Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg
Die deutsche Geschichte ist für radikal rechte Parteien ein zentrales Agitationsfeld. Auch die Hamburger AfD verbreitet einerseits immer wieder klassisch revisionistische Thesen, die vor allem den Holocaust und die Kolonialgeschichte umdeuten. Vor allem aber vertritt sie einen nostalgischen Nationalismus, der für die eigene politische Agenda durch gezieltes Auswählen und Verschweigen Mythen über die deutsche Vergangenheit entwirft.
Bezugspunkt des rechten Revisionismus: Der erste Reichskanzler und Sozialistenjäger Otto von Bismarck. Das deutschlandweit größte Denkmal für ihn steht auf St. Pauli. Foto: Marco Hosemann
Das Verhältnis zur deutschen Vergangenheit ist die zentrale Eintrittskarte in den politischen Diskurs der BRD. Offene Holocaustleugnung oder ‑relativierung sind nicht nur strafbar, sondern auch politisch äußerst schädlich. Bei der populistischen, als Verteidigerin der Demokratie auftretenden AfD spielen sie daher auch in Hamburg nur eine untergeordnete Rolle. Dennoch wird immer wieder erkennbar, dass es sich hier um strategische Zurückhaltung handelt.
Offener Revisionismus
Bekannt sind etwa NS-Relativierungen des Hamburger AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Baumann, frühere revisionistische Kommentare des derzeitigen Hamburger AfD-Pressesprechers Robert Offermann und der Verdacht auf antisemitische Aussagen eines Mitarbeiters der Bürgerschaftsfraktion. Am meisten Aufsehen erregte wohl der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD in der Bürgerschaft, Alexander Wolf. 2017 wurde bekannt, dass er 1994 eine Sammlung von NS-Liedern unter dem Titel „Schlachtruf“ herausgab, in deren Vorbemerkungen er mit Blick auf die Kapitulation Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg zu einem „entschlossenen ‚Nie wieder!’“ aufrief.
Überhaupt, Alexander Wolf: Er ist in der Bürgerschaftsfraktion der Mann für die provokanten historischen Thesen. So behauptete er etwa im März 2023 in der Bürgerschaft, die Nazis hätten sich „keineswegs als rechts, sondern bewusst als Sozialisten“ verstanden. Die DDR und den NS-Staat parallelisierte er als „Diktaturen“, um sogleich zu seinem eigentlichen Anliegen zu kommen, nämlich der Lüge, auch der heutige Kampf gegen Rechts sei wieder ähnlich eine ähnliche „Freiheitseinschränkung“ und „Ausgrenzung“.
„Vogelschiss“ als Programm: der nostalgische Nationalismus
Diese offenen Relativierungen sind aber die Ausnahme. Die wirkliche geschichtspolitische Strategie der Hamburger AfD besteht darin, die Gaulandsche Rede vom „Vogelschiss“ in die Praxis umzusetzen. In den Beiträgen der AfD-Abgeordneten findet sich kaum eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oder mit der Kolonialgeschichte. Und wenn diese Themen berührt werden, dann geht es stets darum, für die radikal rechte Politik nostalgisch-nationalistische, positive Ankerpunkte in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu finden.
Historische Würdigung fordert die AfD etwa für folgende Gruppen: die Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg („Höhepunkt des deutschen Widerstands“), die Opfer der alliierten Bombardierung Hamburgs im Juli 1943 („Kriegsverbrechen“), die Aufständigen vom 17. Juni 1953 in der DDR („identitätsstiftendes Datum“) sowie für die an der Grenzen zwischen DDR und BRD Ermordeten und den Mauerbau 1961 („Schicksalsdatum der deutschen Nation“).
Und die im Jahr 2020 aufgekommenen Rufe nach einem Denkmal für die Leistungen der sogenannten türkischen „Gastarbeiter“ konterte Wolf im November 2021 mit der Forderung, stattdessen ein Denkmal für „Trümmerfrauen“ zu schaffen.
Das Kaiserreich soll rechtsradikale Herzen wärmen
Neben den deutschen Opfern alliierter Bomben und kommunistischer SED-Herrschaft sowie patriotischen konservativen Generälen steht vor allem das Deutsche Kaiserreich im Zentrum der AfD-Geschichtspolitik. Eine Folge des Podcasts „(Un-)Erhört!“ der Hamburger AfD-Fraktion vom Januar 2021 zum 150. Jahrestag der Reichsgründung 1871 illustriert das.
Zum eingangs gespielten „Heil dir im Siegerkranz“ spricht Wolf von einem „der glücklichsten Momente der deutschen Geschichte“. Heutige Politiker:innen würden sich jedoch der Erinnerung daran verweigern, sie hätten ein „gestörtes Verhältnis zur „eigenen Geschichte“. So hätte die „über tausendjährige Geschichte Deutschlands“ zwar „problematische Seiten“, doch sei sie eben auch „mehr“. Ab dort verschwindet der Nationalsozialismus aus dieser Erzählung und das heutige Deutschland wird schlicht in Kontinuität zum Kaiserreich gesetzt. Das ist eine ganz bewusste Konstruktion einer Tradition, die nur über Auslassung funktioniert. An die „positiven Momente der Geschichte“ soll erinnert werden, so Wolf weiter, „weil das unsere Identität prägt. Eine Nation lebt nicht nur von der Ratio und von der Verfassung, sondern auch von einem positiven Gemeinschaftsgefühl.“ Nur daraus könnten „Solidarität und Miteinander erwachsen.“
Gereinigt werden soll die deutsche Geschichte also nicht, indem der Holocaust geleugnet wird. Der „Schuldkult“-Vorwurf wird hier subtiler formuliert: Der bedingten Anerkennung der Verbrechen in den 12 Jahren NS-Herrschaft wird eine saubere Version der vermeintlich anderen 988 Jahre deutscher Geschichte und deutschen Glanzes entgegengestellt.
Bismarck, Begründer des deutschen Kolonialreiches, strahlt frisch renoviert.Foto: Marco Hosemann
Mit Bismarck gegen die Wahrheit
Diese Strategie zeigt sich auch an der Position der AfD zur Debatte um das Otto von Bismarck-Denkmal auf St. Pauli. In einer Folge des besagten Podcasts vom Juli 2021 zeichnet Wolf den ersten Reichskanzler als eine positive Figur der deutschen Geschichte. Die geforderte Neu-Kontextualisierung des Denkmals sei selbst Geschichtsrevisionismus, schließlich würde Bismarck dabei „aus dem Blickwinkel eines Antifanten und einer Feministin“ gesehen. Die sogenannte Westafrika-Konferenz 1884/85 in Berlin, zu der Bismarck einlud und bei der die europäischen Großmächte den afrikanischen Kontinent als Kolonialbesitz unter sich aufteilten, verschweigt Wolf dabei nicht. Aber er stellt sie als rein friedensstiftende Maßnahme zur Sicherung der innereuropäischen Ordnung dar. Das funktioniert wiederum nur durch Ausblenden der Folgen für die kolonisierten Bevölkerungen außerhalb Europas. Aber mehr noch: Kolonialismus ist für Wolf „nicht per se von vornherein schlecht“. Denn es sei „viel Positives geleistet worden, Infrastruktur, Gesundheit etc.“ Es dürfe eben nicht „einseitig die negative Brille“ aufgesetzt werden, wie es bei der Black Lives Matter-Bewegung geschehen sei. So hält Wolf dann auch die gängige Forschungsposition, dass die Deutschen 1904/5 in Südwestfrika einen Völkermord begangen haben, für „absurd“, ja „Quatsch“. Man sieht: Obwohl nostalgischer Nationalismus die Kernstrategie der AfD Hamburg ausmacht, ist der zu offenem Revisionismus schnell gemacht.
Zamzam Ibrahim durfte auf Kampnagel sprechen. Während draußen eine propalästinensische Demo antizionistische Parolen brüllte, eröffnete sie das Klima-Festival online per Zoom – und setzte mit ihrer Mischung aus Esoterik und raunender ›Systemkritik‹ den Ton fürs Wochenende. Jüdische und antisemitismuskritische Stimmen wurden von diesem ›vielstimmigen‹ Chor übertönt.
»There is no climate justice with the muderers of Iranian women.« Demonstrant:innen am Donnerstag vor Kampnagel. Foto: Screenshot Instagram
»Ich sollte nicht hier sein.« Diesen Satz äußerte Dor Aloni in einem so persönlichen wie politischen Statement, das er seiner Performance Atlantis am Donnerstagabend im Saal K4 auf Kampnagel voranstellte und in dem er seiner Kritik an der Einladung Zamzam Ibrahims deutlichen Ausdruck verlieh. Alonis Satz lässt sich auf zwei Arten verstehen: als Feststellung, dass er als jüdisch-israelischer Theatermacher auf einem Klimafestival, das von einer antisemitischen Rednerin eröffnet wurde, fehl am Platze ist; und als Hadern mit seiner Entscheidung, nun auf Kampnagel aufzutreten, obwohl Zamzam Ibrahim nicht ausgeladen wurde.
Denn seit Aloni Anfang der Woche erfahren hatte, wessen Keynote-Vortrag den Klimaschwerpunkt »How Low Can We Go?« eröffnen solle, in dessen Rahmen auch er auftreten würde, konnte er nicht mehr ruhig schlafen. Auch davon sprach er in seinem Statement. Für ihn, dessen Familie in Israel lebt und der durch den antisemitischen Terror der Hamas vom 7. Oktober auch Kolleg:innen verloren hat, war der Gedanke unerträglich, einen (Diskurs-)Raum mit einer Aktivistin zu teilen, die den Terror der Huthi im Jemen und der Hamas in Israel als ›Widerstand‹ verklärt. Am Dienstag hatte er daher bei der Kampnagel-Leitung interveniert und deutlich gemacht, dass für ihn hier eine rote Linie überschritten ist: Entweder Ibrahim wird ausgeladen, oder er sagt seine Auftritte ab.
Kampnagel befand sich dadurch in einer misslichen Lage: Dass ein jüdischer Künstler sich aus Protest gegen die Tolerierung antisemitischer Positionen und aus Sorge um sein Wohlbefinden zurückzieht, wäre für ein – laut Selbstdarstellung »diskriminierungssensibles« – deutsches Theater gelinde gesagt problematisch. Aber eine antiisraelische Aktivistin auszuladen, zumal eine, die Schwarz und muslimisch ist, hätte Kampnagel wohl ebenso geschadet, insbesondere in der internationalen ›freien Szene‹, in der Terrorapologie weithin als ›Israelkritik‹ zu gelten scheint und jede Kritik daran als ›Silencing‹ und ›Cancel Culture‹ beklagt wird.
Um wessen Sicherheit geht es?
Man kann sich vorstellen, wie der »empathische Dialog« (Kampnagel-Leitbild) aussah, in dem Aloni unter Druck gesetzt wurde, Kampnagel doch nicht in diese Lage zu bringen. Und tatsächlich ließ er sich auf einen Alternativvorschlag ein: Am Mittwoch verkündete Kampnagel, dass man Zamzam Ibrahim nicht auslade, dass sie aber nur online, per Zoom-Zuschaltung, sprechen werde. Dies als Kompromiss oder salomonische Lösung zu bezeichnen, wäre jedoch völlig verfehlt. Denn erstens bot man Ibrahim so weiterhin eine Bühne (und sogar eine größere als zuvor); und zweitens wurde in der am Mittwochabend veröffentlichten Erklärung der Antisemitismus konsequent entnannt, während Ibrahim zum Opfer einer rassistischen Kampagne stilisiert wurde.
