstat­tung des Ham­bur­ger Abend­blatts nach­voll­zie­hen. Die bürgerlich-konservative Publi­ka­tion wid­mete dem Angriff und sei­nem Kon­text im August und Sep­tem­ber 1980 rund ein Dut­zend Arti­kel. Auch füh­rende Ver­tre­ter der han­se­städ­ti­schen Poli­tik nah­men öffent­lich Anteil. 

So doku­men­tierte das Ham­bur­ger Abend­blatt die Trau­er­feier für Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân auf dem Öjen­dor­fer Fried­hof, wo die bei­den am 4. Sep­tem­ber 1980 bestat­tet wur­den, sowie eine Rede, die der Erste Bür­ger­meis­ter Hans-Ulrich Klose (SPD) bei der Zere­mo­nie hielt. Dem­nach wohn­ten immer­hin 400 Per­so­nen der Ver­an­stal­tung bei, was eben­falls auf die große Anteil­nahme hin­weist. Die Dar­stel­lung der Zei­tung offen­bart dabei ein­drück­lich die dis­pa­ra­ten Sicht­wei­sen der deut­schen Mehr­heits­ge­sell­schaft. Sie beweg­ten sich zwi­schen Empö­rung über die Gewalt­tat und kul­tu­ra­lis­ti­schen Differenzkonstruktionen.

Der Repor­ter bemühte sich sehr, die ver­meint­li­che gegen­sei­tige Fremd­heit der Anwe­sen­den unmiss­ver­ständ­lich her­aus­zu­stel­len: »Der bedrü­ckende Anlaß der Trau­er­feier sollte ges­tern zugleich ein Zei­chen der Hoff­nung set­zen, sollte eine Brü­cke des Ver­ständ­nis­ses schla­gen hel­fen. Doch eher stau­nend und ver­ständ­nis­los als Seite an Seite mit den Viet­na­me­sen stan­den die Ein­hei­mi­schen unter den 400 Trau­er­gäs­ten.« Die bei­den Opfer seien ebenso wie die anschlie­ßende Gra­bespro­zes­sion »fremd und fremd­län­disch« geblie­ben. »Ver­ste­hen konnte der eine die ande­ren nicht«, so der Autor über die Gruppe von »Men­schen aus zwei Kul­tur­krei­sen«, zumal die Zere­mo­nie »die Ham­bur­ger […] mit der völ­lig frem­den Kul­tur jener Men­schen kon­fron­tierte, die als Opfer der Poli­tik plötz­lich zu Nach­barn und dann doch wie­der zu Opfern gewor­den sind«. Bloß die »Abscheu vor dem Ver­bre­chen« habe die Gäste verbunden.

Die Per­spek­ti­ven der Betrof­fe­nen blie­ben eine Rand­no­tiz. Nur knapp zitierte der Autor eine nicht nament­lich genannte Viet­na­me­sin: »Wir fra­gen die Mör­der, was sie wohl emp­fin­den mögen«. Das war zugleich der ein­zige Hin­weis auf die Täter und ihre hier unge­nannt blei­bende ras­sis­ti­sche Moti­va­tion. Zwar benannte der Teaser des Arti­kels die Tat als »Ter­ror­an­schlag«, doch die Über­be­to­nung der angeb­li­chen Dif­fe­renz zwi­schen »Ein­hei­mi­schen« und den Opfern bezie­hungs­weise der Gruppe, der sie ange­hör­ten, kon­ter­ka­riert selbst den Ver­such, »eine Brü­cke schla­gen« zu wol­len. Die Befind­lich­kei­ten eines mehr­heits­deut­schen Blicks stellte das Abend­blatt in den Vor­der­grund, echte Soli­da­ri­tät und Mit­ge­fühl mit den »Nach­barn« lie­ßen sich so nicht ausdrücken.

Der Ort des neo­na­zis­ti­schen Ter­rors – die Hals­ke­straße 72 im Jahr 2022. Foto: privat.

Dem Bür­ger­meis­ter gelang es in sei­ner Anspra­che hin­ge­gen bes­ser, empa­thi­sche Anteil­nahme ange­sichts des »bru­ta­len, heim­tü­cki­schen Anschlags« zum Aus­druck zu brin­gen. Den­noch zei­gen seine Äuße­run­gen eben­falls einen bemer­kens­wert deutsch-zentrierten Fokus. So bemühte Klose den Mythos von Ham­burg als libe­ra­ler und welt­of­fe­ner Stadt, der eine wich­tige Rolle im beschö­ni­gen­den his­to­ri­schen Selbst­bild der see­han­dels­ori­en­tier­ten Kauf­manns­me­tro­pole spielt: »Ich bin zutiefst betrof­fen, daß eine sol­che Tat in unse­rem Land gesche­hen konnte, in einer Stadt, die in ihrer Geschichte Zei­chen gesetzt hat für frei­heit­li­chen Geist und Tole­ranz. Mit die­ser Tat ist ein ande­res Zei­chen gesetzt wor­den, geprägt von Haß und Feind­se­lig­keit« Für ihn konnte es offen­bar kaum sein, dass aus­ge­rech­net in der Han­se­stadt ein – von ihm nicht als sol­cher bezeich­ne­ter – ras­sis­ti­scher Ter­ror­akt pas­sie­ren konnte. Er betonte, die Tat sei in ver­schie­de­ner Hin­sicht eine »Mah­nung«, Geflüch­tete zu unter­stüt­zen und »Kräf­ten der Into­le­ranz und des Has­ses gegen Min­der­hei­ten« entgegenzutreten.

Rechter Terror als Problem einer wiedergutgewordenen Nation

Auch in Klo­ses Rede wird deut­lich, wer die Adressat:innen der Rede waren: Ange­hö­rige des deut­schen Mehr­heits­kol­lek­tivs. Die Opfer des Brand­an­schlags bezie­hungs­weise »Min­der­hei­ten« blie­ben objek­ti­fi­zierte »Andere«, denen gegen­über sich die Deut­schen als vorbildlich-demokratisch, anstän­dig und hilfs­be­reit zu zei­gen hät­ten. Denn jene »Mah­nung«, die der Bür­ger­meis­ter aus­sprach, galt beson­ders ange­sichts der Geschichte des Natio­nal­so­zia­lis­mus, von der Klose fürch­tete, dass sie »uns«, das heißt das deut­sche natio­nale Kol­lek­tiv, »ein­holt«. Die Rede prä­sen­tierte hier den Topos von der »deut­schen his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung«, die im heu­ti­gen bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Dis­kurs zen­tral ist. »Gerade wir soll­ten wach und hell­hö­rig sein und blei­ben, wenn irgendwo bei uns Miß­trauen und Feind­se­lig­keit gegen­über Men­schen ande­rer Haut­farbe, Spra­che und Kul­tur auf­kei­men … Ver­ges­sen wir nie: Wir haben eine Schuld abzu­tra­gen – all jenen Men­schen gegen­über, die in deut­schem Namen ver­folgt, gede­mü­tigt, getö­tet wur­den. … Wir – gerade wir, sind zur Hilfe aufgerufen.«

