»Die Gewalt muss endlich gesellschaftlich benannt und moralisch verurteilt werden«

»Die Gewalt muss endlich gesellschaftlich benannt und moralisch verurteilt werden«

Allein 2023 gab es in Ham­burg min­des­tens elf Femi­ni­zide. Offi­zi­elle Sta­tis­ti­ken über diese Morde an Frauen oder weib­lich gele­se­nen Per­so­nen gibt es aller­dings nicht. Für eine öffent­li­che Reak­tion sorgt das Anti-Feminizid-Netzwerk Ham­burg, das für jede die­ser Gewalt­ta­ten eine Kund­ge­bung abhält und eine eigene Zäh­lung vor­nimmt. Untie­fen sprach mit Viola vom Netz­werk über ihre Ziele, die Zusam­men­ar­beit mit staat­li­chen und lin­ken Akteur:innen sowie die theo­re­ti­schen Bezüge des Netzwerks.

Eine der Kund­ge­bun­gen des Anti-Feminizid-Netzwerks auf dem Alma-Wartenberg-Platz. Foto: Anti-Feminizid-Netzwerk

Untie­fen: Warum braucht Ham­burg ein Anti-Feminizid-Netzwerk?

Viola: Es braucht das Netz­werk, weil es Tötun­gen von Frauen und weib­lich gele­se­nen Per­so­nen gibt und weil das Pro­blem von staat­li­cher Seite zu wenig ange­gan­gen wird. Man muss es ein­fach stär­ker benen­nen. Man muss es sicht­ba­rer machen. Die gegen­wär­ti­gen Gesetze rei­chen nicht aus und auch nicht die Schutz­struk­tu­ren durch Frau­en­häu­ser, weil es zu wenig Plätze gibt, aber natür­lich schät­zen wir deren Arbeit sehr. Wir hat­ten vor Kur­zem eine Soli-Aktion am Cam­pus der Uni­ver­si­tät Ham­burg und selbst dort kam oft die Frage: »Was? Das gibt es in Deutsch­land?!« Das spricht schon für sich. Des­halb braucht es das Netz­werk: Um das Pro­blem zu benen­nen, es braucht einen Namen.

Untie­fen: Wie ist das Netz­werk ent­stan­den? Also, wie seid ihr zu dem Thema gekommen?

Viola: Es ist vor einem Jahr ent­stan­den, im Okto­ber 2022, als offe­nes Netz­werk aus einem Zusam­men­schluss von ver­schie­de­nen femi­nis­ti­schen Grup­pen und Ein­zel­per­so­nen. Einen beson­de­ren Anlass zur Grün­dung gab es nicht. Es war eher ein Gespräch zwi­schen ver­schie­de­nen sehr akti­ven Femi­nis­tin­nen, die gesagt haben: »Es ­­reicht.« Jeden drit­ten Tag geschieht ein Femi­ni­zid in Deutsch­land, das ist Anlass genug. Mit dem Thema befasst sich sonst nie­mand, auch andere femi­nis­ti­sche Grup­pen nicht dezi­diert, was trau­rig ist.

Untie­fen: Ihr habt einen soge­nann­ten »Wider­stands­platz gegen Femi­ni­zide« am Alma-Wartenberg-Platz in Otten­sen aus­ge­ru­fen. Wie hat sich das ent­wi­ckelt und warum habt ihr euch genau für die­sen Platz entschieden?

Viola: Den Wider­stand­platz haben wir kurz nach unse­rer Grün­dung im Novem­ber 2022 aus­ge­ru­fen. Mit der Aus­wahl die­ses Ortes möch­ten wir sowohl die inter­na­tio­na­lis­ti­sche Aus­rich­tung deut­lich machen, die einige von uns haben, als auch an eine lokale femi­nis­ti­sche Tra­di­tion anschlie­ßen. Alma War­ten­berg wurde in der Zeit des Kai­ser­reichs in Otten­sen (Hol­stein) gebo­ren. Sie war SPD-Politikerin und vor allem Femi­nis­tin, die sich beson­ders im Bereich Mut­ter­schutz, Emp­fäng­nis­ver­hü­tung und für sexu­elle Auf­klä­rung ein­ge­setzt hat.

Aber: Im Netz­werk wird der Platz durch­aus ambi­va­lent gese­hen, nicht alle haben einen star­ken Bezug dazu. Für man­che im Netz­werk könnte es auch ein ande­rer Ort sein. Wich­tig ist ein­fach, dass wir Raum ein­neh­men und das Thema Femi­ni­zide sicht­bar machen. Wir wür­den da auch gerne noch mehr machen.

Untie­fen: Du sprichst an, dass es euch auch darum geht, Raum ein­zu­neh­men und Auf­merk­sam­keit für das Thema zu erzeu­gen. Seht ihr, dass ihr damit einen Effekt auf die Stadt und auf die Öffent­lich­keit habt?

Viola: Die Stadt und die Öffent­lich­keit sind zwei unter­schied­li­che Berei­che. Ins­ge­samt aber schon. Wir hat­ten gerade einen Stra­te­gie­tag und haben dort reflek­tiert, was alles bis­her pas­siert ist. Dafür, dass wir ein Netz­werk sind, in dem so viele unter­schied­li­che Grup­pen und Ein­zel­per­so­nen zusam­men­sit­zen, ist es schon enorm, wie­viel Öffent­lich­keit und Auf­merk­sam­keit wir bis­her her­stel­len konn­ten. Wir bekom­men viele Inter­view­an­fra­gen und zu unse­ren Kund­ge­bun­gen kom­men immer mehr Leute.

Was die Stadt betrifft: Wir sind zuneh­mend zu städ­ti­schen Betei­li­gungs­run­den ein­ge­la­den. Das sind Räume, in denen auch auto­nome Frau­en­häu­ser, Frau­en­be­ra­tungs­stel­len und andere Grup­pie­run­gen von städ­ti­scher, behörd­li­cher Seite mit drin­sit­zen. Da wer­den wir dann zum Bei­spiel ein­ge­la­den, um uns vor­zu­stel­len. Wir haben etwa am »Run­den Tisch Gewalt« teil­ge­nom­men und sind beim »Arbeits­kreis Gewalt« ein­ge­la­den. Es inter­es­siert sich natür­lich keine Par­tei außer Die Linke dafür. Das muss man ehr­lich sagen. Mit Cansu Özd­emir (Die Linke-Fraktionsvorsitzende in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft, Anm. Untie­fen) gewinnt man tat­säch­lich viel. Sie macht sehr viel mög­lich. Wenn über sie nicht regel­mä­ßig kleine Anfra­gen zum Sach­stand von Femi­ni­zi­den gestellt wer­den würde, sähe die Daten­lage noch sehr viel schlech­ter aus.

Deut­lich sicht­bar ist auch, dass die Presse nun ver­sucht, anders über das Thema zu schrei­ben. Wir ver­öf­fent­li­chen nach jedem Fall eine Pres­se­mit­tei­lung. Die bür­ger­li­che Presse, wie das Abend­blatt und die MoPo, ach­ten schon ver­stärkt auf sen­si­blere Spra­che und haben mitt­ler­weile den Begriff Femi­ni­zid oder Femi­zid über­nom­men. Wir müs­sen nicht mehr dar­auf hin­wei­sen, dass es eben ein Femi­ni­zid ist und sie es so benen­nen sol­len. Trotz­dem beob­ach­ten wir wei­ter­hin sehr unsens­bile und vor allem unin­for­mierte Bericht­erstat­tung. Das betrifft einer­seits Femi­ni­zide im Alter, aber auch gene­rell weni­ger pro­mi­nente For­men von Femi­ni­zi­den, wie z.B. Femi­ni­zide die von Rechts­extre­men, Kin­dern oder Enkeln began­gen wer­den. Da ins­be­son­dere bei Rechts­extre­men immer miso­gyne Motiv­la­gen zu beob­ach­ten sind, müs­sen auch diese Morde klar als Femi­ni­zid ein­ge­ord­net werden.

Wenn man eine Bewe­gung auf­baut, läuft es oft erst­mal sehr schlep­pend. Jetzt haben wir aber das Gefühl, dass rich­tig viel zurück­kommt. Uns war es immer wich­tig, mit den Kund­ge­bun­gen nach Femi­zi­den für eine öffent­li­che Reak­tion zu sor­gen. Daran hal­ten sich viele fest, von uns und von außen. Des­we­gen ist es wich­tig, dass wir damit wei­ter­ma­chen. Das hat uns glaube ich auch dahin gebracht, wo wir jetzt sind. Selbst wenn es immer sehr anstren­gend ist, men­tal und organisatorisch.

»Wir müssen die Gewalt dort thematisieren, wo sie passiert«

Untie­fen: Wie du es beschreibst, kommt ihr mitt­ler­weile von dem Punkt weg, haupt­säch­lich Auf­merk­sam­keit zu gene­rie­ren und auf Begriffe hin zu wei­sen. Gibt es lang­fris­tige Ziele, die ihr dar­über hin­aus ver­folgt oder die als nächs­tes anstehen?

Viola: Als Netz­werk aus vie­len unter­schied­li­chen Grup­pen haben wir durch­aus Schwie­rig­kei­ten, uns auf ein­heit­li­che Ziele fest­zu­le­gen. Was wir gemein­sam for­dern, bezie­hungs­weise ver­fol­gen, ist ein gewalt­freies Leben für alle Men­schen. Zudem wol­len wir ein umfas­sen­de­res Ver­ständ­nis und beglei­tende For­schung von Femi­ni­zi­den und eine Doku­men­ta­tion der Fälle. Eine wei­tere Sache, die uns sehr wich­tig ist und für die wir uns ein­set­zen, ist die Prä­ven­ti­ons­ar­beit. Das beinhal­tet auch Bil­dungs­ar­beit, die wir mitt­ler­weile ver­mehrt machen. Ebenso Ver­an­stal­tun­gen außer­halb lin­ker Räume.

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Aspekt ist die Basis­ar­beit, was natür­lich mit Bil­dungs­ar­beit ein­her­geht. Wir wol­len da auch eine noch stär­kere Ver­net­zung in die Stadt­teile hin­ein. Wir tun das schon im Rah­men des »StoP«-Projekts (Stadt­teile ohne Part­ner­ge­walt, Anmer­kung Untie­fen) Es geht uns auch darum Ver­bin­dun­gen zu wich­ti­gen Multiplikator:innen in den Stadt­tei­len her­zu­stel­len. Wir haben als Netz­werk ein ernst­haf­tes Inter­esse daran, außer­halb unse­rer lin­ken Blase aktiv zu sein. Denn es hilft nicht, wenn wir nur inner­halb unse­res eige­nen Krei­ses spre­chen, dazu haben wir keine Lust mehr. Wir müs­sen die Gewalt dort the­ma­ti­sie­ren, wo sie pas­siert, sowohl inner­halb der Szene als auch dar­über hin­aus. Das bedeu­tet für uns, sich stark zu ver­net­zen, um ein brei­tes gesell­schaft­li­ches Anti-Feminizid-Netzwerk aufzubauen.

Ein für uns wich­ti­ges Ziel ist es, der Tat einen Namen zu geben. Es gibt zwar bei uns auch andere Ansätze und unter­schied­li­che Straf­be­dürf­nisse. Man­che for­dern Geset­zes­ver­schär­fun­gen, für andere spielt die straf­recht­li­che Bewer­tung nicht so eine große Rolle. Aber die Gewalt, die pas­siert, muss end­lich gesell­schaft­lich benannt und mora­lisch ver­ur­teilt werden.

Es gibt natür­lich auch libe­rale For­de­run­gen, die wir unter­stüt­zen, wie den Aus­bau von Frau­en­häu­sern. Wenn man aber weiß, wie mas­siv pro­ble­ma­tisch die aktu­elle Woh­nungs­po­li­tik ist, bringt diese For­de­rung nicht so viel. Die Frauen sol­len schließ­lich nicht in Frau­en­häu­sern blei­ben, son­dern wie­der ihr siche­res Umfeld haben. Von daher braucht es prag­ma­ti­sche Lösun­gen. Es gibt aber auch den Wunsch nach ande­ren Schutz­struk­tu­ren, die mehr auf Selbst­or­ga­ni­sie­rung set­zen. Ein Bei­spiel dafür ist das »StoP«-Projekt, indem es darum geht, sich im Stadt­teil gemein­sam zu orga­ni­sie­ren und Hilfs­struk­tu­ren für Betrof­fene auf­zu­bauen. Bei Selbst­or­ga­ni­sie­rung geht es nicht um eine rechte Bür­ger­wehr oder so etwas, son­dern zum Bei­spiel darum, dass wenn eine Frau bedroht ist, sie eine Num­mer anruft und dann direkt drei Leute ansprech­bar sind, die unter­stüt­zen. Alle müs­sen Ver­ant­wor­tung über­neh­men und wir müs­sen anfan­gen Ver­ant­wor­tungs­über­nahme anders zu den­ken. Das ist eben nicht nur die Auf­gabe des Staa­tes ist, son­dern von uns allen. Wir wol­len dahin, dass es eine gesamt­ge­sell­schaft­li­che Reak­tion gibt und Pro­teste auf die Straße getra­gen wer­den, wenn wie­der eine Frau oder weib­lich gele­sene Per­son ermor­det wird. Wir ver­fol­gen mit unse­rer Arbeit einen kul­tu­rel­len gesell­schaft­li­chen Wan­del, der patri­ar­chale Macht­struk­tu­ren ernst­haft auf­bricht und zerstört.

Untie­fen: Es gibt also For­de­run­gen an die staat­li­che Poli­tik und an die Gesell­schaft insgesamt?

Viola: Ja, genau. Die Istanbul-Konvention ist in Deutsch­land noch nicht rich­tig umge­setzt. Das ist eine For­de­rung, die häu­fig aus dem Gewalt­schutz kommt, von den Bera­tungs­stel­len und den Frau­en­häu­sern. Das ist auch für uns wich­tig. Dar­über hin­aus braucht es eine bun­des­weite Zäh­lung der Frauen*, die von ihren Part­nern getö­tet wur­den, weil es eben ein poli­ti­sches Pro­blem ist. In Ham­burg macht das der­zeit die Par­tei Die Linke. Deutsch­land­weit machen es vor allem ver­schie­dene lose Grup­pen. Für uns ist es müh­se­lig, immer wie­der die Medi­en­be­richte zu über­prü­fen: Ist wie­der etwas pas­siert, gab es wie­der einen Fall? Wir machen die Zäh­lun­gen ja selbst. Das kos­tet sehr viele Res­sour­cen und es ist gar nicht immer so leicht, zu sagen, was ein Femi­ni­zid ist.

»Ein Femizid ist immer nur die Spitze des Eisbergs«

Untie­fen: Daran anknüp­fend: Wie defi­niert ihr und zählt ihr Femi­ni­zide? Wo lie­gen da die Schwierigkeiten?

Viola: Wir haben meis­tens nur die Pres­se­be­richte und keine Akten­ein­sicht oder ähn­li­ches. Es gibt Fälle, die sind sehr ein­deu­tig: Ex-Partner tötet Frau im Streit, Mann erschießt seine Frau. Da gehen wir ein­fach davon aus, dass es das poli­ti­sche Motiv gab. Also, dass sie getö­tet wurde, weil sie eine Frau ist. Die­sen Struk­tu­ren, die dazu füh­ren, liegt das Patri­ar­chat zugrunde.

