»Die Gewalt muss endlich gesellschaftlich benannt und moralisch verurteilt werden«

»Die Gewalt muss endlich gesellschaftlich benannt und moralisch verurteilt werden«

Allein 2023 gab es in Ham­burg min­des­tens elf Femi­ni­zide. Offi­zi­elle Sta­tis­ti­ken über diese Morde an Frauen oder weib­lich gele­se­nen Per­so­nen gibt es aller­dings nicht. Für eine öffent­li­che Reak­tion sorgt das Anti-Feminizid-Netzwerk Ham­burg, das für jede die­ser Gewalt­ta­ten eine Kund­ge­bung abhält und eine eigene Zäh­lung vor­nimmt. Untie­fen sprach mit Viola vom Netz­werk über ihre Ziele, die Zusam­men­ar­beit mit staat­li­chen und lin­ken Akteur:innen sowie die theo­re­ti­schen Bezüge des Netzwerks.

Eine der Kund­ge­bun­gen des Anti-Feminizid-Netzwerks auf dem Alma-Wartenberg-Platz. Foto: Anti-Feminizid-Netzwerk

Untie­fen: Warum braucht Ham­burg ein Anti-Feminizid-Netzwerk?

Viola: Es braucht das Netz­werk, weil es Tötun­gen von Frauen und weib­lich gele­se­nen Per­so­nen gibt und weil das Pro­blem von staat­li­cher Seite zu wenig ange­gan­gen wird. Man muss es ein­fach stär­ker benen­nen. Man muss es sicht­ba­rer machen. Die gegen­wär­ti­gen Gesetze rei­chen nicht aus und auch nicht die Schutz­struk­tu­ren durch Frau­en­häu­ser, weil es zu wenig Plätze gibt, aber natür­lich schät­zen wir deren Arbeit sehr. Wir hat­ten vor Kur­zem eine Soli-Aktion am Cam­pus der Uni­ver­si­tät Ham­burg und selbst dort kam oft die Frage: »Was? Das gibt es in Deutsch­land?!« Das spricht schon für sich. Des­halb braucht es das Netz­werk: Um das Pro­blem zu benen­nen, es braucht einen Namen.

Untie­fen: Wie ist das Netz­werk ent­stan­den? Also, wie seid ihr zu dem Thema gekommen?

Viola: Es ist vor einem Jahr ent­stan­den, im Okto­ber 2022, als offe­nes Netz­werk aus einem Zusam­men­schluss von ver­schie­de­nen femi­nis­ti­schen Grup­pen und Ein­zel­per­so­nen. Einen beson­de­ren Anlass zur Grün­dung gab es nicht. Es war eher ein Gespräch zwi­schen ver­schie­de­nen sehr akti­ven Femi­nis­tin­nen, die gesagt haben: »Es ­­reicht.« Jeden drit­ten Tag geschieht ein Femi­ni­zid in Deutsch­land, das ist Anlass genug. Mit dem Thema befasst sich sonst nie­mand, auch andere femi­nis­ti­sche Grup­pen nicht dezi­diert, was trau­rig ist.

Untie­fen: Ihr habt einen soge­nann­ten »Wider­stands­platz gegen Femi­ni­zide« am Alma-Wartenberg-Platz in Otten­sen aus­ge­ru­fen. Wie hat sich das ent­wi­ckelt und warum habt ihr euch genau für die­sen Platz entschieden?

Viola: Den Wider­stand­platz haben wir kurz nach unse­rer Grün­dung im Novem­ber 2022 aus­ge­ru­fen. Mit der Aus­wahl die­ses Ortes möch­ten wir sowohl die inter­na­tio­na­lis­ti­sche Aus­rich­tung deut­lich machen, die einige von uns haben, als auch an eine lokale femi­nis­ti­sche Tra­di­tion anschlie­ßen. Alma War­ten­berg wurde in der Zeit des Kai­ser­reichs in Otten­sen (Hol­stein) gebo­ren. Sie war SPD-Politikerin und vor allem Femi­nis­tin, die sich beson­ders im Bereich Mut­ter­schutz, Emp­fäng­nis­ver­hü­tung und für sexu­elle Auf­klä­rung ein­ge­setzt hat.

Aber: Im Netz­werk wird der Platz durch­aus ambi­va­lent gese­hen, nicht alle haben einen star­ken Bezug dazu. Für man­che im Netz­werk könnte es auch ein ande­rer Ort sein. Wich­tig ist ein­fach, dass wir Raum ein­neh­men und das Thema Femi­ni­zide sicht­bar machen. Wir wür­den da auch gerne noch mehr machen.

Untie­fen: Du sprichst an, dass es euch auch darum geht, Raum ein­zu­neh­men und Auf­merk­sam­keit für das Thema zu erzeu­gen. Seht ihr, dass ihr damit einen Effekt auf die Stadt und auf die Öffent­lich­keit habt?

Viola: Die Stadt und die Öffent­lich­keit sind zwei unter­schied­li­che Berei­che. Ins­ge­samt aber schon. Wir hat­ten gerade einen Stra­te­gie­tag und haben dort reflek­tiert, was alles bis­her pas­siert ist. Dafür, dass wir ein Netz­werk sind, in dem so viele unter­schied­li­che Grup­pen und Ein­zel­per­so­nen zusam­men­sit­zen, ist es schon enorm, wie­viel Öffent­lich­keit und Auf­merk­sam­keit wir bis­her her­stel­len konn­ten. Wir bekom­men viele Inter­view­an­fra­gen und zu unse­ren Kund­ge­bun­gen kom­men immer mehr Leute.

Was die Stadt betrifft: Wir sind zuneh­mend zu städ­ti­schen Betei­li­gungs­run­den ein­ge­la­den. Das sind Räume, in denen auch auto­nome Frau­en­häu­ser, Frau­en­be­ra­tungs­stel­len und andere Grup­pie­run­gen von städ­ti­scher, behörd­li­cher Seite mit drin­sit­zen. Da wer­den wir dann zum Bei­spiel ein­ge­la­den, um uns vor­zu­stel­len. Wir haben etwa am »Run­den Tisch Gewalt« teil­ge­nom­men und sind beim »Arbeits­kreis Gewalt« ein­ge­la­den. Es inter­es­siert sich natür­lich keine Par­tei außer Die Linke dafür. Das muss man ehr­lich sagen. Mit Cansu Özd­emir (Die Linke-Fraktionsvorsitzende in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft, Anm. Untie­fen) gewinnt man tat­säch­lich viel. Sie macht sehr viel mög­lich. Wenn über sie nicht regel­mä­ßig kleine Anfra­gen zum Sach­stand von Femi­ni­zi­den gestellt wer­den würde, sähe die Daten­lage noch sehr viel schlech­ter aus.

Deut­lich sicht­bar ist auch, dass die Presse nun ver­sucht, anders über das Thema zu schrei­ben. Wir ver­öf­fent­li­chen nach jedem Fall eine Pres­se­mit­tei­lung. Die bür­ger­li­che Presse, wie das Abend­blatt und die MoPo, ach­ten schon ver­stärkt auf sen­si­blere Spra­che und haben mitt­ler­weile den Begriff Femi­ni­zid oder Femi­zid über­nom­men. Wir müs­sen nicht mehr dar­auf hin­wei­sen, dass es eben ein Femi­ni­zid ist und sie es so benen­nen sol­len. Trotz­dem beob­ach­ten wir wei­ter­hin sehr unsens­bile und vor allem unin­for­mierte Bericht­erstat­tung. Das betrifft einer­seits Femi­ni­zide im Alter, aber auch gene­rell weni­ger pro­mi­nente For­men von Femi­ni­zi­den, wie z.B. Femi­ni­zide die von Rechts­extre­men, Kin­dern oder Enkeln began­gen wer­den. Da ins­be­son­dere bei Rechts­extre­men immer miso­gyne Motiv­la­gen zu beob­ach­ten sind, müs­sen auch diese Morde klar als Femi­ni­zid ein­ge­ord­net werden.

Wenn man eine Bewe­gung auf­baut, läuft es oft erst­mal sehr schlep­pend. Jetzt haben wir aber das Gefühl, dass rich­tig viel zurück­kommt. Uns war es immer wich­tig, mit den Kund­ge­bun­gen nach Femi­zi­den für eine öffent­li­che Reak­tion zu sor­gen. Daran hal­ten sich viele fest, von uns und von außen. Des­we­gen ist es wich­tig, dass wir damit wei­ter­ma­chen. Das hat uns glaube ich auch dahin gebracht, wo wir jetzt sind. Selbst wenn es immer sehr anstren­gend ist, men­tal und organisatorisch.

»Wir müssen die Gewalt dort thematisieren, wo sie passiert«

Untie­fen: Wie du es beschreibst, kommt ihr mitt­ler­weile von dem Punkt weg, haupt­säch­lich Auf­merk­sam­keit zu gene­rie­ren und auf Begriffe hin zu wei­sen. Gibt es lang­fris­tige Ziele, die ihr dar­über hin­aus ver­folgt oder die als nächs­tes anstehen?

Viola: Als Netz­werk aus vie­len unter­schied­li­chen Grup­pen haben wir durch­aus Schwie­rig­kei­ten, uns auf ein­heit­li­che Ziele fest­zu­le­gen. Was wir gemein­sam for­dern, bezie­hungs­weise ver­fol­gen, ist ein gewalt­freies Leben für alle Men­schen. Zudem wol­len wir ein umfas­sen­de­res Ver­ständ­nis und beglei­tende For­schung von Femi­ni­zi­den und eine Doku­men­ta­tion der Fälle. Eine wei­tere Sache, die uns sehr wich­tig ist und für die wir uns ein­set­zen, ist die Prä­ven­ti­ons­ar­beit. Das beinhal­tet auch Bil­dungs­ar­beit, die wir mitt­ler­weile ver­mehrt machen. Ebenso Ver­an­stal­tun­gen außer­halb lin­ker Räume.

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Aspekt ist die Basis­ar­beit, was natür­lich mit Bil­dungs­ar­beit ein­her­geht. Wir wol­len da auch eine noch stär­kere Ver­net­zung in die Stadt­teile hin­ein. Wir tun das schon im Rah­men des »StoP«-Projekts (Stadt­teile ohne Part­ner­ge­walt, Anmer­kung Untie­fen) Es geht uns auch darum Ver­bin­dun­gen zu wich­ti­gen Multiplikator:innen in den Stadt­tei­len her­zu­stel­len. Wir haben als Netz­werk ein ernst­haf­tes Inter­esse daran, außer­halb unse­rer lin­ken Blase aktiv zu sein. Denn es hilft nicht, wenn wir nur inner­halb unse­res eige­nen Krei­ses spre­chen, dazu haben wir keine Lust mehr. Wir müs­sen die Gewalt dort the­ma­ti­sie­ren, wo sie pas­siert, sowohl inner­halb der Szene als auch dar­über hin­aus. Das bedeu­tet für uns, sich stark zu ver­net­zen, um ein brei­tes gesell­schaft­li­ches Anti-Feminizid-Netzwerk aufzubauen.

Ein für uns wich­ti­ges Ziel ist es, der Tat einen Namen zu geben. Es gibt zwar bei uns auch andere Ansätze und unter­schied­li­che Straf­be­dürf­nisse. Man­che for­dern Geset­zes­ver­schär­fun­gen, für andere spielt die straf­recht­li­che Bewer­tung nicht so eine große Rolle. Aber die Gewalt, die pas­siert, muss end­lich gesell­schaft­lich benannt und mora­lisch ver­ur­teilt werden.