Die Rede Klo­ses deu­tet dar­auf hin, dass 1980 die soge­nannte Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung im bun­des­deut­schen Dis­kurs bereits eta­bliert war. Im Vor­jahr hat­ten die Sen­der der ARD die US-amerikanische Serie »Holo­caust« aus­ge­strahlt. Sie hatte viele Zuschauer:innen gefun­den und gab der (west-)deutschen Gesell­schaft einen star­ken Anschub, sich gründ­li­cher mit der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­gan­gen­heit zu befas­sen. Diese wurde zuneh­mend in die natio­nale Basis­er­zäh­lung des nun­mehr demo­kra­ti­schen West­deutsch­land inte­griert. Ras­sis­tisch oder anti­se­mi­tisch moti­vierte Gewalt­ta­ten von Neo­na­zis konnte man vor die­sem Hin­ter­grund nicht ein­fach igno­rie­ren. Rhe­to­ri­sche Gegen­re­ak­tio­nen wie Klo­ses Rede kreis­ten jedoch vor allem um die Kon­struk­tion einer geläu­ter­ten Nation, deren mora­li­sche Wie­der­gut­wer­dung ange­sichts rechts­extre­men Ter­rors infrage gestellt schien.

Das »refugees welcome« der Konservativen…

Die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Dop­pel­mord in der Hals­ke­straße muss auch vor dem Hin­ter­grund der Dis­kus­sion um viet­na­me­si­sche »boat peo­ple« gese­hen wer­den, die um 1980 in Deutsch­land geführt wurde. In der Tat gab es seit 1979 in West­deutsch­land eine Welle der Sym­pa­thie für Men­schen, die teil­weise auf Boo­ten aus dem inzwi­schen voll­stän­dig »kom­mu­nis­tisch« regier­ten Viet­nam flo­hen. Die Bun­des­re­pu­blik nahm zahl­rei­che von ihnen auf, wobei die Unter­stüt­zung wesent­lich aus dem bür­ger­li­chen und kon­ser­va­ti­ven Spek­trum kam. Die Vietnames:innen flo­hen vor dem Kom­mu­nis­mus. Im Sinne der moder­ni­sier­ten Basis­er­zäh­lung gal­ten sie eini­gen über­dies als »Juden Asi­ens«, für die Deut­sche beson­ders ver­ant­wort­lich seien.

Denk­mal für die »boat peo­ple« auf dem Öjen­dor­fer Fried­hof. Foto: privat. 

Die kon­ser­va­tive Warm­her­zig­keit für »boat peo­ple« kühlte sich in den Fol­ge­jah­ren deut­lich ab und war ein Aspekt einer inten­si­ven und ras­sis­tisch auf­ge­la­de­nen Debatte um Migra­tion und Asyl. Diese unter­schied nicht bloß zwi­schen »Gast­ar­bei­tern« und »Asy­lan­ten«, son­dern bereits auch zwi­schen ver­meint­lich legi­ti­mer poli­ti­scher Flucht einer­seits, und soge­nann­ten »Wirt­schafts­asy­lan­ten« ande­rer­seits. Neben Vietnames:innen erreich­ten zu die­ser Zeit zahl­rei­che Men­schen Deutsch­land, die vor den Regi­men in Polen und der Tür­kei flo­hen, aber auch Flüch­tende etwa aus afri­ka­ni­schen Län­dern. Die angeb­li­che »Asyl­flut« und das gene­relle »Aus­län­der­pro­blem« waren nicht nur Rechtsterrorist:innen wie den »Deut­schen Akti­ons­grup­pen« ein Dorn im Auge. Dass die Täter:innen die Adresse in der Hals­ke­straße einem Bericht des Ham­bur­ger Abend­blatts ent­nom­men haben sol­len, ver­weist auf die Dop­pel­rolle vie­ler Medien, die einer­seits kri­tisch über Rechts­extreme berich­te­ten und ande­rer­seits die migra­ti­ons­feind­li­che Stim­mung mit anheizten.

…und die Leerstellen des linken Antifaschismus

Die Tat­sa­che, dass es sich bei der Hilfe für »boat peo­ple« um ein gleich­sam anti­kom­mu­nis­ti­sches Pro­jekt han­delte, führte dazu, dass viele bun­des­deut­sche Linke kei­nes­wegs eine empa­thi­sche Hal­tung gegen­über den zuzie­hen­den Vietnames:innen ein­nah­men. Zwar nicht alle, doch einige Links­ra­di­kale leug­ne­ten in dif­fa­mie­ren­der Weise, dass sie der Soli­da­ri­tät wür­dig seien: »Viele der Boat-People sind Schwarz­händ­ler, Zuhäl­ter und US-Kollaborateure, die sich gegen Geld Tickets für den Weg zu neuen Ufern kau­fen«, war etwa 1981 in kon­kret zu lesen. Flie­hende Vietnames:innen pass­ten kaum in die »anti­im­pe­ria­lis­ti­sche» Scha­blone zeit­ge­nös­si­scher Lin­ker, die noch wenige Jahre zuvor für eine Nie­der­lage der USA im Viet­nam­krieg gefie­bert hatten.

Das mag ein Grund dafür sein, dass die hier zugrun­de­lie­gen­den Recher­chen in lin­ken Bewe­gungs­ar­chi­ven Ham­burgs kaum Mate­rial zum Brand­an­schlag her­vor­brach­ten, obwohl Grup­pie­run­gen wie der in der Han­se­stadt gegrün­dete »Kom­mu­nis­ti­sche Bund« sich bereits seit den sieb­zi­ger Jah­ren inten­siv mit loka­len Neo­na­zis befass­ten. Über­haupt war die ver­meint­lich dro­hende »Faschi­sie­rung der BRD« zen­tral für die Gesell­schafts­kri­tik der Neuen Lin­ken. Die Frage, ob wei­tere Unter­su­chun­gen das Bild kor­ri­gie­ren oder ob die Quel­len­lage dem lin­ken Des­in­ter­esse an viet­na­me­si­schen Opfern ent­spricht, muss noch offen­blei­ben. Prin­zi­pi­ell wur­den Rechts­extre­mis­mus und Ras­sis­mus (zeit­ge­nös­sisch meist »Aus­län­der­feind­lich­keit« genannt) seit 1980 auch in Ham­burg immer stär­ker zum Thema lin­ker Mobi­li­sie­run­gen, zumal die Stadt Tat­ort wei­te­rer rechts­extre­mer Morde wer­den sollte. Auch selbst­be­wusste migran­ti­sche Orga­ni­sie­rung spielte in den Kämp­fen um Ras­sis­mus und Migra­tion eine zuneh­mende Rolle.