In Ham­burg hat­ten wir in den letz­ten Mona­ten aller­dings ein paar schwie­rige Fälle. Da ging es etwa um die Tötung von älte­ren Frauen, also der Groß­mutter durch den Enkel. Danach hat man aller­dings einen Abschieds­brief von der Frau gefun­den, dass sie sich tat­säch­lich umbrin­gen wollte, weil sie so krank war. Bis­her haben wir so agiert, dass wir, wenn es ein ver­wandt­schaft­li­ches Ver­hält­nis bezie­hungs­weise irgend­ein Ver­hält­nis gab, das poli­ti­sche Motiv und den Femi­ni­zid als gege­ben ange­nom­men haben. Wir muss­ten uns aber auch schon­mal kor­ri­gie­ren. Manch­mal wis­sen wir schlicht gar nichts, wie zum Bei­spiel bei der vor eini­gen Wochen in der Elbe gefun­de­nen Frau­en­lei­che. Was wir aber auf jeden Fall sagen kön­nen ist, dass Femi­ni­zide oft auch im Kon­text von psy­chi­schen Kri­sen, der aktu­el­len Pfle­ge­krise und in Ver­bin­dung mit zusätz­li­chen Dis­kri­mi­nie­run­gen vor­kom­men. Auch hier braucht es eine Sen­si­bi­li­tät für die Ver­schrän­kung ver­schie­de­ner Machtbeziehungen.

Wir haben auf jeden Fall aus dem einen Jahr gelernt, dass wir genauer hin­schauen müs­sen. Zwar sind die aller­meis­ten Fälle klas­sisch: Die Tat kurz nach der Tren­nung; in Fami­li­en­ver­hält­nis­sen geht es meist um junge Frauen und die Täter sind Väter, Brü­der, Söhne oder Enkel. Wir haben für uns aber fest­ge­stellt, dass es genaue Mar­ker oder Kri­te­rien braucht. Wir müs­sen gucken, ob es irgend­ein Beziehungs- oder Macht­ver­hält­nis gab. Wir müs­sen her­aus­fin­den, ob es Abschieds­briefe oder ähn­li­ches gab. Es ist aber nicht ein­fach, das Patri­ar­chat in Kri­te­rien auf­zu­tei­len. Man muss den Ein­zel­fall genau anschauen. Wir haben zuletzt viel über unser zukünf­ti­ges Vor­ge­hen gespro­chen. Wenn wir zum Bei­spiel nur wis­sen, dass eine Frau getö­tet wurde und es uns nicht ganz klar erscheint, ob es ein Femi­ni­zid ist, dann war­ten wir erst­mal, bis uns ein­deu­ti­gere Daten vor­lie­gen. Diese Arbeit ist auf­wen­dig und erfor­dert manch­mal sogar Akten­zu­gang, den wir zur­zeit nicht haben. 

Wir haben bis­her nur über die voll­ende­ten Femi­zide gespro­chen. In Deutsch­land heißt es von offi­zi­el­ler Seite immer »jeden drit­ten Tag wird eine Frau getö­tet«. Bei uns im Netz­werk arbei­ten viele in Schutz­ein­rich­tun­gen und sehen es in der Pra­xis: Es geschieht häu­fi­ger und wird mehr­mals pro Tag ver­sucht! Wir soll­ten des­halb, auch als Gesell­schaft, auf­hö­ren, uns immer so auf diese Zahl zu bezie­hen, son­dern ver­su­chen, eine andere Zähl­ba­sis zu fin­den. Die Erfah­run­gen von Frau­en­häu­sern, Bera­tungs­stel­len und ande­rer Schutz­ein­rich­tun­gen müs­sen dafür die Grund­lage sein. Die haben die Erfah­rung und ken­nen die Gewalt­dy­na­mi­ken. Ein Femi­zid ist immer nur die Spitze des Eis­bergs. Diese Erzäh­lung von »jedem drit­ten Tag« wird dem nicht gerecht. Es ist keine ein­stel­lige Zahl, son­dern es sind sehr viel mehr Fälle und Ver­su­che. Das macht ein­fach wütend.

Untie­fen: In ande­ren Städ­ten in Deutsch­land gibt es wei­tere Grup­pen, die diese Zäh­lun­gen durch­füh­ren. Seid ihr da vernetzt?

Viola: Unser Ziel ist es, eine ernst­zu­neh­mende soziale Bewe­gung zu sein. Dazu gehört auch, sich bun­des­weit zu ver­net­zen. Wir sind Teil eines Netz­werks, das Deutsch­land, Öster­reich und die Schweiz umfasst. Wir tau­schen uns da auch zu der Arbeit und unse­ren Kri­te­rien aus. Unsere Infor­ma­tio­nen hal­ten wir in einer Sta­tis­tik fest. Das geben wir an die über­re­gio­nale Ver­net­zung wei­ter und wol­len dazu auch Ver­öf­fent­li­chun­gen machen, damit alle damit arbei­ten können.

Die Zäh­lung ist aber nur ein Ziel. Im bes­ten Fall möch­ten wir Gewalt ver­hin­dern. Aus der über­re­gio­na­len Ver­net­zung sind schon prak­ti­sche Dinge ent­stan­den, etwa das Tool­kit »Was tun gegen Femi­ni­zid?!« oder gemein­sam ein­ge­wor­bene Gelder.

Untie­fen: Du hast vor­hin die Zusam­men­ar­beit mit staat­li­chen und bür­ger­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen erwähnt, wie gestal­tet sich die?

Das fängt gerade erst an. Erst­mal geht es meis­tens darum, dass wir unsere Arbeit vor­stel­len, wie etwa beim Run­den Tisch zum Thema Gewalt. Bei der Par­tei die Linke geht es um Ver­net­zung und Infor­ma­tio­nen. Zum Arbeits­kreis Gewalt wur­den wir ein­ge­la­den, er fand aller­dings noch nicht statt, wes­halb wir dazu noch nichts sagen können.

»Wir können keine weiteren 50 Jahre warten«

Untie­fen: Seht ihr auch eine Gefahr in der Zusam­men­ar­beit mit staat­li­chen Insti­tu­tio­nen? Zum einen in Hin­blick dar­auf, dass man ein­ge­hegt wird in den staat­li­chen Pro­zess des Gewalt­schut­zes, wie es der Frau­en­haus­be­we­gung teil­weise schon pas­siert ist, die nun durch­aus finan­zi­ell abhän­gig ist vom Staat. Zum ande­ren, dass man zum Aus­hän­ge­schild der Poli­tik wer­den kann, ohne dass der Staat selbst etwas unter­nimmt oder die Ver­hält­nisse sich ändern?

Viola: Klar, diese Gefahr gibt es. Wir haben in unse­rem Netz­werk aber sehr viele kri­ti­sche Per­so­nen und im Gegen­satz zu Frau­en­häu­sern sind wir vor allem Akti­vis­tin­nen. Wir kön­nen dem­entspre­chend andere Dinge tun und sagen. Das ist ein gro­ßer Vor­teil und etwas, das ich an der Arbeit im Netz­werk schätze. Natür­lich geht es oft Hand in Hand: Wir sind auch auf die Zusam­men­ar­beit mit Frau­en­häu­sern ange­wie­sen, aber gleich­zei­tig schätze ich, dass wir uns ganz anders posi­tio­nie­ren kön­nen. Wir haben uns auch gegrün­det, um zu zei­gen, dass die­ses Thema mehr ange­gan­gen wer­den muss. Das es mehr braucht, als bis­her getan wird. Zum einen muss da expli­zit der Staat in den Blick genom­men wer­den, zum ande­ren geht es da um gesell­schaft­li­che Selbst­or­ga­ni­sie­rung. Das sind bei­des Ebe­nen, die wir ver­su­chen zu vereinen.

Staat­li­che Koope­ra­tio­nen sind bei uns noch nicht son­der­lich aus­ge­prägt. An dem Punkt, dass die Gefahr der Instru­men­ta­li­sie­rung besteht, sind wir glaube ich noch gar nicht. Aber viel­leicht sollte man das immer im Hin­ter­kopf behal­ten. Wir haben uns schon die Frage gestellt, wie­weit unsere Arbeit gehen kann. Bei uns im Netz­werk sind Leute aus ver­schie­de­nen, auch staat­lich finan­zier­ten Orga­ni­sa­tio­nen, die sind aber bei uns auch als Ein­zel­per­so­nen aktiv. Und wir kri­ti­sie­ren dann durch­aus genau deren Geld­ge­ber. Unsere Kri­tik rich­tet sich nicht immer, aber häu­fig an den Staat. Wenn wir rich­tig unge­müt­lich wer­den, dann könnte das schwie­rig wer­den, aber so weit ist es noch nicht. Unser Fokus auf Selbst­or­ga­ni­sa­tion soll gerade in dem Vakuum wir­ken, wo der Staat ver­sagt Schutz zu gewähr­leis­ten. Wir kön­nen keine wei­te­ren fünf­zig Jahre war­ten, bis der Staat das Thema ernst nimmt und Geld zur Ver­fü­gung stellt. Die Bude brennt jetzt und heute!

Untie­fen: Wie gestal­tet sich eure Zusam­men­ar­beit mit ande­ren Akteur:innen aus der lin­ken Szene?

Viola: Als Netz­werk vie­ler Grup­pen sind wir uns nicht immer in allem einig. Aber wir sind uns einig in unse­rer Defi­ni­tion des Patri­ar­chats und dass es allem zugrunde liegt. Das Ange­nehme an unse­rer Arbeit ist, dass wir sehr fokus­siert am kon­kre­ten Thema »Femi­ni­zide« und Gewalt an Frauen arbei­ten. Andere Inhalte las­sen wir aus, weil klar ist, dass wir da unter­schied­li­che Ein­stel­lun­gen haben. Das ist in der lin­ken Szene natür­lich manch­mal schwie­rig, weil zu bestimm­ten The­men Stel­lung­nah­men ein­ge­for­dert wer­den, selbst wenn das nichts mit unse­rem inhalt­li­chen Schwer­punkt zu tun hat. Wenn wir ernst­haft an unse­rem Thema arbei­ten wol­len und die Pro­bleme vor Ort anschauen und ange­hen möch­ten, dann brau­chen wir jede Ein­zelne. Da ist es oft nicht ziel­füh­rend, sich an ein­zel­nen The­men so zu zer­rei­ßen und wir müs­sen da intern einen Umgang fin­den, wozu wir uns äußern und was wir auslassen.

In der femi­nis­ti­schen Bewe­gung ins­ge­samt ste­hen wir vor dem Pro­blem, dass wir viele ver­ein­zelte Grup­pen sind, die dann nicht oft oder gar nicht zusam­men­ar­bei­ten. Durch unsere Ver­net­zung wol­len wir diese Ver­ein­ze­lung und Spal­tung über­win­den und uns trotz der Unter­schiede zusam­men­tun. Das über­ge­ord­nete gemein­same Ziel ist es, alle For­men patri­ar­cha­ler Gewalt zu been­den. Denn von die­ser sind wir alle, wenn auch auf unter­schied­li­che Weise, betroffen.

Lei­der gilt das das Thema »Femi­ni­zide« schein­bar als »uncool«. Warum krie­gen wir es denn nicht hin, bei Gewalt an Frauen groß und prä­sent zu sein? Viel­leicht liegt es daran, dass das Thema nicht so anspre­chend ist – und natür­lich auch schwer. Es ist immer­hin nicht ange­nehm, die ganze Zeit über den Tod zu reden.

Untie­fen: Ihr bezeich­net euch selbst als Anti-Feminizid-Netzwerk, es gibt auch den Begriff Femi­zid: Wo liegt da der Unterschied?

Viola: Die Frage wird uns immer wie­der gestellt. Erst­mal ist es wich­tig, dass man über­haupt einen Begriff hat. Bei uns im Netz­werk kommt es daher, weil wir stark inter­na­tio­na­lis­tisch ori­en­tiert sind. Das »ni« als Zusatz stammt aus der latein­ame­ri­ka­ni­schen Bewe­gung. Damit soll die staat­li­che Ver­ant­wor­tung noch mehr her­vor­ge­ho­ben wer­den, weil es dort noch ganz andere Struk­tu­ren gibt als bei uns. Patri­ar­chale Gewalt gibt es über­all, aber in vie­len Län­dern Latein­ame­ri­kas ist der Staat aktiv daran betei­ligt. Hier in Deutsch­land ist der Staat auch an der Gewalt betei­ligt, aber eher passiv.

»Die wichtige Frage ist: Wie können wir Sicherheit schaffen?«

Untie­fen: Gibt es noch andere gemein­same theo­re­ti­sche Bezüge und Per­spek­ti­ven, die ihr in eurer Arbeit nutzt?

Viola: Gar nicht so viele. Wir sind uns einig darin, wie wir das Patri­ar­chat defi­nie­ren und wie es die Welt struk­tu­riert und bezie­hen uns dazu oft auf bell hooks. Das Patri­ar­chat ist für uns ein gesell­schaft­li­ches Sys­tem, dass auf der Vor­macht­stel­lung des Man­nes basiert und der Vor­stel­lung, dass Män­ner von Natur aus domi­nant und den Schwa­chen über­le­gen sind und diese domi­nie­ren kön­nen. Frauen gel­ten nach die­ser Logik als schwach und die männ­li­che Domi­nanz wird ihnen gegen­über unter ande­rem durch Gewalt auf­recht­erhal­ten. Diese Macht­struk­tur des Patri­ar­chats ermög­licht es erst, dass Femi­ni­zide pas­sie­ren. Das Patri­ar­chat formt alle Men­schen und wird gleich­zei­tig durch sie getra­gen und sta­bi­li­siert. Geschlecht ist in die­sem Sys­tem maß­geb­lich für Gewalt­er­fah­run­gen und wie stark man ihnen aus­ge­setzt ist. Gleich­zei­tig ist patri­ar­chale Unter­drü­ckung immer mit ande­ren struk­tu­rie­ren­den Macht­di­men­sio­nen wie Ras­sis­mus ver­schränkt. Wenn wir so den­ken, kom­men wir natür­lich manch­mal an den Punkt, an dem man sich die Frage stellt: Wenn das Patri­ar­chat allem zu Grunde liegt, ist dann nicht eigent­lich jeder Mord an einer Frau ein Femi­ni­zid? Des­we­gen ist es so wich­tig, Kate­go­rien für Femi­ni­zide zu definieren.

Dar­über hin­aus haben wir ganz unter­schied­li­che poli­ti­sche Hin­ter­gründe und Ori­en­tie­run­gen. Aber wir sind eben sehr prak­tisch aus­ge­rich­tet und füh­ren keine Theo­rie­streits. Wir fokus­sie­ren uns auf das kon­krete Pro­blem. Was nicht bedeu­tet, dass man nicht unter­schied­li­cher Mei­nung sein kann.