Es gibt natür­lich auch libe­rale For­de­run­gen, die wir unter­stüt­zen, wie den Aus­bau von Frau­en­häu­sern. Wenn man aber weiß, wie mas­siv pro­ble­ma­tisch die aktu­elle Woh­nungs­po­li­tik ist, bringt diese For­de­rung nicht so viel. Die Frauen sol­len schließ­lich nicht in Frau­en­häu­sern blei­ben, son­dern wie­der ihr siche­res Umfeld haben. Von daher braucht es prag­ma­ti­sche Lösun­gen. Es gibt aber auch den Wunsch nach ande­ren Schutz­struk­tu­ren, die mehr auf Selbst­or­ga­ni­sie­rung set­zen. Ein Bei­spiel dafür ist das »StoP«-Projekt, indem es darum geht, sich im Stadt­teil gemein­sam zu orga­ni­sie­ren und Hilfs­struk­tu­ren für Betrof­fene auf­zu­bauen. Bei Selbst­or­ga­ni­sie­rung geht es nicht um eine rechte Bür­ger­wehr oder so etwas, son­dern zum Bei­spiel darum, dass wenn eine Frau bedroht ist, sie eine Num­mer anruft und dann direkt drei Leute ansprech­bar sind, die unter­stüt­zen. Alle müs­sen Ver­ant­wor­tung über­neh­men und wir müs­sen anfan­gen Ver­ant­wor­tungs­über­nahme anders zu den­ken. Das ist eben nicht nur die Auf­gabe des Staa­tes ist, son­dern von uns allen. Wir wol­len dahin, dass es eine gesamt­ge­sell­schaft­li­che Reak­tion gibt und Pro­teste auf die Straße getra­gen wer­den, wenn wie­der eine Frau oder weib­lich gele­sene Per­son ermor­det wird. Wir ver­fol­gen mit unse­rer Arbeit einen kul­tu­rel­len gesell­schaft­li­chen Wan­del, der patri­ar­chale Macht­struk­tu­ren ernst­haft auf­bricht und zerstört.

Untie­fen: Es gibt also For­de­run­gen an die staat­li­che Poli­tik und an die Gesell­schaft insgesamt?

Viola: Ja, genau. Die Istanbul-Konvention ist in Deutsch­land noch nicht rich­tig umge­setzt. Das ist eine For­de­rung, die häu­fig aus dem Gewalt­schutz kommt, von den Bera­tungs­stel­len und den Frau­en­häu­sern. Das ist auch für uns wich­tig. Dar­über hin­aus braucht es eine bun­des­weite Zäh­lung der Frauen*, die von ihren Part­nern getö­tet wur­den, weil es eben ein poli­ti­sches Pro­blem ist. In Ham­burg macht das der­zeit die Par­tei Die Linke. Deutsch­land­weit machen es vor allem ver­schie­dene lose Grup­pen. Für uns ist es müh­se­lig, immer wie­der die Medi­en­be­richte zu über­prü­fen: Ist wie­der etwas pas­siert, gab es wie­der einen Fall? Wir machen die Zäh­lun­gen ja selbst. Das kos­tet sehr viele Res­sour­cen und es ist gar nicht immer so leicht, zu sagen, was ein Femi­ni­zid ist.

»Ein Femizid ist immer nur die Spitze des Eisbergs«

Untie­fen: Daran anknüp­fend: Wie defi­niert ihr und zählt ihr Femi­ni­zide? Wo lie­gen da die Schwierigkeiten?

Viola: Wir haben meis­tens nur die Pres­se­be­richte und keine Akten­ein­sicht oder ähn­li­ches. Es gibt Fälle, die sind sehr ein­deu­tig: Ex-Partner tötet Frau im Streit, Mann erschießt seine Frau. Da gehen wir ein­fach davon aus, dass es das poli­ti­sche Motiv gab. Also, dass sie getö­tet wurde, weil sie eine Frau ist. Die­sen Struk­tu­ren, die dazu füh­ren, liegt das Patri­ar­chat zugrunde.

In Ham­burg hat­ten wir in den letz­ten Mona­ten aller­dings ein paar schwie­rige Fälle. Da ging es etwa um die Tötung von älte­ren Frauen, also der Groß­mutter durch den Enkel. Danach hat man aller­dings einen Abschieds­brief von der Frau gefun­den, dass sie sich tat­säch­lich umbrin­gen wollte, weil sie so krank war. Bis­her haben wir so agiert, dass wir, wenn es ein ver­wandt­schaft­li­ches Ver­hält­nis bezie­hungs­weise irgend­ein Ver­hält­nis gab, das poli­ti­sche Motiv und den Femi­ni­zid als gege­ben ange­nom­men haben. Wir muss­ten uns aber auch schon­mal kor­ri­gie­ren. Manch­mal wis­sen wir schlicht gar nichts, wie zum Bei­spiel bei der vor eini­gen Wochen in der Elbe gefun­de­nen Frau­en­lei­che. Was wir aber auf jeden Fall sagen kön­nen ist, dass Femi­ni­zide oft auch im Kon­text von psy­chi­schen Kri­sen, der aktu­el­len Pfle­ge­krise und in Ver­bin­dung mit zusätz­li­chen Dis­kri­mi­nie­run­gen vor­kom­men. Auch hier braucht es eine Sen­si­bi­li­tät für die Ver­schrän­kung ver­schie­de­ner Machtbeziehungen.

Wir haben auf jeden Fall aus dem einen Jahr gelernt, dass wir genauer hin­schauen müs­sen. Zwar sind die aller­meis­ten Fälle klas­sisch: Die Tat kurz nach der Tren­nung; in Fami­li­en­ver­hält­nis­sen geht es meist um junge Frauen und die Täter sind Väter, Brü­der, Söhne oder Enkel. Wir haben für uns aber fest­ge­stellt, dass es genaue Mar­ker oder Kri­te­rien braucht. Wir müs­sen gucken, ob es irgend­ein Beziehungs- oder Macht­ver­hält­nis gab. Wir müs­sen her­aus­fin­den, ob es Abschieds­briefe oder ähn­li­ches gab. Es ist aber nicht ein­fach, das Patri­ar­chat in Kri­te­rien auf­zu­tei­len. Man muss den Ein­zel­fall genau anschauen. Wir haben zuletzt viel über unser zukünf­ti­ges Vor­ge­hen gespro­chen. Wenn wir zum Bei­spiel nur wis­sen, dass eine Frau getö­tet wurde und es uns nicht ganz klar erscheint, ob es ein Femi­ni­zid ist, dann war­ten wir erst­mal, bis uns ein­deu­ti­gere Daten vor­lie­gen. Diese Arbeit ist auf­wen­dig und erfor­dert manch­mal sogar Akten­zu­gang, den wir zur­zeit nicht haben. 

Wir haben bis­her nur über die voll­ende­ten Femi­zide gespro­chen. In Deutsch­land heißt es von offi­zi­el­ler Seite immer »jeden drit­ten Tag wird eine Frau getö­tet«. Bei uns im Netz­werk arbei­ten viele in Schutz­ein­rich­tun­gen und sehen es in der Pra­xis: Es geschieht häu­fi­ger und wird mehr­mals pro Tag ver­sucht! Wir soll­ten des­halb, auch als Gesell­schaft, auf­hö­ren, uns immer so auf diese Zahl zu bezie­hen, son­dern ver­su­chen, eine andere Zähl­ba­sis zu fin­den. Die Erfah­run­gen von Frau­en­häu­sern, Bera­tungs­stel­len und ande­rer Schutz­ein­rich­tun­gen müs­sen dafür die Grund­lage sein. Die haben die Erfah­rung und ken­nen die Gewalt­dy­na­mi­ken. Ein Femi­zid ist immer nur die Spitze des Eis­bergs. Diese Erzäh­lung von »jedem drit­ten Tag« wird dem nicht gerecht. Es ist keine ein­stel­lige Zahl, son­dern es sind sehr viel mehr Fälle und Ver­su­che. Das macht ein­fach wütend.

Untie­fen: In ande­ren Städ­ten in Deutsch­land gibt es wei­tere Grup­pen, die diese Zäh­lun­gen durch­füh­ren. Seid ihr da vernetzt?

Viola: Unser Ziel ist es, eine ernst­zu­neh­mende soziale Bewe­gung zu sein. Dazu gehört auch, sich bun­des­weit zu ver­net­zen. Wir sind Teil eines Netz­werks, das Deutsch­land, Öster­reich und die Schweiz umfasst. Wir tau­schen uns da auch zu der Arbeit und unse­ren Kri­te­rien aus. Unsere Infor­ma­tio­nen hal­ten wir in einer Sta­tis­tik fest. Das geben wir an die über­re­gio­nale Ver­net­zung wei­ter und wol­len dazu auch Ver­öf­fent­li­chun­gen machen, damit alle damit arbei­ten können.

Die Zäh­lung ist aber nur ein Ziel. Im bes­ten Fall möch­ten wir Gewalt ver­hin­dern. Aus der über­re­gio­na­len Ver­net­zung sind schon prak­ti­sche Dinge ent­stan­den, etwa das Tool­kit »Was tun gegen Femi­ni­zid?!« oder gemein­sam ein­ge­wor­bene Gelder.

Untie­fen: Du hast vor­hin die Zusam­men­ar­beit mit staat­li­chen und bür­ger­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen erwähnt, wie gestal­tet sich die?

Das fängt gerade erst an. Erst­mal geht es meis­tens darum, dass wir unsere Arbeit vor­stel­len, wie etwa beim Run­den Tisch zum Thema Gewalt. Bei der Par­tei die Linke geht es um Ver­net­zung und Infor­ma­tio­nen. Zum Arbeits­kreis Gewalt wur­den wir ein­ge­la­den, er fand aller­dings noch nicht statt, wes­halb wir dazu noch nichts sagen können.

»Wir können keine weiteren 50 Jahre warten«

Untie­fen: Seht ihr auch eine Gefahr in der Zusam­men­ar­beit mit staat­li­chen Insti­tu­tio­nen? Zum einen in Hin­blick dar­auf, dass man ein­ge­hegt wird in den staat­li­chen Pro­zess des Gewalt­schut­zes, wie es der Frau­en­haus­be­we­gung teil­weise schon pas­siert ist, die nun durch­aus finan­zi­ell abhän­gig ist vom Staat. Zum ande­ren, dass man zum Aus­hän­ge­schild der Poli­tik wer­den kann, ohne dass der Staat selbst etwas unter­nimmt oder die Ver­hält­nisse sich ändern?

Viola: Klar, diese Gefahr gibt es. Wir haben in unse­rem Netz­werk aber sehr viele kri­ti­sche Per­so­nen und im Gegen­satz zu Frau­en­häu­sern sind wir vor allem Akti­vis­tin­nen. Wir kön­nen dem­entspre­chend andere Dinge tun und sagen. Das ist ein gro­ßer Vor­teil und etwas, das ich an der Arbeit im Netz­werk schätze. Natür­lich geht es oft Hand in Hand: Wir sind auch auf die Zusam­men­ar­beit mit Frau­en­häu­sern ange­wie­sen, aber gleich­zei­tig schätze ich, dass wir uns ganz anders posi­tio­nie­ren kön­nen. Wir haben uns auch gegrün­det, um zu zei­gen, dass die­ses Thema mehr ange­gan­gen wer­den muss. Das es mehr braucht, als bis­her getan wird. Zum einen muss da expli­zit der Staat in den Blick genom­men wer­den, zum ande­ren geht es da um gesell­schaft­li­che Selbst­or­ga­ni­sie­rung. Das sind bei­des Ebe­nen, die wir ver­su­chen zu vereinen.

Staat­li­che Koope­ra­tio­nen sind bei uns noch nicht son­der­lich aus­ge­prägt. An dem Punkt, dass die Gefahr der Instru­men­ta­li­sie­rung besteht, sind wir glaube ich noch gar nicht. Aber viel­leicht sollte man das immer im Hin­ter­kopf behal­ten. Wir haben uns schon die Frage gestellt, wie­weit unsere Arbeit gehen kann. Bei uns im Netz­werk sind Leute aus ver­schie­de­nen, auch staat­lich finan­zier­ten Orga­ni­sa­tio­nen, die sind aber bei uns auch als Ein­zel­per­so­nen aktiv. Und wir kri­ti­sie­ren dann durch­aus genau deren Geld­ge­ber. Unsere Kri­tik rich­tet sich nicht immer, aber häu­fig an den Staat. Wenn wir rich­tig unge­müt­lich wer­den, dann könnte das schwie­rig wer­den, aber so weit ist es noch nicht. Unser Fokus auf Selbst­or­ga­ni­sa­tion soll gerade in dem Vakuum wir­ken, wo der Staat ver­sagt Schutz zu gewähr­leis­ten. Wir kön­nen keine wei­te­ren fünf­zig Jahre war­ten, bis der Staat das Thema ernst nimmt und Geld zur Ver­fü­gung stellt. Die Bude brennt jetzt und heute!

Untie­fen: Wie gestal­tet sich eure Zusam­men­ar­beit mit ande­ren Akteur:innen aus der lin­ken Szene?