Die Behör­den zer­schlu­gen die »Deut­schen Akti­ons­grup­pen« im Sep­tem­ber 1980. Sie fass­ten die Täter:innen der Brand­at­ta­cke, zwei Män­ner und eine Frau, und ver­ur­teil­ten sie in Stuttgart-Stammheim zu Gefäng­nis­stra­fen. Trotz der zeit­ge­nös­si­schen Auf­merk­sam­keit für den Ham­bur­ger Ter­ror­an­schlag, schien er für Jahr­zehnte ver­ges­sen und erhält erst seit eini­gen Jah­ren wie­der Auf­merk­sam­keit. Es ist ein Fort­schritt, dass Über­le­bende und Zeit­zeu­gen 2014 in Ham­burg eine Initia­tive zum Geden­ken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân grün­de­ten. Sie rich­tet regel­mä­ßige Gedenk­ver­an­stal­tun­gen zu den Jah­res­ta­gen des Anschlags aus – in die­sem Jahr am 21. August – und for­dert, die Hals­ke­straße nach den bei­den Getö­te­ten umzu­be­nen­nen. Die Geschichte rechts­extre­mer Gewalt­ta­ten in der Bun­des­re­pu­blik steht noch am Anfang ihrer Erfor­schung und sollte auch von der anti­fa­schis­ti­schen Lin­ken stär­ker betrie­ben wer­den. Es begann nicht erst 1990 in Ost­deutsch­land: Ham­burg hat zahl­rei­che trau­rige Bei­spiele zu bieten.

Felix Mat­heis, August 2022.

Der Autor ist His­to­ri­ker in Ham­burg und arbei­tet der­zeit zu Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus in der Bun­des­re­pu­blik, his­to­risch und aktu­ell. Auf Untie­fen schrieb er bereits über die schuld­hafte Rolle Ham­bur­ger Kauf­leute im Natio­nal­so­zia­lis­mus.

Das H steht für Herrschaft

Das H steht für Herrschaft

Wäh­rend sich Frauen immer mehr Raum erkämpft haben und geschlecht­li­che Ungleich­hei­ten ange­gan­gen wur­den, blieb die Her­bert­straße an der Ree­per­bahn für sie bis heute tabu – für einen Teil der Frauen zumin­dest. Wie kommt das und was hat das mit dem Patri­ar­chat und männ­li­chen Herr­schafts­an­sprü­chen zu tun?

Offen für alle? Blick in die Her­bert­straße bei geöff­ne­tem Tor. Foto: Hinnerk11, CC BY-SA 4.0, Wiki­pe­dia.

Ham­burg steht mit der Ree­per­bahn, der Her­bert­straße und den Bur­les­que Shows immer wie­der im Zen­trum der media­len Auf­merk­sam­keit, zum Bei­spiel durch ›kul­tige‹ Kiez-Reportagen, und geriert sich als Inbe­griff der sexu­el­len Offen­heit. Der ›ero­ti­sche‹ Humor und feucht­fröh­li­che Life­style, der durch aller­hand kul­tu­relle Prak­ti­ken rund um die »sün­digste Meile der Welt«1Diese Phrase, die mit der Umwer­tung christlich-konservativer Moral­vor­stel­lun­gen koket­tiert, ist inzwi­schen zum Marketing-Slogan geron­nen und wird auch auf der offi­zi­el­len Tourismus-Webseite der Stadt Ham­burg ver­wen­det. prä­sen­tiert wird, zieht Tourist:innen an und lässt viele Femi­nis­tin­nen auf­at­men, die sich immer wie­der um die Moral von Sex­ar­beit bezie­hungs­weise Pro­sti­tu­tion strei­ten. Die Ree­per­bahn scheint zu zei­gen: Alles ganz ent­spannt und frei – es geht um Spaß und lockere Sexua­li­tät, die kaum irgendwo sonst so frei aus­ge­lebt wer­den könne wie hier. Doch wie jede Kul­tur­in­dus­trie ist auch diese nicht frei von Ideo­lo­gie und Insze­nie­rung: Sie ver­schlei­ert den Blick für ihre sta­bi­li­sie­rende Funk­tion im Sinne der (durch den Femi­nis­mus infrage gestell­ten) männ­li­chen Herrschaftsansprüche.

Die Her­bert­straße exis­tiert in ihrer Funk­tion als Hort sexu­el­ler Dienste von Frauen für Män­ner etwa seit der Wei­ma­rer Repu­blik. Seit den 1930er Jah­ren ste­hen an bei­den Enden der nur etwa 60 Meter lan­gen Straße Sicht­schutz­wände, im Jahr der Fußball-WM 1974 wur­den Schil­der mit der Beschrif­tung »Jugend­li­che unter 18 und Frauen ver­bo­ten« auf Deutsch und Eng­lisch ange­bracht. Zwar kann nie­man­dem der Zutritt zu einer öffent­li­chen Straße, wie es die Her­bert­straße ist, recht­lich ver­bo­ten wer­den, schon gar nicht auf­grund des Geschlechts. Den­noch wird das Ver­bot für Frauen, die Straße ohne Absicht sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen anzu­bie­ten, zu betre­ten, auch von öffent­li­cher Seite repro­du­ziert. Was (angeb­lich) pas­siert, wenn man das Ver­bot miss­ach­tet, erfährt man woan­ders: Einem pri­va­ten Touristik-Anbieter zufolge ist dann »mit Beschimp­fun­gen und einem Angriff durch Was­ser­bom­ben« zu rech­nen, die SHZ warnt vor »def­tigs­ten Schimpf­wor­ten, fau­len Eiern und manch­mal auch hand­fes­ten Argumenten«.

Frauen verboten‹ – zum Schutz der Prostituierten?

Frauen von außen wer­den als stö­rende Ein­dring­linge dar­ge­stellt, die nicht nur die Män­ner am Kauf von sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen behin­dern. Das Ver­bot von sich nicht pro­sti­tu­ie­ren­den Frauen soll der Wunsch der Pro­sti­tu­ier­ten selbst sein, es soll sie vor den ande­ren Frauen schüt­zen, die als »Schau­lus­tige« die Straße besuch­ten. Ob das der tat­säch­li­che Grund für das Ver­bot ist, bleibt unklar und Thema für Spe­ku­la­tio­nen. Gleich­wohl schützt es frag­los die Geschäfts­in­ter­es­sen, wenn die Män­ner nicht durch Ehe­frauen, Freun­din­nen, Schwes­tern gestört wer­den.2Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 ver­merkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhäl­ter der Herbertstraßen-Prostituierten hät­ten sich einer Öff­nung für Frauen wider­setzt. Weib­li­che Tou­ris­ten in der No-go-Area, so das Kal­kül, könn­ten das Geschäft vermasseln.«

Akti­vis­tin­nen der kon­tro­ver­sen femi­nis­ti­schen Gruppe Femen bau­ten am 8. März 2019 die Sicht­schutz­wand am Zugang zur Her­bert­straße unter dem Slo­gan ab, die »Mauer zwi­schen Frauen« zu demon­tie­ren. Gegen die Akti­vis­tin­nen wurde damals wegen Sach­be­schä­di­gung Straf­an­zeige erho­ben. Wenn­gleich die Gruppe und vor­an­ge­gan­gene Aktio­nen durch­aus kri­tisch betrach­tet wer­den kön­nen, wer­den Femi­nis­tin­nen im gesell­schaft­li­chen Dis­kurs so zu Antagonist:innen der Pro­sti­tu­ier­ten stilisiert.

Femen über­win­det die »Mau­ern zwi­schen Frauen«. Pro­test am 8. März 2019. Screen­shot: You­tube.