Zu den »Antisemitismusvorwürfen« gegen Ibrahim äußert Kampnagel sich in der Erklärung mit einer Distanzierung, die sich schwächer nicht formulieren ließe: »In der Tat sind von der Speakerin Äußerungen bekannt geworden, die auch wir so nicht teilen können.« Nicht ›antisemitische Äußerungen‹ oder wenigstens ›Äußerungen, die wir nicht teilen‹, sondern: ›Äußerungen, die wir so nicht teilen können.‹ Was mag das heißen – so nicht, aber in anderer Form schon? Kampnagel wollte dazu auf Nachfrage nichts antworten.1Wenn Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard gegenüber Untiefen lediglich allgemein proklamiert: »Wir distanzieren uns in aller Deutlichkeit von antisemitischen und israelfeindlichen Haltungen«, muss sie sich die Frage gefallen lassen: Wo war diese Deutlichkeit im konkreten Falle Zamzam Ibrahims?
Als verantwortlich für die Verlegung ins Internet präsentiert die Erklärung nicht Ibrahims Antisemitismus, sondern zum einen das mangelnde Vertrauen »Einzelner« in die Versicherung Kampnagels, »dass es im Rahmen des Klimaschwerpunktes zu keiner antisemitischen Äußerung kommen wird«, und zum anderen die mediale Verbreitung der Kritik und die dadurch laut werdenden »Aufrufe zum Verhindern der Keynote«. Beklagt wird schließlich noch, die Berichterstattung habe »rassistische und islamfeindliche Narrative« hervorgerufen. Auch wenn vage von der »Sicherheit aller Anwesenden« geschrieben wird, ist der Tenor deutlich: Weil Ibrahim von einem aufgeheizten Mob bedroht werde, könne sie zu ihrem eigenen Schutz nur online sprechen.
Es ist eine klassische Form des relativierenden Umgangs mit Antisemitismus: Als Problem gilt nicht der Antisemitismus selbst, sondern der Umstand, dass er benannt und kritisiert wird – und dass Konsequenzen aus dieser Kritik gefordert werden.2Auch in Ihren Eröffnungsworten nannte Amelie Deuflhard die Debatte als Grund für die Verlegung ins Internet: »The controversy around the keynote made us decide to place it online.« Als Problem gilt nicht der Antisemitismus, sondern der ›Antisemitismusvorwurf‹, gelten also Menschen, die es für falsch halten, eine Antisemitin unwidersprochen öffentlich reden zu lassen. Und weil es nun einmal oft die Betroffenen selbst sind, die gegen Antisemitismus einstehen, heißt das: Als Problem gelten Jüdinnen und Juden. Vom Kampnagel-Statement zum am Donnerstag in antiisraelischen Kreisen zirkulierenden Aufruf, die »Hetze« gegen Ibrahim zu stoppen, ist es nur ein kleiner Schritt. Man nennt das Täter-Opfer-Umkehrung.
Nicht gar so offene Debattenräume
Symptomatisch war hierfür das Bild, das sich am Donnerstagabend vor Kampnagel bot. Etwa dreißig Kritiker:innen des Antisemitismus – darunter Mitglieder des Jungen Forums der DIG Hamburg und der jüdischen Gemeinde sowie Exiliraner:innen – versammelten sich dort gegen halb sechs, um gegen die Einladung Ibrahims zu protestieren. Zahlenmäßig überlegen war jedoch eine spontan angemeldete antiisraelische Gegenkundgebung, die von der Polizei in Sicht- und Hörweite vorgelassen wurde.
Dank Lautsprecheranlage übertönten deren Sprechchöre zudem diejenigen der Kundgebung gegen Antisemitismus. Und im Gegensatz zum Anti-Antisemitismus konnte der Israelhass auf ein großes Repertoire griffiger Slogans zurückgreifen – neben dem notorischen »From the river to the sea« gehörte dazu am Donnerstag etwa »Alle zusammen gegen Zionismus«. Die antisemitismuskritischen Demonstrant:innen wurden als ›Verteidiger eines Genozids‹ verleumdet.
Drinnen, in der Installation »Cruise Tentare«, eröffnete Amelie Deuflhard währenddessen kurz angebunden den Klima-Schwerpunkt vor ca. vierzig etwas desorientierten Gästen. Die eigentlich für 18:15 Uhr angekündigte Keynote von Zamzam Ibrahim war wenige Minuten vor dem geplanten Beginn auf 19:45 Uhr verlegt worden. Der Hintergrund dieser Verschiebung ist brisant: Die Kampnagel-Leitung wollte dem Radiosender NDR 90,3 untersagen, O‑Töne aus Ibrahims Keynote-Vortrag für die Berichterstattung zu nutzen. Die Kulturredaktion von NDR 90,3 wandte sich in der Sache an ihr Justiziariat, das ein derartiges Verbot als unzulässig erachtete. Auch das daraufhin kontaktierte Justiziariat von Kampnagel folgte dieser Einschätzung. Kampnagel entschied sich vor diesem Hintergrund gegen eine Live-Übertragung und stellte – anderthalb Stunden später als eigentlich geplant – eine Aufzeichnung des Gesprächs online.3Das Video ist nun auch wieder aus dem Internet verschwunden – samt vieler kritischer Kommentare. Ein erstaunliches Verhalten für ein Haus, das stets die Notwendigkeit offener Debatten betont.
Auf Nachfrage erläutert Amelie Deuflhard, Ibrahim habe zunächst nur einer einmaligen Veröffentlichung ihrer Rede zugestimmt, nicht aber einer Aufzeichnung; erst nach erneuter Rücksprache habe Ibrahim die Zustimmung, O‑Töne zu verwenden, erteilt. »Zu keiner Zeit wurde die freie Presseberichterstattung über die Rede Zamzam Ibrahims beschränkt oder sollte beschränkt werden.« Doch wie sonst soll man es bezeichnen, wenn einem Radiojournalisten untersagt werden soll, O‑Töne aus einem öffentlichen Vortrag für seine Berichterstattung zu verwenden?
Climate Justice lies with God?
Ibrahims Keynote-Vortrag war dann eine Mischung aus religiös-esoterischem Pathos und raunender ›Systemkritik‹. Zur Klimagerechtigkeit hatte sie nur Gemeinplätze zu bieten. Stattdessen war ihre Rede voll von Anspielungen auf das Thema, über das zu sprechen ihr ›verboten‹ worden war: »I wouldn’t be me without talking about the pain and suffering that is happening this very second«, proklamierte sie, und sprach sodann von »Genoziden«, die wir alle live auf unseren Bildschirmen verfolgen könnten. Zu diesem raunenden Sprechen in Anspielungen passte auch ihr Outfit – ein weißer Pullover mit einem Print der Jerusalemer al-Aqsa-Moschee, der gerade deutlich genug zu sehen war, um die Botschaft erkennen zu lassen, und gerade unauffällig genug, um sich keinen Bruch der Abmachung vorwerfen lassen zu können.
Zamzam Ibrahim atmet in ihrem Vortrag good vibes ein. Foto: Screenshot Youtube
In politischer Hinsicht offenbarte Ibrahim ein mit religiösem Pathos aufgeladenes Schwarz-Weiß-Denken – Gerechtigkeit vs. Unterdrückung, Gut vs. Böse, Globaler Süden vs. Globaler Norden, ›wir‹ gegen ›die‹. Eine Anerkennung von Widersprüchen suchte man vergeblich: »You are either part of the problem or part of the solution. There is no other side to this coin.« Dieses dichotome Denken verband sich mit einer raunenden Verdammung ›des Systems‹, das jede Kritik mundtot zu machen und jeden Widerstand im Keim zu ersticken versuche.4»You see, when you stand on the side of justice, the systems of oppression that we seek to break down will try to deplatform you, but no sensations headlines or lies can ever win against you.« Gegen eine politisch-ökonomische Ordnung, die auf white supremacy, Rassismus, Ausbeutung und Gier beruhe und »profit over people« stelle, brachte Ibrahim die Vorstellung einer »green economy« in Anschlag, die den Bedürfnissen der Menschen und unseres Planeten diene.5Wörtlich heißt es in der Rede: »See, the fight against climate change is a fight against all systems that fuel the climate crisis: white supremacy, racism, economic exploitation, greed – I could be here all day.« Und weiter: »We need a green economy, financial systems that exist to serve the needs of people and our planet.« Diese von Gier befreite »green economy« klingt auffällig ähnlich wie das Programm des »Islamic Banking«, das als ein mit der Scharia konformes Finanzwesen etwa im Iran propagiert wird.
Mögen diese Ausführungen auch nicht explizit antisemitisch gewesen sein – ihre Nähe zu dem, was der Künstler Leon Kahane in einem Interview mit dem Ausdruck ›Antisemitismus als Kulturtechnik‹ bezeichnet, ist evident: »Antisemiten positionierten sich immer gegen das Establishment und gesellschaftliche Zwänge und für etwas vermeintlich Fortschrittliches. Der Antisemitismus als Kulturtechnik ist der Versuch, Widersprüche aufzulösen – zur Not mit Gewalt. Die eigenen Konflikte und das eigene Böse werden externalisiert und auf Jüdinnen und Juden oder den jüdischen Staat Israel projiziert.«
Aloe Vera streicheln für mehr Klimagerechtigkeit – ein Workshop auf Kampnagel. Foto (Ausschnitt): Screenshot Instagram.
Es fragt sich zudem, was genau Ibrahims Rede zum Problem der Klimagerechtigkeit beizutragen hatte. Wenn es in der Erklärung von Kampnagel heißt, »Ibrahims Perspektive bleibt für den Diskursschwerpunkt des Festivals ein wichtiger Bestandteil«, bleibt offen, worin genau diese ›Perspektive‹ liegt. Mit ihrem Denken in Dichotomien und ihrer religiös-esoterisch verbrämten Systemkritik gab Ibrahim aber zumindest einen Vorgeschmack darauf, was im Rest des Diskursprogramms passierte – etwa die Beschwörung eines Olivenbaums als Zeuge oder das »öko-intime« Streicheln von Aloe-Vera-Pflanzen. Wenn das die von Kampnagel versprochenen neuen »Strategien im Klimadiskurs« sind, ist wenig Grund zur Hoffnung.
Antisemit:innen mit Grund zum Jubeln
Draußen vor Kampnagel hatte sich die antisemitismuskritische Kundgebung derweil aufgelöst, die Gegenkundgebung blieb jedoch noch eine Weile vor Ort, um in ausgelassener Stimmung bei lauter Musik zu tanzen und ihren Sieg zu feiern. Man feiere, »dass Kampnagel nicht vor den Zionisten eingeknickt ist«, erklärte eine Demonstrantin. Und bevor die Lautsprecheranlage abgebaut wurde, rief der Versammlungsleiter zum Abschluss noch einmal ins Mikro: »Danke, Kampnagel!«
Die Hamasfans vor Kampnagel hatten Grund zum Feiern. Foto (Ausschnitt): Screenshot Instagram.