Viola: Als Netz­werk vie­ler Grup­pen sind wir uns nicht immer in allem einig. Aber wir sind uns einig in unse­rer Defi­ni­tion des Patri­ar­chats und dass es allem zugrunde liegt. Das Ange­nehme an unse­rer Arbeit ist, dass wir sehr fokus­siert am kon­kre­ten Thema »Femi­ni­zide« und Gewalt an Frauen arbei­ten. Andere Inhalte las­sen wir aus, weil klar ist, dass wir da unter­schied­li­che Ein­stel­lun­gen haben. Das ist in der lin­ken Szene natür­lich manch­mal schwie­rig, weil zu bestimm­ten The­men Stel­lung­nah­men ein­ge­for­dert wer­den, selbst wenn das nichts mit unse­rem inhalt­li­chen Schwer­punkt zu tun hat. Wenn wir ernst­haft an unse­rem Thema arbei­ten wol­len und die Pro­bleme vor Ort anschauen und ange­hen möch­ten, dann brau­chen wir jede Ein­zelne. Da ist es oft nicht ziel­füh­rend, sich an ein­zel­nen The­men so zu zer­rei­ßen und wir müs­sen da intern einen Umgang fin­den, wozu wir uns äußern und was wir auslassen.

In der femi­nis­ti­schen Bewe­gung ins­ge­samt ste­hen wir vor dem Pro­blem, dass wir viele ver­ein­zelte Grup­pen sind, die dann nicht oft oder gar nicht zusam­men­ar­bei­ten. Durch unsere Ver­net­zung wol­len wir diese Ver­ein­ze­lung und Spal­tung über­win­den und uns trotz der Unter­schiede zusam­men­tun. Das über­ge­ord­nete gemein­same Ziel ist es, alle For­men patri­ar­cha­ler Gewalt zu been­den. Denn von die­ser sind wir alle, wenn auch auf unter­schied­li­che Weise, betroffen.

Lei­der gilt das das Thema »Femi­ni­zide« schein­bar als »uncool«. Warum krie­gen wir es denn nicht hin, bei Gewalt an Frauen groß und prä­sent zu sein? Viel­leicht liegt es daran, dass das Thema nicht so anspre­chend ist – und natür­lich auch schwer. Es ist immer­hin nicht ange­nehm, die ganze Zeit über den Tod zu reden.

Untie­fen: Ihr bezeich­net euch selbst als Anti-Feminizid-Netzwerk, es gibt auch den Begriff Femi­zid: Wo liegt da der Unterschied?

Viola: Die Frage wird uns immer wie­der gestellt. Erst­mal ist es wich­tig, dass man über­haupt einen Begriff hat. Bei uns im Netz­werk kommt es daher, weil wir stark inter­na­tio­na­lis­tisch ori­en­tiert sind. Das »ni« als Zusatz stammt aus der latein­ame­ri­ka­ni­schen Bewe­gung. Damit soll die staat­li­che Ver­ant­wor­tung noch mehr her­vor­ge­ho­ben wer­den, weil es dort noch ganz andere Struk­tu­ren gibt als bei uns. Patri­ar­chale Gewalt gibt es über­all, aber in vie­len Län­dern Latein­ame­ri­kas ist der Staat aktiv daran betei­ligt. Hier in Deutsch­land ist der Staat auch an der Gewalt betei­ligt, aber eher passiv.

»Die wichtige Frage ist: Wie können wir Sicherheit schaffen?«

Untie­fen: Gibt es noch andere gemein­same theo­re­ti­sche Bezüge und Per­spek­ti­ven, die ihr in eurer Arbeit nutzt?

Viola: Gar nicht so viele. Wir sind uns einig darin, wie wir das Patri­ar­chat defi­nie­ren und wie es die Welt struk­tu­riert und bezie­hen uns dazu oft auf bell hooks. Das Patri­ar­chat ist für uns ein gesell­schaft­li­ches Sys­tem, dass auf der Vor­macht­stel­lung des Man­nes basiert und der Vor­stel­lung, dass Män­ner von Natur aus domi­nant und den Schwa­chen über­le­gen sind und diese domi­nie­ren kön­nen. Frauen gel­ten nach die­ser Logik als schwach und die männ­li­che Domi­nanz wird ihnen gegen­über unter ande­rem durch Gewalt auf­recht­erhal­ten. Diese Macht­struk­tur des Patri­ar­chats ermög­licht es erst, dass Femi­ni­zide pas­sie­ren. Das Patri­ar­chat formt alle Men­schen und wird gleich­zei­tig durch sie getra­gen und sta­bi­li­siert. Geschlecht ist in die­sem Sys­tem maß­geb­lich für Gewalt­er­fah­run­gen und wie stark man ihnen aus­ge­setzt ist. Gleich­zei­tig ist patri­ar­chale Unter­drü­ckung immer mit ande­ren struk­tu­rie­ren­den Macht­di­men­sio­nen wie Ras­sis­mus ver­schränkt. Wenn wir so den­ken, kom­men wir natür­lich manch­mal an den Punkt, an dem man sich die Frage stellt: Wenn das Patri­ar­chat allem zu Grunde liegt, ist dann nicht eigent­lich jeder Mord an einer Frau ein Femi­ni­zid? Des­we­gen ist es so wich­tig, Kate­go­rien für Femi­ni­zide zu definieren.

Dar­über hin­aus haben wir ganz unter­schied­li­che poli­ti­sche Hin­ter­gründe und Ori­en­tie­run­gen. Aber wir sind eben sehr prak­tisch aus­ge­rich­tet und füh­ren keine Theo­rie­streits. Wir fokus­sie­ren uns auf das kon­krete Pro­blem. Was nicht bedeu­tet, dass man nicht unter­schied­li­cher Mei­nung sein kann.

Wir sind aller­dings keine Strafrechtsfeminist:innen. Das ist eine Strö­mung, die ver­schärfte, also höhere Stra­fen für zum Bei­spiel Gewalt­straf­tä­ter gegen­über Frauen for­dert. Wir wis­sen aber aus der Kri­mi­no­lo­gie, dass Stra­fen nicht der Abschre­ckung die­nen. Man muss lei­der sagen, dass es tat­säch­lich unter­schied­li­che Straf­be­dürf­nisse gibt, auch bei den Frauen, die Gewalt erfah­ren haben. Man­che möch­ten, dass der Täter für immer im Gefäng­nis sitzt, andere möch­ten nur ihre Ruhe und sicher sein. Die wich­tige Frage ist da: Wie kön­nen wir Sicher­heit schaf­fen? Uns steht in unse­rer Gesell­schaft dafür zur­zeit eigent­lich nur das Straf­recht zur Ver­fü­gung. Gefäng­nisse füh­ren aller­dings nicht dazu, dass Täter Ver­ant­wor­tung für ihr Han­deln über­neh­men oder sich selbst reflektieren.

Fest steht: Femi­ni­zide müs­sen als sol­che benannt wer­den. Dazu, was danach pas­sie­ren soll, haben wir als Netz­werk noch kei­nen gemein­sa­men Stand­punkt. Es ist aber auch nicht an uns, die per­fek­ten Lösun­gen zu haben. Wenn es uns gelingt, das kon­krete Pro­blem der Femi­ni­zide zu redu­zie­ren, zum Bei­spiel durch Prä­ven­tion oder durch das Auf­bauen von Schutz­struk­tu­ren, dann ist schon­mal viel erreicht.

Untie­fen: Ist es im Patri­ar­chat schon eine Form das Sys­tem zu desta­bi­li­sie­ren, wenn auf diese Gewalt hin­ge­wie­sen wird?

Viola: Das ist für uns der erste Schritt. Den brau­chen wir, um dann wei­ter­zu­ar­bei­ten. Wei­tere Schritte sind Prä­ven­ti­ons­ar­beit und gesamt­ge­sell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung. Aber man kann nicht alles gleich­zei­tig ange­hen. Wir kön­nen nicht sagen, wie wir das Patri­ar­chat stür­zen kön­nen. Aber ein ers­ter Schritt ist es zu mobi­li­sie­ren, alle dar­auf hin­zu­wei­sen und dar­über auf­zu­klä­ren, dass das Patri­ar­chat der Gewalt zugrunde liegt.

Untie­fen: Spielt die Selbst­er­mäch­ti­gung gegen die Gewalt auch eine Rolle bei der Orga­ni­sie­rung im Netzwerk?

Viola: Die Gruppe ermäch­tigt schon, aber wir spre­chen ja für die Frauen, die nicht mehr da sind, und für die Über­le­ben­den. Aber wenn es nichts Empowern­des hätte, dann wür­den es viele von uns bestimmt nicht machen. Es kos­tet schon viel Kraft sich so einem Scheiß­thema in der eige­nen Frei­zeit zu wid­men. Die ganze Zeit über den Tod zu spre­chen und für Tote zu spre­chen. Wir ver­su­chen auch, so gut es geht Ange­hö­ri­gen­ar­beit zu machen. Wir rich­ten uns aber noch rela­tiv wenig nach ihnen, weil wir nicht immer Zugang zu den Ange­hö­ri­gen haben oder man­che das in dem Moment nicht schaf­fen und nicht sagen kön­nen, was sich die Ver­stor­bene gewünscht hätte. Das respek­tie­ren wir, gehen aber natür­lich trotz­dem raus. Die Kund­ge­bun­gen sind des­halb noch nicht so sehr auf die jewei­li­gen Per­so­nen aus­ge­rich­tet. Es ist gar nicht so leicht, zum einen immer wie­der die glei­che poli­ti­sche For­de­rung zu stel­len und gleich­zei­tig auf den indi­vi­du­el­len Fall zu gucken.

»Die Kämpfe in Lateinamerika sind viel radikaler und lauter«

Untie­fen: Kannst du kurz etwas zur Rolle des femi­nis­ti­schen Kampfs in Latein­ame­rika für die Anti-Feminizid-Bewegung sagen?

Viola: Die erste große Bewe­gung gegen Femi­ni­zide in Latein­ame­rika ist in den neun­zi­ger Jah­ren in Ciu­dad Juá­rez in Mexiko ent­stan­den, nach­dem dort Dut­zende, teil­weise ver­stüm­melte Frau­en­lei­chen gefun­den wor­den sind. Es hat damals keine Straf­ver­fol­gung gege­ben und die Medien haben Vic­tim Bla­ming betrie­ben, anstatt das Pro­blem ernst­haft auf­zu­grei­fen. Dar­auf­hin haben sich Frauen zusam­men­ge­tan. Das waren unter ande­rem Müt­ter von Opfern von Femi­ni­zi­den aber auch Politiker:innen und Feminst:innen. Diese haben dann Pro­teste orga­ni­siert und in die­sem Rah­men ent­stand dann auch die Bewe­gung Ni Una Más (»Keine mehr«). Eine ganze Zeit spä­ter ist 2015 in Argen­ti­nien Ni Una Menos (»Keine weni­ger«) in Reak­tion auf dor­tige Femi­ni­zide ent­stan­den. Die Bewe­gung in Argen­ti­nien hatte von Anfang an eine Ver­bin­dung zu der in Mexiko. Ni Una Menos wurde in Argen­ti­nien zur Mas­sen­be­we­gung und hat sich dann trans­na­tio­nal ver­brei­tet. Die latein­ame­ri­ka­ni­schen Bewe­gun­gen gegen den Femi­ni­zid haben gemein­sam, dass sie auf his­to­risch gewach­se­nen Struk­tu­ren von femi­nis­ti­schen Grup­pen und Frau­en­grup­pen auf­bauen kön­nen. Diese Grup­pen haben sich teil­weise schon in der Zeit der und als Reak­tion auf die Dik­ta­tu­ren in den acht­zi­ger Jah­ren in Latein­ame­rika gebildet.

Untie­fen: Was kann man von die­sen Kämp­fen für die Bewe­gung hier lernen?

Viola: Sie sind viel radi­ka­ler und lau­ter. Es wer­den auch ein­fach Dinge getan, zum Bei­spiel Häu­ser besetzt, um dar­aus ein Schutz­haus zu machen oder Anti­mo­nu­mente gegen Femi­ni­zide auf­ge­stellt. Die Öffent­lich­keit wird gestal­tet, ohne das mit den Behör­den abzu­spre­chen. Es ist eine Mas­sen­be­we­gung ent­stan­den, die ernst­haft den Sta­tus Quo angreift und auch eine »Bedro­hung« für den Staat dar­stellt. Das ist für den deutsch­spra­chi­gen Raum nur schwer vor­stell­bar. Sie neh­men auch viel mehr das Leben in den Blick: »Keine weni­ger«, »Keine mehr«. Das ist eben eine umge­kehrte Art zu den­ken. Es darf keine mehr feh­len, wir brau­chen alle, um uns zu schützen.