Frauen in der Pro­sti­tu­tion sind einem weit­aus grö­ße­ren Risiko als andere Frauen aus­ge­setzt, Gewalt zu erfah­ren oder gar ermor­det zu wer­den. Für ihren Schutz zu sor­gen, ist daher drin­gend nötig. Aber warum sol­len sie gerade vor ande­ren Frauen geschützt wer­den? Die Aus­üben­den der Gewalt gegen­über Pro­sti­tu­ier­ten sind über­wie­gend Män­ner, die in ver­schie­de­nen Bezie­hun­gen zu den Frauen ste­hen – ins­be­son­dere durch Freier.3BMFSFJ: Lebens­si­tua­tion, Sicher­heit und Gesund­heit von Frauen in Deutsch­land. Ergeb­nisse der reprä­sen­ta­ti­ven Unter­su­chung zu Gewalt gegen Frauen in Deutsch­land, S. 26–27. Online unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf. Allein in den 20 Jah­ren seit der Ent­kri­mi­na­li­sie­rung sind in Deutsch­land mehr als hun­dert Frauen aus der Pro­sti­tu­tion ermor­det wor­den, wie die Initia­tive Sex Indus­trie Kills doku­men­tiert hat. Die Libe­ra­li­sie­rung schützt die Frauen nicht, son­dern macht Men­schen­han­del lukra­ti­ver. Es ist kaum vor­stell­bar, dass ein Anstieg des Men­schen­han­dels zu weni­ger Gewalt gegen Frauen führt. Zuletzt wurde am 14. Mai eine Frau in Hamburg-Harburg tot auf­ge­fun­den, die gele­gent­lich der Pro­sti­tu­tion nach­ging und von einem ihrer Freier erwürgt wurde. Auf­grund des mas­si­ven Dun­kel­fel­des kann jedoch von einer höhe­ren Zahl aus­ge­gan­gen wer­den. Wen oder was schüt­zen die Wände an der Her­ber­straße also eigentlich?

Homosozialer Raum und männliche Herrschaft

Der schwe­di­sche Sozio­loge Sven-Axel Måns­son beschrieb Pro­sti­tu­tion bereits in den acht­zi­ger Jah­ren als männ­li­che Pra­xis, sich der eige­nen Potenz zu ver­si­chern und Mas­ku­li­ni­tät zu kon­stru­ie­ren.4Vgl. Sven-Axel Måns­son: The man in sexual com­merce, Lund 1988, S. 39. Online unter: https://lucris.lub.lu.se/ws/portalfiles/portal/66114471/1988_2.pdf. Dies geschieht in homo­so­zia­len Räu­men, in denen Frauen ledig­lich Zutritt haben, wenn sie als Objekte der männ­li­chen Libido exis­tie­ren. Män­nern als sozia­ler Gruppe steht der weib­li­che Kör­per in die­sen Räu­men unein­ge­schränkt zur Befrie­di­gung ihrer Bedürf­nisse zur Ver­fü­gung, um die eigene Männ­lich­keit in Abgren­zung zum Weib­li­chen über die sexu­elle Domi­nanz zu bestätigen.

Es ver­wun­dert nicht, dass das expli­zite Ver­bot von Frauen in der Her­bert­straße erst in den sieb­zi­ger Jah­ren in Kraft trat. Mit der Zwei­ten Welle des Femi­nis­mus, die zu die­ser Zeit Fahrt auf­nahm, began­nen Frauen sich inten­siv mit ihren eige­nen sexu­el­len Bedürf­nis­sen aus­ein­an­der­zu­set­zen. Die Akzep­tanz der Frauen, sexu­ell von Män­nern beherrscht zu wer­den, sank rapide und stellte damit auch die Selbst­ver­ständ­lich­keit männ­li­cher Herr­schaft infrage. Pro­sti­tu­tion stellte dage­gen eine Art Zufluchts­ort für Män­ner dar und diente damit als ›Kon­ser­va­to­rium‹ von Männ­lich­keit sowie der hier­ar­chi­schen Geschlecht­er­ord­nung. Dass Pro­sti­tu­tion als ’not­wen­di­ges Übel‹  im Rah­men eines hier­ar­chi­schen Geschlech­ter­ver­hält­nis­ses gese­hen im Kon­ser­va­ti­ven fest ver­an­kert ist und nach wie vor repro­du­ziert wird, zeigt nicht zuletzt die neue Hymne der Jun­gen Union.

Fei­ert da etwa die Junge Union? Die Disco Bier­kö­nig auf Mal­lorca. Foto: O. Lipp, CC BY-SA 3.0, Wiki­pe­dia.

Die ›dop­pelte Moral‹ der Kon­ser­va­ti­ven zeigt sich darin, dass sie Frauen, die der Pro­sti­tu­tion nach­ge­hen als ›Huren‹ ent­wer­ten, wäh­rend sie andere Frauen zu ›Hei­li­gen‹ sti­li­sie­ren. Über die Ent­wer­tung der Frauen als ›Huren‹ im Gegen­satz zur ›hei­li­gen‹ Ehe­frau und Mut­ter wird die kör­per­li­che und sexu­elle Auto­no­mie der ent­wer­te­ten Frauen negiert. Gleich­zei­tig ermög­li­chen sie einen per­ma­nen­ten männ­li­chen Zugriff auf den Kör­per der Frau – häu­fig mit dem Argu­ment eines zu erfül­len­den männ­li­chen Trie­bes.5Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Kon­sum sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen, Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 2007. Solange eine patri­ar­chale Orga­ni­sa­tion der Gesell­schaft vor­herrscht, ermög­li­chen kon­ser­va­tive Kräfte in krea­ti­ven For­men, wie zum Bei­spiel mit der ›Zeit­ehe‹ im Iran, immer auch den Zugriff auf Frauenkörper.

Das Geschlech­ter­ver­hält­nis an sich ist so wie­der klar: Frauen als Die­ne­rin­nen der männ­li­chen Bedürf­nisse, der sexu­el­len wie auch der für­sorg­li­chen, die Män­ner als Her­ren. Frauen als eigen­stän­dige Sub­jekte, die Bedin­gun­gen und Gren­zen umset­zen (kön­nen), stö­ren diese Ord­nung. In der Her­bert­straße wird die homo­so­ziale Struk­tur zusätz­lich durch die Beschil­de­rung und den Sicht­schutz per­p­etu­iert. Auch nach außen wird damit die Grenze zu die­ser ande­ren Welt, in der noch nach den ›alten Regeln‹ gespielt wird, symbolisiert.

Zwischen Normalisierung…

Wie jedes Herr­schafts­ver­hält­nis braucht auch das patri­ar­chale Geschlech­ter­ver­hält­nis die Illu­sion der Natür­lich­keit, um sich auf­recht­zu­er­hal­ten. Diverse Umfra­gen unter Frei­ern legen nahe, dass der durch­schnitt­li­che Freier von einer »männ­li­chen Natur« und bio­lo­gi­schen Zwän­gen über­zeugt ist und dar­über hin­aus ein im Ver­gleich zu Män­nern, die keine sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen in Anspruch neh­men, aggres­si­ve­res Sexu­al­ver­hal­ten auf­weist.6Vgl. Clau­dine Leg­ar­di­nier: Der ›Freier‹ im Brenn­punkt der Kri­tik, in: Femi­nis­ti­sches Bünd­nis Hei­del­berg (Hg.): Was kos­tet eine Frau? Eine Kri­tik der Pro­sti­tu­tion. Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2020, 69–86. Der Wunsch nach Sexua­li­tät ohne Ver­ant­wor­tung spielt dabei eben­falls eine Rolle. Bei sich pro­sti­tu­ie­ren­den Frauen, so die Prä­misse, müsse keine Rück­sicht genom­men wer­den, da man für die Dienst­leis­tung bezahlt. ›Der Kunde ist König‹ bleibt dabei nicht bloß ein Spruch aus der Dienst­leis­tungs­bran­che, son­dern steht sinn­bild­lich für das Geschlechterverhältnis.