»Danke, Kampnagel!« ist auch der Tenor der propalästinensischen Kommentare in den sozialen Medien. Die Verlegung von Zamzam Ibrahims Vortrag ins Internet wird hier keineswegs als ›Einknicken‹ verstanden.6Daher ist auch der Bericht im Hamburger Abendblatt irreführend, der behauptet, die propalästinensische Demo habe gegen die Verlegung von Ibrahims Vortrag ins Internet demonstriert, und die Situation also so darstellt, als werde Kampnagel von zwei Seiten gleichermaßen angegriffen. Richtig ist: Diejenigen, die für Zamzam Ibrahim demonstrierten, sahen sich mit Kampnagel auf derselben Seite – und das zu Recht. Davon zeugen vor allem viele Kommentare zur Erklärung von Kampnagel auf Instagram.7Ein Statement der im Workshopprogramm von »How Low Can You Go« auftretenden Künstlerin Niya B brint diese Sicht auf den Punkt: »[…] they [Kampnagel] are refusing to cancel speakers who are falsely branded as antisemitic. In the current climate, this is a bold public statement for a German cultural institution.« Und auch Ibrahim selbst präsentierte sich nach ihrem Auftritt als Siegerin. In ihrer Instagram-Story zeigt sie sich mit Siegerlächeln, Victoryzeichen und dem nun in Gänze sichtbaren al-Aqsa-Moschee-Pullover, den sie auch schon bei der Keynote trug. Ergänzt ist dieses Bild um die Worte: »Just Germanys most hated climate activist reporting in let you all know, I’m doing great and also to remind ya’ll… Ain’t Climate Justice without a FREE PALESTINE«.
Zamzam Ibrahim feiert nach ihrer Keynote… Fotos: Screenshot Instagram
… und zeigt ihre Haltung nochmal überdeutlich.
Kampnagel ›verlernresistent‹
Für all jene, die gegen Antisemitismus einstehen, endete die Debatte um Ibrahims Auftritt so in einer Niederlage. Und hegte man die Hoffnung, dass man zumindest auf Kampnagel etwas aus den Vorfällen gelernt (oder eher, wie es im Jargon heißt, verlernt) habe, wurde man ebenfalls enttäuscht. Gegenüber Untiefen sagte Amelie Deuflhard zwar: »Den Prozess rund um den Schwerpunkt zur Klimagerechtigkeit werden wir gründlich aufarbeiten. Dabei nehmen wir die geäußerte Kritik ernst und setzen uns damit auseinander, was der Vorgang für jüdisches und antisemitismuskritisches Publikum hervorgerufen hat.« Bisher deutet aber nichts darauf hin, dass man sich auf diese Ankündigung verlassen könnte.
Eher das Gegenteil ist der Fall: Deuflhard zeigte sich nach der Keynote in ihrer Entscheidung bestärkt. Ibrahims Vortrag bezeichnete sie gegenüber NDR 90,3 als »ausgewogene, gemäßigte und kämpferische Rede für alle«. Und auf die Frage, ›ob es das wert war‹, antwortete sie: »Es war’s vielleicht wert dafür, dass es keine gute Idee ist, dass wir unterschiedliche Stimmen von schwarzen Aktivistinnen, von muslimischen Aktivistinnen verstummen lassen. Wir müssen ohne solche harten Anwürfe diskutieren können«. Mit den »harten Anwürfen« ist fraglos die vornehmlich von Jüdinnen und Juden geäußerte Benennung von Ibrahims Positionen als antisemitisch gemeint. Die Botschaft ist also deutlich: Kampnagel will den ›vielstimmigen Diskurs‹ gerne ohne antisemitismuskritische jüdische Stimmen führen.
Diese Erkenntnis ist bitter enttäuschend. In Enttäuschung aber steckt zumindest immer auch die aufklärerische Dimension einer Desillusionierung. Die Vorgänge um den Auftritt Zamzam Ibrahims waren gut geeignet, Illusionen zu verlieren – allen voran die Illusion, dass man Kampnagel im Kampf gegen Antisemitismus zu den Verbündeten zählen könne.
Anti-Antisemitismus bleibt Handarbeit
Enttäuscht in diesem Sinne sind auch einige Kampnagel-Künstler:innen. Dor Aloni fand in einem Interview mit Zeit Online am Dienstag klare Worte: »Für mich ist das eine politische Frage, ich finde, die Relativierung des Holocaust und die Rechtfertigung des Hamas-Massaker keine Position, die man mit anderen konträren Positionen diskutieren kann. Kampnagel hat den Anspruch, sichere Räume für bedrohte und marginalisierte Gruppen zu bieten. Ich habe den Eindruck, dass das für Juden so nicht gilt.«
Und der Performancekünstler Tucké Royale kommentierte auf Instagram, das Verhalten Kampnagels zeige die gefährliche Tendenz, dass in Sachen Antisemitismus aufs Bauchgefühl gehört wird statt auf die Antisemitismusforschung und auf Jüdinnen und Juden: »Ein absoluter Irrtum zu denken, dass sich Antisemitismuskritik und Antirassismus ausschließen.« Ansonsten aber wurde Ibrahims Antisemitismus von Künstler:innen aus dem Kampnagel-Umfeld geleugnet oder legitimiert – oder es herrschte Schweigen. Das zeigt: Sich hier offen gegen Antisemitismus und Israelhass zu stellen, macht schnell einsam.
In ihrer Eröffnungsrede am Donnerstag sagte Amelie Deuflhard: »Ich bin mir sicher, dass uns diese Kontroverse auch in den nächsten Wochen und Monaten beschäftigen wird.« Damit das keine leeren Worte bleiben, gilt es, diesen Satz als Aufforderung zu verstehen. Hätte es keine kritische Öffentlichkeit gegeben, wäre der Antisemitismus Zamzam Ibrahims nicht einmal Thema geworden; ohne eine weiterhin kritische Öffentlichkeit wird die Debatte auch keine Konsequenzen haben.
Lukas Betzler
Der Autor hat vor einer Woche eine ausführliche Recherche zum Antisemitismus Zamzam Ibrahims veröffentlicht.
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Wenn Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard gegenüber Untiefen lediglich allgemein proklamiert: »Wir distanzieren uns in aller Deutlichkeit von antisemitischen und israelfeindlichen Haltungen«, muss sie sich die Frage gefallen lassen: Wo war diese Deutlichkeit im konkreten Falle Zamzam Ibrahims?
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Auch in Ihren Eröffnungsworten nannte Amelie Deuflhard die Debatte als Grund für die Verlegung ins Internet: »The controversy around the keynote made us decide to place it online.«
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Das Video ist nun auch wieder aus dem Internet verschwunden – samt vieler kritischer Kommentare.
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»You see, when you stand on the side of justice, the systems of oppression that we seek to break down will try to deplatform you, but no sensations headlines or lies can ever win against you.«
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Wörtlich heißt es in der Rede: »See, the fight against climate change is a fight against all systems that fuel the climate crisis: white supremacy, racism, economic exploitation, greed – I could be here all day.« Und weiter: »We need a green economy, financial systems that exist to serve the needs of people and our planet.« Diese von Gier befreite »green economy« klingt auffällig ähnlich wie das Programm des »Islamic Banking«, das als ein mit der Scharia konformes Finanzwesen etwa im Iran propagiert wird.
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Daher ist auch der Bericht im Hamburger Abendblatt irreführend, der behauptet, die propalästinensische Demo habe gegen die Verlegung von Ibrahims Vortrag ins Internet demonstriert, und die Situation also so darstellt, als werde Kampnagel von zwei Seiten gleichermaßen angegriffen. Richtig ist: Diejenigen, die für Zamzam Ibrahim demonstrierten, sahen sich mit Kampnagel auf derselben Seite – und das zu Recht.
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Ein Statement der im Workshopprogramm von »How Low Can You Go« auftretenden Künstlerin Niya B brint diese Sicht auf den Punkt: »[…] they [Kampnagel] are refusing to cancel speakers who are falsely branded as antisemitic. In the current climate, this is a bold public statement for a German cultural institution.«
Der geplante Auftritt der antisemitischen Klimaaktivistin Zamzam Ibrahim in der Kulturfabrik Kampnagel sorgt für Empörung. Die Kritik an Ibrahim ist mehr als berechtigt, der Eklat legt jedoch vor allem grundsätzliche Probleme offen.
»Wie tief kann man sinken?«, fragt Kampnagel – und erleidet dabei leider selbst Schiffbruch. Foto: Screenshot kampnagel.de
Eigentlich soll sich auf Kampnagel von Donnerstag bis Samstag alles um die gesellschaftlichen Herausforderungen durch die Klimakatastrophe drehen. Der dreitägige Schwerpunkt unter dem Titel How Low Can We Go? umfasst drei (Theater-)Performances, eine Performance-Installation sowie ein Workshop- und Vortragsprogramm. Gemeinsam sollen diese Formate zu einer kollektiven »Reorientierung« angesichts der Klimakatastrophe, der »wahrscheinlich langfristigsten politischen Mega-Krise unserer Zeit«, beitragen, wie es in der Ankündigung heißt.
Jetzt erhält die Veranstaltungsreihe breite mediale Aufmerksamkeit. Im Fokus stehen jedoch nicht die Herausforderungen der Klimakatastrophe, sondern die Gefahren des Antisemitismus. Grund dafür ist die Einladung der britischen Aktivistin Zamzam Ibrahim, die den Klima-Schwerpunkt mit einem Keynote-Vortrag »über intersektionale Aspekte von Klimagerechtigkeit« eröffnen und einen ›Safer-Space‹-Workshop für BIPoC (Schwarze, Indigene und People of Color) leiten soll.
Der Antisemitismusbeauftragte der Stadt Hamburg, Stefan Hensel, kritisierte diese Einladung in einer Pressemitteilung am Montag scharf: Kampnagel biete »einer ausgewiesenen Antisemitin […] eine Bühne«, lasse damit die Jüdinnen und Juden Hamburgs im Stich und wiederhole die Fehler der Documenta fifteen. Hensels Kritik, die sich zudem an den Kultursenator Carsten Brosda richtete, dessen Behörde den dreitägigen Klimaschwerpunkt finanziell unterstützt, wurde in den Medien schnell und breit rezipiert.
Wo verlaufen die ›roten Linien‹?
Hensel fordert, Ibrahim auszuladen: Sie unterstütze die antisemitische BDS-Kampagne gegen Israel und relativiere den Hamas-Terror, schreibt er mit Verweis auf Social-Media-Aktivität und öffentliche Auftritte Ibrahims. Amelie Deuflhard hingegen, die Intendantin von Kampnagel, verteidigt die Einladung: Man habe Ibrahim eingeladen, weil sie Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit verbinde, wird Deuflhard im Hamburg-Journal zitiert. Außerdem werde sie am Donnerstag nicht über den ›Nahostkonflikt‹ sprechen und habe im persönlichen Gespräch auf Nachfrage bestätigt, »dass sie den Anschlag der Hamas [vom 7. Oktober 2023] klar verurteilt«.
Der von Hensel ebenfalls adressierte Kultursenator Carsten Brosda zeigt sich kritischer: Ibrahim sei »aufgrund ihrer teils antisemitischen Äußerungen im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt zu Recht auf Kritik gestoßen«, urteilte er in einer Stellungnahme. Politischen Eingriffen in die Programmgestaltung von Kultureinrichtungen stehe er allerdings kritisch gegenüber; die Absage der Veranstaltungen mit Zamzam Ibrahim wollte er nicht fordern. Dass er dabei auf die Kunstfreiheit verwies, erstaunt jedoch, schließlich ist Ibrahim dezidiert als Aktivistin eingeladen, nicht als Künstlerin.
Dass alle Beteiligten an der Debatte ihre anti-antisemitische Haltung betonen, versteht sich. Deuflhard etwa benennt ihre ›roten Linien‹ in Sachen Antisemitismus – »die Absprache des Existenzrechtes Israels, Aufrufe zu Gewalt oder Hass gegenüber Juden und Jüdinnen«. Der Streit scheint sich somit mal wieder um die Frage zu drehen, wo genau diese ›roten Linien‹ verlaufen und wann sie erreicht sind: ob etwa die Unterstützung der BDS-Kampagne oder die Behauptung, Israel begehe in Gaza einen Genozid, auszuhaltende politische Positionen oder eine nicht zu tolerierende Form des Antisemitismus darstellen.