Was wir als aktu­elle Anti-Feminizid-Bewegung in Deutsch­land von den Freund:innen und Genoss:innen in Latein­ame­rika ler­nen kön­nen, ist die Form der Mobi­li­sie­rung und Orga­ni­sie­rung und wie sie es geschafft haben, Hun­der­tau­sende Men­schen auf die Straße zu krie­gen. Wie sie patri­ar­chale Gewalt zu einem Thema gemacht haben, das gesamt­ge­sell­schaft­lich rele­vant gewor­den ist. Wir müs­sen schauen, wie sie das gemacht haben, und wie es sich auf unse­ren Kon­text anwen­den lässt. Dabei geht es um die Frage, wie wir es als Linke schaf­fen kön­nen, zu ande­ren zu spre­chen und auch zu uns selbst.

Es wird auch immer gerne dar­auf ver­wie­sen, dass die femi­nis­ti­schen Bewe­gun­gen in Latein­ame­rika es in fast allen Län­dern geschafft haben, den Straf­tat­be­stand »Femi­zid« ein­zu­füh­ren. Das ist auf jeden Fall auch wich­tig, um das Pro­blem auf allen Ebe­nen sicht­bar zu machen und zu benen­nen, auch auf juris­ti­scher Ebene. Das ist aller­dings kein Aspekt, auf den sich unsere Kämpfe als Netz­werk konzentrieren.

Untie­fen: Was lässt sich nicht von Latein­ame­rika nach Deutsch­land übertragen?

Viola: In Deutsch­land haben wir nicht so starke, his­to­risch gewach­sene femi­nis­ti­sche Struk­tu­ren. Eine der wich­tigs­ten Auf­ga­ben, die wir jetzt gerade ange­hen, ist die Ver­net­zung und damit auch die Über­win­dung von min­des­tens zwei Hin­der­nis­sen in der femi­nis­ti­schen Bewe­gung. Zum einen ist das der his­to­ri­sche Bruch zwi­schen der Frau­en­be­we­gung der sieb­zi­ger und acht­zi­ger Jahre, die auch gegen patri­ar­chale Gewalt gekämpft hat, und den heu­ti­gen femi­nis­ti­schen Grup­pie­run­gen. Zum ande­ren, wie bereits ange­spro­chen, die Ver­ein­ze­lung und interne Spal­tung der aktu­el­len femi­nis­ti­schen Bewe­gung in Deutschland.

Ein wei­te­res Pro­blem in Deutsch­land ist das Meta­nar­ra­tiv, dass die Gleich­heit zwi­schen den Geschlech­tern bereits erreicht sei. Das müs­sen wir auf­bre­chen. Außer­dem geht die The­ma­ti­sie­rung patri­ar­cha­ler Gewalt in Medien und Poli­tik oft mit einer soge­nann­ten Eth­ni­sie­rung der Gewalt ein­her. Das bedeu­tet, dass Deutsch­land sich immer als poli­tisch und gesell­schaft­lich pro­gres­siv dar­stellt und gesell­schaft­li­che Pro­bleme auf spe­zi­fi­sche migran­ti­sche Grup­pen abge­wälzt wer­den. Dies führt zu einer Ver­la­ge­rung des Pro­blems, was nicht nur falsch ist, son­dern auch zu Dis­kri­mi­nie­rung führt und die Suche nach ernst­haf­ten Lösungs­an­sät­zen verhindert.

Inter­view: Elena Michel

Die Autorin lebt in Ham­burg und sieht in der prak­ti­schen Aus­rich­tung der poli­ti­schen Arbeit ein gro­ßes Poten­tial für die femi­nis­ti­sche Bewegung. 

„Der Antifeminismus hat heute eine Scharnierfunktion“

„Der Antifeminismus hat heute eine Scharnierfunktion“

Mit Femi­nis­mus kann heute Staat gemacht wer­den. Zugleich schei­nen anti­fe­mi­nis­ti­sche Posi­tio­nen in den Main­stream vor­zu­drin­gen. Und auch die Gewalt gegen Frauen, Les­ben, Inter- und Trans­per­so­nen sowie Agen­der nimmt zu. Der Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Flo­rian Hes­sel forscht zu Anti­fe­mi­nis­mus, Anti­se­mi­tis­mus und Ver­schwö­rungs­vor­stel­lun­gen, und ist Mit­glied des poli­ti­schen Bil­dungs­ver­eins Bag­rut e.V. Im Gespräch mit Untie­fen erklärt er, wie Anti­fe­mi­nis­mus heute funk­tio­niert und wer ihn in Ham­burg verbreitet.

Flo­rian Hes­sel beim Inter­view in der Zen­tra­len Biblio­thek Frau­en­for­schung, Gen­der und Queer Stu­dies. Foto: Untiefen

Untie­fen: Lie­ber Flo, Du hast Ende Juni in der Zen­tra­len Biblio­thek Frau­en­for­schung, Gen­der und Queer Stu­dies zusam­men mit Rebekka Blum sowie mit Ham­burg ver­netzt gegen Rechts eine Ver­an­stal­tung orga­ni­siert unter dem Titel „Anti­fe­mi­nis­mus (als anti­de­mo­kra­ti­sche Her­aus­for­de­rung) – All­tag und poli­ti­sche Mobi­li­sie­rung in Ham­burg”. Wir wür­den dazu gern ein paar Fra­gen ver­tie­fen und eure Ein­schät­zun­gen in Bezug auf Ham­burg auch jen­seits der Ver­an­stal­tung zugäng­lich machen. Zunächst würde uns aber inter­es­sie­ren wie Du eigent­lich, per­sön­lich und als Sozi­al­wis­sen­schaft­ler, zum Thema Anti­fe­mi­nis­mus gekom­men bist?

Flo­rian Hes­sel: Dafür war einer­seits ein per­sön­li­cher Kon­takt wich­tig: Meine Ver­eins­kol­le­gin Janne Misie­wicz hat ihre Bache­lor­ar­beit über die Bezie­hung von Anti­fe­mi­nis­mus und Anti­se­mi­tis­mus geschrie­ben und wir haben viel dis­ku­tiert und uns dann ent­schlos­sen, dazu gemein­sam einen Text zu schrei­ben. Auf der ande­ren Seite ist Anti­fe­mi­nis­mus ganz all­ge­mein in den letz­ten 10 Jah­ren viel sicht­ba­rer und wirk­mäch­ti­ger gewor­den. Die Grün­dung und Ent­wick­lung der AfD ist ein Grund dafür, aber viele andere Ent­wick­lun­gen spie­len mit hin­ein. Und als Per­son, als Wis­sen­schaft­ler, der sich im pro­gres­si­ven Spek­trum und als Femi­nist ver­or­tet, fühle ich mich auch ver­pflich­tet, jeder Form von Men­schen­feind­schaft ent­ge­gen zu treten.

Untie­fen: Ihr habt bei der Ver­an­stal­tung ja sicher nicht zufäl­lig den Begriff „Anti­fe­mi­nis­mus“ in den Mit­tel­punkt gestellt, und nicht etwa Frau­en­feind­schaft oder Sexis­mus. Warum habt ihr die­sen Fokus gewählt und was ver­stehst Du, was ver­steht ihr unter Antifeminismus?

Hes­sel: Ich würde die Begriffe erst­mal grund­sätz­lich so sor­tie­ren: Sexis­mus bezieht sich immer in irgend­ei­ner Form auf geschlechts­be­zo­gene Unter­schiede, aber nicht zwangs­läu­fig auf Frauen. Das kann posi­tiv oder nega­tiv for­mu­liert wer­den. Die klas­si­schen Aus­sa­gen, also etwa, dass Frauen emo­tio­na­ler seien und Män­ner sach­li­cher und so wei­ter, schrän­ken – jetzt allein auf die Indi­vi­duen bezo­gen – Men­schen glei­cher­ma­ßen ein, zum Bei­spiel wenn man sich als Mann ver­steht und dann meint, keine Gefühle zei­gen zu dürfen.

Frau­en­feind­schaft und Anti­fe­mi­nis­mus hin­ge­gen rich­ten sich immer gegen Frauen. Von­ein­an­der unter­schei­den las­sen sie sich am bes­ten his­to­risch. Frau­en­hass beglei­tet die gesamte Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schichte, seit es patri­ar­chale Geschlecht­er­ord­nun­gen gibt. Anti­fe­mi­nis­mus ist dage­gen ein moder­nes Phä­no­men. Ursprüng­lich rich­tete er sich gegen den Kampf für das Frau­en­wahl­recht und die Gleich­be­rech­ti­gung von Frauen im Kai­ser­reich. Die deut­sche Publi­zis­tin Hed­wig Dohm hat mit ihrer Streit­schrift „Die Anti­fe­mi­nis­ten“ (1902) in die­sem Zusam­men­hang den Begriff erst­mals geprägt. Grund­sätz­lich defi­niert haben ihn dann Forscher:innen wie Her­rad Schenk in den 1980er Jah­ren und Ute Pla­nert in den 1990ern. Die Beschrei­bung, auf die man sich wis­sen­schaft­lich eini­gen kann, ist, dass Anti­fe­mi­nis­mus eine Reak­tion auf Bemü­hun­gen um Gleich­be­rech­ti­gung im Geschlech­ter­ver­hält­nis ist. Diese Defi­ni­tion bezieht sich also zum einen auf das Geschlech­ter­ver­hält­nis. Das mag uns zwar als tra­di­tio­nell und alt­her­ge­bracht erschei­nen. Aber was wir heute dar­un­ter ver­ste­hen, ist erst in der Moderne ent­stan­den, also die bür­ger­li­che Kern­fa­mi­lie, die nor­ma­tiv auf­ge­la­dene Arbeits­ver­tei­lung, die damit ver­bun­de­nen Geschlech­ter­rol­len und Rol­len­ste­reo­type und so wei­ter. Zum ande­ren geht es um die poli­ti­schen Kämpfe um Gleich­stel­lung, die auch ein Phä­no­men der Moderne sind.
Anti­fe­mi­nis­mus bezieht sich also ganz und gar auf die moderne, kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft und die eman­zi­pa­to­ri­schen Ten­den­zen in ihr. Als poli­ti­sche Bewe­gung rich­tet er sich offen gegen Gleich­be­rech­ti­gungs­be­mü­hun­gen. Ein his­to­ri­sches Bei­spiel ist der „Bund zur Ver­hin­de­rung der Frau­en­eman­zi­pa­tion“ im Kai­ser­reich. Auch heute gibt es solch einen orga­ni­sier­ten Anti­fe­mi­nis­mus, das hat etwa in der Grün­dung der AfD eine wich­tige Rolle gespielt. Noch wich­ti­ger als den Blick auf Anti­fe­mi­nis­mus als poli­ti­sche Bewe­gung finde ich aber, ihn auch als ein spe­zi­fi­sches Res­sen­ti­ment zu ver­ste­hen. Also als eine mit bestimm­ten Emo­tio­nen und Affek­ten auf­ge­la­dene und in ver­schie­de­nen Aus­prä­gun­gen auf­tre­tende, pro­jek­tive Ableh­nung der Ver­un­si­che­rung und des Unbe­ha­gens im Geschlech­ter­ver­hält­nis in der Moderne.

Untie­fen: Du unter­schei­dest also zwi­schen dem Res­sen­ti­ment als Mas­sen­phä­no­men und dem orga­ni­sier­ten Anti­fe­mi­nis­mus, also den Leu­ten, die sich poli­tisch unter die­sem Ban­ner zusam­men­fin­den. Gibt es denn, auch in Ham­burg, so etwas wie eine anti­fe­mi­nis­ti­sche Szene? Im Sinne von Leu­ten wie etwa Yan­nic Hendricks, die vor der Abschaf­fung des § 219a Ärzt:innen ange­zeigt haben, die Abtrei­bun­gen durch­füh­ren? Oder sind das in ers­ter Linie rechts­extreme Struk­tu­ren, die auch anti­fe­mi­nis­tisch sind? Wie wür­dest Du das einschätzen?