Wir sind aller­dings keine Strafrechtsfeminist:innen. Das ist eine Strö­mung, die ver­schärfte, also höhere Stra­fen für zum Bei­spiel Gewalt­straf­tä­ter gegen­über Frauen for­dert. Wir wis­sen aber aus der Kri­mi­no­lo­gie, dass Stra­fen nicht der Abschre­ckung die­nen. Man muss lei­der sagen, dass es tat­säch­lich unter­schied­li­che Straf­be­dürf­nisse gibt, auch bei den Frauen, die Gewalt erfah­ren haben. Man­che möch­ten, dass der Täter für immer im Gefäng­nis sitzt, andere möch­ten nur ihre Ruhe und sicher sein. Die wich­tige Frage ist da: Wie kön­nen wir Sicher­heit schaf­fen? Uns steht in unse­rer Gesell­schaft dafür zur­zeit eigent­lich nur das Straf­recht zur Ver­fü­gung. Gefäng­nisse füh­ren aller­dings nicht dazu, dass Täter Ver­ant­wor­tung für ihr Han­deln über­neh­men oder sich selbst reflektieren.

Fest steht: Femi­ni­zide müs­sen als sol­che benannt wer­den. Dazu, was danach pas­sie­ren soll, haben wir als Netz­werk noch kei­nen gemein­sa­men Stand­punkt. Es ist aber auch nicht an uns, die per­fek­ten Lösun­gen zu haben. Wenn es uns gelingt, das kon­krete Pro­blem der Femi­ni­zide zu redu­zie­ren, zum Bei­spiel durch Prä­ven­tion oder durch das Auf­bauen von Schutz­struk­tu­ren, dann ist schon­mal viel erreicht.

Untie­fen: Ist es im Patri­ar­chat schon eine Form das Sys­tem zu desta­bi­li­sie­ren, wenn auf diese Gewalt hin­ge­wie­sen wird?

Viola: Das ist für uns der erste Schritt. Den brau­chen wir, um dann wei­ter­zu­ar­bei­ten. Wei­tere Schritte sind Prä­ven­ti­ons­ar­beit und gesamt­ge­sell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung. Aber man kann nicht alles gleich­zei­tig ange­hen. Wir kön­nen nicht sagen, wie wir das Patri­ar­chat stür­zen kön­nen. Aber ein ers­ter Schritt ist es zu mobi­li­sie­ren, alle dar­auf hin­zu­wei­sen und dar­über auf­zu­klä­ren, dass das Patri­ar­chat der Gewalt zugrunde liegt.

Untie­fen: Spielt die Selbst­er­mäch­ti­gung gegen die Gewalt auch eine Rolle bei der Orga­ni­sie­rung im Netzwerk?

Viola: Die Gruppe ermäch­tigt schon, aber wir spre­chen ja für die Frauen, die nicht mehr da sind, und für die Über­le­ben­den. Aber wenn es nichts Empowern­des hätte, dann wür­den es viele von uns bestimmt nicht machen. Es kos­tet schon viel Kraft sich so einem Scheiß­thema in der eige­nen Frei­zeit zu wid­men. Die ganze Zeit über den Tod zu spre­chen und für Tote zu spre­chen. Wir ver­su­chen auch, so gut es geht Ange­hö­ri­gen­ar­beit zu machen. Wir rich­ten uns aber noch rela­tiv wenig nach ihnen, weil wir nicht immer Zugang zu den Ange­hö­ri­gen haben oder man­che das in dem Moment nicht schaf­fen und nicht sagen kön­nen, was sich die Ver­stor­bene gewünscht hätte. Das respek­tie­ren wir, gehen aber natür­lich trotz­dem raus. Die Kund­ge­bun­gen sind des­halb noch nicht so sehr auf die jewei­li­gen Per­so­nen aus­ge­rich­tet. Es ist gar nicht so leicht, zum einen immer wie­der die glei­che poli­ti­sche For­de­rung zu stel­len und gleich­zei­tig auf den indi­vi­du­el­len Fall zu gucken.

»Die Kämpfe in Lateinamerika sind viel radikaler und lauter«

Untie­fen: Kannst du kurz etwas zur Rolle des femi­nis­ti­schen Kampfs in Latein­ame­rika für die Anti-Feminizid-Bewegung sagen?

Viola: Die erste große Bewe­gung gegen Femi­ni­zide in Latein­ame­rika ist in den neun­zi­ger Jah­ren in Ciu­dad Juá­rez in Mexiko ent­stan­den, nach­dem dort Dut­zende, teil­weise ver­stüm­melte Frau­en­lei­chen gefun­den wor­den sind. Es hat damals keine Straf­ver­fol­gung gege­ben und die Medien haben Vic­tim Bla­ming betrie­ben, anstatt das Pro­blem ernst­haft auf­zu­grei­fen. Dar­auf­hin haben sich Frauen zusam­men­ge­tan. Das waren unter ande­rem Müt­ter von Opfern von Femi­ni­zi­den aber auch Politiker:innen und Feminst:innen. Diese haben dann Pro­teste orga­ni­siert und in die­sem Rah­men ent­stand dann auch die Bewe­gung Ni Una Más (»Keine mehr«). Eine ganze Zeit spä­ter ist 2015 in Argen­ti­nien Ni Una Menos (»Keine weni­ger«) in Reak­tion auf dor­tige Femi­ni­zide ent­stan­den. Die Bewe­gung in Argen­ti­nien hatte von Anfang an eine Ver­bin­dung zu der in Mexiko. Ni Una Menos wurde in Argen­ti­nien zur Mas­sen­be­we­gung und hat sich dann trans­na­tio­nal ver­brei­tet. Die latein­ame­ri­ka­ni­schen Bewe­gun­gen gegen den Femi­ni­zid haben gemein­sam, dass sie auf his­to­risch gewach­se­nen Struk­tu­ren von femi­nis­ti­schen Grup­pen und Frau­en­grup­pen auf­bauen kön­nen. Diese Grup­pen haben sich teil­weise schon in der Zeit der und als Reak­tion auf die Dik­ta­tu­ren in den acht­zi­ger Jah­ren in Latein­ame­rika gebildet.

Untie­fen: Was kann man von die­sen Kämp­fen für die Bewe­gung hier lernen?

Viola: Sie sind viel radi­ka­ler und lau­ter. Es wer­den auch ein­fach Dinge getan, zum Bei­spiel Häu­ser besetzt, um dar­aus ein Schutz­haus zu machen oder Anti­mo­nu­mente gegen Femi­ni­zide auf­ge­stellt. Die Öffent­lich­keit wird gestal­tet, ohne das mit den Behör­den abzu­spre­chen. Es ist eine Mas­sen­be­we­gung ent­stan­den, die ernst­haft den Sta­tus Quo angreift und auch eine »Bedro­hung« für den Staat dar­stellt. Das ist für den deutsch­spra­chi­gen Raum nur schwer vor­stell­bar. Sie neh­men auch viel mehr das Leben in den Blick: »Keine weni­ger«, »Keine mehr«. Das ist eben eine umge­kehrte Art zu den­ken. Es darf keine mehr feh­len, wir brau­chen alle, um uns zu schützen.

Was wir als aktu­elle Anti-Feminizid-Bewegung in Deutsch­land von den Freund:innen und Genoss:innen in Latein­ame­rika ler­nen kön­nen, ist die Form der Mobi­li­sie­rung und Orga­ni­sie­rung und wie sie es geschafft haben, Hun­der­tau­sende Men­schen auf die Straße zu krie­gen. Wie sie patri­ar­chale Gewalt zu einem Thema gemacht haben, das gesamt­ge­sell­schaft­lich rele­vant gewor­den ist. Wir müs­sen schauen, wie sie das gemacht haben, und wie es sich auf unse­ren Kon­text anwen­den lässt. Dabei geht es um die Frage, wie wir es als Linke schaf­fen kön­nen, zu ande­ren zu spre­chen und auch zu uns selbst.

Es wird auch immer gerne dar­auf ver­wie­sen, dass die femi­nis­ti­schen Bewe­gun­gen in Latein­ame­rika es in fast allen Län­dern geschafft haben, den Straf­tat­be­stand »Femi­zid« ein­zu­füh­ren. Das ist auf jeden Fall auch wich­tig, um das Pro­blem auf allen Ebe­nen sicht­bar zu machen und zu benen­nen, auch auf juris­ti­scher Ebene. Das ist aller­dings kein Aspekt, auf den sich unsere Kämpfe als Netz­werk konzentrieren.

Untie­fen: Was lässt sich nicht von Latein­ame­rika nach Deutsch­land übertragen?

Viola: In Deutsch­land haben wir nicht so starke, his­to­risch gewach­sene femi­nis­ti­sche Struk­tu­ren. Eine der wich­tigs­ten Auf­ga­ben, die wir jetzt gerade ange­hen, ist die Ver­net­zung und damit auch die Über­win­dung von min­des­tens zwei Hin­der­nis­sen in der femi­nis­ti­schen Bewe­gung. Zum einen ist das der his­to­ri­sche Bruch zwi­schen der Frau­en­be­we­gung der sieb­zi­ger und acht­zi­ger Jahre, die auch gegen patri­ar­chale Gewalt gekämpft hat, und den heu­ti­gen femi­nis­ti­schen Grup­pie­run­gen. Zum ande­ren, wie bereits ange­spro­chen, die Ver­ein­ze­lung und interne Spal­tung der aktu­el­len femi­nis­ti­schen Bewe­gung in Deutschland.

Ein wei­te­res Pro­blem in Deutsch­land ist das Meta­nar­ra­tiv, dass die Gleich­heit zwi­schen den Geschlech­tern bereits erreicht sei. Das müs­sen wir auf­bre­chen. Außer­dem geht die The­ma­ti­sie­rung patri­ar­cha­ler Gewalt in Medien und Poli­tik oft mit einer soge­nann­ten Eth­ni­sie­rung der Gewalt ein­her. Das bedeu­tet, dass Deutsch­land sich immer als poli­tisch und gesell­schaft­lich pro­gres­siv dar­stellt und gesell­schaft­li­che Pro­bleme auf spe­zi­fi­sche migran­ti­sche Grup­pen abge­wälzt wer­den. Dies führt zu einer Ver­la­ge­rung des Pro­blems, was nicht nur falsch ist, son­dern auch zu Dis­kri­mi­nie­rung führt und die Suche nach ernst­haf­ten Lösungs­an­sät­zen verhindert.

Inter­view: Elena Michel

Die Autorin lebt in Ham­burg und sieht in der prak­ti­schen Aus­rich­tung der poli­ti­schen Arbeit ein gro­ßes Poten­tial für die femi­nis­ti­sche Bewegung. 

„Der Antifeminismus hat heute eine Scharnierfunktion“

„Der Antifeminismus hat heute eine Scharnierfunktion“

Mit Femi­nis­mus kann heute Staat gemacht wer­den. Zugleich schei­nen anti­fe­mi­nis­ti­sche Posi­tio­nen in den Main­stream vor­zu­drin­gen. Und auch die Gewalt gegen Frauen, Les­ben, Inter- und Trans­per­so­nen sowie Agen­der nimmt zu. Der Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Flo­rian Hes­sel forscht zu Anti­fe­mi­nis­mus, Anti­se­mi­tis­mus und Ver­schwö­rungs­vor­stel­lun­gen, und ist Mit­glied des poli­ti­schen Bil­dungs­ver­eins Bag­rut e.V. Im Gespräch mit Untie­fen erklärt er, wie Anti­fe­mi­nis­mus heute funk­tio­niert und wer ihn in Ham­burg verbreitet.

Flo­rian Hes­sel beim Inter­view in der Zen­tra­len Biblio­thek Frau­en­for­schung, Gen­der und Queer Stu­dies. Foto: Untiefen

Untie­fen: Lie­ber Flo, Du hast Ende Juni in der Zen­tra­len Biblio­thek Frau­en­for­schung, Gen­der und Queer Stu­dies zusam­men mit Rebekka Blum sowie mit Ham­burg ver­netzt gegen Rechts eine Ver­an­stal­tung orga­ni­siert unter dem Titel „Anti­fe­mi­nis­mus (als anti­de­mo­kra­ti­sche Her­aus­for­de­rung) – All­tag und poli­ti­sche Mobi­li­sie­rung in Ham­burg”. Wir wür­den dazu gern ein paar Fra­gen ver­tie­fen und eure Ein­schät­zun­gen in Bezug auf Ham­burg auch jen­seits der Ver­an­stal­tung zugäng­lich machen. Zunächst würde uns aber inter­es­sie­ren wie Du eigent­lich, per­sön­lich und als Sozi­al­wis­sen­schaft­ler, zum Thema Anti­fe­mi­nis­mus gekom­men bist?

Flo­rian Hes­sel: Dafür war einer­seits ein per­sön­li­cher Kon­takt wich­tig: Meine Ver­eins­kol­le­gin Janne Misie­wicz hat ihre Bache­lor­ar­beit über die Bezie­hung von Anti­fe­mi­nis­mus und Anti­se­mi­tis­mus geschrie­ben und wir haben viel dis­ku­tiert und uns dann ent­schlos­sen, dazu gemein­sam einen Text zu schrei­ben. Auf der ande­ren Seite ist Anti­fe­mi­nis­mus ganz all­ge­mein in den letz­ten 10 Jah­ren viel sicht­ba­rer und wirk­mäch­ti­ger gewor­den. Die Grün­dung und Ent­wick­lung der AfD ist ein Grund dafür, aber viele andere Ent­wick­lun­gen spie­len mit hin­ein. Und als Per­son, als Wis­sen­schaft­ler, der sich im pro­gres­si­ven Spek­trum und als Femi­nist ver­or­tet, fühle ich mich auch ver­pflich­tet, jeder Form von Men­schen­feind­schaft ent­ge­gen zu treten.

Untie­fen: Ihr habt bei der Ver­an­stal­tung ja sicher nicht zufäl­lig den Begriff „Anti­fe­mi­nis­mus“ in den Mit­tel­punkt gestellt, und nicht etwa Frau­en­feind­schaft oder Sexis­mus. Warum habt ihr die­sen Fokus gewählt und was ver­stehst Du, was ver­steht ihr unter Antifeminismus?

Hes­sel: Ich würde die Begriffe erst­mal grund­sätz­lich so sor­tie­ren: Sexis­mus bezieht sich immer in irgend­ei­ner Form auf geschlechts­be­zo­gene Unter­schiede, aber nicht zwangs­läu­fig auf Frauen. Das kann posi­tiv oder nega­tiv for­mu­liert wer­den. Die klas­si­schen Aus­sa­gen, also etwa, dass Frauen emo­tio­na­ler seien und Män­ner sach­li­cher und so wei­ter, schrän­ken – jetzt allein auf die Indi­vi­duen bezo­gen – Men­schen glei­cher­ma­ßen ein, zum Bei­spiel wenn man sich als Mann ver­steht und dann meint, keine Gefühle zei­gen zu dürfen.