Deuflhard hat – wie auch Kultursenator Carsten Brosda – im Jahr 2020 die Erklärung der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit unterzeichnet, die im Namen der Vielfalt gegen die BDS-Resolution des Bundestags Stellung bezieht: »Unter Berufung auf diese Resolution werden durch missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt«, so die Erklärung.
Ist die Debatte also eigentlich nur eine um unterschiedliche Antisemitismusdefinitionen, wie Deuflhard es auch am Dienstag Abend im Hamburg Journaldarstellte? Ist es schlicht so, dass Ibrahims Äußerungen gemäß IHRA-Definition antisemitisch sind, qua JDA-Definition jedoch nicht, und dass der Bezug auf die umfassendere IHRA-Antisemitismusdefinition hier eine ›wichtige Stimme beiseitedrängen‹ soll? Um diese Fragen zu beantworten, gilt es, sich die Äußerungen und Positionen Zamzam Ibrahims genauer anzuschauen, für die sie nun kritisiert wird.
Als Studierendenvertreterin gegen Israel
Zamzam Ibrahim ist eine profilierte und gut vernetzte Klimaaktivistin. Sie hat eine Nachhaltigkeits-NGO gegründet, ist Beraterin der UN und besuchte bereits drei UN-Klimakonferenzen, zuletzt die COP28 in Dubai. Aber auch vor ihrem Klimaaktivismus war sie bereits politisch umtriebig – erst als Präsidentin der Students’ Union ihrer Universität in Salford, dann als Vorsitzende der britischen National Union of Students (NUS) und als Vizepräsidentin der European Students’ Union (ESU). Aktivismus gegen Israel bildet dabei eine Konstante ihres studentischen Engagements.
Als frisch gewählte NUS-Präsidentin versprach sie 2019, Antisemitismus-Trainings für NUS-Funktionär:innen anzubieten, nachdem es in den Jahren zuvor mehrere antisemitische Vorfälle1Im Januar 2023 veröffentlichte die NUS einen unabhängigen Bericht, der den Antisemitismus in der Studierendengewerkschaft aufarbeitet. Zamzam Ibrahim wird darin nicht erwähnt. in der Studierendengewerkschaft gegeben hatte. Der Erfolg dieser Trainings ist allerdings zweifelhaft: Zwei Jahre nach dem Ende von Ibrahims Amtszeit, im März 2022, lud die NUS zu ihrer Jahreskonferenz den antizionistischen und verschwörungsideologischen Rapper Lowkey ein.2Lowkey hatte sich durch Songtexte wie »You say you know about the Zionist lobby / But you put money in their pocket when you’re buying their coffee« und »It’s about time we globalised the intifada« profiliert. Auch zum 7. Oktober hat er antisemitische Verschwörungsideologien verbreitet. Auf Kritik jüdischer Mitglieder an diesem Programmpunkt reagierte die NUS mit der Aufforderung, diese sollten dann doch einfach den Konzertsaal verlassen.3Vgl. dazu diesen Artikel der Zeitung The Jewish Chronicle. Als daraufhin Forderungen an Spotify laut wurden, Songs von Lowkey mit antisemitischen Lyrics von der Plattform zu nehmen, protestierte Ibrahim auf Twitter gegen diese Unterdrückung ›unseres [!] palästinensischen Aktivismus‹ und drohte mit Boykott: »If Spotify remove a single song of his [i.e. Lowkey], I swear will make it my full time job to campaign for a mass boycott. Don’t play with your bag Oga, ya’ll know how BDS has impacted companies.«
Mit ›Massenboykott‹ gegen die ›Israel-Lobby‹. Foto: Screenshot Twitter/Archive.org
Bereits 2021, da war sie Vizepräsidentin der ESU, kritisierte die European Union of Jewish Students (EUJS) Ibrahim für ihre Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus auf Instagram.4In einer Instagram-Story habe sie einen Post geteilt, in dem es heißt: »If you are silent when it comes to Palestine, you would have been silent at the time of the Holocaust.« Die Aufforderung der EUJS, Ibrahim solle sich von ihrem Instagram-Post distanzieren oder anderenfalls von ihrem Amt entfernt werden, verhallte jedoch wirkungslos.
Nach dem 7. Oktober
Die Anschläge der Hamas vom 7. Oktober scheint Ibrahim nie öffentlich verurteilt zu haben. Im Gegenteil, sie veröffentlichte in den Sozialen Medien mehrere Posts, die kaum anders denn als Legitimierung des Massakers gelesen werden können. Am 9. Oktober, zwei Tage nach dem Massaker, schrieb sie auf Twitter: »History will remember those that sided with the oppressor and ignored the oppressed. Justice lies with God, but the resistance is in our hands.« Am 12. Oktober polemisierte sie gegen einen Artikel Naomie Kleins, der die Legitimierung oder gar Feier des Hamas-Massakers durch viele (vermeintlich) Linke kritisiert: »Babe, what did you mean by Radical resistance you spoke about for indigenous communities? Or did that never apply to Palestinians?« Über die Opfer des zum ›(radikalen) Widerstand‹ verklärten Terrors verlor Ibrahim kein Wort.
Ibrahims Twitter-Profil ist seit dem 14. Januar auf ›privat‹ gestellt. Aber auch auf ihrem weiterhin öffentlichen Instagram-Profil ist sie aktiv. Am 15. Januar teilte Ibrahim in ihrer Instagram-Story etwa ein Bild mit dem Spruch: »Palestine has showed the world what resilience is. Yemen has showed the world what courage is. South Africe has showed the world what justice is.« Was genau mit der »palästinensischen Resilienz« gemeint ist, ist hier offen gelassen. Mit dem »Mut« des Jemen ist in diesem Zusammenhang aber unmissverständlich der Terrorismus der vom Iran finanzierten Huthi-Rebellen gemeint.
Gutes Klima mit Islamisten
Der Einwand, dass einzelne Posts in den sozialen Medien als Grundlage für eine Ausladung womöglich nicht ausreichen, hat durchaus seine Berechtigung. Im Falle Ibrahims geht das antiisraelische Engagement jedoch weit über symbolischen Social-Media-Aktivismus hinaus. Dabei offenbaren sich vor allem ihre Verbindungen zum politischen Islam.
Am 29. November etwa war sie eingeladener Gast bei einer Veranstaltung der Friends of Al-Aqsa (FOA), einer der Muslimbruderschaft zugehörigen, die Hamas unterstützenden britischen Organisation.5Ihr Gründer Ismail Patel vertritt einen politischen Islam und ist offener Anhänger der Hamas. 2009 verkündete er auf einer Demonstration für Gaza: »[W]e salute Hamas for standing up to Israel«. Am 7. Oktober postete FOA triumphierend das Video eines Baggers, der im Rahmen des Hamas-Angriffs auf Israel den Zaun an der Grenze von Gaza zerstört. Vgl. für eine palästinasolidarische, aber vergleichsweise antisemitismuskritische Perspektive auf FOA: https://www.workersliberty.org/story/2023–11-22/who-are-friends-al-aqsa. Ibrahims, vorsichtig formuliert, unkritische Nähe zum politischen Islam äußert sich auch in ihrem Aufruf im Februar 2022, für das Forum of European Muslim Youth and Student Organizations (FEMYSO) zu spenden, das vom Landesverfassungsschutz Baden-Württemberg ebenfalls der Muslimbruderschaft zugerechnet wird.6Im Bericht des Landesverfassungsschutzes Baden-Württemberg von 2022 wird FEMYSO als »Dachorganisation für die Jugendarbeit der Muslimbruderschaft« bezeichnet, die »in enger Kooperation mit den nationalen muslimischen Studenten- und Jugendverbänden als breiter Nachwuchspool für die europäische Muslimbruderschaft fungiert«.
Zamzam Ibrahim spricht im iranischen Staatsfernsehen über intersektionale Aspekte von Klimagerechtigkeit. Foto: Screenshot Press TV.
So fragt der Moderator sie etwa nach der »intersectionality« der Anti-Israel-Proteste am Rande der COP28. Ibrahim antwortet: »Climate justice fundamentally is a global call for the end of destruction, displacement of people and land, which of course perfectly fits into the experience of the Palestinian people. […] The call for climate justice itself is very much intersectional in its practice, and calls for understanding that [in] any form of ethnic cleansing and genocide, wether it’s indigenous communities in the Amazonia forest or it’s the people of Palestine, the issues and the systems of oppression that exist there are very much the same.« Auf die Suggestivfragen des Moderators, etwa danach, ob das Ziel Israels es sei, den Gazastreifen »unbewohnbar« zu machen, antwortet Ibrahim stets zustimmend: »absolutely«.
Zweierlei Antisemitismus?
Zamzam Ibrahim ist also, das zeigen diese Quellen, eine ausgewiesene antizionistische Aktivistin, die es selbst beim Thema Klimagerechtigkeit schafft, in Israel das größte Übel auszumachen. Sie hat zur Unterstützung der BDS-Kampagne aufgerufen und Israels Politik mit der Shoah verglichen, sie hat den antisemitischen Terror der Hamas und der Huthi legitimiert und sie pflegt enge Verbindungen zu Organisationen und Vertretern des politischen Islam. Zusammengenommen sprechen diese Aspekte eine derart deutliche Sprache, dass selbst die Antisemitismusdefinition der – von vielen Antisemitismusforscher:innen als unzureichend kritisierten – Jerusalemer Erklärung hinreicht, um Ibrahims Äußerungen und Positionen als antisemitisch zu erkennen. Das Zusammentreffen all dieser Aspekte unterscheidet sie auch von anderen Eingeladenen im Rahmen des Klimafestivals, die in den sozialen Medien teilweise vergleichbar antisemitische Positionen zu Israel vertreten.7 Da ist zum Beispiel Juneseo Hwang, der auf Twitter ein Posting des rechten antiisraelischen Aktivisten Jackson Hinkle geteilt hat, das die internationale Unterstützung der von Südafrika initiierten Anklage Israels vor dem IGH feiert. Hwang verbindet diesen Tweet mit der Forderung, Israel nicht nur für ›Genozid‹, sondern aufgrund der mit dem Krieg einhergehenden Umweltzerstörung in Gaza auch für ›Ökozid‹ anzuklagen. Und da ist Giulia Casalini, die in einer Instagram-Story einen Post geteilt hat, in dem Gaza als »the world’s largest open-air prison and concentration camp« bezeichnet wird. Dass internationale Klimaaktivist:innen derartige antiisraelische Positionen vertreten, ist wenig überraschend. Dass solche Positionen und Haltungen auch in Deutschland keinerlei öffentliche Kritik hervorrufen, widerlegt zudem die verbreitete Erzählung, man könne angesichts der Zensur durch eine ›proisraelische Lobby‹ gar keine Kritik an Israel üben, ohne mit ›Antisemitismusvorwürfen‹ überzogen zu werden. So wie die allermeisten antiisraelischen und ›israelkritischen‹ Künstler:innen und Aktivist:innen haben Casalini und Hwang nichts zu befürchten.
Es stellt sich daher die Frage: Wie kann es sein, dass dieser Antisemitismus nicht erkannt wurde und dass daraus keine Konsequenzen gezogen wurden? Schließlich wurden informierten Kreisen zufolge nach dem 7. Oktober eigens interne Schulungen zu Antisemitismus angeboten. Und schließlich hat Kampnagel im November selbst gezeigt, dass es auch anders geht, indem eine Lesung des soeben mit antisemitischen Äußerungen hervorgetretenen Fernsehphilosophen Richard David Precht abgesagt wurde. Offiziell geschah die Ausladung bloß, weil am selben Abend der israelische Sänger Asaf Avidan im Haus auftrat und eine »Konfrontation« vermieden werden sollte. Die Kampnagel-Sprecherin Siri Keil machte gegenüber t‑online jedoch ein Bemühen Prechts »um ein tiefergehendes Verständnis der berechtigten Kritik und damit verbundenen Reflexion seiner Äußerungen« zur Bedingung für zukünftige Auftritte. Warum im Falle Ibrahims nicht einmal derartige Bedingungen formuliert werden, ist nicht nachvollziehbar.