Die Her­bert­straße hat sich wider­spre­chende und doch zusam­men­ge­hö­rende Nor­ma­li­sie­rungs­funk­tio­nen. Auf der einen Seite kon­sti­tu­iert sich mit ihr die Selbst­ver­ständ­lich­keit männ­li­cher Räume und der Erfül­lung männ­li­cher, ver­meint­lich natür­li­cher, Bedürf­nisse. Freier wol­len Frauen, die sexu­ell wil­lig sind, aber genau das­selbe wol­len wie sie selbst: all ihre sexu­el­len Wün­sche erfül­len, ohne Gegen­leis­tung. Pro­sti­tu­tion als ›Arbeit‹ anzu­er­ken­nen steht die­ser Illu­sion aller­dings ent­ge­gen, da es sich letzt­lich auch für die Frauen um eine Dienst­leis­tung bzw. um etwas han­delt, das sie nicht frei­wil­lig, nicht ohne eine Gegen­leis­tung bzw. Kom­pen­sa­tion tun wür­den. Um sich die­ser Ver­ant­wor­tung zu ent­zie­hen, reich­ten zwei Freier gar eine Ver­fas­sungs­be­schwerde gegen ein Gesetz ein, das die Inan­spruch­nahme von sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen bei Zwangs­pro­sti­tu­ier­ten unter Strafe stellt. Die Geschichte der sexu­ell befrei­ten, aber miss­ver­stan­de­nen Frau als ero­ti­sches Wesen, das den (unver­bind­li­chen, ein­sei­ti­gen) Sex mit frem­den Män­nern will, muss repro­du­ziert wer­den: Sie hat ›ihr Hobby zum Beruf gemacht‹.

… und Exotisierung

Zusätz­lich und ent­ge­gen der Nor­ma­li­sie­rung, braucht der Raum die Atmo­sphäre des Exo­ti­schen, des Ver­bo­te­nen und ›Sün­di­gen‹, damit sich Män­ner darin ihrer Viri­li­tät ver­si­chern kön­nen. Der ›Reiz des Ver­steck­ten‹ ist die Grund­lage die­ser männ­li­chen Fan­ta­sie, Gewalt gegen die als min­der­wer­tig mar­kier­ten ›Huren‹ ist ein Teil davon. Nicht erst die Erhe­bung Fritz Hon­kas, der in den sieb­zi­ger Jah­ren zahl­rei­che sich pro­sti­tu­ie­rende Frauen ermor­dete, zur Haupt­fi­gur in Heinz Strunks Roman Der gol­dene Hand­schuh und sei­ner Ver­fil­mung durch Fatih Akin oder die »Sex&Crime«-Rundgänge für Tourist:innen auf der Ree­per­bahn zeu­gen von der schau­ri­gen Fas­zi­na­tion, die das ›Rot­licht­mi­lieu‹ und Gewalt gegen Frauen durch Män­ner gene­rell in unse­rer Gesell­schaft ausüben.

Der Reiz des Gehei­men: Schumm­ri­ges Licht und schwere Vor­hänge. Foto: hds, CC BY 2.0, Wiki­pe­dia.

Die Atmo­sphäre des Exo­ti­schen, Sün­di­gen wird durch die Sicht­wände unter­stützt und sug­ge­riert Sub­ver­sion. Pro­sti­tu­tion ist in Deutsch­land aller­dings sowohl für die sexu­elle Hand­lun­gen anbie­ten­den Frauen als auch für die Freier seit Jahr­zehn­ten legal, die Her­bert­straße eine öffent­li­che Straße, die grund­sätz­lich jede:r betre­ten dürfte. Auch die soge­nannte »Sit­ten­wid­rig­keit«, durch die Pro­sti­tu­tion trotz Lega­li­tät mora­lisch abge­wer­tet und dis­zi­pli­niert wurde, wurde 2002 abge­schafft. Es ist mitt­ler­weile keine Sel­ten­heit, dass Verfechter:innen und Sexarbeiter:innen in Talk­shows, Pod­casts und Arti­keln über die Wich­tig­keit von Pro­sti­tu­tion und Por­no­gra­fie sprechen.

Der Wider­spruch zwi­schen der ›ver­bo­te­nen‹, ’sün­di­gen‹ und ver­meint­lich von Moral­vor­stel­lun­gen freien Sexua­li­tät und dem staat­lich geför­der­ten, gewerb­lich orga­ni­sier­ten und ver­mark­te­ten Pro­sti­tu­ti­ons­be­trieb ist offen­sicht­lich. Der Mythos, im Natio­nal­so­zia­lis­mus sei Pro­sti­tu­tion grund­sätz­lich ille­gal gewe­sen, wird auch nach wie vor im Kon­text der Her­bert­straße repro­du­ziert. Die Natio­nal­so­zia­lis­ten hät­ten die Wand auf­ge­stellt, um die Pro­sti­tu­tion aus dem »Sicht­feld der Öffent­lich­keit zu ver­ban­nen«, so eine Kiez-Seite. Es stimmt, dass Frauen für Pro­sti­tu­tion ver­folgt wur­den, doch ging es prak­tisch in ers­ter Linie um staat­li­che Kon­trolle über die Pro­sti­tu­tion und (unver­hei­ra­tete) Frauen. Frauen, die sich regel­mä­ßig unter­su­chen lie­ßen und sich staat­lich orga­ni­siert pro­sti­tu­ier­ten, ent­gin­gen der Ver­fol­gung, wenn­gleich die­ses Arran­ge­ment kein siche­res für die Frauen war.7Vgl. Robert Som­mer: Das KZ-Bordell. Sexu­elle Zwangs­ar­beit in natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, Lei­den: Brill & Schö­ningh, 2009. Die Dar­stel­lung der Pro­sti­tu­tion als sub­ver­sive, quasi eman­zi­pa­to­ri­sche Pra­xis wird durch die wie­der­holte und ver­kürzte mediale Gegen­über­stel­lung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus unter­stützt. Der Freier und die Pro­sti­tu­ierte wer­den so ideo­lo­gisch als Vor­rei­te­rin­nen gegen eine über­kom­mene Sexu­al­mo­ral und für eine befreite Sexua­li­tät verklärt.