Frau­en­feind­schaft und Anti­fe­mi­nis­mus hin­ge­gen rich­ten sich immer gegen Frauen. Von­ein­an­der unter­schei­den las­sen sie sich am bes­ten his­to­risch. Frau­en­hass beglei­tet die gesamte Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schichte, seit es patri­ar­chale Geschlecht­er­ord­nun­gen gibt. Anti­fe­mi­nis­mus ist dage­gen ein moder­nes Phä­no­men. Ursprüng­lich rich­tete er sich gegen den Kampf für das Frau­en­wahl­recht und die Gleich­be­rech­ti­gung von Frauen im Kai­ser­reich. Die deut­sche Publi­zis­tin Hed­wig Dohm hat mit ihrer Streit­schrift „Die Anti­fe­mi­nis­ten“ (1902) in die­sem Zusam­men­hang den Begriff erst­mals geprägt. Grund­sätz­lich defi­niert haben ihn dann Forscher:innen wie Her­rad Schenk in den 1980er Jah­ren und Ute Pla­nert in den 1990ern. Die Beschrei­bung, auf die man sich wis­sen­schaft­lich eini­gen kann, ist, dass Anti­fe­mi­nis­mus eine Reak­tion auf Bemü­hun­gen um Gleich­be­rech­ti­gung im Geschlech­ter­ver­hält­nis ist. Diese Defi­ni­tion bezieht sich also zum einen auf das Geschlech­ter­ver­hält­nis. Das mag uns zwar als tra­di­tio­nell und alt­her­ge­bracht erschei­nen. Aber was wir heute dar­un­ter ver­ste­hen, ist erst in der Moderne ent­stan­den, also die bür­ger­li­che Kern­fa­mi­lie, die nor­ma­tiv auf­ge­la­dene Arbeits­ver­tei­lung, die damit ver­bun­de­nen Geschlech­ter­rol­len und Rol­len­ste­reo­type und so wei­ter. Zum ande­ren geht es um die poli­ti­schen Kämpfe um Gleich­stel­lung, die auch ein Phä­no­men der Moderne sind.
Anti­fe­mi­nis­mus bezieht sich also ganz und gar auf die moderne, kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft und die eman­zi­pa­to­ri­schen Ten­den­zen in ihr. Als poli­ti­sche Bewe­gung rich­tet er sich offen gegen Gleich­be­rech­ti­gungs­be­mü­hun­gen. Ein his­to­ri­sches Bei­spiel ist der „Bund zur Ver­hin­de­rung der Frau­en­eman­zi­pa­tion“ im Kai­ser­reich. Auch heute gibt es solch einen orga­ni­sier­ten Anti­fe­mi­nis­mus, das hat etwa in der Grün­dung der AfD eine wich­tige Rolle gespielt. Noch wich­ti­ger als den Blick auf Anti­fe­mi­nis­mus als poli­ti­sche Bewe­gung finde ich aber, ihn auch als ein spe­zi­fi­sches Res­sen­ti­ment zu ver­ste­hen. Also als eine mit bestimm­ten Emo­tio­nen und Affek­ten auf­ge­la­dene und in ver­schie­de­nen Aus­prä­gun­gen auf­tre­tende, pro­jek­tive Ableh­nung der Ver­un­si­che­rung und des Unbe­ha­gens im Geschlech­ter­ver­hält­nis in der Moderne.

Untie­fen: Du unter­schei­dest also zwi­schen dem Res­sen­ti­ment als Mas­sen­phä­no­men und dem orga­ni­sier­ten Anti­fe­mi­nis­mus, also den Leu­ten, die sich poli­tisch unter die­sem Ban­ner zusam­men­fin­den. Gibt es denn, auch in Ham­burg, so etwas wie eine anti­fe­mi­nis­ti­sche Szene? Im Sinne von Leu­ten wie etwa Yan­nic Hendricks, die vor der Abschaf­fung des § 219a Ärzt:innen ange­zeigt haben, die Abtrei­bun­gen durch­füh­ren? Oder sind das in ers­ter Linie rechts­extreme Struk­tu­ren, die auch anti­fe­mi­nis­tisch sind? Wie wür­dest Du das einschätzen?

Hes­sel: Es gibt diese orga­ni­sier­ten Struk­tu­ren, auch in Ham­burg. Das genannte Bei­spiel ist ein klas­sisch anti­fe­mi­nis­ti­scher, frau­en­feind­li­cher Akteur. Zuerst aber: Gewalt gegen Frauen ist, auch in Ham­burg, weit ver­brei­tet. Für 2021 wur­den etwa 5000 Fälle von – teil­weise schwe­rer – Gewalt gegen Frauen gezählt. Und bei den Ham­bur­ger Frau­en­häu­sern suchen im Schnitt 4 Frauen pro Tag Hilfe, zugleich sind die Häu­ser durch­schnitt­lich zu 95 % belegt. Also oft voll­kom­men aus­ge­las­tet. Daher wird ja auch schon län­ger ein wei­te­res Frau­en­haus gefor­dert. Hof­fent­lich kommt das auch bald zu Stande.

Bevor wir zu kon­kre­ten anti­fe­mi­nis­ti­schen Akteur:innen in Ham­burg kom­men, ist es denke ich wich­tig noch etwas Kon­text her­zu­stel­len: Eine Beson­der­heit von Res­sen­ti­ments heute ist, dass sich fast nie­mand offen zu ihnen bekennt. Nie­mand will Ras­sist oder Anti­se­mit sein. Bei Anti­fe­mi­nis­mus ist das etwas anders: Er wird in der Öffent­lich­keit nur sehr sel­ten als Res­sen­ti­ment benannt, das Pro­blem ist wenig bekannt. Bestimmte Schlag­wör­ter wie „Gen­der­gaga“, „Gen­de­ris­mus“ oder „Frau­en­lobby“ sind in der Öffent­lich­keit ziem­lich frei im Umlauf, z.B. als Click­bait bei Spie­gel Online oder als Signal­wör­ter in sozia­len Medien. Anti­fe­mi­nis­mus hat daher heute eine starke Integrations- und Schar­nier­funk­tion, orga­ni­sa­to­risch aber auch ideo­lo­gisch. Die Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Juliane Lang oder auch die Sozio­lo­gin Rebekka Blum haben das gut her­aus­ge­ar­bei­tet, sie spre­chen auch von einer „Brü­cken­ideo­lo­gie“. Das heißt ein­mal, Anti­fe­mi­nis­mus tritt heute meis­tens nicht allein auf, son­dern ver­bun­den mit ande­ren anti­mo­der­nen Res­sen­ti­ments. Wie diese Ver­schrän­kun­gen in Bezug auf Anti­fe­mi­nis­mus und Anti­se­mi­tis­mus, aber auch Ver­schwö­rungs­vor­stel­lun­gen funk­tio­nie­ren, haben Janne Misie­wicz und ich – hof­fent­lich anschau­lich – an einem exem­pla­ri­schen Fall ana­ly­siert. Der Kern ist in jedem Fall die Behaup­tung, gesell­schaft­li­che Ver­än­de­rungs­pro­zesse oder soziale Bewe­gun­gen seien min­des­tens von außen mani­pu­liert, wür­den viel­leicht gar als Instru­mente zu ande­ren Zwe­cken erzeugt. Damit ein­her geht die Schaf­fung ent­spre­chen­der, meist per­so­nal iden­ti­fi­zier­ba­rer Feindbilder.

Wei­ter wird Anti­fe­mi­nis­mus – wie gesagt – vor allem durch Chif­fren und Schlag­wör­ter kom­mu­ni­ziert. Ein Schlag­wort wie „Gen­der­gaga“ wirkt dann wie ein Schar­nier zwi­schen Spek­tren, von der extre­men, neo­na­zis­ti­schen, völ­ki­schen oder Neuen Rech­ten bis tief in die soge­nannte bür­ger­li­che Mitte hin­ein. Man meint nicht immer genau das Glei­che, aber man kann sich auf eine gewisse Grund­lage eini­gen. Unter ande­rem dar­auf, dass man heute das Geschlech­ter­ver­hält­nis und „die Fami­lie“ vor „dem Femi­nis­mus“ in Schutz neh­men müsse. Dass also die Eman­zi­pa­tion weit­ge­hend rea­li­siert sei und nun aber zu weit gehe, sich jetzt gegen die Frauen selbst richte. Die Scharnier- und Inte­gra­ti­ons­funk­tion ist in die­ser Form eine Beson­der­heit des Anti­fe­mi­nis­mus heute, auch daher fin­det man wenig ori­gi­när anti­fe­mi­nis­ti­sche Akteur:innen.

Am nächs­ten kommt dem in Ham­burg die AfD. Andreas Kem­per oder auch Juliane Lang wei­sen schon seit der Par­tei­grün­dung dar­auf hin, dass der orga­ni­sierte Anti­fe­mi­nis­mus eine zen­trale Säule die­ser Par­tei ist – ideo­lo­gisch und orga­ni­sa­to­risch. Das zeigt sich etwa an den klei­nen Anfra­gen der AfD Bür­ger­schafts­frak­tion. 2019 fragte etwa der dama­lige Abge­ord­nete Harald Fein­eis den Senat, wann auch in Ham­burg Mut­ter und Vater zu „Eltern­teil 1“ und „Eltern­teil 2“ gegen­dert wür­den (Druck­sa­che 21/17515). Kleine Anfra­gen sind natür­lich ein wich­ti­ges par­la­men­ta­ri­sches Instru­ment, aber sie die­nen der AfD auch dazu, Struk­tu­ren und Insti­tu­tio­nen zu beschäf­ti­gen und poli­ti­sche Punkte vor­zu­brin­gen. Die Stim­mungs­ma­che gegen die angeb­li­che Rede von „Eltern­teil 1“ und „Eltern­teil 2“ ist – neben dem grund­sätz­li­chen Lächer­lich­ma­chen rea­ler Dis­kus­sio­nen um For­men geschlech­ter­ge­rech­ter Spra­che – für ver­schie­dene Rechte anschluss­fä­hig. Sie ist etwa auch ein zen­tra­ler Tal­king point von Vla­di­mir Putin. Wie er setzt die AfD-Anfrage schon vor­aus, dass es da so etwas wie eine Agenda gibt, Mut­ter und Vater durch geschlechts­neu­trale Bezeich­nun­gen zu erset­zen und fragt nur noch: Wann wird das passieren?

Untie­fen: Und lei­der war die Ant­wort des Senats nicht: Danke, dass sie fra­gen, das wird dann und dann pas­sie­ren – son­dern gewohnt einsilbig.

Hes­sel: Ja, genau, der Senat sagt nur: „Die zustän­dige Behörde hat sich damit noch nicht befasst. Der zustän­di­gen Behörde lie­gen keine Daten ent­spre­chend der Fra­ge­stel­lung vor.“

In der­sel­ben Anfrage fragte Fein­eis den Senat: „Mit wel­chen geschlechts­neu­tra­len Sprach- und Wort­krea­tio­nen beschäf­ti­gen sich die bei der Han­se­stadt ange­stell­ten Mit­ar­bei­ter, vor allem jene im ‚Zen­trum Gen­der­wis­sen‘ [sic!] aktu­ell?“. Das Zen­trum Gen­der­Wis­sen war der Vor­gän­ger des Zen­trums Gen­der und Diver­sity, zu dem die Biblio­thek gehört, in der wir hier gerade spre­chen. Diese Anfra­gen lan­den dann bei den Mitarbeiter:innen, die sich dann mit der Beant­wor­tung befas­sen müs­sen. Mit dem Ergeb­nis: „Dem Senat ist der­zeit keine Beschäf­ti­gung des Zen­trums Gen­der­wis­sen [sic!] mit dem Thema ‚geschlecht­er­neu­trale Spra­che‘ bekannt.“ Von die­sen Anfra­gen zu Geschlech­ter­for­schung und Gleich­stel­lungs­po­li­tik gibt es Dut­zende, die gehen mitt­ler­weile wahr­schein­lich in den drei­stel­li­gen Bereich. Ebenso in ande­ren Bun­des­län­dern und im Bundestag.

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Akteur mit Schar­nier­funk­tion ist zumin­dest ein Teil der CDU. Der ehe­ma­lige Lan­des­vor­sit­zende Chris­toph Ploß hat sich da ja sehr her­vor­ge­tan. Zum Auf­takt des letz­ten Bun­des­tags­wahl­kampfs gab es in Ham­burg einen Par­tei­tag unter sei­ner Füh­rung. Haupt­thema war die For­de­rung, „Gen­der­spra­che“ zu ver­bie­ten. Der Hin­ter­grund war der­selbe wie bei der klei­nen Anfrage der AfD, näm­lich, dass der Senat den Ham­bur­ger Behör­den erlaubt hat, gen­der­sen­si­ble oder gen­der­neu­trale Anre­den zu ver­wen­den. Die CDU hat dar­aus gemacht: Hier soll uns etwas ver­bo­ten wer­den – das gehört ver­bo­ten. In die­ser Kon­stel­la­tion, die­ser Ver­keh­rung, liegt eine anschau­li­che Illus­tra­tion der pro­jek­ti­ven Logik von Res­sen­ti­ments. Das zielte ganz ein­deu­tig auf eine öffent­li­che Wir­kung, auf Affekte und Emo­tio­nen. Die wollte man mobi­li­sie­ren und in Wäh­ler­stim­men ummünzen.

Bei der CDU ist das ziem­lich instru­men­tell gedacht. Man hat das auch jetzt im Früh­jahr gese­hen, bei der berüch­tig­ten Ham­bur­ger „Volks­in­itia­tive gegen das Gen­dern in Schu­len und Behör­den“. Die CDU hat sich einer­seits von der Orga­ni­sa­to­rin Sabine Mer­tens distan­ziert, weil die rechts­of­fen und homo­phob auf­tritt. Zugleich aber will sie von der Initia­tive und den dadurch erhoff­ten Wäh­ler­stim­men nicht ablas­sen. Sie ver­sucht also von den Affek­ten zu pro­fi­tie­ren, die­sem „Man will uns hier von oben etwas aufdrücken“.

Schließ­lich noch zu den akti­vis­ti­schen Milieus: Das sind ein­zelne Per­so­nen oder kleine, oft eher lose Grup­pen, ange­fan­gen mit den bereits von Dir erwähn­ten Abtreibungsgegner:innen oder christlich-fundamentalistischen Grup­pie­run­gen. Die schei­nen mir aller­dings für Ham­burg keine beson­dere Bedeu­tung zu haben. Wich­ti­ger sind da gerade Zusam­men­hänge wie das über­schau­bare Netz­werk von Per­so­nen, das aktu­ell die Initia­tive gegen „Gen­der­spra­che“ betreibt. Eine ähn­li­che Struk­tur hat auch die Querdenken-Szene, und hier wur­den anti­fe­mi­nis­ti­sche Topoi im bun­des­wei­ten Ver­gleich in Ham­burg sehr stark bedient. Dazu gibt es einen aktu­el­len Bericht, ver­fasst unter ande­rem von Larissa Denk. Vor allem über die schon klas­sisch zu nen­nende Chif­fre der Kin­der, die vor Mas­ken und Pan­de­mie­maß­nah­men geschützt wer­den müss­ten – oder auch vor staat­li­chen Schu­len und dem, was dort über Geschlecht und Sexua­li­tät gelehrt wird. Das zeigte sich dann an Initia­ti­ven wie „Eltern ste­hen auf“. Die knüpft an einen der Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkte des orga­ni­sier­ten Anti­fe­mi­nis­mus in Deutsch­land an. In den Jah­ren 2014/2015 ent­stand aus der Agi­ta­tion gegen den Bil­dungs­plan in Baden-Württemberg die Bewe­gung „Demo für alle“. Diese „besorg­ten Eltern“ rich­te­ten und rich­ten sich gegen eine ver­meint­li­che „Früh­sexua­li­sie­rung“ und „Gen­de­ri­sie­rung“.