Antisemitismus als blinder Fleck
Dass ein Umgang mit dem Problem des Antisemitismus hier gänzlich ausblieb, ist auch deshalb besonders frappierend, weil mit dem Hamburger Schauspieler und Regisseur Dor Aloni, der in Israel geboren und aufgewachsen ist, ein Künstler im Programm des Klimafestivals auftritt, der von Antisemitismus unmittelbar betroffen ist. In seiner gemeinsam mit Meera Theunert entwickelten (und bereits an allen drei Abenden ausverkauften) Performance Atlantis spürt er dem Atlantis-Mythos als »Vorlage für die Verbreitung faschistoider Welterzählungen und Zerstörungsphantasien« nach. Auch Antisemitismus wird in der Performance thematisiert. Die Idee, Aloni über die antisemitischen Haltungen der Eröffnungsrednerin zu informieren und ihn nach seiner Perspektive zu fragen, scheint aber niemandem gekommen zu sein – etwas, das auf Kampnagel im Falle von Rassismus oder Queerfeindlichkeit wohl undenkbar wäre. Es fällt schwer, daraus andere Schlüsse zu ziehen als, wie es der britische Comedian David Baddiel prägnant formuliert hat: Jews don’t count.
Das Leitbild von Kampnagel, man wolle ein von »Rücksichtnahme und Fürsorge« geprägter Ort des (Ver)Lernens sein, der »solidarisch mit marginalisierten, diskriminierten und illegalisierten Künstler:innen, Gästen und Kolleg:innen« ist, wird dadurch konterkariert. Wenn sich Kampnagel in einem Statement »zur Debatte über die Lage im Nahen Osten« zur Aufgabe setzt, »komplexe und widersprüchliche Realitäten von Menschen zu vermitteln«, dann ist das Haus an dieser Aufgabe durch die Einladung Ibrahims und den ungenügenden Umgang mit Kritik krachend gescheitert. Der ›plurale Diskursraum‹ Kampnagel erweist sich in Hinblick auf israelbezogenen Antisemitismus als ziemlich einstimmig. Nonkonformistische jüdische Perspektiven wie die von Dor Aloni sind in diesem Raum offenbar nicht vorgesehen.
Ob sich daran noch einmal etwas ändern wird, muss bezweifelt werden. Denn von Lernfähigkeit und Problembewusstsein ist in einem Statement Amelie Deuflhards gegenüber dem NDR gelinde gesagt wenig zu merken. »Es muss«, warnt sie, »auch in Deutschland möglich sein, die Regierungspolitik von Israel zu kritisieren. Wenn das nicht mehr möglich ist, wäre nicht nur die Kunstfreiheit, sondern auch die Meinungsfreiheit verloren.« Deuflhard suggeriert hier zum einen, es gehe Zamzam Ibrahim um eine ›Kritik der Regierungspolitik von Israel‹, und impliziert zum anderen ebenso wahrheitswidrig, in Deutschland drohe die Verunmöglichung dieser Kritik und damit das Ende von Kunst- und Meinungsfreiheit. Damit aber malt sie ein derart verzerrtes Bild des öffentlichen Diskurses, dass sich die Frage stellt, zu welchem Grad es sich in dieser Hinsicht von jenem Ibrahims unterscheidet.
Was tun?
Stefan Hensels Pressemitteilung zu den Hintergründen der Einladung Zamzam Ibrahims hat starke öffentliche Reaktionen hervorgerufen. Vor allem Jüdinnen und Juden äußerten ihre Bestürzung und ihr Unverständnis angesichts der Entscheidung Kampnagels, an der Einladung festzuhalten. Das Junge Forum der DIG Hamburg und der DIG-Vorsitzende Volker Beck rufen inzwischen für Donnerstag zu einer Kundgebung vor Kampnagel auf.
Weitgehend still ist es bisher hingegen aus der Klimabewegung geblieben. In der Vergangenheit kam es hier, insbesondere angesichts antisemitischer Tendenzen in der weltweiten Klimabewegung, auch immer wieder zu Solidaritätserklärungen mit Jüdinnen und Juden und Bekenntnissen gegen Antisemitismus und Israelfeindschaft, etwa von Fridays for Future (FFF) Hamburg. Nicht so im aktuellen Fall. Eine Anfrage von Untiefen an FFF Hamburg blieb ebenso unbeantwortet wie eine Anfrage an Quang Paasch, ehemaliger Sprecher von FFF Deutschland, der am Samstag zusammen mit Zamzam Ibrahim den intersektionalen BIPoC-Workshop leiten soll.
Es ist wichtig, dass Jüdinnen und Juden in der aktuellen Situation konkrete sicht- und hörbare Solidarität erfahren. Und es gilt, den verbreiteten Versuchen der Selbstviktimisierung antiisraelischer Stimmen entgegenzutreten, mit denen die Gewalt antisemitischer (Sprech-)Handlungen geleugnet und die Rolle von Tätern und Opfern vertauscht wird. Gleichzeitig müssen ressentimentbeladene Reflexe und Instrumentalisierungsversuche der aktuellen Situation aber auch als solche benannt werden. Blickt man auf die Kommentare in den sozialen Medien, drängt sich der Eindruck auf, dass manche sich weniger aus Empörung über den Antisemitismus speisen (der bei einem bayerischen Rechtskonservativen wie Hubert Aiwanger viel eher entschuldigt wird) als aus der Freude über die Gelegenheit, einer jungen schwarzen Muslima die Pest an den Hals zu wünschen. Wenn die Welt den Unternehmer Daniel Sheffer mit der Behauptung zitiert, Ibrahim stehe »auf so fast jeder Liste der gefährlichsten Antisemiten in Europa«, ist das außerdem nicht nur überzogen, sondern schlicht unseriös – wo, bitteschön, soll es solche Listen geben? Die Häme schließlich, mit der den Verantwortlichen auf Kampnagel nun bisweilen »Schämt euch!« zugerufen wird, hat auch deshalb einen faden Beigeschmack, weil hier eine Institution im Fokus steht, die – ungeachtet aller Kritik – als Ort queerer und (post-)migrantischer Kultur in Hamburg einmalig ist.
Fest steht: Zamzam Ibrahim muss zwingend ausgeladen werden. Aber statt polternder Rhetorik und ressentimentgeladener Empörung darüber, was da mit ›unseren Steuergeldern‹ gemacht wird, bedarf es einer grundlegenden Auseinandersetzung mit den Strukturen, die zu der aktuellen Situation geführt haben. In dieser Hinsicht ist Amelie Deuflhard sogar rechtzugeben: Es braucht Diskursräume für Austausch und Auseinandersetzung. Der erste Schritt dahin wäre freilich, zu dieser Auseinandersetzung keine Antisemit:innen einzuladen. Damit sich Jüdinnen und Juden angstfrei in diesen Diskursräumen bewegen können; und damit in ihnen Platz für den Austausch über die drängenden gesellschaftlichen Probleme ist: über die Klimakatastrophe, globale Ausbeutungsverhältnisse und Rassismus – und vor allem über den Antisemitismus, der im Kulturbetrieb wie im Rest der Gesellschaft einen festen Platz hat.
Lukas Betzler
Der Autor hatte bereits länger zu Haltungen zum Antisemitismus im Hamburger Kulturbetrieb recherchiert. Die Diskussion um die Einladung Zamzam Ibrahims hat der Recherche eine unerwartete Brisanz und Tagesaktualität gegeben – und den eigentlichen Artikelplan völlig über den Haufen geworfen.
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Im Januar 2023 veröffentlichte die NUS einen unabhängigen Bericht, der den Antisemitismus in der Studierendengewerkschaft aufarbeitet. Zamzam Ibrahim wird darin nicht erwähnt.
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Lowkey hatte sich durch Songtexte wie »You say you know about the Zionist lobby / But you put money in their pocket when you’re buying their coffee« und »It’s about time we globalised the intifada« profiliert. Auch zum 7. Oktober hat er antisemitische Verschwörungsideologien verbreitet.
In einer Instagram-Story habe sie einen Post geteilt, in dem es heißt: »If you are silent when it comes to Palestine, you would have been silent at the time of the Holocaust.«
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Ihr Gründer Ismail Patel vertritt einen politischen Islam und ist offener Anhänger der Hamas. 2009 verkündete er auf einer Demonstration für Gaza: »[W]e salute Hamas for standing up to Israel«. Am 7. Oktober postete FOA triumphierend das Video eines Baggers, der im Rahmen des Hamas-Angriffs auf Israel den Zaun an der Grenze von Gaza zerstört. Vgl. für eine palästinasolidarische, aber vergleichsweise antisemitismuskritische Perspektive auf FOA: https://www.workersliberty.org/story/2023–11-22/who-are-friends-al-aqsa.
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Im Bericht des Landesverfassungsschutzes Baden-Württemberg von 2022 wird FEMYSO als »Dachorganisation für die Jugendarbeit der Muslimbruderschaft« bezeichnet, die »in enger Kooperation mit den nationalen muslimischen Studenten- und Jugendverbänden als breiter Nachwuchspool für die europäische Muslimbruderschaft fungiert«.
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Da ist zum Beispiel Juneseo Hwang, der auf Twitter ein Posting des rechten antiisraelischen Aktivisten Jackson Hinkle geteilt hat, das die internationale Unterstützung der von Südafrika initiierten Anklage Israels vor dem IGH feiert. Hwang verbindet diesen Tweet mit der Forderung, Israel nicht nur für ›Genozid‹, sondern aufgrund der mit dem Krieg einhergehenden Umweltzerstörung in Gaza auch für ›Ökozid‹ anzuklagen. Und da ist Giulia Casalini, die in einer Instagram-Story einen Post geteilt hat, in dem Gaza als »the world’s largest open-air prison and concentration camp« bezeichnet wird. Dass internationale Klimaaktivist:innen derartige antiisraelische Positionen vertreten, ist wenig überraschend. Dass solche Positionen und Haltungen auch in Deutschland keinerlei öffentliche Kritik hervorrufen, widerlegt zudem die verbreitete Erzählung, man könne angesichts der Zensur durch eine ›proisraelische Lobby‹ gar keine Kritik an Israel üben, ohne mit ›Antisemitismusvorwürfen‹ überzogen zu werden. So wie die allermeisten antiisraelischen und ›israelkritischen‹ Künstler:innen und Aktivist:innen haben Casalini und Hwang nichts zu befürchten.
Am 19.01. eröffnete im Hamburger Rathaus eine Sonderausstellung über »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute«. Unter den Macher:innen sind auch Betroffene und Angehörige von Opfern rechter Gewalt. Die Ausstellung bietet einen sehr guten Einstieg in die lokale Geschichte rechtsextremer Gewalt, ringt aber mit einigen Schwierigkeiten.