Hes­sel: Es gibt diese orga­ni­sier­ten Struk­tu­ren, auch in Ham­burg. Das genannte Bei­spiel ist ein klas­sisch anti­fe­mi­nis­ti­scher, frau­en­feind­li­cher Akteur. Zuerst aber: Gewalt gegen Frauen ist, auch in Ham­burg, weit ver­brei­tet. Für 2021 wur­den etwa 5000 Fälle von – teil­weise schwe­rer – Gewalt gegen Frauen gezählt. Und bei den Ham­bur­ger Frau­en­häu­sern suchen im Schnitt 4 Frauen pro Tag Hilfe, zugleich sind die Häu­ser durch­schnitt­lich zu 95 % belegt. Also oft voll­kom­men aus­ge­las­tet. Daher wird ja auch schon län­ger ein wei­te­res Frau­en­haus gefor­dert. Hof­fent­lich kommt das auch bald zu Stande.

Bevor wir zu kon­kre­ten anti­fe­mi­nis­ti­schen Akteur:innen in Ham­burg kom­men, ist es denke ich wich­tig noch etwas Kon­text her­zu­stel­len: Eine Beson­der­heit von Res­sen­ti­ments heute ist, dass sich fast nie­mand offen zu ihnen bekennt. Nie­mand will Ras­sist oder Anti­se­mit sein. Bei Anti­fe­mi­nis­mus ist das etwas anders: Er wird in der Öffent­lich­keit nur sehr sel­ten als Res­sen­ti­ment benannt, das Pro­blem ist wenig bekannt. Bestimmte Schlag­wör­ter wie „Gen­der­gaga“, „Gen­de­ris­mus“ oder „Frau­en­lobby“ sind in der Öffent­lich­keit ziem­lich frei im Umlauf, z.B. als Click­bait bei Spie­gel Online oder als Signal­wör­ter in sozia­len Medien. Anti­fe­mi­nis­mus hat daher heute eine starke Integrations- und Schar­nier­funk­tion, orga­ni­sa­to­risch aber auch ideo­lo­gisch. Die Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Juliane Lang oder auch die Sozio­lo­gin Rebekka Blum haben das gut her­aus­ge­ar­bei­tet, sie spre­chen auch von einer „Brü­cken­ideo­lo­gie“. Das heißt ein­mal, Anti­fe­mi­nis­mus tritt heute meis­tens nicht allein auf, son­dern ver­bun­den mit ande­ren anti­mo­der­nen Res­sen­ti­ments. Wie diese Ver­schrän­kun­gen in Bezug auf Anti­fe­mi­nis­mus und Anti­se­mi­tis­mus, aber auch Ver­schwö­rungs­vor­stel­lun­gen funk­tio­nie­ren, haben Janne Misie­wicz und ich – hof­fent­lich anschau­lich – an einem exem­pla­ri­schen Fall ana­ly­siert. Der Kern ist in jedem Fall die Behaup­tung, gesell­schaft­li­che Ver­än­de­rungs­pro­zesse oder soziale Bewe­gun­gen seien min­des­tens von außen mani­pu­liert, wür­den viel­leicht gar als Instru­mente zu ande­ren Zwe­cken erzeugt. Damit ein­her geht die Schaf­fung ent­spre­chen­der, meist per­so­nal iden­ti­fi­zier­ba­rer Feindbilder.

Wei­ter wird Anti­fe­mi­nis­mus – wie gesagt – vor allem durch Chif­fren und Schlag­wör­ter kom­mu­ni­ziert. Ein Schlag­wort wie „Gen­der­gaga“ wirkt dann wie ein Schar­nier zwi­schen Spek­tren, von der extre­men, neo­na­zis­ti­schen, völ­ki­schen oder Neuen Rech­ten bis tief in die soge­nannte bür­ger­li­che Mitte hin­ein. Man meint nicht immer genau das Glei­che, aber man kann sich auf eine gewisse Grund­lage eini­gen. Unter ande­rem dar­auf, dass man heute das Geschlech­ter­ver­hält­nis und „die Fami­lie“ vor „dem Femi­nis­mus“ in Schutz neh­men müsse. Dass also die Eman­zi­pa­tion weit­ge­hend rea­li­siert sei und nun aber zu weit gehe, sich jetzt gegen die Frauen selbst richte. Die Scharnier- und Inte­gra­ti­ons­funk­tion ist in die­ser Form eine Beson­der­heit des Anti­fe­mi­nis­mus heute, auch daher fin­det man wenig ori­gi­när anti­fe­mi­nis­ti­sche Akteur:innen.

Am nächs­ten kommt dem in Ham­burg die AfD. Andreas Kem­per oder auch Juliane Lang wei­sen schon seit der Par­tei­grün­dung dar­auf hin, dass der orga­ni­sierte Anti­fe­mi­nis­mus eine zen­trale Säule die­ser Par­tei ist – ideo­lo­gisch und orga­ni­sa­to­risch. Das zeigt sich etwa an den klei­nen Anfra­gen der AfD Bür­ger­schafts­frak­tion. 2019 fragte etwa der dama­lige Abge­ord­nete Harald Fein­eis den Senat, wann auch in Ham­burg Mut­ter und Vater zu „Eltern­teil 1“ und „Eltern­teil 2“ gegen­dert wür­den (Druck­sa­che 21/17515). Kleine Anfra­gen sind natür­lich ein wich­ti­ges par­la­men­ta­ri­sches Instru­ment, aber sie die­nen der AfD auch dazu, Struk­tu­ren und Insti­tu­tio­nen zu beschäf­ti­gen und poli­ti­sche Punkte vor­zu­brin­gen. Die Stim­mungs­ma­che gegen die angeb­li­che Rede von „Eltern­teil 1“ und „Eltern­teil 2“ ist – neben dem grund­sätz­li­chen Lächer­lich­ma­chen rea­ler Dis­kus­sio­nen um For­men geschlech­ter­ge­rech­ter Spra­che – für ver­schie­dene Rechte anschluss­fä­hig. Sie ist etwa auch ein zen­tra­ler Tal­king point von Vla­di­mir Putin. Wie er setzt die AfD-Anfrage schon vor­aus, dass es da so etwas wie eine Agenda gibt, Mut­ter und Vater durch geschlechts­neu­trale Bezeich­nun­gen zu erset­zen und fragt nur noch: Wann wird das passieren?

Untie­fen: Und lei­der war die Ant­wort des Senats nicht: Danke, dass sie fra­gen, das wird dann und dann pas­sie­ren – son­dern gewohnt einsilbig.

Hes­sel: Ja, genau, der Senat sagt nur: „Die zustän­dige Behörde hat sich damit noch nicht befasst. Der zustän­di­gen Behörde lie­gen keine Daten ent­spre­chend der Fra­ge­stel­lung vor.“

In der­sel­ben Anfrage fragte Fein­eis den Senat: „Mit wel­chen geschlechts­neu­tra­len Sprach- und Wort­krea­tio­nen beschäf­ti­gen sich die bei der Han­se­stadt ange­stell­ten Mit­ar­bei­ter, vor allem jene im ‚Zen­trum Gen­der­wis­sen‘ [sic!] aktu­ell?“. Das Zen­trum Gen­der­Wis­sen war der Vor­gän­ger des Zen­trums Gen­der und Diver­sity, zu dem die Biblio­thek gehört, in der wir hier gerade spre­chen. Diese Anfra­gen lan­den dann bei den Mitarbeiter:innen, die sich dann mit der Beant­wor­tung befas­sen müs­sen. Mit dem Ergeb­nis: „Dem Senat ist der­zeit keine Beschäf­ti­gung des Zen­trums Gen­der­wis­sen [sic!] mit dem Thema ‚geschlecht­er­neu­trale Spra­che‘ bekannt.“ Von die­sen Anfra­gen zu Geschlech­ter­for­schung und Gleich­stel­lungs­po­li­tik gibt es Dut­zende, die gehen mitt­ler­weile wahr­schein­lich in den drei­stel­li­gen Bereich. Ebenso in ande­ren Bun­des­län­dern und im Bundestag.

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Akteur mit Schar­nier­funk­tion ist zumin­dest ein Teil der CDU. Der ehe­ma­lige Lan­des­vor­sit­zende Chris­toph Ploß hat sich da ja sehr her­vor­ge­tan. Zum Auf­takt des letz­ten Bun­des­tags­wahl­kampfs gab es in Ham­burg einen Par­tei­tag unter sei­ner Füh­rung. Haupt­thema war die For­de­rung, „Gen­der­spra­che“ zu ver­bie­ten. Der Hin­ter­grund war der­selbe wie bei der klei­nen Anfrage der AfD, näm­lich, dass der Senat den Ham­bur­ger Behör­den erlaubt hat, gen­der­sen­si­ble oder gen­der­neu­trale Anre­den zu ver­wen­den. Die CDU hat dar­aus gemacht: Hier soll uns etwas ver­bo­ten wer­den – das gehört ver­bo­ten. In die­ser Kon­stel­la­tion, die­ser Ver­keh­rung, liegt eine anschau­li­che Illus­tra­tion der pro­jek­ti­ven Logik von Res­sen­ti­ments. Das zielte ganz ein­deu­tig auf eine öffent­li­che Wir­kung, auf Affekte und Emo­tio­nen. Die wollte man mobi­li­sie­ren und in Wäh­ler­stim­men ummünzen.

Bei der CDU ist das ziem­lich instru­men­tell gedacht. Man hat das auch jetzt im Früh­jahr gese­hen, bei der berüch­tig­ten Ham­bur­ger „Volks­in­itia­tive gegen das Gen­dern in Schu­len und Behör­den“. Die CDU hat sich einer­seits von der Orga­ni­sa­to­rin Sabine Mer­tens distan­ziert, weil die rechts­of­fen und homo­phob auf­tritt. Zugleich aber will sie von der Initia­tive und den dadurch erhoff­ten Wäh­ler­stim­men nicht ablas­sen. Sie ver­sucht also von den Affek­ten zu pro­fi­tie­ren, die­sem „Man will uns hier von oben etwas aufdrücken“.

Schließ­lich noch zu den akti­vis­ti­schen Milieus: Das sind ein­zelne Per­so­nen oder kleine, oft eher lose Grup­pen, ange­fan­gen mit den bereits von Dir erwähn­ten Abtreibungsgegner:innen oder christlich-fundamentalistischen Grup­pie­run­gen. Die schei­nen mir aller­dings für Ham­burg keine beson­dere Bedeu­tung zu haben. Wich­ti­ger sind da gerade Zusam­men­hänge wie das über­schau­bare Netz­werk von Per­so­nen, das aktu­ell die Initia­tive gegen „Gen­der­spra­che“ betreibt. Eine ähn­li­che Struk­tur hat auch die Querdenken-Szene, und hier wur­den anti­fe­mi­nis­ti­sche Topoi im bun­des­wei­ten Ver­gleich in Ham­burg sehr stark bedient. Dazu gibt es einen aktu­el­len Bericht, ver­fasst unter ande­rem von Larissa Denk. Vor allem über die schon klas­sisch zu nen­nende Chif­fre der Kin­der, die vor Mas­ken und Pan­de­mie­maß­nah­men geschützt wer­den müss­ten – oder auch vor staat­li­chen Schu­len und dem, was dort über Geschlecht und Sexua­li­tät gelehrt wird. Das zeigte sich dann an Initia­ti­ven wie „Eltern ste­hen auf“. Die knüpft an einen der Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkte des orga­ni­sier­ten Anti­fe­mi­nis­mus in Deutsch­land an. In den Jah­ren 2014/2015 ent­stand aus der Agi­ta­tion gegen den Bil­dungs­plan in Baden-Württemberg die Bewe­gung „Demo für alle“. Diese „besorg­ten Eltern“ rich­te­ten und rich­ten sich gegen eine ver­meint­li­che „Früh­sexua­li­sie­rung“ und „Gen­de­ri­sie­rung“.

Trieb auch in Ham­burg sein Unwe­sen: Der anti­fe­mi­nis­ti­sche Akti­vist Yan­nic Hendricks. Foto: Hinnerk11 Lizenz: CC BY-SA 4.0

Untie­fen: Eine tra­gende Säule ist der Anti­fe­mi­nis­mus also bei den poli­ti­schen Par­teien eigent­lich nur bei der AfD. Auch die Taz hat die CDU im Zusam­men­hang mit der Volks­in­itia­tive gegen „Gen­der­spra­che“ als „nütz­li­che Idio­ten“ statt als Über­zeu­gungs­tä­ter bezeich­net. Und sicher stimmt es, dass der Ham­bur­ger Land­ver­band libe­ral ist. Aber: his­to­risch hat das die CDU ja nicht abge­hal­ten – siehe die von Beus/Schill-Koalition 2001–2003 – sich von popu­lis­ti­schen radi­ka­len Rech­ten zur Macht ver­hel­fen zu las­sen. Wenn wir momen­tan von einem Stimmen- und Macht­zu­wachs der AfD aus­ge­hen müs­sen: Könnte es sein, dass die CDU den Anti­fe­mi­nis­mus in Zukunft stär­ker als Thema (wieder-)entdecken wird? Eben weil er diese Schar­nier­funk­tion hat? Oder ist da das libe­rale Selbst­ver­ständ­nis doch zu wirksam?