Trieb auch in Ham­burg sein Unwe­sen: Der anti­fe­mi­nis­ti­sche Akti­vist Yan­nic Hendricks. Foto: Hinnerk11 Lizenz: CC BY-SA 4.0

Untie­fen: Eine tra­gende Säule ist der Anti­fe­mi­nis­mus also bei den poli­ti­schen Par­teien eigent­lich nur bei der AfD. Auch die Taz hat die CDU im Zusam­men­hang mit der Volks­in­itia­tive gegen „Gen­der­spra­che“ als „nütz­li­che Idio­ten“ statt als Über­zeu­gungs­tä­ter bezeich­net. Und sicher stimmt es, dass der Ham­bur­ger Land­ver­band libe­ral ist. Aber: his­to­risch hat das die CDU ja nicht abge­hal­ten – siehe die von Beus/Schill-Koalition 2001–2003 – sich von popu­lis­ti­schen radi­ka­len Rech­ten zur Macht ver­hel­fen zu las­sen. Wenn wir momen­tan von einem Stimmen- und Macht­zu­wachs der AfD aus­ge­hen müs­sen: Könnte es sein, dass die CDU den Anti­fe­mi­nis­mus in Zukunft stär­ker als Thema (wieder-)entdecken wird? Eben weil er diese Schar­nier­funk­tion hat? Oder ist da das libe­rale Selbst­ver­ständ­nis doch zu wirksam?

Hes­sel: Libe­ral bedeu­tet bei der Ham­bur­ger CDU ja vor allem wirt­schafts­li­be­ral – im Sinne von: was gut für Hafen und Han­del ist, ist gut für die Stadt.

Untie­fen: Auch wenn das heißt, dass z.B. Frauen mit Kin­dern beim Container-Hafenbetrieb Euro­kai Teil­zeit­ar­beit sys­te­ma­tisch ver­wehrt wird.

Hes­sel: Ja. Aber die CDU ver­tritt den­noch einen moder­ni­sier­ten Kon­ser­va­tis­mus. Das ist ja eine der Errun­gen­schaf­ten der deut­schen poli­ti­schen Land­schaft nach 1945: Bestimmte Tra­di­ti­ons­li­nien der gro­ßen kon­ser­va­ti­ven poli­ti­schen Par­teien konn­ten wirk­lich abge­schnit­ten wer­den. Für Ham­burg teile ich die Ein­schät­zung der Taz, dass der aktu­elle Vor­sit­zende, Den­nis The­ring, kein Inter­esse an einer anti­fe­mi­nis­ti­schen Posi­tio­nie­rung hat. Aber den­noch will man es sich mit die­sem Wäh­ler­po­ten­tial nicht ver­scher­zen. Man manö­vriert, man ver­sucht es nicht zu offen­siv anzu­ge­hen, will sich diese The­men aber auch nicht ganz neh­men las­sen, weil es dann doch ein bestimm­tes inter­es­sier­tes Milieu gibt, das CDU wählt oder ver­meint­lich wäh­len könnte.

Bei der Bundes-CDU gibt es dage­gen sehr deut­li­che Zei­chen, dass das anti­fe­mi­nis­ti­sche Ticket stär­ker gezo­gen wer­den wird. Äuße­run­gen von Fried­rich Merz, aber auch die Rede von Clau­dia Pech­stein las­sen das erken­nen. Das ver­sucht einen recht weit ver­brei­te­ten libe­ra­len, bes­ser viel­leicht: liber­tä­ren Anti­li­be­ra­lis­mus zu mobi­li­sie­ren: Hier würde „dem Volk“ von „den Eli­ten“ in Ber­lin etwas auf­ge­drückt und das Leben mies­ge­macht. Wir sehen hier auch wie­der die schon erwähnte Ver­schrän­kung und Ver­mi­schung mit Ele­men­ten ande­rer Res­sen­ti­ments, von Intel­lek­tu­el­len­feind­lich­keit etwa, Ver­schwö­rungs­vor­stel­lun­gen und zumin­dest die Anschluss­fä­hig­keit an einen gewis­sen laten­ten Anti­se­mi­tis­mus. Mar­kus Söder hat schon im Früh­jahr gegen eine „Woke-Ideologie“ gewet­tert und gesagt: „Wir brau­chen keine Gedan­ken­po­li­zei, son­dern mehr Poli­zei auf den Stra­ßen.“ Sol­che Aus­sa­gen zei­gen schon in ihrer For­mu­lie­rung, man mobi­li­siert auto­ri­täre Bedürf­nisse en gros, gegen die Ver­un­si­che­run­gen und Her­aus­for­de­run­gen einer plu­ra­lis­ti­schen, diver­sen, hete­ro­ge­nen Gesellschaft.

Untie­fen: Wes­halb er dann auch die Grü­nen als poli­ti­schen Haupt­feind dar­stellt, statt die AfD, die ja poli­tisch offen­sicht­lich die viel grö­ßere Bedro­hung für die CDU/CSU ist.

Hes­sel: Genau. Und das ist nicht ein­mal stra­te­gisch klug. Die AfD ist mitt­ler­weile eine eta­blierte Par­tei und kann mit einem gewis­sen Erfolgs­ver­spre­chen locken. Gerade wenn Men­schen zwar gefühlt rebel­lie­ren wol­len, aber sich immer von Auto­ri­tä­ten und „der Mehr­heit“, vom „Wir“ gedeckt sehen wol­len, warum soll­ten die in die­ser Kon­stel­la­tion CDU wäh­len statt AfD? Der gefähr­li­che Effekt wird viel­mehr eine wei­tere Nor­ma­li­sie­rung auto­ri­tä­rer Hal­tun­gen und Ideo­lo­gie­frag­mente sein.

Untie­fen: Wenn wir noch­mal auf die Mas­se­ne­bene schauen: Anhand wel­cher Indi­ka­to­ren kann man able­sen, dass Anti­fe­mi­nis­mus als All­tags­phä­no­men zunimmt? Und: Was gibt er eigent­lich den Leu­ten, warum ver­fängt die­ses Res­sen­ti­ment immer wieder?

Hes­sel: Seit der vor­letz­ten Leip­zi­ger Auto­ri­ta­ris­mus­stu­die wer­den zum ers­ten Mal expli­zit anti­fe­mi­nis­ti­sche Ein­stel­lun­gen abge­fragt. Zum Bei­spiel durch Zustim­mung zu Aus­sa­gen wie: „Frauen machen sich in der Poli­tik häu­fig lächer­lich.“ Her­aus­ge­kom­men ist, dass aktu­ell 25 % der Befrag­ten ein zusam­men­hän­gen­des, anti­fe­mi­nis­ti­sches Welt­bild haben, bei Män­nern ist es jeder Dritte. Die Zustim­mung zu ein­zel­nen Items ist teil­weise noch höher. Wir kön­nen das aber auch able­sen an der Zunahme all­täg­li­cher, frauen- oder trans­feind­li­cher Gewalt – über ein paar Zah­len haben wir ja schon kurz gespro­chen – und an der Zunahme bestimm­ter Ver­öf­fent­li­chun­gen und öffent­li­cher Dis­kus­sio­nen, z.B. um gen­der­sen­si­ble Spra­che. Und nicht zuletzt eben am Erfolg der AfD, für die Anti­fe­mi­nis­mus von Beginn an zen­tral war.

Zur Frage, was es den Leu­ten gibt: Wie in allen Res­sen­ti­ments fin­det hier eine Umkeh­rung oder Ver­schie­bung statt. Kon­kret: Statt der Ver­un­si­che­rung und dem Unbe­ha­gen im Geschlech­ter­ver­hält­nis wird die Beschäf­ti­gung damit zum eigent­li­chen Pro­blem erklärt. Zum Bei­spiel in Form der Gen­der Stu­dies, über die Chif­fre „der Femi­nis­mus“, mit den Codes und Schlag­wör­tern, über die wir bereits gespro­chen haben. Es wird also auf eine auto­ri­täre, pro­jek­tive Weise auf gesell­schaft­li­che Wider­sprü­che und Kri­sen­ten­den­zen der moder­nen kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft reagiert. Man benennt angeb­lich Schul­dige und ver­sucht, das ganz reale Unbe­ha­gen durch eine „Rück­kehr“ zu einer Ord­nung zu besei­ti­gen, die es so nie gege­ben hat. Die vor­herr­schen­den Vor­stel­lun­gen von der bür­ger­li­chen Kern­fa­mi­lie – Vater, Mut­ter, gemein­same Kin­der, ver­hei­ra­tet, mit kla­rer Ord­nung von Auto­ri­tät und Macht – ent­spre­chen seit etwa 30 Jah­ren zuneh­mend weni­ger der Rea­li­tät. Fami­li­en­for­men haben sich ver­viel­fäl­tigt. Das hat natür­lich eman­zi­pa­to­ri­sche Momente, ist aber zugleich für uns alle auch höchst ver­un­si­chernd. Dahin­ter steht ja auch eine gesell­schaft­li­che Ver­än­de­rung, oft eine Pre­ka­ri­sie­rung der Arbeits­ver­hält­nisse und Berufs­bio­gra­phien, gene­rell eine Umver­tei­lung von Bil­dungs­res­sour­cen, von Lebens­chan­cen und von Reich­tum auf immer weni­ger Menschen.

Dar­auf reagiert Anti­fe­mi­nis­mus, des­halb sind Men­schen auch jen­seits ultra­kon­ser­va­ti­ver Milieus für ihn emp­fäng­lich. Wie jedes Res­sen­ti­ment kann aller­dings auch der Anti­fe­mi­nis­mus das Ver­spre­chen einer sta­bi­len, beru­hi­gen­den Ord­nung nie erfül­len. Das Geschlech­ter­ver­hält­nis, so hat es Rebekka Blum tref­fend in unse­rem Podi­ums­ge­spräch for­mu­liert, ist ja immer in der Krise, da bleibt also immer eine offene Wunde. Agi­ta­to­ren wol­len diese Wunde auch offen hal­ten, die Unruhe immer wie­der auf­wüh­len und diese Ener­gien dann in ihrem eige­nen Inter­esse lenken.

Untie­fen: Leo Löwen­thal hat das mal so aus­ge­drückt, dass das Unbe­ha­gen wie ein Juck­reiz ist, und statt zu einer hei­len­den The­ra­pie rät der Agi­ta­tor zum Krat­zen, was den Juck­reiz noch steigert.

Hes­sel: Ja, genau!

Untie­fen: Wir haben jetzt über rech­ten und bür­ger­li­chen Anti­fe­mi­nis­mus gespro­chen. Wie steht es mit Anti­fe­mi­nis­mus in migran­ti­schen Com­mu­ni­ties, wo es patri­ar­chale, kon­ser­va­tive Strö­mun­gen des Islam gibt? Das ist sicher von der Zahl der Anhänger:innen und vom Mobi­li­sie­rungs­po­ten­tial her deut­lich klei­ner, zugleich gibt es da doch viel offe­nere und umfang­rei­chere patri­ar­chale Ansprü­che. Wenn wir allein an die Isla­mis­ten vom IZH an der Außen­als­ter den­ken, die das patri­ar­chale Regime im Iran stüt­zen, aber auch hier Iraner:innen bedro­hen, die femi­nis­tisch kämp­fen. Oder an das Al-Azhari Insti­tut in St. Georg mit dem Imam Mah­moud Ahmed, der durch krass patri­ar­chale Pre­dig­ten auf­ge­fal­len ist, und wo es Demos gab mit sepa­ra­ten Frau­en­blö­cken etc. Wie wür­dest Du das im Ver­hält­nis zum rech­ten Anti­fe­mi­nis­mus ein­schät­zen? Ist der zurecht als grö­ße­res Pro­blem stär­ker auf dem Schirm? Oder soll­ten wir uns mehr auch um den isla­mi­schen Anti­fe­mi­nis­mus küm­mern und das im Blick behalten?

Hes­sel: Ich bin lei­der kein wirk­li­cher Ken­ner der isla­mis­ti­schen Szene in Ham­burg. Aber ich glaube, das ist ein gro­ßes Pro­blem. Wenn etwa die Hizb ut-Tahrir oder ihre Front­or­ga­ni­sa­tio­nen es schaf­fen, über Jahre in Ham­burg immer wie­der Demos im drei­stel­li­gen oder gar vier­stel­li­gen Bereich zu orga­ni­sie­ren, dann muss einem das zu den­ken geben. Frau­en­feind­schaft ist ein Kern­be­stand­teil jedes Isla­mis­mus, jedes poli­ti­schen Islam, dazu kommt der Anti­fe­mi­nis­mus, als Ver­län­ge­run­gen des­sen auch Schwu­len­feind­lich­keit, Trans­feind­lich­keit, Res­sen­ti­ments gegen que­ere Men­schen. All das sta­bi­li­siert patri­ar­chale Herr­schaft. Selbst der öster­rei­chi­sche Ver­fas­sungs­schutz hat kürz­lich expli­zit davor gewarnt, dass sich extrem rechte und isla­mis­ti­sche Akteure bis hin zur ter­ro­ris­ti­schen Szene – zusätz­lich zum Juden­hass – genau dar­auf eini­gen kön­nen: auf Queer- und Trans­feind­lich­keit, Schwu­len­feind­lich­keit und Anti­fe­mi­nis­mus. Ich glaube nicht, dass sich da offene Alli­an­zen erge­ben wer­den, zumin­dest nicht in Ham­burg. Aber als ein Hin­ter­grund­rau­schen gibt das zu den­ken. Erst vor eini­gen Mona­ten wur­den ja in Ham­burg isla­mis­ti­sche Anschlags­pläne auf­ge­deckt und ver­hin­dert. Andere, rechts­ter­ro­ris­ti­sche, zumin­dest durch Anti­fe­mi­nis­mus mit grun­dierte Atten­tate konn­ten nicht ver­hin­dert wer­den, etwa der Anschlag auf die Ver­samm­lung der Zeu­gen Jeho­vas in Als­ter­dorf im März. Es kann jeder­zeit zu auch expli­zit anti­fe­mi­nis­ti­schen Anschlä­gen in Ham­burg kom­men. Wer immer sich femi­nis­tisch enga­giert, ist in den Köp­fen von extrem rech­ten, isla­mis­ti­schen und ande­ren Anti­fe­mi­nis­ten ein legi­ti­mes Ziel.

Dage­gen wäre es wich­tig, die gerade statt­fin­den­den Kämpfe gegen patri­ar­chale Herr­schaft aller Art mehr wahr­zu­neh­men und zu unter­stüt­zen, allen voran etwa für mehr Schutz­räume wie Frau­en­häu­ser, aber eben auch den Kampf der Deutsch- und Exil-Iraner:innen in Hamburg.

Untie­fen: Danke für das Gespräch!