Ausschnitt des Ausstellungs-Plakats. Bild: Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte
Im großen Festsaal des Rathauses wurde gestern, am 19.01.2024, die neue Sonderausstellung »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute« eröffnet. Wie schon seit über 20 Jahren präsentiert die Bürgerschaft wieder anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar eine neue temporäre historische Ausstellung. Ungewöhnlich ist dieses Mal die große Aktualität. Denn die neue Ausstellung beleuchtet rechte Gewalt nach dem Zweiten Weltkrieg – bis heute. Verantwortet wird sie dabei wie immer von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Die Ausstellung eröffnet mit den persönlichen Geschichten von fünf Todesopfern rechter Gewalt in Hamburg:
Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân (1980; Nazi-Brandanschlag auf Flüchtlingsunterkunft in der Halskestraße), Mehmet Kaymakçı (1985; erschlagen von Skinheads im Kiwittsmoorpark), Ramazan Avcı (1985; erschlagen von Skinheads an der S‑Bahn-Station »Landwehr«) und Süleyman Taşköprü (2001; erschossen in der Schützenstraße von Terroristen des »NSU«).
Auch das letzte Wort haben die Betroffenen. In einer Videostation werden Ausschnitte aus Interviews mit Überlebenden rechter Gewalt und Angehörigen von Opfern gezeigt, die unter anderem von dem jahrzehntelangen Desinteresse von Staat und Gesellschaft und sogar Gedenkinitiativen an ihren Erfahrungen und Perspektiven berichten. Aber nicht nur in der Ausstellung kommen die Betroffenen zu Wort, auch in der Entstehung waren sie beteiligt. Im Gespräch mit Untiefen sagt Lennart Onken (KZ-Gedenkstätte Neuengamme), einer der Kurator:innen: »Insbesondere für die ersten fünf Tafeln haben wir eng mit Initiativen und Angehörigen zusammengearbeitet, haben Texte und Bildauswahl intensiv besprochen. Das war ein sehr spannender Prozess, bei dem auch wir sehr viel gelernt haben.«
İbrahim Arslan: »Ich führe das zurück auf unseren Widerstand und unsere Kämpfe«
Einer der Mitgestalter, der Aktivist İbrahim Arslan (Überlebender des rassistischen Brandanschlags 1992 in Mölln) betont gegenüber Untiefen: »Wir haben die gesamte Ausstellung gemeinsam konzipiert, haben die Vernetzung der Betroffenen und das Empowerment gemacht und unsere Expertise eingebracht.« Er findet die Ausstellung gelungen, denn: »Die Betroffenen sind zufrieden. Ihre Wünsche und Bedürfnisse stehen im Vordergrund. Das ist relativ neu, dass Antifaschist:innen und Antiras und Institutionen uns einbeziehen. Ich führe das zurück auf unseren Widerstand und unsere Kämpfe. Wir machen hervorragende Arbeit und langsam werden unsere Interventionen auch staatlich anerkannt.«
Die Ausstellung präsentiert auf über dreißig Tafeln die jeweils wichtigsten und prägnantesten Fälle rechter Gewalt für die Nachkriegsjahrzehnte, aber auch Widerstandsbewegungen finden Erwähnung. So bietet sie einen sehr guten Überblick über die Wellen rechter Gewalt – und eignet sich gut auch für jüngere Antifaschist:innen, die vielleicht das Gefühl haben, diese Geschichte Hamburgs bislang nur bruchstückhaft zu kennen. Aber auch für schon länger Interessierte gibt es neue Abgründe und bislang unbekannte Opfer zu entdecken, selbst für den Historiker Onken von der KZ-Gedenkstätte: »Besonders krass finde ich den Fall des Zeitungsboten Rudi M., der 1988 in Eimsbüttel von einem Skinhead erstochen wurde, weil er ihm angeblich homosexuelle Avancen gemacht hat. Ich hatte noch nie vorher von Rudi M. gehört. Sein Fall ist total unbekannt.«
Nicht viel bekannter dürfte das Schicksal des thailändischen Ingenieurs Prayong Rungjangs sein, der 1977 an den Folgen eines Neonazi-Übergriffs in der Talstraße starb. Hier hält lediglich sein Sohn, der Video- und Objektkünstler Arin Rungjang, die Erinnerung wach.
Der Gedenkstein für Süleyman Tasköprü in der Schützenstraße in Bahrenfeld. Foto: Kati Jurischka, Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte
Was tun mit den Tätern?
Auch auf der Täter:innenseite liefert die Ausstellung einen Überblick über die Organisationen und zentralen Personen. Nazi-Haufen wie die »Hamburger Bruderschaft«, »Aktionsfront Nationaler Sozialisten«, die »Wehrwolf-Gruppe«, die »Deutschen Aktionsgruppen« und natürlich der »NSU« werden vorgestellt. Dabei verzichten die Kurator:innen auf persönliche Anekdoten und letztlich auch auf Thesen dazu, warum bestimmte Milieus und Personen erstens für rechtsextreme Ideologie empfänglich sind und zweitens den Schritt zur Gewalt gehen. Lediglich für die unmittelbare Gegenwart verweist die Ausstellung darauf, dass die Zustimmungswerte der AfD mit Beginn des Krieges gegen die Ukraine und der zunehmenden Inflation gestiegen seien. Die theoretische Zurückhaltung ist vor dem Hintergrund der Fokussierung auf die Opfer und aus Platzgründen zwar verständlich, erschwert es aber, Schlussfolgerungen für die Gegenwart zu ziehen. Das Video-Interview am Ende der Ausstellung schließt mit Worten Thời Trọng Ngũs, Überlebender des Anschlags in der Halskestraße von 1980 und Aktiver der »Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân«: »Wie kann man weitere Taten vermeiden? Das ist die Frage.« Die Ausstellung antwortet auf ihren letzten Tafeln: durch antifaschistischen und migrantischen Widerstand sowie durch breites gesellschaftliches Engagement und staatliche Maßnahmen gegen Rechts. Das ist natürlich unerlässlich. Aber bleibt der antifaschistische Widerstand nicht im Modus des ewigen Reagierens, wenn er über kein Konzept der gesellschaftlichen Hintergründe rechter Gewalt verfügt? Wenn er nicht nach der psychischen und ökonomischen Funktionalität von Ressentiment und Gewalt fragt?
İbrahim Arslan hebt im Gespräch auch hier die Bedeutung der Betroffenenfokussierung hervor: »Migrantisch situiertes Wissen hat schon in den 1980ern rassistisch motivierte Taten vorhergesagt.« Seiner Wahrnehmung nach konnte man sich auch bei dieser Ausstellung nicht von »einer gewissen Täterfokussierung« befreien. Das Interesse an den Täter:innen und den Tathintergründen sei zwar verständlich, grade jetzt angesichts der ans Licht gekommenen Deportations-Pläne im Umfeld der AfD. Aber das führe eben immer wieder zu der Vorstellung, man habe es nun mit etwas Neuem zu tun. Stattdessen sei klar: »Die AfD wird von Neonazis getragen. Diese Pläne gibt es schon seit der Gründung der AfD.« Und würde man Betroffenen zuhören, so Arslan weiter, wüsste man, dass sie auch darauf schon lange hinweisen.
Was ist »rechte Gewalt«?
Eine konzeptuelle Unklarheit der Ausstellung ist derweil deutlich spürbar. »Rechtsextremes Denken« wird zunächst breit gefasst, im Sinne einer allgemeinen, gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit: »Grundlegend ist die Auffassung von einer generellen Ungleichwertigkeit der Menschen.« Laut Lennart Onken hat das Ausstellungsteam in dieser Perspektive allein durch eigene Recherchen eine Liste von 500 dokumentierten Fällen zusammengestellt, die von Beleidigungen bis zum Mord reichen. Ein parallel laufendes Forschungsprojekt der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg (FZH), der KZ-Gedenkstätte sowie der Landeszentrale für politische Bildung unter dem Titel »HAMREA – Hamburg rechtsaußen« hat laut Onken für Hamburg und das Umland seit 1945 schon »über 1000 Fälle« zusammengetragen – mit einer vermutlich deutlich höheren Dunkelziffer. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts werden fortlaufend sehr anschaulich auf der neuen Website veröffentlicht: https://rechtegewalt-hamburg.de/ Selbstverständlich können aber 1000 oder auch nur 500 Fälle nicht in einer Ausstellung präsentiert werden. Angesichts der Fülle rechter Taten fokussieren die Kurator:innen notwendig auf bestimmte Opfer- und Tätergruppen. Laut Onken haben die Kurator:innen versucht, für jedes Nachkriegsjahrzehnt die zentralen Fälle darzustellen: »Wir haben uns gefragt: Was ist jeweils das bestimmende Thema, das bestimmende Feindbild der extremen Rechten gewesen?« Nur die sieben dokumentierten Todesopfer rechter Gewalt wurden ohne solche Gewichtung aufgenommen. Darunter ist auch der Fall des Bauingenieurs Neşet Danış, der 1977 in Norderstedt bei einem Überfall von türkischen Rechten aus dem Umfeld der »Grauen Wölfe« lebensgefährlich verletzt wurde und später seinen Verletzungen erlag. Das wirft die Frage auf: Zählen solche nicht-deutschen extremistischen Gewalttaten zu »rechter Gewalt«? Und wie ist es mit islamistischer oder israelfeindlicher Gewalt, die ja auch antisemitisch motiviert ist? In der Ausstellung tauchen etwa von den späten 1970ern bis in die 2020er keine antisemitischen Gewalttaten auf.
Onken erläutert den Umgang des Kurator:innen-Teams so: »Wir haben recht früh gesagt, dass wir uns auf die biodeutsche extrem rechte Szene fokussieren.« Und für die wäre der Antisemitismus zwar in den Nachkriegsjahren sehr wichtig gewesen, in den 1980ern habe sich das Feindbild allerdings deutlich auf Migrant:innen verlagert. »Beim Antisemitismus kommt noch hinzu, dass es kein Alleinstellungsmerkmal der extremen Rechten ist, sondern da unterschiedliche Gruppe zur Tat schreiten.« Bei der Fokussierung habe auch die Sorge eine Rolle gespielt, sich durch weitere Themen in Diskussionen zu verstricken, die von der Kontinuität deutscher extrem rechter Gewalt ablenken könnten. Onken ergänzt allerdings: »Grade im Nachgang des 7. Oktober 2023 ist fraglich, ob das so auch in Zukunft weiter klug und machbar ist. Mit Blick auf den Islamismus würde es aus meiner Sicht Sinn machen, die extreme Rechte und den Islamismus enger zusammen zu denken. Denn beide teilen die Modernitätsfeindschaft und den virulenten Antisemitismus.«
Die Fokussierung schafft es aber, zumindest für die deutsche extrem rechte Gewalt, einen guten Überblick über Opfer, Täter und Kontinuitäten zu geben. Vielleicht kann sie den Wunsch der Mehrheitsgesellschaft unterlaufen, in den kommenden rechten Mobilisierungen und den staatlichen Reaktionen wieder eigentlich doch längst Überwundenes, Ewiggestriges aus einer ganz anderen Zeit zu sehen. Gülüstan Avcı, die Witwe des 1983 ermordeten Ramazan Avcı, beklagte bei der Eröffnung der Ausstellung am Freitag unter anderem, dass in Hamburg bis heute kein Untersuchungsausschuss zum Mord des „NSU“ an Süleyman Taşköprü eingerichtet wurde. Auch das kann man im Gedächtnis behalten, wenn man dieser Tage mit der »Mitte« und den regierenden Parteien gegen Rechts demonstriert.
Felix Jacob
Die Ausstellung »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute« ist vom 19.01.2024 bis zum 18.02.2024 kostenlos in der Rathausdiele zu sehen. Öffnungszeiten:
Die Website des Forschungsprojektes »Hamburg rechtsaußen. Rechtsextreme Gewalt- und Aktionsformen in, mit und gegen die städtische Gesellschaft« ist unter https://rechtegewalt-hamburg.de/ zu erreichen.