Hamburg, die »Puffmama«

Im Juni 2021, einen Tag vor der Abschaf­fung des pan­de­mie­be­ding­ten Ver­bots kör­per­na­her Dienst­leis­tun­gen und damit auch von Pro­sti­tu­tion, demons­trier­ten Frauen aus der Her­bert­straße für die Wieder-Erlaubnis von sexu­el­len Diens­ten unter dem Namen Sexy Auf­stand Ree­per­bahn. Unter ande­rem mit Pla­ka­ten mit der Auf­schrift »Der Staat fickt uns und zahlt nicht« wie­sen die Frauen auf ihre pre­käre Situa­tion, aber auch noch auf etwas ande­res hin: Der Staat bezie­hungs­weise die Stadt Ham­burg nutzt die Frauen für den eige­nen Vor­teil – hat aber letzt­lich die Kon­trolle über sie. Ein paar Monate fand in der Her­bert­straße eine Kunst­aus­stel­lung statt, die an den »Auf­stand« erin­nern sollte. Mit der Aktion wollte man sich u.a. beim Bezirks­amt Ham­burg St. Pauli bedan­ken, das – laut Organisator:innen der Aktion – die Gewerbe in der Her­bert­straße und auf der Ree­per­bahn im Sinne der Wie­der­eröff­nung unter­stützt habe.

Der (Sex-)Tourismus in Ham­burg lebt vom Reiz, den die Her­bert­straße und die Ree­per­bahn aus­üben. Par­al­lel zu den Schrit­ten der Ent­kri­mi­na­li­sie­rung der Pro­sti­tu­tion in Deutsch­land stie­gen die Tourismus-Zahlen in Ham­burg rasant. Wäh­rend die Zahl der Tourist:innen in den neun­zi­ger Jah­ren sta­gnierte, stieg sie seit 2002 um meh­rere Mil­lio­nen an. Ham­burg pro­fi­tiert maß­geb­lich vom Sex­tou­ris­mus als wich­ti­ger öko­no­mi­scher Ein­nah­me­quelle. Der ›kul­tige‹ Kiez und das Ver­spre­chen lust­vol­ler Fri­vo­li­tät und sexu­el­ler Ver­füg­bar­keit von Frauen zie­hen Besucher:innen an. Selbst die­je­ni­gen, die ’nur‹ der Atmo­sphäre der Ree­per­bahn, des Kiezes und des Milieus nach­spü­ren wol­len, brin­gen durch ihre Besu­che Geld in die städ­ti­schen Taschen.

»Für mehr Frem­den­ver­kehr«: Dar­auf kön­nen sich in der Her­bert­straße alle eini­gen. Foto: S. McCann, flickr.

Mit dem boo­men­den (Sex-)Tourismus war Schluss, als vor zwei­ein­halb Jah­ren das Corona-Virus der Pro­sti­tu­tion und Beher­ber­gungs­bran­che für einige Monate den Gar­aus machte. Nicht ganz unei­gen­nüt­zig schei­nen da die Bemü­hun­gen der Stadt- und Bezirks­ver­wal­tung von Ham­burg Mitte, die Pro­sti­tu­ti­ons­ge­werbe wie­der ›in Betrieb‹ zu neh­men. Ein Grup­pen­foto mit Falko Droß­mann, dama­li­ger Bezirks­amts­lei­ter, das groß auf der Home­page der Gruppe Sexy Auf­stand Ree­per­bahn zu fin­den ist, weist auf die nicht unei­gen­nüt­zi­gen Motive des Bezirks hin. Die Brü­che, die staat­li­che sowie städ­ti­sche Poli­ti­ken in Bezug auf sich pro­sti­tu­ie­rende Frauen auf­wei­sen, sind geprägt vom Macht­ver­hält­nis zwi­schen patri­ar­chal orga­ni­sier­ten Kapi­tal­in­ter­es­sen und den in der Regel vul­ner­ablen Frauen, die sich für die Pro­sti­tu­tion ent­schei­den oder in diese hineinrutschen.

Uner­wünscht sind Frauen in der Her­bert­straße offen­sicht­lich nicht. Sie sind sowohl öko­no­mi­sche Grund­lage als auch kul­tu­rel­ler Bestand­teil der Tou­ris­ten­at­trak­tion und der Rituale einer sich selbst ihrer Herr­schaft ver­si­chern­den Männ­lich­keit. Dies gilt aller­dings nur für bestimmte Frauen. Wenn sie selbst als Anbie­te­rin­nen sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen und damit als durch Män­ner kon­su­mier­bare Ware auf­tre­ten, sind sie will­kom­men. Alle ande­ren müs­sen ›drau­ßen blei­ben‹ und sol­len nicht an den Wän­den der Män­ner­bün­de­lei, der kul­tu­rel­len Grund­lage patri­ar­cha­ler Gesell­schaf­ten, rütteln.

Lea Rem­mers

Die Autorin ist femi­nis­ti­sche Sozio­lo­gin und ver­misst in aktu­el­len Debat­ten um Pro­sti­tu­tion den Anspruch, das Bestehende als Aus­druck einer heterosexistisch-kapitalistisch orga­ni­sier­ten Gesell­schaft zu analysieren.

  • 1
    Diese Phrase, die mit der Umwer­tung christlich-konservativer Moral­vor­stel­lun­gen koket­tiert, ist inzwi­schen zum Marketing-Slogan geron­nen und wird auch auf der offi­zi­el­len Tourismus-Webseite der Stadt Ham­burg verwendet.
  • 2
    Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 ver­merkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhäl­ter der Herbertstraßen-Prostituierten hät­ten sich einer Öff­nung für Frauen wider­setzt. Weib­li­che Tou­ris­ten in der No-go-Area, so das Kal­kül, könn­ten das Geschäft vermasseln.«
  • 3
    BMFSFJ: Lebens­si­tua­tion, Sicher­heit und Gesund­heit von Frauen in Deutsch­land. Ergeb­nisse der reprä­sen­ta­ti­ven Unter­su­chung zu Gewalt gegen Frauen in Deutsch­land, S. 26–27. Online unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf.
  • 4
    Vgl. Sven-Axel Måns­son: The man in sexual com­merce, Lund 1988, S. 39. Online unter: https://lucris.lub.lu.se/ws/portalfiles/portal/66114471/1988_2.pdf.
  • 5
    Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Kon­sum sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen, Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 2007.
  • 6
    Vgl. Clau­dine Leg­ar­di­nier: Der ›Freier‹ im Brenn­punkt der Kri­tik, in: Femi­nis­ti­sches Bünd­nis Hei­del­berg (Hg.): Was kos­tet eine Frau? Eine Kri­tik der Pro­sti­tu­tion. Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2020, 69–86.
  • 7
    Vgl. Robert Som­mer: Das KZ-Bordell. Sexu­elle Zwangs­ar­beit in natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, Lei­den: Brill & Schö­ningh, 2009.

Das hanseatische Gesicht des Bestehenden

Das hanseatische Gesicht des Bestehenden

Zwei neue Bücher über Olaf Scholz schrei­ben ihm han­sea­ti­sche Tugen­den zu und emp­feh­len ihn als Ver­wal­ter des neo­li­be­ra­len Sta­tus Quo. Was wirk­lich über Scholz zu sagen wäre, fällt in die­ser staats­jour­na­lis­ti­schen Image­pflege unter den Tisch.

„Frei von Empa­thie“ und „ohne jedes Cha­risma“: Olaf Scholz laut zwei Hof­be­richt­erstat­tern. Foto: privat.