45 Jahre Frauenhäuser in Hamburg

45 Jahre Frauenhäuser in Hamburg

Im August 1977 eröff­nete das erste der auto­no­men Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser. Seit­dem sind sie uner­läss­lich für den Schutz vor Gewalt. Doch die Plätze sind rar und die Finan­zie­rung von poli­ti­schem Wohl­wol­len abhän­gig. Aus einer femi­nis­ti­schen Pra­xis sind pre­käre Insti­tu­tio­nen gewor­den. Anläss­lich des Inter­na­tio­nen Tags gegen Gewalt an Frauen fragt unsere Autorin eine Mit­ar­bei­te­rin: Wie geht es den Ham­bur­ger Frau­en­häu­sern heute?

Die For­de­rung bleibt bestehen. Trans­pa­rent auf einer »One Billion-Rising«-Aktion gegen Gewalt an Frauen 2014 in Ham­burg. Foto: www.sommer-in-hamburg.de Lizenz: CC BY-SA 2.0

Für die Frau­en­be­we­gung der 1970er-Jahre war die Orga­ni­sie­rung gegen Gewalt gegen Frauen zen­tra­ler Bestand­teil der poli­ti­schen Arbeit. Gewalt in der Bezie­hung galt zuvor lange als »Ein­zel­schick­sal«. Die Frauen der zwei­ten Welle des Femi­nis­mus the­ma­ti­sier­ten diese männ­li­che Gewalt durch Selbst­er­fah­rungs­grup­pen und Orga­ni­sie­rung als struk­tu­rel­les Pro­blem von Frauen im Patri­ar­chat. Auch in Ham­burg orga­ni­sier­ten sich im Jahr 1976 Frauen, um gegen geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt zu kämp­fen. Sie grün­de­ten den Ver­ein Frauen hel­fen Frauen e.V. und erschu­fen inner­halb eines Jah­res das erste auto­nome Ham­bur­ger Frau­en­haus. Das Selbst­ver­ständ­nis damals: Das Frau­en­haus ist ein Teil der Frau­en­be­we­gung und soll unab­hän­gig sein – alle Frauen ent­schei­den gemein­sam, was pas­sie­ren soll.

Da die Finan­zie­rung noch nicht staat­lich abge­si­chert war, muss­ten die Frauen zunächst alles selbst machen – reno­vie­ren, Möbel orga­ni­sie­ren, Spen­den sam­meln, das Haus schüt­zen. So erin­nert sich auch eine Zeit­zeu­gin in der fil­mi­schen Doku­men­ta­tion »Juli 76 – Das Pri­vate ist Poli­tisch« an die ers­ten Jahre des Hau­ses: »Selbst­or­ga­ni­sa­tion. Selbst­be­stim­mung. Das ist auch eine Uto­pie gewe­sen.« Das Frau­en­haus selbst war femi­nis­ti­sche Praxis.

Selbstorganisation und Professionalisierung

Die Selbst­or­ga­ni­sa­tion stieß jedoch auch an zeit­li­che, finan­zi­elle und emo­tio­nale Gren­zen, wie die ehe­ma­lige Redak­teu­rin der Ham­bur­ger Frau­en­zei­tung Dr. Andrea Lass­alle in einer Chro­nik der Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser im digi­ta­len deut­schen Frau­en­ar­chiv nach­zeich­net. Inner­halb der Frau­en­be­we­gung wur­den daher Debat­ten um die Orga­ni­sie­rung und Struk­tur der Frau­en­häu­ser geführt, die eng ver­zahnt waren mit den dama­li­gen poli­ti­schen und theo­re­ti­schen Ana­ly­sen um (unbe­zahlte) Sor­ge­ar­beit, Hier­ar­chie­frei­heit und Unabhängigkeit.

Mitt­ler­weile wur­den Frau­en­häu­ser durch bezahlte Mit­ar­bei­te­rin­nen aus der Sozia­len Arbeit pro­fes­sio­na­li­siert. Dadurch ent­stand ein Wider­spruch zwi­schen Selbst­wirk­sam­keit und Pro­fes­sio­na­li­tät, der im All­tag der Mit­ar­bei­te­rin­nen und Bewoh­ne­rin­nen bis heute eine Rolle spielt. Im Gespräch mit Untie­fen berich­tet eine Mit­ar­bei­te­rin eines Frau­en­hau­ses in der Metro­pol­re­gion Ham­burg, die Pro­fes­sio­na­li­sie­rung sei grund­sätz­lich der anspruchs­vol­len Arbeit mit Frauen und Kin­dern aus aku­ten Gewalt­si­tua­tio­nen ange­mes­sen. In vie­len auto­no­men Frau­en­häu­sern über­neh­men aller­dings auch die Bewoh­ne­rin­nen selbst noch Teile der täg­li­chen Arbeit, bei­spiels­weise die nächt­li­che Aufnahme.

In Ham­burg ist dafür seit 2016 die 24/7, die zen­trale Not­auf­nahme für die Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser, zustän­dig. Die Mit­ar­bei­te­rin­nen neh­men die akut betrof­fe­nen Frauen auf und ver­mit­teln sie dann an Häu­ser wei­ter. Dies ent­laste die Bewoh­ne­rin­nen von den nächt­li­chen und wöchent­li­chen Not­diens­ten, so die Mit­ar­bei­te­rin. Gleich­wohl könne es den Bewoh­ne­rin­nen auch Stärke zurück­ge­ben, einen Teil bei­zu­tra­gen und andere Frauen zu unter­stüt­zen. Aller­dings über­neh­men die Bewoh­ne­rin­nen diese Auf­ga­ben nicht in ers­ter Linie auf­grund die­ser ermäch­ti­gen­den Wir­kung, son­dern schlicht­weg, weil das Per­so­nal fehle.

Kein Frau­en­haus, son­dern der Sitz von Frauen hel­fen Frauen e.V., der ande­ren Trä­ger­ver­eine der auto­no­men Frau­en­häu­ser sowie der Koor­di­na­ti­ons­stelle der 24/7 in der Aman­da­straße.
Foto: Dirtsc Lizenz: CC BY-SA 3.0

Die befürch­tete Hier­ar­chie zwi­schen pro­fes­sio­na­li­sier­ten und ehren­amt­lich arbei­ten­den Frauen in den Häu­sern konnte trotz basis­de­mo­kra­ti­scher Struk­tur nicht ver­mie­den wer­den. Da die Frau­en­häu­ser mitt­ler­weile öffent­lich finan­ziert und tarif­lich gebun­den sind, wer­den auch die Anfor­de­run­gen an die Qua­li­fi­ka­tio­nen der Mit­ar­bei­te­rin­nen höher – und schlie­ßen damit viele Frauen, auch ehe­ma­lige Bewoh­ne­rin­nen, aus. Doch gerade diese Frauen brin­gen oft sowohl eigene Erfah­rung mit part­ner­schaft­li­cher Gewalt und dem Leben im Frau­en­haus mit als auch Sprach­kennt­nisse, die dem Leben im Haus zuträg­lich sein könn­ten. Die geringe Aner­ken­nung aus­län­di­scher Abschlüsse in der Sozia­len Arbeit und die struk­tu­relle Ungleich­heit im Bil­dungs­sys­tem in Deutsch­land tra­gen dazu bei, dass die Mit­ar­beit im Frau­en­haus nicht allen glei­cher­ma­ßen zugäng­lich ist – und die Teams ihrem Anspruch an Diver­si­tät nicht immer gerecht wer­den können.

Feministische Debatten in der Frauenhauspraxis

Mit dem Auf­tre­ten anti­ras­sis­ti­scher Dis­kurse an den Uni­ver­si­tä­ten und in der femi­nis­ti­schen Szene ent­brann­ten auch inner­halb der Frau­en­häu­ser Debat­ten über Ras­sis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung, im Zuge derer mit Quo­tie­run­gen in den Teams und bei den Auf­nah­men expe­ri­men­tiert wurde. Weni­ger dis­ku­tiert wurde hin­ge­gen jah­re­lang das hot topic der aktu­el­len femi­nis­ti­schen Debat­ten: Was ist eine Frau? Bis vor weni­gen Jah­ren, so eine Mit­ar­bei­te­rin, war die Dis­kus­sion darum, was Geschlecht eigent­lich ist, in Frau­en­häu­ser nicht anschluss­fä­hig. Dies ändert sich jedoch der­zeit, ins­be­son­dere durch jün­gere Kolleginnen.

Die etwa in der Debatte um das »Selbst­be­stim­mungs­ge­setz« geäu­ßerte Befürch­tung eini­ger Femi­nis­tin­nen, Frau­en­schutz­räume könn­ten unter­lau­fen wer­den, wenn Geschlecht an eine emp­fun­dene Iden­ti­tät statt an kör­per­li­che Merk­male geknüpft ist, erscheint ange­sichts des von der Mit­ar­bei­te­rin beschrie­be­nen Frau­en­haus­all­tags weni­ger eine prak­ti­sche als viel­mehr eine theo­re­ti­sche Frage zu sein: »Die Frau kommt – die kann mir auch irgend­was erzäh­len, wer sie ist – sie muss mir auch nicht ihren Perso zei­gen. So arbei­ten wir nicht. Die Frau erzählt, und wenn sie von häus­li­cher Gewalt betrof­fen ist, dann wird sie auf­ge­nom­men.« Der recht­li­che Per­so­nen­stand spielt in der Pra­xis keine Rolle. Jede Auf­nahme ist außer­dem eine Ein­zel­fall­ent­schei­dung und berück­sich­tigt die Erfah­run­gen der Bewoh­ne­rin­nen. Und: nicht jede sei für diese Art des Zusam­men­woh­nens geeig­net, auch das spielt bei den Auf­nah­me­ge­sprä­chen eine Rolle.

In Ham­burg wurde zudem vor zwei Jah­ren das 6. Frau­en­haus gegrün­det, das sich expli­zit als Schutz­raum für trans Frauen posi­tio­niert und die seit Jah­ren gän­gige Pra­xis unter­mau­ert.  Viel wich­ti­ger als die theo­re­ti­sche Defi­ni­tion von Geschlecht erscheint jedoch die Frage, ob in den Häu­sern über­haupt genug Plätze vor­han­den sind. Zu Beginn der Pan­de­mie fehl­ten in Ham­burg rund 200 Frau­en­haus­plätze.

Zu wenige Plätze, zu wenig Geld, zu wenig Personal

Obwohl aktu­elle inner­fe­mi­nis­ti­sche Debat­ten durch­aus zum Thema wer­den, nimmt das all­täg­li­che Rotie­ren, auch auf­grund feh­len­den Per­so­nals, in den Häu­sern einen Groß­teil der Zeit ein. Die Art und Weise der öffent­li­chen Finan­zie­rung unter­schei­det sich je nach Bun­des­land und Gemeinde. Wäh­rend in Ham­burg, Schleswig-Holstein und Ber­lin die auto­no­men Frau­en­häu­ser durch eine Pau­schale pro Platz im Haus finan­ziert wer­den, ist die Finan­zie­rung in ande­ren Bun­des­län­dern direkt an die betrof­fene Frau gekop­pelt. Da sie in eini­gen Län­dern über das Sozi­al­hil­fe­ge­setz abge­wi­ckelt wird, sind Frauen mit eige­nem Ein­kom­men, Stu­den­tin­nen und Frauen mit unsi­che­rem Auf­ent­halts­sta­tus davon aus­ge­schlos­sen. Diese Frauen wer­den, wenn mög­lich, in Län­dern mit Pau­schal­fi­nan­zie­rung unter­ge­bracht, da sie die Plätze sonst selbst zah­len müss­ten – vor­aus­ge­setzt, Auf­ent­halts­be­stim­mun­gen oder der Job las­sen einen Umzug zu und es sind freie Plätze vor­han­den. Die Zen­trale Infor­ma­ti­ons­stelle der auto­no­men Frau­en­häu­sern (ZIF) for­dert dem­entspre­chend eine bun­des­weite ein­zel­fall­un­ab­hän­gige Finan­zie­rung der Frauenhäuser.

Doch auch die pau­schale Finan­zie­rung bringt Schwie­rig­kei­ten mit sich. Der Erhalt sowie die Aus­wei­tung der Plätze sind vom Wohl­wol­len der jewei­li­gen Lan­des­re­gie­run­gen abhän­gig. Um einer dro­hen­den Schlie­ßung zu ent­ge­hen, wur­den im Jahr 2006 das 1. und das 3. Auto­nome Frau­en­haus zusam­men­ge­legt. Der CDU-geführte Senat hatte Kür­zun­gen beschlos­sen, da die Ver­sor­gungs­lage in Ham­burg bes­ser sei als in ande­ren Großstädten.

Femi­nis­ti­sche Per­fo­mance »Der Ver­ge­wal­ti­ger bist du« des Kol­lek­tivs Las Tesis aus Argen­ti­nien, die mitt­ler­weile auch in Ham­burg regel­mä­ßig zum 25. Novem­ber im Rah­men von Demons­tra­tio­nen auf­ge­führt wird. Foto: Paulo Sla­chevsky Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

Männergewalt und Femizide

Laut behörd­li­cher Aus­künfte wur­den in Ham­burg im lau­fen­den Jahr ins­ge­samt 16 Frauen getö­tet, sechs davon von ihrem (Ex-)Partner, bei den zehn ande­ren ist die Ein­ord­nung unklar. Die Zahl der Femi­zide, also der Tötung von Frauen und Mäd­chen auf­grund ihres Geschlechts, ist in jedem Fall alar­mie­rend. Aller­dings ist Femi­zid im deut­schen Recht kein eige­ner Tat­be­stand, er wird unter Part­ner­schafts­ge­walt sub­su­miert. Stu­dien und genaue Fall­zah­len zu Femi­zi­den feh­len ent­spre­chend im deutsch­spra­chi­gen Raum weit­ge­hend. Die frau­en­po­li­ti­sche Spre­che­rin der Links­frak­tion in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft Cansu Özd­emir kri­ti­sierte daher jüngst den Senat für seine Wei­ge­rung, eine Unter­su­chung zu Femi­zi­den in Ham­burg als »nötige wis­sen­schaft­li­che Basis für ein ziel­ge­rich­te­tes und wir­kungs­vol­les Prä­ven­ti­ons­kon­zept« in Auf­trag zu geben.

Bewoh­ne­rin­nen und ehe­ma­li­gen Bewoh­ne­rin­nen von Frau­en­häu­sern steht die Gefahr, Opfer eines Femi­zids zu wer­den, beson­ders deut­lich vor Augen. 2018 wurde die 42-Jährige Juliet H. von ihrem Expart­ner ermor­det. Nach­dem sie in einem Ham­bur­ger Frau­en­haus Schutz gesucht hatte, zog sie mit ihren Kin­dern in eine eigene Woh­nung, wo sie von ihrem Exmann getö­tet wurde. Doch nicht nur für die Bewoh­ne­rin­nen sind sol­che Fälle alar­mie­rend. Es setzt auch die Mit­ar­bei­te­rin­nen enorm unter Druck, die mit knap­pen Res­sour­cen und staat­li­chen Hür­den kämp­fen, um den Frauen Schutz und eine Per­spek­tive zu bieten.