Eine Veranstaltungsreihe der Innenrevision Kulturbetrieb fragt nach antisemitischen Weltbildern in gegenwärtigen Kunstdiskursen. Die dritte und letzte Veranstaltung findet am 30.11.2023, 19.30 Uhr in der Fabrique (Gängeviertel) statt.
Nachdem im September 2022 zwei Vertreter des indonesischen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruangrupa eine Gastprofessur an der Hamburger HfbK antraten, ist die Auseinandersetzung über die von Ruangrupa verantwortete antisemitische Kunstschau auch zu einem Streit in Hamburg geworden. Zwar gab es verdienstvolle, aber vereinzelte Proteste, zurückhaltende Ermahnungen aus der Landespolitik sowie einige wenig ergiebige Interviews und Veranstaltungen mit den Ruangrupa-Leuten. Insgesamt aber ist von Betroffenheit oder gar (Selbst-)Kritik innerhalb des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs wenig zu vernehmen. Der HfbK-Präseident Köttering lügt die von ihm initiierte Gastprofessur rückblickend zum Auslöser wichtiger »Lernprozesse« um, gar zum Beginn eines »Dialogs«: »Zum anderen ist durch die beiden DAAD-Gastprofessoren das Thema Antisemitismus im Kunstfeld nach Hamburg getragen worden, worauf wir mit vielen Veranstaltungen reagiert haben, vor allem mit dem Symposium. Damit ist es uns seit der documenta erstmalig gelungen, sehr divergente Positionen zusammen und in einen Dialog zu bringen«. Auf die Frage, ob er die Einladung wieder aussprechen würde, antwortete er entsprechend: »Das kann ich wirklich mit aller Deutlichkeit und sehr klar sagen: Ja, unbedingt! Denn es ist die Aufgabe und Pflicht von wissenschaftlichen Institutionen, sich diesen komplexen und schwierigen Diskursen zu stellen, um Lernprozesse entstehen zu lassen.« Antisemitismus geht in der Kunstwelt also weiterhin in Ordnung, so lange man dabei das Gefühl hat, mit irgendwem im Dialog zu sein. Woher kommt diese Unerschütterlichkeit – auch und gerade jenseits des offensichtlich unverbesserlichen Ruangrupa-Kollektivs?
Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Hamburg eine „Innenrevision Kulturbetrieb“ gegründet. In ihr haben sich in Kunst und Kultur Tätige zusammengeschlossen, die mit einer Veranstaltungsreihe in das beredte Hamburger Schweigen intervenieren wollen. Die Reihe untersucht anhand dreier für den gegenwärtigen Kunstbetrieb zentraler Begriffe – Kollektivität, Widerstand und Solidarität – über welche Einfallstore sich antisemitische Weltbilder im Kunstdiskurs immer wieder verbreiten können.
Die Reihe wird am 30.11. mit einer Veranstaltung zu „Widerstand“ fortgesetzt: 19.30 Uhr in der Fabrique im Gängeviertel, Valentinskamp 34a.
Die Redaktion Untiefen unterstützt diese Intervention (wie auch der Bagrut e.V., die Untüchtigen sowie der Textem-Verlag) und dokumentiert im Folgenden den Ankündigungstext der Veranstaltung.
Die feministische Revolution im Iran oder der ukrainische Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg. Widerstand wird mit emanzipatorische Bewegungen, die für Gerechtigkeit und Freiheit und gegen autoritäre oder totalitäre Machtstrukturen kämpfen, assoziiert. Gleichzeitig schaffen Widerstandsbewegungen auch klare Feindbilder, die von inneren Widersprüchen entlasteDer feministische Aufstand im Iran oder der ukrainische Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg – Widerstand wird mit emanzipatorischen Bewegungen assoziiert, die für Freiheit, Gerechtigkeit und gegen autoritäre oder totalitäre Machtstrukturen kämpfen. Gleichzeitig schaffen Widerstandsbewegungen auch klare Feindbilder, die von inneren Widersprüchen entlasten. Aus einem gerechten Anliegen kann sich ein manichäisches Weltbild entwickeln: Die Komplexität der Welt wird in Gut und Böse überführt.
Viele Arbeiten der Documenta 15 nahmen auf konkrete Widerstandsbewegungen Bezug. Auch für diejenigen, die antisemitische Weltbilder reproduzierten, war Widerstand das zentrale Motiv. Tatsächlich wurde schon der Begriff des Antisemitismus als Selbstbezeichnung einer Widerstandsbewegung erfunden. Sie richtete sich gegen die vermeintliche Macht und kulturelle Übernahme Deutschlands durch „die Juden“. Antisemitische Pogrome wurden von den Nationalsozialisten als eine Form von Widerstand dargestellt.
Aktuell wird die Terroraktion der Hamas gegen Israel am 7. Oktober 2023, der größte Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Shoah, als Widerstand für eine gerechte Sache verklärt. Das ist nicht nur im Internet und auf Straßenprotesten überall auf der Welt zu beobachten, sondern auch in Hamburg. Zahlreiche renommierte Künstlerinnen und Künstler sehen sich an der Seite dieses vermeintlichen Freiheitskampfes. Ihre Reaktionen reichen von subtiler Relativierung bis zur offenen Glorifizierung des Terrors. Auch darüber wollen wir im letzten Teil unserer Veranstaltungsreihe reden.
Veranstaltung: »Gegen den Geist des Sozialismus«. Buchvorstellung mit Olaf Kistenmacher
Wie geht eine linksradikale Kritik des linken Antisemitismus? Der Hamburger Historiker und Autor Olaf Kistenmacher stellt sein Buch über Kritik der Judenfeinschaft in der KPD der Weimarer Republik vor: 01.11.2023, 19 Uhr, Monetastr. 4.
Der mörderische Terror der Hamas und des Islamischen Jihad gegen Israel wurde am 07. Oktober in einer neuen Qualität entfesselt. Wer in diesen Tagen mit linken und linksradikalen Freund:innen und Bekannten spricht oder in den sozialen Medien aus dieser Ecke liest, sieht viel Mitgefühl, Wut, Verzweiflung angesichts des Terrors. Aber auch: Verharmlosung, Gleichgültigkeit bis hin zu offener Billigung oder gar Befürwortung für das Morden als vermeintlichem »Widerstand« oder »Befreiungskampf«. Leider ist der linke Antisemitismus, ohne den dieser Abgrund nicht möglich wäre, keine neue und keine vorübergehende Erscheinung. Wer wissen will, wie Anarchist:innen und Kommunist:innen schon in der Weimarer Republik gegen ihn kämpften und wie sie ihn kritisierten, kann das am kommenden Mittwoch erfahren. Der Hamburger Historiker und Autor Olaf Kistenmacher stellt sein neues Buch vor: »Gegen den Geist des Sozialismus. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik« (ça ira).
Der politische Bildungsverein Bagrut e.V. organisiert die Vorstellung in Kooperation mit Untiefen zu 19 Uhr in der Zentralen Bibliothek Frauenforschung, Gender & Queer Studies (Monetastr. 4). Die historische Perspektive wird auch Bezüge zum aktuellen linken Elend und zur Hamburger Geschichte ermöglichen.
Im Folgenden dokumentieren wir den Klappentext des Verlags.
Antisemitismus in der politischen Linken wurde nicht erst nach 1945 zum Thema. Die Kritik daran ist so alt wie die Sache selbst. In der Weimarer Republik waren es ehemalige Gründungsmitglieder der KPD wie Franz Pfemfert oder Anarchosyndikalisten wie Rudolf Rocker, die die antisemitische Agitation während des Schlageter-Kurses kritisierten. Mitte der 1920er Jahre warnte Clara Zetkin auf dem Parteitag der KPD vor judenfeindlichen Stimmungen an der Basis. 1929 erschien im Zentralorgan der um Heinrich Brandler und August Thalheimer gebildeten KPD-Opposition eine der ersten radikalen Kritiken des Antizionismus der KPD. Mit ihrer Kritik knüpften die anarchistischen und kommunistischen Linken an Interventionen von Rosa Luxemburg oder Leo Trotzki an und reflektierten zugleich die Entwicklung in Russland nach der bolschewistischen Revolution. Marx’ Anspruch, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, schloss für sie den Kampf gegen Antisemitismus auch in den eigenen Reihen mit ein. Ihre Kritik kam nicht nur Jahrzehnte vor der innerlinken Debatte über Antisemitismus von links, Luxemburg und Pfemfert nahmen auch Argumente der späteren antinationalen und antideutschen Linken vorweg.
Olaf Kistenmacher »Gegen den Geist des Sozialismus«. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik November 2023, 156 Seiten Französisch Broschur 20,00 €
Der Stachel sitzt: Das Bremer ›Arisierungs‹-Mahnmal ist da
In Bremen wird diesen Sonntag, 10.09., ein lang erkämpftes Mahnmal für den Raub jüdischen Eigentums im Nationalsozialismus eingeweiht. Untiefen veröffentlicht den Mitschnitt der Diskussionsveranstaltung mit dem Initiator Henning Bleyl vom letzten Jahr und erinnert an die offenen Aufgaben für Hamburg.
Die Baustelle des neuen Mahnmals in Bremen. Im Hintergrund die Zentrale von Kühne + Nagel. Foto: Evin Oettingshausen.
In Bremen kommt diesen Sonntag, den 10. September, eine lange Auseinandersetzung zu ihrem – vorläufigen – Ende. Zwischen den Weser-Arkaden und der Wilhelm-Kaisen-Brücke, in Sichtweite der Deutschlandzentrale des Logistikkonzerns Kühne + Nagel, wird ein Mahnmal zur Erinnerung an den Raub jüdischen Eigentums während des Nationalsozialismus eingeweiht. Die Nähe zu Kühne + Nagel ist gewollt: Der 1890 in Bremen gegründete, heute weltweit drittgrößte Logistikonzern hat von den hansestädtischen Transportunternehmen mit Abstand am meisten vom Raubs jüdischen Vermögens in der NS-Zeit profitiert. Mit ihrem faktischen Monopol für den Abtransport geraubten jüdischen Eigentums aus Frankreich und den Benelux-Ländern konnte Kühne + Nagel im Rahmen der sogenannten „M‑Aktion“ (M für „Möbel“) des NS-Staates große Profite machen und ihr Firmennetzwerk internationalisieren. Der Anteilseigner Adolf Maas, der den Hamburger Firmenstandort aufbaute – ein Jude – wurde 1933 aus der Firma gedrängt und später in Auschwitz ermordet.