Hes­sel: Libe­ral bedeu­tet bei der Ham­bur­ger CDU ja vor allem wirt­schafts­li­be­ral – im Sinne von: was gut für Hafen und Han­del ist, ist gut für die Stadt.

Untie­fen: Auch wenn das heißt, dass z.B. Frauen mit Kin­dern beim Container-Hafenbetrieb Euro­kai Teil­zeit­ar­beit sys­te­ma­tisch ver­wehrt wird.

Hes­sel: Ja. Aber die CDU ver­tritt den­noch einen moder­ni­sier­ten Kon­ser­va­tis­mus. Das ist ja eine der Errun­gen­schaf­ten der deut­schen poli­ti­schen Land­schaft nach 1945: Bestimmte Tra­di­ti­ons­li­nien der gro­ßen kon­ser­va­ti­ven poli­ti­schen Par­teien konn­ten wirk­lich abge­schnit­ten wer­den. Für Ham­burg teile ich die Ein­schät­zung der Taz, dass der aktu­elle Vor­sit­zende, Den­nis The­ring, kein Inter­esse an einer anti­fe­mi­nis­ti­schen Posi­tio­nie­rung hat. Aber den­noch will man es sich mit die­sem Wäh­ler­po­ten­tial nicht ver­scher­zen. Man manö­vriert, man ver­sucht es nicht zu offen­siv anzu­ge­hen, will sich diese The­men aber auch nicht ganz neh­men las­sen, weil es dann doch ein bestimm­tes inter­es­sier­tes Milieu gibt, das CDU wählt oder ver­meint­lich wäh­len könnte.

Bei der Bundes-CDU gibt es dage­gen sehr deut­li­che Zei­chen, dass das anti­fe­mi­nis­ti­sche Ticket stär­ker gezo­gen wer­den wird. Äuße­run­gen von Fried­rich Merz, aber auch die Rede von Clau­dia Pech­stein las­sen das erken­nen. Das ver­sucht einen recht weit ver­brei­te­ten libe­ra­len, bes­ser viel­leicht: liber­tä­ren Anti­li­be­ra­lis­mus zu mobi­li­sie­ren: Hier würde „dem Volk“ von „den Eli­ten“ in Ber­lin etwas auf­ge­drückt und das Leben mies­ge­macht. Wir sehen hier auch wie­der die schon erwähnte Ver­schrän­kung und Ver­mi­schung mit Ele­men­ten ande­rer Res­sen­ti­ments, von Intel­lek­tu­el­len­feind­lich­keit etwa, Ver­schwö­rungs­vor­stel­lun­gen und zumin­dest die Anschluss­fä­hig­keit an einen gewis­sen laten­ten Anti­se­mi­tis­mus. Mar­kus Söder hat schon im Früh­jahr gegen eine „Woke-Ideologie“ gewet­tert und gesagt: „Wir brau­chen keine Gedan­ken­po­li­zei, son­dern mehr Poli­zei auf den Stra­ßen.“ Sol­che Aus­sa­gen zei­gen schon in ihrer For­mu­lie­rung, man mobi­li­siert auto­ri­täre Bedürf­nisse en gros, gegen die Ver­un­si­che­run­gen und Her­aus­for­de­run­gen einer plu­ra­lis­ti­schen, diver­sen, hete­ro­ge­nen Gesellschaft.

Untie­fen: Wes­halb er dann auch die Grü­nen als poli­ti­schen Haupt­feind dar­stellt, statt die AfD, die ja poli­tisch offen­sicht­lich die viel grö­ßere Bedro­hung für die CDU/CSU ist.

Hes­sel: Genau. Und das ist nicht ein­mal stra­te­gisch klug. Die AfD ist mitt­ler­weile eine eta­blierte Par­tei und kann mit einem gewis­sen Erfolgs­ver­spre­chen locken. Gerade wenn Men­schen zwar gefühlt rebel­lie­ren wol­len, aber sich immer von Auto­ri­tä­ten und „der Mehr­heit“, vom „Wir“ gedeckt sehen wol­len, warum soll­ten die in die­ser Kon­stel­la­tion CDU wäh­len statt AfD? Der gefähr­li­che Effekt wird viel­mehr eine wei­tere Nor­ma­li­sie­rung auto­ri­tä­rer Hal­tun­gen und Ideo­lo­gie­frag­mente sein.

Untie­fen: Wenn wir noch­mal auf die Mas­se­ne­bene schauen: Anhand wel­cher Indi­ka­to­ren kann man able­sen, dass Anti­fe­mi­nis­mus als All­tags­phä­no­men zunimmt? Und: Was gibt er eigent­lich den Leu­ten, warum ver­fängt die­ses Res­sen­ti­ment immer wieder?

Hes­sel: Seit der vor­letz­ten Leip­zi­ger Auto­ri­ta­ris­mus­stu­die wer­den zum ers­ten Mal expli­zit anti­fe­mi­nis­ti­sche Ein­stel­lun­gen abge­fragt. Zum Bei­spiel durch Zustim­mung zu Aus­sa­gen wie: „Frauen machen sich in der Poli­tik häu­fig lächer­lich.“ Her­aus­ge­kom­men ist, dass aktu­ell 25 % der Befrag­ten ein zusam­men­hän­gen­des, anti­fe­mi­nis­ti­sches Welt­bild haben, bei Män­nern ist es jeder Dritte. Die Zustim­mung zu ein­zel­nen Items ist teil­weise noch höher. Wir kön­nen das aber auch able­sen an der Zunahme all­täg­li­cher, frauen- oder trans­feind­li­cher Gewalt – über ein paar Zah­len haben wir ja schon kurz gespro­chen – und an der Zunahme bestimm­ter Ver­öf­fent­li­chun­gen und öffent­li­cher Dis­kus­sio­nen, z.B. um gen­der­sen­si­ble Spra­che. Und nicht zuletzt eben am Erfolg der AfD, für die Anti­fe­mi­nis­mus von Beginn an zen­tral war.

Zur Frage, was es den Leu­ten gibt: Wie in allen Res­sen­ti­ments fin­det hier eine Umkeh­rung oder Ver­schie­bung statt. Kon­kret: Statt der Ver­un­si­che­rung und dem Unbe­ha­gen im Geschlech­ter­ver­hält­nis wird die Beschäf­ti­gung damit zum eigent­li­chen Pro­blem erklärt. Zum Bei­spiel in Form der Gen­der Stu­dies, über die Chif­fre „der Femi­nis­mus“, mit den Codes und Schlag­wör­tern, über die wir bereits gespro­chen haben. Es wird also auf eine auto­ri­täre, pro­jek­tive Weise auf gesell­schaft­li­che Wider­sprü­che und Kri­sen­ten­den­zen der moder­nen kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft reagiert. Man benennt angeb­lich Schul­dige und ver­sucht, das ganz reale Unbe­ha­gen durch eine „Rück­kehr“ zu einer Ord­nung zu besei­ti­gen, die es so nie gege­ben hat. Die vor­herr­schen­den Vor­stel­lun­gen von der bür­ger­li­chen Kern­fa­mi­lie – Vater, Mut­ter, gemein­same Kin­der, ver­hei­ra­tet, mit kla­rer Ord­nung von Auto­ri­tät und Macht – ent­spre­chen seit etwa 30 Jah­ren zuneh­mend weni­ger der Rea­li­tät. Fami­li­en­for­men haben sich ver­viel­fäl­tigt. Das hat natür­lich eman­zi­pa­to­ri­sche Momente, ist aber zugleich für uns alle auch höchst ver­un­si­chernd. Dahin­ter steht ja auch eine gesell­schaft­li­che Ver­än­de­rung, oft eine Pre­ka­ri­sie­rung der Arbeits­ver­hält­nisse und Berufs­bio­gra­phien, gene­rell eine Umver­tei­lung von Bil­dungs­res­sour­cen, von Lebens­chan­cen und von Reich­tum auf immer weni­ger Menschen.

Dar­auf reagiert Anti­fe­mi­nis­mus, des­halb sind Men­schen auch jen­seits ultra­kon­ser­va­ti­ver Milieus für ihn emp­fäng­lich. Wie jedes Res­sen­ti­ment kann aller­dings auch der Anti­fe­mi­nis­mus das Ver­spre­chen einer sta­bi­len, beru­hi­gen­den Ord­nung nie erfül­len. Das Geschlech­ter­ver­hält­nis, so hat es Rebekka Blum tref­fend in unse­rem Podi­ums­ge­spräch for­mu­liert, ist ja immer in der Krise, da bleibt also immer eine offene Wunde. Agi­ta­to­ren wol­len diese Wunde auch offen hal­ten, die Unruhe immer wie­der auf­wüh­len und diese Ener­gien dann in ihrem eige­nen Inter­esse lenken.

Untie­fen: Leo Löwen­thal hat das mal so aus­ge­drückt, dass das Unbe­ha­gen wie ein Juck­reiz ist, und statt zu einer hei­len­den The­ra­pie rät der Agi­ta­tor zum Krat­zen, was den Juck­reiz noch steigert.

Hes­sel: Ja, genau!

Untie­fen: Wir haben jetzt über rech­ten und bür­ger­li­chen Anti­fe­mi­nis­mus gespro­chen. Wie steht es mit Anti­fe­mi­nis­mus in migran­ti­schen Com­mu­ni­ties, wo es patri­ar­chale, kon­ser­va­tive Strö­mun­gen des Islam gibt? Das ist sicher von der Zahl der Anhänger:innen und vom Mobi­li­sie­rungs­po­ten­tial her deut­lich klei­ner, zugleich gibt es da doch viel offe­nere und umfang­rei­chere patri­ar­chale Ansprü­che. Wenn wir allein an die Isla­mis­ten vom IZH an der Außen­als­ter den­ken, die das patri­ar­chale Regime im Iran stüt­zen, aber auch hier Iraner:innen bedro­hen, die femi­nis­tisch kämp­fen. Oder an das Al-Azhari Insti­tut in St. Georg mit dem Imam Mah­moud Ahmed, der durch krass patri­ar­chale Pre­dig­ten auf­ge­fal­len ist, und wo es Demos gab mit sepa­ra­ten Frau­en­blö­cken etc. Wie wür­dest Du das im Ver­hält­nis zum rech­ten Anti­fe­mi­nis­mus ein­schät­zen? Ist der zurecht als grö­ße­res Pro­blem stär­ker auf dem Schirm? Oder soll­ten wir uns mehr auch um den isla­mi­schen Anti­fe­mi­nis­mus küm­mern und das im Blick behalten?

Hes­sel: Ich bin lei­der kein wirk­li­cher Ken­ner der isla­mis­ti­schen Szene in Ham­burg. Aber ich glaube, das ist ein gro­ßes Pro­blem. Wenn etwa die Hizb ut-Tahrir oder ihre Front­or­ga­ni­sa­tio­nen es schaf­fen, über Jahre in Ham­burg immer wie­der Demos im drei­stel­li­gen oder gar vier­stel­li­gen Bereich zu orga­ni­sie­ren, dann muss einem das zu den­ken geben. Frau­en­feind­schaft ist ein Kern­be­stand­teil jedes Isla­mis­mus, jedes poli­ti­schen Islam, dazu kommt der Anti­fe­mi­nis­mus, als Ver­län­ge­run­gen des­sen auch Schwu­len­feind­lich­keit, Trans­feind­lich­keit, Res­sen­ti­ments gegen que­ere Men­schen. All das sta­bi­li­siert patri­ar­chale Herr­schaft. Selbst der öster­rei­chi­sche Ver­fas­sungs­schutz hat kürz­lich expli­zit davor gewarnt, dass sich extrem rechte und isla­mis­ti­sche Akteure bis hin zur ter­ro­ris­ti­schen Szene – zusätz­lich zum Juden­hass – genau dar­auf eini­gen kön­nen: auf Queer- und Trans­feind­lich­keit, Schwu­len­feind­lich­keit und Anti­fe­mi­nis­mus. Ich glaube nicht, dass sich da offene Alli­an­zen erge­ben wer­den, zumin­dest nicht in Ham­burg. Aber als ein Hin­ter­grund­rau­schen gibt das zu den­ken. Erst vor eini­gen Mona­ten wur­den ja in Ham­burg isla­mis­ti­sche Anschlags­pläne auf­ge­deckt und ver­hin­dert. Andere, rechts­ter­ro­ris­ti­sche, zumin­dest durch Anti­fe­mi­nis­mus mit grun­dierte Atten­tate konn­ten nicht ver­hin­dert wer­den, etwa der Anschlag auf die Ver­samm­lung der Zeu­gen Jeho­vas in Als­ter­dorf im März. Es kann jeder­zeit zu auch expli­zit anti­fe­mi­nis­ti­schen Anschlä­gen in Ham­burg kom­men. Wer immer sich femi­nis­tisch enga­giert, ist in den Köp­fen von extrem rech­ten, isla­mis­ti­schen und ande­ren Anti­fe­mi­nis­ten ein legi­ti­mes Ziel.