Väter­rechte ste­hen über dem Schutz von Frauen und ihren Kin­dern. Die Ver­än­de­run­gen im Fami­li­en­recht der letz­ten Jahre machen die Situa­tion von Frauen aus Gewalt­be­zie­hun­gen gefähr­li­cher. Die Zeit unmit­tel­bar nach der Tren­nung vom gewalt­tä­ti­gen Part­ner birgt das höchste Risiko, Opfer eines (ver­such­ten) Femi­zids zu wer­den. Umso wich­ti­ger ist dann ein unkom­pli­zier­ter Zugang zu einem Frau­en­haus. Die­ser Schutz wird aller­dings durch das fami­li­en­recht­lich ange­strebte Wech­sel­mo­dell untergraben.

Das von der jet­zi­gen Bun­des­re­gie­rung in den Mit­tel­punkt von Sorge- und Umgangs­recht gestellte Wech­sel­mo­dell soll eigent­lich zu einer gleich­be­rech­tig­ten Auf­tei­lung der Erzie­hung und Ver­ant­wor­tung für gemein­same Kin­der füh­ren. Es bedarf jedoch einer Kom­mu­ni­ka­tion auf Augen­höhe, um die nöti­gen Abspra­chen für die­ses Arran­ge­ment zu tref­fen. Übt der Vater Gewalt über die Mut­ter aus, ist diese Augen­höhe offen­sicht­lich nicht gege­ben. Aus der Pra­xis berich­tet die Mit­ar­bei­te­rin, dass dem Vater durch das Umgangs­recht in die­sen Fäl­len ermög­licht wird, wei­ter­hin Kon­trolle und Gewalt aus­zu­üben. Das Wech­sel­mo­dell steht des­halb bei Femi­nis­tin­nen und Initia­ti­ven für Allein­er­zie­hende Müt­ter in der Kri­tik.

Gerichte ord­nen sogar bei Müt­tern, die im Frau­en­haus leben, das Wech­sel­mo­dell an. Die Mit­ar­bei­te­rin des Frau­en­hau­ses beschreibt: »Wenn die [Frau] Kin­der hat, geht’s sofort los mit Kon­takt zu Jugend­amt, Kon­takt zu Anwäl­ten, dann wird irgend­wer ver­su­chen sofort das Auf­ent­halts­be­stim­mungs­recht zu bean­tra­gen, es wer­den Sofort­um­gänge in die Wege gelei­tet mit den gewalt­tä­ti­gen Vätern – und das ist krass.«

Die Gerichte gin­gen ohne wei­te­res davon aus, dass die Gewalt durch den Aus­zug der Mut­ter auf­ge­hört habe und also bei Ver­fah­ren zum Sorge- und Umgangs­recht nicht berück­sich­tigt zu wer­den brau­che. Die Müt­ter müss­ten daher irgend­wie Vor­keh­run­gen tref­fen, um dem gewalt­tä­ti­gen Mann die Kin­der zu über­ge­ben, ohne sich selbst in Gefahr zu brin­gen. Durch Per­so­nal­man­gel ist es den Mit­ar­bei­te­rin­nen in den Frau­en­häu­sern oft nicht mög­lich, Frauen zu die­sen Über­ga­ben zu begleiten.

Nach 45 Jah­ren sind auto­nome Frau­en­häu­ser also zwar aner­kannte Insti­tu­tio­nen zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Aber ihre Exis­tenz bleibt pre­kär und die Situa­tion der Frauen selbst wird kom­ple­xer. Die Mit­ar­bei­te­rin und ihre Kol­le­gin­nen erwar­ten vom Senat und der Bun­des­re­gie­rung eine Erhö­hung der Anzahl der Plätze und eine bun­des­weite pau­schale Finan­zie­rung. Im Sorge- und Umgangs­recht müsse das Per­so­nal geschult wer­den, um den Gewalt­schutz kon­se­quen­ter berück­sich­ti­gen. Nicht die Frauen soll­ten im Haus Schutz suchen und dann um ihre Kin­der kämp­fen müs­sen, son­dern die Män­ner soll­ten bewei­sen, dass sie nicht gefähr­lich sind, schließt die Mitarbeiterin.

Lea Rem­mers

Die Autorin schrieb für Untie­fen bereits über die Her­bert­straße als Sym­bol männ­li­cher Herrschaft.

Das H steht für Herrschaft

Das H steht für Herrschaft

Wäh­rend sich Frauen immer mehr Raum erkämpft haben und geschlecht­li­che Ungleich­hei­ten ange­gan­gen wur­den, blieb die Her­bert­straße an der Ree­per­bahn für sie bis heute tabu – für einen Teil der Frauen zumin­dest. Wie kommt das und was hat das mit dem Patri­ar­chat und männ­li­chen Herr­schafts­an­sprü­chen zu tun?

Offen für alle? Blick in die Her­bert­straße bei geöff­ne­tem Tor. Foto: Hinnerk11, CC BY-SA 4.0, Wiki­pe­dia.

Ham­burg steht mit der Ree­per­bahn, der Her­bert­straße und den Bur­les­que Shows immer wie­der im Zen­trum der media­len Auf­merk­sam­keit, zum Bei­spiel durch ›kul­tige‹ Kiez-Reportagen, und geriert sich als Inbe­griff der sexu­el­len Offen­heit. Der ›ero­ti­sche‹ Humor und feucht­fröh­li­che Life­style, der durch aller­hand kul­tu­relle Prak­ti­ken rund um die »sün­digste Meile der Welt«1Diese Phrase, die mit der Umwer­tung christlich-konservativer Moral­vor­stel­lun­gen koket­tiert, ist inzwi­schen zum Marketing-Slogan geron­nen und wird auch auf der offi­zi­el­len Tourismus-Webseite der Stadt Ham­burg ver­wen­det. prä­sen­tiert wird, zieht Tourist:innen an und lässt viele Femi­nis­tin­nen auf­at­men, die sich immer wie­der um die Moral von Sex­ar­beit bezie­hungs­weise Pro­sti­tu­tion strei­ten. Die Ree­per­bahn scheint zu zei­gen: Alles ganz ent­spannt und frei – es geht um Spaß und lockere Sexua­li­tät, die kaum irgendwo sonst so frei aus­ge­lebt wer­den könne wie hier. Doch wie jede Kul­tur­in­dus­trie ist auch diese nicht frei von Ideo­lo­gie und Insze­nie­rung: Sie ver­schlei­ert den Blick für ihre sta­bi­li­sie­rende Funk­tion im Sinne der (durch den Femi­nis­mus infrage gestell­ten) männ­li­chen Herrschaftsansprüche.

Die Her­bert­straße exis­tiert in ihrer Funk­tion als Hort sexu­el­ler Dienste von Frauen für Män­ner etwa seit der Wei­ma­rer Repu­blik. Seit den 1930er Jah­ren ste­hen an bei­den Enden der nur etwa 60 Meter lan­gen Straße Sicht­schutz­wände, im Jahr der Fußball-WM 1974 wur­den Schil­der mit der Beschrif­tung »Jugend­li­che unter 18 und Frauen ver­bo­ten« auf Deutsch und Eng­lisch ange­bracht. Zwar kann nie­man­dem der Zutritt zu einer öffent­li­chen Straße, wie es die Her­bert­straße ist, recht­lich ver­bo­ten wer­den, schon gar nicht auf­grund des Geschlechts. Den­noch wird das Ver­bot für Frauen, die Straße ohne Absicht sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen anzu­bie­ten, zu betre­ten, auch von öffent­li­cher Seite repro­du­ziert. Was (angeb­lich) pas­siert, wenn man das Ver­bot miss­ach­tet, erfährt man woan­ders: Einem pri­va­ten Touristik-Anbieter zufolge ist dann »mit Beschimp­fun­gen und einem Angriff durch Was­ser­bom­ben« zu rech­nen, die SHZ warnt vor »def­tigs­ten Schimpf­wor­ten, fau­len Eiern und manch­mal auch hand­fes­ten Argumenten«.

Frauen verboten‹ – zum Schutz der Prostituierten?

Frauen von außen wer­den als stö­rende Ein­dring­linge dar­ge­stellt, die nicht nur die Män­ner am Kauf von sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen behin­dern. Das Ver­bot von sich nicht pro­sti­tu­ie­ren­den Frauen soll der Wunsch der Pro­sti­tu­ier­ten selbst sein, es soll sie vor den ande­ren Frauen schüt­zen, die als »Schau­lus­tige« die Straße besuch­ten. Ob das der tat­säch­li­che Grund für das Ver­bot ist, bleibt unklar und Thema für Spe­ku­la­tio­nen. Gleich­wohl schützt es frag­los die Geschäfts­in­ter­es­sen, wenn die Män­ner nicht durch Ehe­frauen, Freun­din­nen, Schwes­tern gestört wer­den.2Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 ver­merkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhäl­ter der Herbertstraßen-Prostituierten hät­ten sich einer Öff­nung für Frauen wider­setzt. Weib­li­che Tou­ris­ten in der No-go-Area, so das Kal­kül, könn­ten das Geschäft vermasseln.«

Akti­vis­tin­nen der kon­tro­ver­sen femi­nis­ti­schen Gruppe Femen bau­ten am 8. März 2019 die Sicht­schutz­wand am Zugang zur Her­bert­straße unter dem Slo­gan ab, die »Mauer zwi­schen Frauen« zu demon­tie­ren. Gegen die Akti­vis­tin­nen wurde damals wegen Sach­be­schä­di­gung Straf­an­zeige erho­ben. Wenn­gleich die Gruppe und vor­an­ge­gan­gene Aktio­nen durch­aus kri­tisch betrach­tet wer­den kön­nen, wer­den Femi­nis­tin­nen im gesell­schaft­li­chen Dis­kurs so zu Antagonist:innen der Pro­sti­tu­ier­ten stilisiert.

Femen über­win­det die »Mau­ern zwi­schen Frauen«. Pro­test am 8. März 2019. Screen­shot: You­tube.

Frauen in der Pro­sti­tu­tion sind einem weit­aus grö­ße­ren Risiko als andere Frauen aus­ge­setzt, Gewalt zu erfah­ren oder gar ermor­det zu wer­den. Für ihren Schutz zu sor­gen, ist daher drin­gend nötig. Aber warum sol­len sie gerade vor ande­ren Frauen geschützt wer­den? Die Aus­üben­den der Gewalt gegen­über Pro­sti­tu­ier­ten sind über­wie­gend Män­ner, die in ver­schie­de­nen Bezie­hun­gen zu den Frauen ste­hen – ins­be­son­dere durch Freier.3BMFSFJ: Lebens­si­tua­tion, Sicher­heit und Gesund­heit von Frauen in Deutsch­land. Ergeb­nisse der reprä­sen­ta­ti­ven Unter­su­chung zu Gewalt gegen Frauen in Deutsch­land, S. 26–27. Online unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf. Allein in den 20 Jah­ren seit der Ent­kri­mi­na­li­sie­rung sind in Deutsch­land mehr als hun­dert Frauen aus der Pro­sti­tu­tion ermor­det wor­den, wie die Initia­tive Sex Indus­trie Kills doku­men­tiert hat. Die Libe­ra­li­sie­rung schützt die Frauen nicht, son­dern macht Men­schen­han­del lukra­ti­ver. Es ist kaum vor­stell­bar, dass ein Anstieg des Men­schen­han­dels zu weni­ger Gewalt gegen Frauen führt. Zuletzt wurde am 14. Mai eine Frau in Hamburg-Harburg tot auf­ge­fun­den, die gele­gent­lich der Pro­sti­tu­tion nach­ging und von einem ihrer Freier erwürgt wurde. Auf­grund des mas­si­ven Dun­kel­fel­des kann jedoch von einer höhe­ren Zahl aus­ge­gan­gen wer­den. Wen oder was schüt­zen die Wände an der Her­ber­straße also eigentlich?

Homosozialer Raum und männliche Herrschaft

Der schwe­di­sche Sozio­loge Sven-Axel Måns­son beschrieb Pro­sti­tu­tion bereits in den acht­zi­ger Jah­ren als männ­li­che Pra­xis, sich der eige­nen Potenz zu ver­si­chern und Mas­ku­li­ni­tät zu kon­stru­ie­ren.4Vgl. Sven-Axel Måns­son: The man in sexual com­merce, Lund 1988, S. 39. Online unter: https://lucris.lub.lu.se/ws/portalfiles/portal/66114471/1988_2.pdf. Dies geschieht in homo­so­zia­len Räu­men, in denen Frauen ledig­lich Zutritt haben, wenn sie als Objekte der männ­li­chen Libido exis­tie­ren. Män­nern als sozia­ler Gruppe steht der weib­li­che Kör­per in die­sen Räu­men unein­ge­schränkt zur Befrie­di­gung ihrer Bedürf­nisse zur Ver­fü­gung, um die eigene Männ­lich­keit in Abgren­zung zum Weib­li­chen über die sexu­elle Domi­nanz zu bestätigen.

Es ver­wun­dert nicht, dass das expli­zite Ver­bot von Frauen in der Her­bert­straße erst in den sieb­zi­ger Jah­ren in Kraft trat. Mit der Zwei­ten Welle des Femi­nis­mus, die zu die­ser Zeit Fahrt auf­nahm, began­nen Frauen sich inten­siv mit ihren eige­nen sexu­el­len Bedürf­nis­sen aus­ein­an­der­zu­set­zen. Die Akzep­tanz der Frauen, sexu­ell von Män­nern beherrscht zu wer­den, sank rapide und stellte damit auch die Selbst­ver­ständ­lich­keit männ­li­cher Herr­schaft infrage. Pro­sti­tu­tion stellte dage­gen eine Art Zufluchts­ort für Män­ner dar und diente damit als ›Kon­ser­va­to­rium‹ von Männ­lich­keit sowie der hier­ar­chi­schen Geschlecht­er­ord­nung. Dass Pro­sti­tu­tion als ’not­wen­di­ges Übel‹  im Rah­men eines hier­ar­chi­schen Geschlech­ter­ver­hält­nis­ses gese­hen im Kon­ser­va­ti­ven fest ver­an­kert ist und nach wie vor repro­du­ziert wird, zeigt nicht zuletzt die neue Hymne der Jun­gen Union.

Fei­ert da etwa die Junge Union? Die Disco Bier­kö­nig auf Mal­lorca. Foto: O. Lipp, CC BY-SA 3.0, Wiki­pe­dia.

Die ›dop­pelte Moral‹ der Kon­ser­va­ti­ven zeigt sich darin, dass sie Frauen, die der Pro­sti­tu­tion nach­ge­hen als ›Huren‹ ent­wer­ten, wäh­rend sie andere Frauen zu ›Hei­li­gen‹ sti­li­sie­ren. Über die Ent­wer­tung der Frauen als ›Huren‹ im Gegen­satz zur ›hei­li­gen‹ Ehe­frau und Mut­ter wird die kör­per­li­che und sexu­elle Auto­no­mie der ent­wer­te­ten Frauen negiert. Gleich­zei­tig ermög­li­chen sie einen per­ma­nen­ten männ­li­chen Zugriff auf den Kör­per der Frau – häu­fig mit dem Argu­ment eines zu erfül­len­den männ­li­chen Trie­bes.5Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Kon­sum sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen, Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 2007. Solange eine patri­ar­chale Orga­ni­sa­tion der Gesell­schaft vor­herrscht, ermög­li­chen kon­ser­va­tive Kräfte in krea­ti­ven For­men, wie zum Bei­spiel mit der ›Zeit­ehe‹ im Iran, immer auch den Zugriff auf Frauenkörper.