In der reprä­sen­ta­ti­ven bür­ger­li­chen Demo­kra­tie erfül­len poli­ti­sche Eli­ten immer auch eine sym­bo­li­sche Funk­tion. Sie sol­len den Staat bezie­hungs­weise „das Volk“ reprä­sen­tie­ren, den Bürger:innen ein Bild ihres Gemein­we­sens ver­kör­pern. Im Gegen­satz zum könig­li­chen Kör­per, der im Ancien Régime qua Geburt und gött­li­cher Aus­er­wählt­heit unfrag­lich die Ein­heit des Staa­tes sym­bo­li­sierte, müs­sen die wech­seln­den demo­kra­ti­schen Repräsentant:innen sich dem anpas­sen, was die Bevöl­ke­rung sich wünscht und was sie zu akzep­tie­ren bereit ist. Sie müs­sen, zumal in der hoch­gra­dig media­li­sier­ten Demo­kra­tie der Gegen­wart, ihr Image her­stel­len als Pro­jek­ti­ons­flä­che für staats­tra­gende Tugenden.

Ange­sichts der zuneh­men­den Per­so­na­li­sie­rung von Par­tei­po­li­tik ist sol­che Image­pflege ein nicht zu ver­nach­läs­si­gen­der Bestand­teil der Her­stel­lung von poli­ti­scher Hege­mo­nie, also der Zustim­mung der Beherrsch­ten zu ihrer Beherr­schung. Jour­na­lis­ten staats­na­her Medien ver­su­chen von die­ser Not­wen­dig­keit zu pro­fi­tie­ren und über­neh­men dabei unauf­ge­for­dert diese Image­pflege, indem sie die ver­meint­lich bedeut­same „Per­sön­lich­keit“ füh­ren­der Politiker:innen in den Fokus rücken und ihre posi­ti­ven Qua­li­tä­ten beschrei­ben bzw. eben erfinden.

Eben so ist es im Fall Olaf Scholz. Zwar eig­net Scholz sich denk­bar schlecht für Image­pflege, ver­kör­pert er doch der all­ge­mei­nen Wahr­neh­mung nach vor allem Lan­ge­weile. Aber das hin­dert Journalist:innen nicht, die es ja gewohnt sind, aus wenig Mate­rial viel leicht ver­dau­li­chen Text zu machen. Und nun, da er Kanz­ler ist, lässt sich so etwas auch verkaufen.

Bei­spiele die­ser Art von kos­ten­lo­ser PR sind die bei­den bis­her über Olaf Scholz erschie­ne­nen Bücher: „Olaf Scholz: Der Weg zur Macht. Das Por­trät“ (Klar­text, Dezem­ber 2021) vom Chef­re­dak­teur des Ham­bur­ger Abend­blatts, Lars Hai­der, und „Olaf Scholz – Wer ist unser Kanz­ler?“ (S. Fischer, Februar 2022) von Mark Schie­r­itz, wirt­schafts­po­li­ti­scher Kor­re­spon­dent im Haupststadt-Büro der ZEIT.

Natür­lich kön­nen auch Hai­der und Schie­r­itz zu Scholz nichts wirk­lich Inter­es­san­tes berich­ten. Beide Bücher sind bür­ger­li­che bun­des­deut­sche Hof­be­richt­erstat­tung ohne jede Gesell­schafts­kri­tik. Neben Lan­ge­weile kön­nen sie höchs­tens schau­dern las­sen, etwa, wenn Hai­der anbie­dernd erzählt, wie oft er Scholz schon in Hin­ter­grund­ge­sprä­chen oder zu Inter­views getrof­fen habe. Kurz: Sie gehö­ren zu denen, die selbst in 7 lan­gen Leben kei­nen Platz auf der Lese­liste ver­dient hät­ten. Aber es ist inter­es­sant, wel­che Qua­li­tä­ten sie Scholz im Sinne der genann­ten staats­tra­gen­den Image­pflege anzu­dich­ten versuchen.

Bei Hai­der sind Scholz‘ han­sea­ti­sche Qua­li­tä­ten, ins Poli­ti­sche gewen­det, im Kern eine Affir­ma­tion des gegen­wär­ti­gen neo­li­be­ra­len Regimes. Was die Bürger:innen in Scholz sehen sol­len, ist „Kom­pe­tenz“, „Nüch­tern­heit“ und „Erfah­rung“ – also Poli­tik unter dem Dik­tat des tris­ten Rea­lis­mus, streng an den Sach­zwän­gen ori­en­tiert, ohne ver­derb­li­che Uto­pie, Visio­nen (Hel­mut Schmidt ist für Scholz nicht ohne Grund ein „Gigant“) oder auch nur ein erkenn­ba­res Pro­gramm. Sicher, hier darf es auch mal Zuge­ständ­nisse geben – aber was nötig und mög­lich ist und was nicht, das ent­schei­det das Kapi­tal. Er habe „das Geld zusam­men­ge­hal­ten“ und in Ham­burg „gut und solide“ regiert. Natür­lich ist er ein „Macht­mensch“ – denn anders geht es schließ­lich in den Kom­man­do­hö­hen des Staa­tes nicht. Hai­der stellt sich die Bezie­hung zu den Wähler:innen so vor: Sie bestel­len „Füh­rungs­leis­tung“ und Scholz lie­fert sie.

Solch mar­kige Management-Macherrhetorik soll beru­hi­gen, sug­ge­riert sie doch, dass der_die Ein­zelne noch etwas aus­rich­ten kann. Dabei ver­ne­belt sie natür­lich, dass das polit­öko­no­mi­sche Wohl oder Ver­der­ben in kapi­ta­lis­ti­schen Staa­ten kaum von ein­zel­nen Politiker:innen abhängt, selbst von Kanz­lern nicht. Bei Scholz wird nun diese Per­so­na­li­sie­rung der Poli­tik auf einen Kanz­ler gepresst, der sie man­gels nen­nens­wer­ter Per­sön­lich­keit bei­nahe schon ad absur­dum führt. Wer das schlu­cken kann, hofft wohl kaum noch, dass irgend­wer den Irr­sinn die­ser Gesell­schaft doch noch rich­ten könnte. Hai­der offen­bart genau den capi­ta­list rea­lism, den Mark Fisher beschrieb: Es ist nichts Ande­res vor­stell­bar als ein ewi­ges „wei­ter so“, also ist es doch bes­ser, jeman­dem die Sache zu über­las­sen, der genau das und auch nicht mehr will.

Die Per­son Scholz beschreibt Hai­der als „frei von Empa­thie“ und „ohne jedes Cha­risma“. Das ist nicht nega­tiv gemeint, son­dern soll wohl Sach­kennt­nis und Kom­pe­tenz noch ein­mal unter­strei­chen: Scholz hat keine Gefühle, er hat Ahnung. Über sein Leben gibt Scholz wenig preis, aber was man wis­sen kann, lässt ahnen: Er ist genauso lang­wei­lig und durch­schnitt­lich, wie er erscheint. Gebo­ren in Osna­brück in eine Mit­tel­schichts­fa­mi­lie, poli­ti­sche Sozia­li­sie­rung bei den Jusos, Jura­stu­dium, Selbst­stän­dig­keit als Anwalt für Arbeits­recht, SPD-Parteikarriere.