Dage­gen wäre es wich­tig, die gerade statt­fin­den­den Kämpfe gegen patri­ar­chale Herr­schaft aller Art mehr wahr­zu­neh­men und zu unter­stüt­zen, allen voran etwa für mehr Schutz­räume wie Frau­en­häu­ser, aber eben auch den Kampf der Deutsch- und Exil-Iraner:innen in Hamburg.

Untie­fen: Danke für das Gespräch!

»Man sah uns von Beginn an als Feinde«

»Man sah uns von Beginn an als Feinde«

Die Eman­zi­pa­to­ri­sche Linke.Shalom Ham­burg pro­tes­tiert immer wie­der gegen die poli­ti­sche Ver­harm­lo­sung des IZH. Dabei erhielt sie zuletzt sogar Gegen­wind aus der eige­nen Par­tei. Jan Vah­len­kamp, einer ihrer Sprecher:innen, erklärt im Inter­view mit Felix Jacob warum die Ham­bur­ger LINKE sich gegen eine Kund­ge­bung der Gruppe stellte und wieso er nun aus der Par­tei austritt. 

Jan Vah­len­kamp (Bild­mitte) mit dem der­zei­ti­gen Sprecher:innenrat der Eman­zi­pa­to­ri­schen Linken.Shalom sowie Vol­ker Beck bei einer Demo vorm IZH im Mai 2021. Bild: privat.

Untie­fen: Lie­ber Jan, das Isla­mi­sche Zen­trum Ham­burg (IZH) steht der­zeit öffent­lich in der Kri­tik wie lange nicht mehr. Anläss­lich der Dis­kus­sion um den Staats­ver­trag mit den mus­li­mi­schen Ver­bän­den und, in den letz­ten Wochen, um einen mög­li­chen Platz für die Schura im NDR-Rundfunkrat ist der Außen­pos­ten des ira­ni­schen Mullah-Regimes der zen­trale Streit­punkt zwi­schen FDP, CDU und AfD einer­seits, SPD und Grü­nen ande­rer­seits. Ihr als Eman­zi­pa­to­ri­sche Linke.Shalom Ham­burg betei­ligt euch unab­hän­gig von sol­chen Kon­junk­tu­ren schon seit lan­gem immer wie­der an den Pro­tes­ten gegen das IZH. Wie bewer­tet ihr die aktu­elle poli­ti­sche Lage? Mit wem arbei­tet ihr zusammen?

Vah­len­kamp: Wenn die Poli­tik das IZH und den Staats­ver­trag the­ma­ti­siert, dann ist das gut. Wenn das zu einem ober­fläch­li­chen Wahl­kampf­thema zwi­schen dem rech­ten und dem lin­ken Flü­gel der Bür­ger­schaft wird, dann ist das schlecht. Ich glaube aber gar nicht, dass das der Fall ist. Auch bei den Grü­nen wird ja über das IZH dis­ku­tiert. Die grüne Bür­ger­schafts­ab­ge­ord­nete Gud­run Schit­tek hat schon mal einen Rede­bei­trag auf einer der Kund­ge­bun­gen gehal­ten, ebenso wie der ehe­ma­lige Bun­des­tags­ab­ge­ord­nete Vol­ker Beck. Ich habe auch schon Leute von der AG Säku­lare der Lin­ken dort gese­hen. Die links­li­be­rale Mopo schreibt recht kri­tisch über das IZH und der SPD-nahe Sascha Lobo hat die Staats­ver­träge in sei­ner Spiegel-Kolumne auch schon kri­ti­siert. Ich glaube, da ist eini­ges in Bewegung.

Bei uns gibt es per­so­nelle Über­schnei­dun­gen mit der »Deutsch-Israelischen Gesell­schaft«, die sich zu dem Thema recht klar posi­tio­niert. Außer­dem haben wir Kon­takt zum »Bünd­nis gegen Anti­se­mi­tis­mus Kiel«, die jedes Mal anrei­sen, wenn gegen das IZH demons­triert wird. Wir arbei­ten auch mit den Grup­pen »Inter­na­tio­nal Women in Power« und »Nasle Baran­daz« zusam­men, die jeweils Kund­ge­bun­gen gegen das IZH orga­ni­siert haben. Das­selbe gilt auch für den »Zen­tral­rat der Ex-Muslime«.

Untie­fen: Am 07. August fand unter dem Motto »1400 Jahre Geno­zid im Iran – IZH muss geschlos­sen wer­den« erneut eine Kund­ge­bung gegen das IZH statt, orga­ni­siert von der ira­ni­schen Ham­bur­ger Gruppe Nasle Baran­daz (»Sub­ver­sive Gene­ra­tion«), mit­ge­tra­gen von euch. Sie wurde im Vor­feld vom IZH und eini­gen Zei­tun­gen als »anti­mus­li­mi­sche Hetze« dif­fa­miert. Geht diese Stra­te­gie eurer Erfah­rung nach auf?

Vah­len­kamp: Das glaube ich kaum. Ich selbst habe durch die Pres­se­mel­dung über­haupt erst davon erfah­ren, dass da eine Kund­ge­bung geplant ist. Wir haben dann schnell ent­schie­den, dass wir uns öffent­lich hin­ter die Kund­ge­bung stel­len, auch wenn uns das Motto etwas frag­lich erschien. Hin­ter­her gab es dann ja auch einen ziem­lich sach­li­chen Bericht im Ham­burg Jour­nal des NDR. Wenn Leute bereit sind, ein­fach mal zuzu­hö­ren, ver­puf­fen sol­che Dif­fa­mie­run­gen recht schnell.

Ein Bei­spiel: Vor fünf Jah­ren hatte die Links­ju­gend Solid Mina Ahadi vom Zen­tral­rat der Ex-Muslime ein­ge­la­den. Die Ver­an­stal­tung wurde im Vor­feld stark kri­ti­siert und es wurde behaup­tet, Mina Ahadi sei eine Ras­sis­tin. Ich kenne eine Genos­sin, die damals auch in diese Rich­tung pole­mi­siert hat. Heute steht die­selbe Genos­sin mit Mina Ahadi zusam­men auf der Bühne und beide applau­die­ren einander.

Untie­fen: Wie ist das Motto »1400 Jahre Geno­zid im Iran« denn eurer Mei­nung nach zu verstehen?

Die Veranstalter:innen der Kund­ge­bung zie­hen hier den Bogen von der Erobe­rung des Sas­sa­ni­den­rei­ches im 7. Jahr­hun­dert hin zur Isla­mi­schen Repu­blik von heute. So eine Erobe­rung war natür­lich nicht unblu­tig und die Isla­mi­sie­rung nicht das Ergeb­nis einer fried­li­chen Mis­sion. Und bis heute dür­fen Ira­ner, bei Andro­hung dra­ko­ni­scher Stra­fen, ihre Reli­gion nicht frei wäh­len, sie blei­ben zwangs­is­la­mi­siert. Dies wird von man­chen als kul­tu­rel­ler Geno­zid ange­se­hen, bei dem der Islam als Ideo­lo­gie die ira­ni­sche Nation unter­drückt. Eine sol­che Sicht­weise hat schon etwas Natio­nal­ro­man­ti­sches. Aber wie so oft kön­nen wir hier schlecht deut­sche Maß­stäbe an ein Land legen, dass eine ganz andere Geschichte, Gegen­wart, Gesell­schaft und Poli­tik vor­zu­wei­sen hat. Und die­ses Land, also der Iran, hat die Veranstalter:innen nun mal ent­schei­dend geprägt. Die meis­ten von ihnen sind erst vor weni­gen Jah­ren als Flücht­linge hier­her gekommen.

Untie­fen: Vor gut zwei Wochen wur­den von Unbe­kann­ten poli­ti­sche Paro­len auf das IZH gesprüht, offen­bar im Zusam­men­hang mit den Pro­tes­ten gegen das Regime in der Pro­vinz Khu­ze­stan. In der Presse war von einem»Anschlag auf eine Moschee« die Rede. Teilt ihr diese Perspektive?

Vah­len­kamp: Ein Farb­an­schlag ist kein Mit­tel eines demo­kra­ti­schen Dis­kur­ses. Dafür ste­hen andere Mit­tel zur Verfügung.

Ich kann auch ver­ste­hen, dass Lan­des­rab­bi­ner Shlomo Bis­tritzky sich hier mit der Schura soli­da­ri­siert hat. Syn­ago­gen sind ja sehr oft von Farb­an­schlä­gen und ähn­li­chem betrof­fen und wenn diese Gebäude nicht so auf­wän­dig geschützt wären, dann wären sie es wohl noch viel häu­fi­ger. Diese Anschläge wir­ken bedroh­lich und ein­schüch­ternd  – und das ist ja auch beab­sich­tigt. Auch Moscheen waren in den letz­ten Jah­ren immer wie­der das Ziel von xeno­pho­ben Angrif­fen, seien es Brand­an­schläge oder das Able­gen von Schwei­ne­köp­fen oder ähn­li­ches. Für so etwas habe ich abso­lut kein Verständnis.

Beim IZH ist der Fall aber mei­nes Erach­tens nach etwas anders gela­gert. Es ist ja offen­sicht­lich, dass die Tat durch ira­ni­sche Dis­si­den­ten began­gen wurde. Die Paro­len waren in per­si­scher Spra­che und hat­ten poli­ti­schen, auf den Iran bezo­ge­nen Inhalt. Man muss sich ver­ge­gen­wär­ti­gen, dass der Iran eines der sehr weni­gen Län­der auf der Welt ist, wo Kle­rus und poli­ti­sche Macht­ha­ber nicht bloß eng mit­ein­an­der ver­strickt sind, son­dern wo der Kle­rus selbst die poli­ti­sche Macht inne­hat. Hier haben sich also Leute quasi an ihren Unter­drü­ckern gerächt und ich denke, das ist etwas ande­res, als wenn man einer Min­der­heit Angst ein­ja­gen möchte. Im Iran würde man für so etwas sei­nen Kopf ver­lie­ren, hier droht nur eine Anzeige wegen Sachbeschädigung.

Untie­fen: Auch die Bür­ger­schafts­frak­tion der Lin­ken hatte vor der Demo in einer Pres­se­mit­tei­lung behaup­tet, hier würde – grade nach dem genann­ten »Anschlag« –  »gezielt Stim­mung gemacht gegen Ham­burgs mus­li­mi­sche Bürger:innen«  und so das  »Zusam­men­le­ben unter­schied­li­cher Kul­tu­ren und Reli­gio­nen« in Ham­burg gefähr­det. Ihr habt diese Dar­stel­lung zurück­ge­wie­sen. Hat eure Par­tei in Ham­burg eine grund­sätz­lich andere Hal­tung zum IZH als ihr?

Vah­len­kamp: Die Linke hat ja über­haupt keine Posi­tion zum IZH. Arbeit, Wirt­schaft und Sozia­les – das sind die The­men der Lin­ken. Aber weder zum Thema IZH noch zum Thema Isla­mis­mus stand irgend­et­was im Bür­ger­schafts­wahl­pro­gramm. Dar­auf ange­spro­chen heißt es dann meist, man wolle keine rech­ten Dis­kurse bedie­nen. Viele ver­ste­hen ein­fach nicht, dass die rech­ten Dis­kurse durch das Igno­rie­ren sol­cher The­men erst recht bedient wer­den. Diese Unbe­darft­heit sah man ja auch der Pres­se­mit­tei­lung an. Da wurde die Hal­tung und Sicht­weise der Schura ein­fach über­nom­men. Dann haben wohl ein paar Leute dort ange­ru­fen und sich beschwert. Dar­auf­hin wurde die Pres­se­mit­tei­lung schnell wie­der kom­men­tar­los aus dem Inter­net entfernt.