Das Geschlech­ter­ver­hält­nis an sich ist so wie­der klar: Frauen als Die­ne­rin­nen der männ­li­chen Bedürf­nisse, der sexu­el­len wie auch der für­sorg­li­chen, die Män­ner als Her­ren. Frauen als eigen­stän­dige Sub­jekte, die Bedin­gun­gen und Gren­zen umset­zen (kön­nen), stö­ren diese Ord­nung. In der Her­bert­straße wird die homo­so­ziale Struk­tur zusätz­lich durch die Beschil­de­rung und den Sicht­schutz per­p­etu­iert. Auch nach außen wird damit die Grenze zu die­ser ande­ren Welt, in der noch nach den ›alten Regeln‹ gespielt wird, symbolisiert.

Zwischen Normalisierung…

Wie jedes Herr­schafts­ver­hält­nis braucht auch das patri­ar­chale Geschlech­ter­ver­hält­nis die Illu­sion der Natür­lich­keit, um sich auf­recht­zu­er­hal­ten. Diverse Umfra­gen unter Frei­ern legen nahe, dass der durch­schnitt­li­che Freier von einer »männ­li­chen Natur« und bio­lo­gi­schen Zwän­gen über­zeugt ist und dar­über hin­aus ein im Ver­gleich zu Män­nern, die keine sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen in Anspruch neh­men, aggres­si­ve­res Sexu­al­ver­hal­ten auf­weist.6Vgl. Clau­dine Leg­ar­di­nier: Der ›Freier‹ im Brenn­punkt der Kri­tik, in: Femi­nis­ti­sches Bünd­nis Hei­del­berg (Hg.): Was kos­tet eine Frau? Eine Kri­tik der Pro­sti­tu­tion. Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2020, 69–86. Der Wunsch nach Sexua­li­tät ohne Ver­ant­wor­tung spielt dabei eben­falls eine Rolle. Bei sich pro­sti­tu­ie­ren­den Frauen, so die Prä­misse, müsse keine Rück­sicht genom­men wer­den, da man für die Dienst­leis­tung bezahlt. ›Der Kunde ist König‹ bleibt dabei nicht bloß ein Spruch aus der Dienst­leis­tungs­bran­che, son­dern steht sinn­bild­lich für das Geschlechterverhältnis.

Die Her­bert­straße hat sich wider­spre­chende und doch zusam­men­ge­hö­rende Nor­ma­li­sie­rungs­funk­tio­nen. Auf der einen Seite kon­sti­tu­iert sich mit ihr die Selbst­ver­ständ­lich­keit männ­li­cher Räume und der Erfül­lung männ­li­cher, ver­meint­lich natür­li­cher, Bedürf­nisse. Freier wol­len Frauen, die sexu­ell wil­lig sind, aber genau das­selbe wol­len wie sie selbst: all ihre sexu­el­len Wün­sche erfül­len, ohne Gegen­leis­tung. Pro­sti­tu­tion als ›Arbeit‹ anzu­er­ken­nen steht die­ser Illu­sion aller­dings ent­ge­gen, da es sich letzt­lich auch für die Frauen um eine Dienst­leis­tung bzw. um etwas han­delt, das sie nicht frei­wil­lig, nicht ohne eine Gegen­leis­tung bzw. Kom­pen­sa­tion tun wür­den. Um sich die­ser Ver­ant­wor­tung zu ent­zie­hen, reich­ten zwei Freier gar eine Ver­fas­sungs­be­schwerde gegen ein Gesetz ein, das die Inan­spruch­nahme von sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen bei Zwangs­pro­sti­tu­ier­ten unter Strafe stellt. Die Geschichte der sexu­ell befrei­ten, aber miss­ver­stan­de­nen Frau als ero­ti­sches Wesen, das den (unver­bind­li­chen, ein­sei­ti­gen) Sex mit frem­den Män­nern will, muss repro­du­ziert wer­den: Sie hat ›ihr Hobby zum Beruf gemacht‹.

… und Exotisierung

Zusätz­lich und ent­ge­gen der Nor­ma­li­sie­rung, braucht der Raum die Atmo­sphäre des Exo­ti­schen, des Ver­bo­te­nen und ›Sün­di­gen‹, damit sich Män­ner darin ihrer Viri­li­tät ver­si­chern kön­nen. Der ›Reiz des Ver­steck­ten‹ ist die Grund­lage die­ser männ­li­chen Fan­ta­sie, Gewalt gegen die als min­der­wer­tig mar­kier­ten ›Huren‹ ist ein Teil davon. Nicht erst die Erhe­bung Fritz Hon­kas, der in den sieb­zi­ger Jah­ren zahl­rei­che sich pro­sti­tu­ie­rende Frauen ermor­dete, zur Haupt­fi­gur in Heinz Strunks Roman Der gol­dene Hand­schuh und sei­ner Ver­fil­mung durch Fatih Akin oder die »Sex&Crime«-Rundgänge für Tourist:innen auf der Ree­per­bahn zeu­gen von der schau­ri­gen Fas­zi­na­tion, die das ›Rot­licht­mi­lieu‹ und Gewalt gegen Frauen durch Män­ner gene­rell in unse­rer Gesell­schaft ausüben.

Der Reiz des Gehei­men: Schumm­ri­ges Licht und schwere Vor­hänge. Foto: hds, CC BY 2.0, Wiki­pe­dia.

Die Atmo­sphäre des Exo­ti­schen, Sün­di­gen wird durch die Sicht­wände unter­stützt und sug­ge­riert Sub­ver­sion. Pro­sti­tu­tion ist in Deutsch­land aller­dings sowohl für die sexu­elle Hand­lun­gen anbie­ten­den Frauen als auch für die Freier seit Jahr­zehn­ten legal, die Her­bert­straße eine öffent­li­che Straße, die grund­sätz­lich jede:r betre­ten dürfte. Auch die soge­nannte »Sit­ten­wid­rig­keit«, durch die Pro­sti­tu­tion trotz Lega­li­tät mora­lisch abge­wer­tet und dis­zi­pli­niert wurde, wurde 2002 abge­schafft. Es ist mitt­ler­weile keine Sel­ten­heit, dass Verfechter:innen und Sexarbeiter:innen in Talk­shows, Pod­casts und Arti­keln über die Wich­tig­keit von Pro­sti­tu­tion und Por­no­gra­fie sprechen.

Der Wider­spruch zwi­schen der ›ver­bo­te­nen‹, ’sün­di­gen‹ und ver­meint­lich von Moral­vor­stel­lun­gen freien Sexua­li­tät und dem staat­lich geför­der­ten, gewerb­lich orga­ni­sier­ten und ver­mark­te­ten Pro­sti­tu­ti­ons­be­trieb ist offen­sicht­lich. Der Mythos, im Natio­nal­so­zia­lis­mus sei Pro­sti­tu­tion grund­sätz­lich ille­gal gewe­sen, wird auch nach wie vor im Kon­text der Her­bert­straße repro­du­ziert. Die Natio­nal­so­zia­lis­ten hät­ten die Wand auf­ge­stellt, um die Pro­sti­tu­tion aus dem »Sicht­feld der Öffent­lich­keit zu ver­ban­nen«, so eine Kiez-Seite. Es stimmt, dass Frauen für Pro­sti­tu­tion ver­folgt wur­den, doch ging es prak­tisch in ers­ter Linie um staat­li­che Kon­trolle über die Pro­sti­tu­tion und (unver­hei­ra­tete) Frauen. Frauen, die sich regel­mä­ßig unter­su­chen lie­ßen und sich staat­lich orga­ni­siert pro­sti­tu­ier­ten, ent­gin­gen der Ver­fol­gung, wenn­gleich die­ses Arran­ge­ment kein siche­res für die Frauen war.7Vgl. Robert Som­mer: Das KZ-Bordell. Sexu­elle Zwangs­ar­beit in natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, Lei­den: Brill & Schö­ningh, 2009. Die Dar­stel­lung der Pro­sti­tu­tion als sub­ver­sive, quasi eman­zi­pa­to­ri­sche Pra­xis wird durch die wie­der­holte und ver­kürzte mediale Gegen­über­stel­lung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus unter­stützt. Der Freier und die Pro­sti­tu­ierte wer­den so ideo­lo­gisch als Vor­rei­te­rin­nen gegen eine über­kom­mene Sexu­al­mo­ral und für eine befreite Sexua­li­tät verklärt.

Hamburg, die »Puffmama«

Im Juni 2021, einen Tag vor der Abschaf­fung des pan­de­mie­be­ding­ten Ver­bots kör­per­na­her Dienst­leis­tun­gen und damit auch von Pro­sti­tu­tion, demons­trier­ten Frauen aus der Her­bert­straße für die Wieder-Erlaubnis von sexu­el­len Diens­ten unter dem Namen Sexy Auf­stand Ree­per­bahn. Unter ande­rem mit Pla­ka­ten mit der Auf­schrift »Der Staat fickt uns und zahlt nicht« wie­sen die Frauen auf ihre pre­käre Situa­tion, aber auch noch auf etwas ande­res hin: Der Staat bezie­hungs­weise die Stadt Ham­burg nutzt die Frauen für den eige­nen Vor­teil – hat aber letzt­lich die Kon­trolle über sie. Ein paar Monate fand in der Her­bert­straße eine Kunst­aus­stel­lung statt, die an den »Auf­stand« erin­nern sollte. Mit der Aktion wollte man sich u.a. beim Bezirks­amt Ham­burg St. Pauli bedan­ken, das – laut Organisator:innen der Aktion – die Gewerbe in der Her­bert­straße und auf der Ree­per­bahn im Sinne der Wie­der­eröff­nung unter­stützt habe.

Der (Sex-)Tourismus in Ham­burg lebt vom Reiz, den die Her­bert­straße und die Ree­per­bahn aus­üben. Par­al­lel zu den Schrit­ten der Ent­kri­mi­na­li­sie­rung der Pro­sti­tu­tion in Deutsch­land stie­gen die Tourismus-Zahlen in Ham­burg rasant. Wäh­rend die Zahl der Tourist:innen in den neun­zi­ger Jah­ren sta­gnierte, stieg sie seit 2002 um meh­rere Mil­lio­nen an. Ham­burg pro­fi­tiert maß­geb­lich vom Sex­tou­ris­mus als wich­ti­ger öko­no­mi­scher Ein­nah­me­quelle. Der ›kul­tige‹ Kiez und das Ver­spre­chen lust­vol­ler Fri­vo­li­tät und sexu­el­ler Ver­füg­bar­keit von Frauen zie­hen Besucher:innen an. Selbst die­je­ni­gen, die ’nur‹ der Atmo­sphäre der Ree­per­bahn, des Kiezes und des Milieus nach­spü­ren wol­len, brin­gen durch ihre Besu­che Geld in die städ­ti­schen Taschen.

»Für mehr Frem­den­ver­kehr«: Dar­auf kön­nen sich in der Her­bert­straße alle eini­gen. Foto: S. McCann, flickr.

Mit dem boo­men­den (Sex-)Tourismus war Schluss, als vor zwei­ein­halb Jah­ren das Corona-Virus der Pro­sti­tu­tion und Beher­ber­gungs­bran­che für einige Monate den Gar­aus machte. Nicht ganz unei­gen­nüt­zig schei­nen da die Bemü­hun­gen der Stadt- und Bezirks­ver­wal­tung von Ham­burg Mitte, die Pro­sti­tu­ti­ons­ge­werbe wie­der ›in Betrieb‹ zu neh­men. Ein Grup­pen­foto mit Falko Droß­mann, dama­li­ger Bezirks­amts­lei­ter, das groß auf der Home­page der Gruppe Sexy Auf­stand Ree­per­bahn zu fin­den ist, weist auf die nicht unei­gen­nüt­zi­gen Motive des Bezirks hin. Die Brü­che, die staat­li­che sowie städ­ti­sche Poli­ti­ken in Bezug auf sich pro­sti­tu­ie­rende Frauen auf­wei­sen, sind geprägt vom Macht­ver­hält­nis zwi­schen patri­ar­chal orga­ni­sier­ten Kapi­tal­in­ter­es­sen und den in der Regel vul­ner­ablen Frauen, die sich für die Pro­sti­tu­tion ent­schei­den oder in diese hineinrutschen.

Uner­wünscht sind Frauen in der Her­bert­straße offen­sicht­lich nicht. Sie sind sowohl öko­no­mi­sche Grund­lage als auch kul­tu­rel­ler Bestand­teil der Tou­ris­ten­at­trak­tion und der Rituale einer sich selbst ihrer Herr­schaft ver­si­chern­den Männ­lich­keit. Dies gilt aller­dings nur für bestimmte Frauen. Wenn sie selbst als Anbie­te­rin­nen sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen und damit als durch Män­ner kon­su­mier­bare Ware auf­tre­ten, sind sie will­kom­men. Alle ande­ren müs­sen ›drau­ßen blei­ben‹ und sol­len nicht an den Wän­den der Män­ner­bün­de­lei, der kul­tu­rel­len Grund­lage patri­ar­cha­ler Gesell­schaf­ten, rütteln.

Lea Rem­mers

Die Autorin ist femi­nis­ti­sche Sozio­lo­gin und ver­misst in aktu­el­len Debat­ten um Pro­sti­tu­tion den Anspruch, das Bestehende als Aus­druck einer heterosexistisch-kapitalistisch orga­ni­sier­ten Gesell­schaft zu analysieren.

  • 1
    Diese Phrase, die mit der Umwer­tung christlich-konservativer Moral­vor­stel­lun­gen koket­tiert, ist inzwi­schen zum Marketing-Slogan geron­nen und wird auch auf der offi­zi­el­len Tourismus-Webseite der Stadt Ham­burg verwendet.
  • 2
    Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 ver­merkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhäl­ter der Herbertstraßen-Prostituierten hät­ten sich einer Öff­nung für Frauen wider­setzt. Weib­li­che Tou­ris­ten in der No-go-Area, so das Kal­kül, könn­ten das Geschäft vermasseln.«
  • 3
    BMFSFJ: Lebens­si­tua­tion, Sicher­heit und Gesund­heit von Frauen in Deutsch­land. Ergeb­nisse der reprä­sen­ta­ti­ven Unter­su­chung zu Gewalt gegen Frauen in Deutsch­land, S. 26–27. Online unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf.
  • 4
    Vgl. Sven-Axel Måns­son: The man in sexual com­merce, Lund 1988, S. 39. Online unter: https://lucris.lub.lu.se/ws/portalfiles/portal/66114471/1988_2.pdf.
  • 5
    Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Kon­sum sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen, Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 2007.
  • 6
    Vgl. Clau­dine Leg­ar­di­nier: Der ›Freier‹ im Brenn­punkt der Kri­tik, in: Femi­nis­ti­sches Bünd­nis Hei­del­berg (Hg.): Was kos­tet eine Frau? Eine Kri­tik der Pro­sti­tu­tion. Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2020, 69–86.
  • 7
    Vgl. Robert Som­mer: Das KZ-Bordell. Sexu­elle Zwangs­ar­beit in natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, Lei­den: Brill & Schö­ningh, 2009.