Hai­ders Scholz „arbei­tet hart“, ist „ehr­gei­zig“, man kann ihm ver­trauen, denn „er kann was“. Er ist hart im Neh­men – aber auch hart zu sich selbst. Er stu­diert tage­lang Akten, ohne zu ermü­den. Er ist von sich über­zeugt, aber auch zu Recht. Er hat zwar kein Cha­risma, aber denkt ana­ly­tisch und ist ein „Arbeits­tier“. Er ist höf­lich und nicht arrogant.

Schließ­lich auch noch ein Schuss Sozi­al­de­mo­kra­tie: Er ist ein „Auf­stei­ger, der an soziale Gerech­tig­keit glaubt“, ja, ein „Außen­sei­ter“. Hai­der wid­met gar sein Buch „allen Außen­sei­tern“. Was einen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Juris­ten mit jahr­zehn­te­lan­ger erfolg­rei­cher Polit­kar­riere zum Außen­sei­ter macht, bleibt frei­lich Hai­ders Geheim­nis. Viel­leicht die Kind­heit in Rahl­stedt? Ähn­lich dünn ist der Ver­such, Scholz als „Femi­nis­ten“ dazu­stel­len. Er hätte sich schon immer für Gleich­be­rech­ti­gung ein­ge­setzt, etwa in der Aus­wahl sei­ner Senator:innen und Minister:innen, und sei all­er­gisch, wenn in Inter­views die Berufs­tä­tig­keit sei­ner Frau in Frage gestellt wird. Fair enough – aber das ist genau die Art Staats­fe­mi­nis­mus, mit dem man heute wirk­lich nir­gendswo mehr Wider­spruch hervorruft.

Jetzt setzt’s aber Respekt: Olaf Scholz im Wahl­kampf 2021. Foto: Michael Lucan CC BY-SA 3.0

Schie­r­itz’ Buch ord­net anders als Hai­ders Mach­werk Scholz auch poli­tisch ein. Dass er schon unter Ger­hard Schrö­der als Gene­ral­se­kre­tär an der Neo­li­be­ra­li­sie­rung der SPD mit­ge­ar­bei­tet hat und die Agenda 2010 flei­ßig ver­tei­digte, wird hier zumin­dest nicht ver­schwie­gen. Ebenso, dass Scholz damals den Begriff „demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus“ aus dem Par­tei­pro­gramm der SPD strei­chen las­sen wollte.

Aber für Schie­r­itz begrün­det das kei­nen Vor­wurf, son­dern für ihn zeigt es, wie „geer­det“ Scholz heute im Ver­gleich zu sei­ner links­ra­di­ka­len Zeit in den 1970ern ist. Vor allem der Anwalts­be­ruf habe ihn zu einem „Mann der Mitte“ gemacht. Auch der von Scholz ver­ant­wor­tete Brech­mit­tel­ein­satz, der 2001 Ach­idi John das Leben kos­tete, kann die­sem Bild nichts anha­ben. Schie­r­itz ver­han­delt den Skan­dal unter fer­ner lie­fen, bei Hai­der taucht er erst gar nicht auf. Scholz ist für Schie­r­itz „den Her­aus­for­de­run­gen des 21. Jahr­hun­derts gewach­sen“, denn er ist kein Ideo­loge, son­dern „je nach den Umstän­den aus­ge­rich­tet“. Er ist ein Ver­hand­ler, „will alle Mei­nun­gen hören“, umgibt sich mit „Leu­ten die etwas bewe­gen wollen“.

Sogar ein biss­chen weni­ger Neo­li­be­ra­lis­mus will er neu­er­dings. Denn statt Leis­tungs­ge­rech­tig­keit wie in der Sozi­al­de­mo­kra­tie des Drit­ten Weges à la Blair und Schrö­der stellt Scholz die „Bei­trags­ge­rech­tig­keit“ in den Mit­tel­punkt. Der Ser­mon vom „Respekt“ ist wohl allen noch aus dem letz­ten Bun­des­tags­wahl­kampf im Ohr. „Respekt“ soll für not­wen­dige Lohn­hier­ar­chien ent­schä­di­gen. „Respekt“ soll es für Erwerbs­ar­beit jeder Art geben, egal ob hoch- oder nied­rig qua­li­fi­ziert. Das aber hat natür­lich nur wenig mit Gerech­tig­keit zu tun. Denn „Respekt“, man ahnt es, ist, was von der Sozi­al­de­mo­kra­tie übrig­bleibt, wenn sie nicht umver­tei­len will. Mit Scholz soll der neo­li­be­rale Wahn­sinn des Bestehen­den huma­ni­siert wer­den. Wie eng begrenzt diese rhe­to­ri­schen Zuge­ständ­nisse sind, zeigt schon jetzt, wie wenig wir uns davon ver­spre­chen dür­fen. Wer Scholz’ Weg in Ham­burg ver­folgt hat, weiß, dass er Ansprü­che auf mehr als „Respekt“ auch abzu­weh­ren weiß: die Law&Order-Rhetorik im Wahl­kampf gegen Schill, die Brech­mit­tel­ein­sätze, sein Ein­satz gegen die Rekom­mu­na­li­sie­rung der Ener­gie­netze und für Olym­pia, die Gefah­ren­ge­biete, seine absurde Ver­leug­nung poli­zei­li­cher Gewalt beim G20-Treffen und jüngst sein beun­ru­hi­gend schlech­tes Gedächt­nis bezüg­lich Kor­rup­tion mit der Warburg-Bank zei­gen, wozu ein ideo­lo­gisch fle­xi­bler Par­tei­sol­dat wie Scholz fähig ist. Scholz ist kein wirk­li­cher Böse­wicht, auto­ri­täre Res­sen­ti­ments und per­sön­li­che Berei­che­rung sind ihm sicher fremd. Aber er ist eben ein typi­scher Sozi­al­de­mo­krat des neo­li­be­ra­len Zeit­al­ters. James Jack­son hat das im Jaco­bin Maga­zin schön zusam­men­ge­fasst: Scholz ver­bin­det höhere Min­dest­löhne mit kapi­tal­freund­li­cher Kli­ma­po­li­tik, Law & Order-Maßnahmen mit dem Kampf gegen Rechts­po­pu­lis­mus. Er steht für „Sta­bi­li­tät statt Vision, Manage­ment statt Trans­for­ma­tion, und wahrt die Inter­es­sen der Mäch­ti­gen – wäh­rend er gerade genug refor­miert, um den Kohle-getriebenen Koloss deut­sche Indus­trie am Lau­fen zu hal­ten.“ Auf Bun­des­ebene setzt Scholz somit fort, was seine Poli­tik als Ers­ter Bür­ger­meis­ter Ham­burgs aus­zeich­nete – und was ihn popu­lär machte. Und wer weiß, viel­leicht räumt die ZEIT ihm nach der nächs­ten Bun­des­tags­wahl ja Hel­mut Schmidts altes Büro frei.

Felix Jacob

Der Autor schrieb auf Untie­fen zuletzt über den Ham­bur­ger Auf­stand 1921.