Zumin­dest ein Teil der Lin­ken hegt aber auch mehr oder weni­ger offen Sym­pa­thie mit der Isla­mi­schen Repu­blik Iran. Das wirkt natür­lich erst­mal gro­tesk, weil es ein strikt anti­kom­mu­nis­ti­sches Regime ist. Aber es ist eben auch ein erklär­ter Feind des »US-Imperialismus« und das ist man­chen im Zwei­fel wich­ti­ger. Beson­ders die Gruppe Marx21 hat ja immer beson­ders viel Ver­ständ­nis für Isla­mis­ten aller Cou­leur. Ich glaube, sie tun das, weil sie den west­li­chen Libe­ra­lis­mus als gemein­sa­men Feind anse­hen. Im Fall Iran kommt aber auch noch mit hinzu, dass das Land beste Bezie­hun­gen zu den ALBA-Staaten und Putins Russ­land hat. Von daher hat das Regime für man­che Linke den Sta­tus eines Ver­bün­de­ten und da hält man sich dann mit Kri­tik zurück.

Untie­fen: Gibt es aus der Ham­bur­ger Links­par­tei Belege für sol­che Haltungen?

Vah­len­kamp: Ja, zum Bei­spiel pos­tete die Bür­ger­schafts­frak­tion 2017 zum »Inter­na­tio­na­len Tag gegen Homo‑, Bi‑, Inter- und Trans­pho­bie« bei Face­book einen Auf­ruf und erin­nerte daran, dass viele Men­schen auf­grund ihrer sexu­el­len Ori­en­tie­rung flüch­ten müs­sen. Dar­auf folgte eine Liste sol­cher Unter­drü­ck­er­staa­ten, wie etwa Saudi-Arabien oder die Ver­ei­nig­ten Ara­bi­schen Emi­rate. Auf­fäl­lig war aber, dass der Iran, der auch beim Thema Homo­se­xua­li­tät der Hin­rich­tungs­welt­meis­ter ist, auf der Liste fehlte, ebenso wie Russ­land. Dafür stand dort die Ukraine, obwohl dort homo­se­xu­elle Hand­lun­gen gar nicht ver­bo­ten sind und sich seit dem Euro­mai­dan die Poli­tik für mehr Tole­ranz ein­setzt. Es waren aus­schließ­lich pro­west­li­che Staa­ten auf der Liste ver­zeich­net. Ich fragte dann nach, ob die­ses Weg­las­sen der Achse Moskau-Teheran-Damaskus geschul­det sei.

Das Pres­se­team ant­wor­tete: »Das Enga­ge­ment der LINKEN gegen Dis­kri­mi­nie­rung ist uni­ver­sell und nimmt weder Rück­sicht auf irgend­wel­che kon­stru­ier­ten Ach­sen‹ noch auf den Iran, auf Russ­land oder auf sonst­wen. Und auch nicht auf die­je­ni­gen, die mei­nen, der LINKEN bei wirk­lich jeder Gele­gen­heit die übels­ten Absich­ten unter­stel­len zu müs­sen.« Erst Jahre spä­ter erfuhr ich von der dama­li­gen Prak­ti­kan­tin, die den Auf­ruf geschrie­ben hatte, dass in der ursprüng­li­chen Liste natür­lich auch Iran und Russ­land stan­den. Aller­dings hatte der dama­lige que­er­po­li­ti­sche Spre­cher Mar­tin Dol­zer die Liste vor der Ver­öf­fent­li­chung abge­än­dert. Dol­zer gehört zu einem Kreis von Putin-Lobbyisten, die oft in Russ­land zu Gast sind. Und die ste­hen dann eben auch zu Putins Alliierten.

Untie­fen: Die isra­els­o­li­da­ri­schen Shalom-Arbeitskreise wie ihr waren von Anfang an mar­gi­nal in der Links­ju­gend Solid und Dis­sens besteht sicher nach wie vor in einer gan­zen Reihe von Fra­gen. Wie ist heute das Ver­hält­nis zur Linksjugend?

Vah­len­kamp: Der BAK Shalom in der Links­ju­gend Solid hatte zu Beginn einen schwe­ren Stand, auch wenn das in den ein­zel­nen Lan­des­ver­bän­den unter­schied­lich aus­ge­prägt war. Er wurde natür­lich immer vor dem Hin­ter­grund der »AntiD-Antiimp« Kon­tro­verse gese­hen. Aber dann gab es 2014 die von der Links­ju­gend Solid orga­ni­sierte Demo »Stoppt die Bom­bar­die­rung Gazas – für ein Ende der Eska­la­tion im Nahen Osten« in Essen. Daran nah­men höchst zwei­fel­hafte Gestal­ten teil, die anti­se­mi­ti­sche Sprech­chöre rie­fen, jüdi­sche Ein­rich­tun­gen anzu­grei­fen ver­such­ten und Gegen­de­mons­tran­ten mit Fla­schen bewar­fen. Das war eine Art Schock­mo­ment, der dazu führte, dass im Jahr dar­auf der Antrag »Gegen jeden Anti­se­mi­tis­mus« vom Bun­des­kon­gress der Links­ju­gend Solid beschlos­sen wurde.

Ich glaube, das war das erste Mal, dass ein Antrag vom BAK Shalom ange­nom­men wurde. Heute sind die Struk­tu­ren des BAK Shalom rela­tiv gut ein­ge­bun­den in die Arbeit der Links­ju­gend Solid, was man ja auch an der dies­jäh­ri­gen Erklä­rung »Trauer um die Toten – Hass für die Hamas!« erken­nen kann. Da haben sich einige aus der jüdi­schen und isra­els­o­li­da­ri­schen Com­mu­nity gewun­dert, dass so etwas von den Lin­ken kommt. Die den­ken ja oft, dass wir ihnen feind­lich geson­nen sind. Ich sehe den Jugend­ver­band ins­ge­samt auf einem guten Weg, auch wenn es vor Ort wei­ter­hin sehr unter­schied­lich bleibt.

Untie­fen: Und wie sieht es hier in Ham­burg für Euch aus?

Vah­len­kamp: Hier hapert es nicht zuletzt mit der inner­par­tei­li­chen Demo­kra­tie. Vor zwei Jah­ren haben wir uns als ham­bur­gi­scher Lan­des­ver­band der Eman­zi­pa­to­ri­schen Lin­ken zusam­men­ge­schlos­sen, nach­dem wir zunächst drei Jahre unter dem Dach des BAK Shalom im Jugend­ver­band orga­ni­siert waren. Die Eman­zi­pa­to­ri­sche Linke ist eine inner­par­tei­li­che Strö­mung, die sich an gesell­schafts­li­be­ra­len, radi­kal­de­mo­kra­ti­schen und eman­zi­pa­to­ri­schen Stand­punk­ten ori­en­tiert. Der Lan­des­vor­stand der Lin­ken wollte uns zunächst gar nicht als Zusam­men­schluss aner­ken­nen, obwohl er laut Sat­zung zur Aner­ken­nung ver­pflich­tet ist, wenn die for­ma­len Kri­te­rien erfüllt sind. Dem­entspre­chend konnte die Lan­des­schieds­kom­mis­sion den Nicht-Anerkennungs-Beschluss schnell wie­der aufheben.

Aber man sah uns im Lan­des­vor­stand wohl von Beginn an als Feinde. Unser Antrag an den Lan­des­par­tei­tag 2020, »Keine Lie­bes­grüße nach Mos­kau«, der sich kri­tisch mit Putins Kriegs­po­li­tik aus­ein­an­der­setzte, wurde von der Antrags­kom­mis­sion »ver­se­hent­lich« lay­out­tech­nisch der­ma­ßen zer­hackt, dass er kaum noch les­bar war, bevor der Par­tei­tag dann die Nicht­be­fas­sung beschloss. Im Früh­jahr 2021 haben wir eine Online-Veranstaltungsreihe zu Ver­schwö­rungs­my­then gemacht. Dafür beka­men wir von der Par­tei ein wenig Geld, was aller­dings im Nach­gang zu wüs­ten Debat­ten im Lan­des­vor­stand führte. Lus­ti­ger­weise hatte nie­mand inhalt­lich etwas an der Ver­an­stal­tungs­reihe aus­zu­set­zen, aber es wurde ein gro­ßer Alarm gemacht, dass man damit ja »Anti­deut­sche« unter­stüt­zen würde.

Untie­fen: Zieht ihr aus sol­chen und den neus­ten Ent­täu­schun­gen rund um die Kund­ge­bung poli­ti­sche Konsequenzen?

Ich bin gerne bereit, mit allen und über alles zu dis­ku­tie­ren. Aber dann möchte ich über Fak­ten spre­chen und nicht über gestreute Gerüchte oder Dog­men, die sich Leute in den 1970er Jahre so ange­wöhnt haben. Wenn man sich gegen Anti­se­mi­tis­mus ein­setzt, hat man ja auto­ma­tisch eine Menge Feinde, ob nun aus der Nazi-Szene, aus isla­mis­ti­schen Zir­keln oder in den letz­ten Jah­ren ver­mehrt auch aus dem Aluhut-Milieu. Da kann man dann nicht auch noch »Fri­endly Fire« aus der eige­nen Par­tei gebrau­chen. Außer­dem haben wir natür­lich eine gewisse Ver­ant­wor­tung gegen­über unse­ren Sym­pa­thi­san­ten, die wir in den letz­ten Jah­ren gewon­nen haben. Allein bei Face­book fol­gen uns über 800 Leute. Die meis­ten sind par­tei­lich nicht gebun­den. Die kom­men dann zu unse­ren Info­ver­an­stal­tun­gen und Demos, lesen unsere Texte, hören unsere Rede­bei­träge und den­ken sich: »Oh, es gibt sta­bile Leute in der Lin­ken. Dann wähle ich die.«

Aber wen wäh­len sie damit in Ham­burg? Sie wäh­len die Spit­zen­kan­di­da­tin Żaklin Nas­tić. Also die Frau, die Angela Mer­kel wegen »Bei­hilfe zum Mord« ange­zeigt hat, weil sie die Liqui­die­rung des Top­ter­ro­ris­ten Qasem Sol­ei­mani nicht ver­hin­dert hat. So ein Vor­ge­hen ist zum einen ziem­lich gaga, zum ande­ren zeigt es aber auch, wo die »Spre­che­rin für Men­schen­rechts­po­li­tik« so ihre Prio­ri­tä­ten sieht und bei wem ihre Sym­pa­thien lie­gen. Dann will man auf­sprin­gen und schreien: »Nein, nein, wählt sie nicht!« Ich fühle mich da wie Oskar Lafon­taine, der ja mitt­ler­weile auch zur Nicht-Wahl der Lin­ken auf­ruft, wenn auch aus gänz­lich ande­ren Grün­den. Ich möchte aber authen­tisch blei­ben und trete dann kon­se­quen­ter­weise aus der Par­tei Die Linke aus. Ich finde mich weder in der Außen­po­li­tik noch in dem gan­zen Dog­ma­tis­mus der Lin­ken heute noch wieder.

Untie­fen: Planst Du in eine andere Par­tei ein­zu­tre­ten? Oder setzt Du deine Arbeit par­tei­los fort?

Vah­len­kamp: Ich sehe mich heut­zu­tage als Sozi­al­li­be­ra­len. Und als sol­cher stimme ich am ehes­ten mit den Posi­tio­nen von Bündnis90/Die Grü­nen über­ein. Des­halb werde ich dort dem­nächst einen Antrag auf Mit­glied­schaft stel­len. Ein »Par­tei­sol­dat« werde ich aber in die­sem Leben wohl nicht mehr. Dafür habe ich dann doch zu oft mei­nen eige­nen Kopf. Glück­li­cher­weise leben wir aber ja in einer Gesell­schaft, in der es viel­fäl­tige Mög­lich­kei­ten gibt, sich ein­zu­brin­gen. Und das werde ich sicher­lich auch wei­ter­hin tun.

Untie­fen: Danke für das Gespräch!