Trotz dieser bekannten Zusammenhänge weigert sich Kühne + Nagel, vor allem in Person des Patriarchen und Firmenerben Klaus-Michael Kühne (86) bis heute beharrlich, die eigene Mittäterschaft aufzuarbeiten. Das nun fertiggestellte Mahnmal widerspricht mit der Nähe zur K+N‑Zentrale dieser speziellen Vertuschung. Es thematisiert aber zugleich die gesamtgesellschaftlichen Verdrängung des Ausmaßes der „Arisierung“ jüdische Eigentums im Nationalsozialismus. Der Entwurf von Künstler*in Evin Oettingshausen zeigt in einem leeren Raum nur Schatten geraubter Möbel – von diesem Verbrechen ist, ganz wörtlich, fast nichts zu sehen. Der Initiator der Mahnmals-Kampagne, der Bremer Journalist Henning Bleyl, schildert gegenüber Untiefen, was die Kampagne für das Mahnmal politisch erreicht hat:
„Das Mahnmal-Projekt zeigt, dass man den Anspruch auf historische Wahrheit auch gegenüber einem hofierten Investor durchsetzen kann. Es war ein langer Weg – aber jetzt führt dieser Weg zur Einweihung eines unter breiter Bremer und internationaler Beteiligung entstandenen Mahnmals an der Weser, vor Kühnes Haustür. Und das eigentliche Thema, Bremens Rolle als Hafen- und Logistikstadt bei der europaweiten ‚Verwertung‘ jüdischen Eigentums, hatte im Lauf dieses Prozesses viele Gelegenheiten, in der Gesellschaft anzukommen.“
Klaus-Michael Kühne ist natürlich auch in Hamburg kein Unbekannter. Als Sponsor und Mäzen stützt er den HSV, finanziert aber über seine Kühne-Stiftung auch das Philharmonische Staatsorchester, fördert den Betrieb der Elbphilharmonie und hob das das Harbourfront Literaturfestival aus der Traufe. Dort finanzierte er bis 2022 den jährlich vergebenen Klaus-Michael Kühne-Preis für das beste Romandebüt. Bis letztes Jahr – nach einem Anschreiben der Untiefen-Redaktion – zwei der für den Preis nominierten Autor:innen ihre Teilnahme zurückzogen. Grund war Kritik an der verweigerten Aufarbeitung der NS-Geschichte des Unternehmens Kühne + Nagel. Diese Rücktritte sorgten für einen Eklat, der einige öffentliche Kritik an Kühne nach sich zog, während er und seine Stiftung keinerlei Verständnis zeigten. Mit dem anschließenden Rückzug der Kühne-Stiftung aus der Finanzierung des Festivals und der Umbenennung des Preises wurde die Debatte nach wenigen Wochen vorläufig beendet.
Im November 2022 luden wir daher Henning Bleyl ins Gängeviertel ein, um über Kühne + Nagel und die Bremer Kampagne für ein ‚Arisierungs‘-Mahnmal zu sprechen. Wer möchte kann Henning Bleyls Vortrag und das anschließende Diskussion nun hier auf Youtube nachhören.
Die zentralen Fragen für Hamburg bleiben indes auch nach der Mahnmal-Einweihung in Bremen unbeantwortet: Warum gibt es in Hamburg keinen kritischen Umgang mit der NS-Geschichte von Kühne + Nagel? Wie könnten Erinnerung, Aufklärung und Konsequenzen aussehen? Wie kann mit Klaus-Michael Kühne als Kultursponsor umgegangen werden? Welche Probleme der privatisierten Kulturförderung stehen dahinter?
Es bleibt spannend, ob auch an der Elbe ein eindeutiges Eintreten der Stadtgesellschaft für historische Redlichkeit erreichbar ist
Die neue, 15. Ausgabe des Harbour-Front-Literaturfestivals wird am 14. September eröffnet. Bleibt bis auf den Sponsorenwechsel und die Umbenennung in Sachen Kühne + Nagel in Hamburg also alles beim schlechten Alten? Henning Bleyl äußerte gegnüber Untiefen die Erwartung, dass auch hier etwas passiert: „Es bleibt spannend, ob auch an der Elbe ein eindeutiges Eintreten der Stadtgesellschaft für historische Redlichkeit erreichbar ist – trotz des von Kühne aufgewendeten enormen kulturellen und gesellschaftlichen Kapitals. Denn das Eigentum der jüdischen Familien, das Kühne + Nagel im Rahmen der ‚Aktion M‘ aus den besetzten Ländern abtransportierte, wurde natürlich auch in Hamburg sehr bereitwillig von großen Teilen der Bevölkerung ‚übernommen‘. Die Stadt profitierte in großem Stil von der Flucht jüdischer Menschen, deren Eigentum im Hafen zurückblieb, statt verladen zu werden. Ich bin gespannt, welchen Umgang Hamburg mit diesem Erbe findet.“
Wie die Bremer Initiative erfolgreich wurde, lässt sich in dem Mitschnitt von Bleyls Vortrag nachhören. Die Einweihung des Bremer Mahnmals findet am Sonntag, 10.09., um 11 Uhr direkt vor Ort statt. Ab 18 Uhr folgt ein öffentliches Vortrags- und Diskussionsprogramm in der Bremischen Bürgerschaft.
„Der Antifeminismus hat heute eine Scharnierfunktion“
Mit Feminismus kann heute Staat gemacht werden. Zugleich scheinen antifeministische Positionen in den Mainstream vorzudringen. Und auch die Gewalt gegen Frauen, Lesben, Inter- und Transpersonen sowie Agender nimmt zu. Der Sozialwissenschaftler Florian Hessel forscht zu Antifeminismus, Antisemitismus und Verschwörungsvorstellungen, und ist Mitglied des politischen Bildungsvereins Bagrut e.V. Im Gespräch mit Untiefen erklärt er, wie Antifeminismus heute funktioniert und wer ihn in Hamburg verbreitet.
Florian Hessel beim Interview in der Zentralen Bibliothek Frauenforschung, Gender und Queer Studies. Foto: Untiefen
Untiefen: Lieber Flo, Du hast Ende Juni in der Zentralen Bibliothek Frauenforschung, Gender und Queer Studies zusammen mit Rebekka Blum sowie mit Hamburg vernetzt gegen Rechts eine Veranstaltung organisiert unter dem Titel „Antifeminismus (als antidemokratische Herausforderung) – Alltag und politische Mobilisierung in Hamburg”. Wir würden dazu gern ein paar Fragen vertiefen und eure Einschätzungen in Bezug auf Hamburg auch jenseits der Veranstaltung zugänglich machen. Zunächst würde uns aber interessieren wie Du eigentlich, persönlich und als Sozialwissenschaftler, zum Thema Antifeminismus gekommen bist?
Florian Hessel: Dafür war einerseits ein persönlicher Kontakt wichtig: Meine Vereinskollegin Janne Misiewicz hat ihre Bachelorarbeit über die Beziehung von Antifeminismus und Antisemitismus geschrieben und wir haben viel diskutiert und uns dann entschlossen, dazu gemeinsam einen Text zu schreiben. Auf der anderen Seite ist Antifeminismus ganz allgemein in den letzten 10 Jahren viel sichtbarer und wirkmächtiger geworden. Die Gründung und Entwicklung der AfD ist ein Grund dafür, aber viele andere Entwicklungen spielen mit hinein. Und als Person, als Wissenschaftler, der sich im progressiven Spektrum und als Feminist verortet, fühle ich mich auch verpflichtet, jeder Form von Menschenfeindschaft entgegen zu treten.
Untiefen: Ihr habt bei der Veranstaltung ja sicher nicht zufällig den Begriff „Antifeminismus“ in den Mittelpunkt gestellt, und nicht etwa Frauenfeindschaft oder Sexismus. Warum habt ihr diesen Fokus gewählt und was verstehst Du, was versteht ihr unter Antifeminismus?
Hessel: Ich würde die Begriffe erstmal grundsätzlich so sortieren: Sexismus bezieht sich immer in irgendeiner Form auf geschlechtsbezogene Unterschiede, aber nicht zwangsläufig auf Frauen. Das kann positiv oder negativ formuliert werden. Die klassischen Aussagen, also etwa, dass Frauen emotionaler seien und Männer sachlicher und so weiter, schränken – jetzt allein auf die Individuen bezogen – Menschen gleichermaßen ein, zum Beispiel wenn man sich als Mann versteht und dann meint, keine Gefühle zeigen zu dürfen.
Frauenfeindschaft und Antifeminismus hingegen richten sich immer gegen Frauen. Voneinander unterscheiden lassen sie sich am besten historisch. Frauenhass begleitet die gesamte Zivilisationsgeschichte, seit es patriarchale Geschlechterordnungen gibt. Antifeminismus ist dagegen ein modernes Phänomen. Ursprünglich richtete er sich gegen den Kampf für das Frauenwahlrecht und die Gleichberechtigung von Frauen im Kaiserreich. Die deutsche Publizistin Hedwig Dohm hat mit ihrer Streitschrift „Die Antifeministen“ (1902) in diesem Zusammenhang den Begriff erstmals geprägt. Grundsätzlich definiert haben ihn dann Forscher:innen wie Herrad Schenk in den 1980er Jahren und Ute Planert in den 1990ern. Die Beschreibung, auf die man sich wissenschaftlich einigen kann, ist, dass Antifeminismus eine Reaktion auf Bemühungen um Gleichberechtigung im Geschlechterverhältnis ist. Diese Definition bezieht sich also zum einen auf das Geschlechterverhältnis. Das mag uns zwar als traditionell und althergebracht erscheinen. Aber was wir heute darunter verstehen, ist erst in der Moderne entstanden, also die bürgerliche Kernfamilie, die normativ aufgeladene Arbeitsverteilung, die damit verbundenen Geschlechterrollen und Rollenstereotype und so weiter. Zum anderen geht es um die politischen Kämpfe um Gleichstellung, die auch ein Phänomen der Moderne sind. Antifeminismus bezieht sich also ganz und gar auf die moderne, kapitalistische Gesellschaft und die emanzipatorischen Tendenzen in ihr. Als politische Bewegung richtet er sich offen gegen Gleichberechtigungsbemühungen. Ein historisches Beispiel ist der „Bund zur Verhinderung der Frauenemanzipation“ im Kaiserreich. Auch heute gibt es solch einen organisierten Antifeminismus, das hat etwa in der Gründung der AfD eine wichtige Rolle gespielt. Noch wichtiger als den Blick auf Antifeminismus als politische Bewegung finde ich aber, ihn auch als ein spezifisches Ressentiment zu verstehen. Also als eine mit bestimmten Emotionen und Affekten aufgeladene und in verschiedenen Ausprägungen auftretende, projektive Ablehnung der Verunsicherung und des Unbehagens im Geschlechterverhältnis in der Moderne.
Untiefen: Du unterscheidest also zwischen dem Ressentiment als Massenphänomen und dem organisierten Antifeminismus, also den Leuten, die sich politisch unter diesem Banner zusammenfinden. Gibt es denn, auch in Hamburg, so etwas wie eine antifeministische Szene? Im Sinne von Leuten wie etwa Yannic Hendricks, die vor der Abschaffung des § 219a Ärzt:innen angezeigt haben, die Abtreibungen durchführen? Oder sind das in erster Linie rechtsextreme Strukturen, die auch antifeministisch sind? Wie würdest Du das einschätzen?
Hessel: Es gibt diese organisierten Strukturen, auch in Hamburg. Das genannte Beispiel ist ein klassisch antifeministischer, frauenfeindlicher Akteur. Zuerst aber: Gewalt gegen Frauen ist, auch in Hamburg, weit verbreitet. Für 2021 wurden etwa 5000 Fälle von – teilweise schwerer – Gewalt gegen Frauen gezählt. Und bei den Hamburger Frauenhäusern suchen im Schnitt 4 Frauen pro Tag Hilfe, zugleich sind die Häuser durchschnittlich zu 95 % belegt. Also oft vollkommen ausgelastet. Daher wird ja auch schon länger ein weiteres Frauenhaus gefordert. Hoffentlich kommt das auch bald zu Stande.
Bevor wir zu konkreten antifeministischen Akteur:innen in Hamburg kommen, ist es denke ich wichtig noch etwas Kontext herzustellen: Eine Besonderheit von Ressentiments heute ist, dass sich fast niemand offen zu ihnen bekennt. Niemand will Rassist oder Antisemit sein. Bei Antifeminismus ist das etwas anders: Er wird in der Öffentlichkeit nur sehr selten als Ressentiment benannt, das Problem ist wenig bekannt. Bestimmte Schlagwörter wie „Gendergaga“, „Genderismus“ oder „Frauenlobby“ sind in der Öffentlichkeit ziemlich frei im Umlauf, z.B. als Clickbait bei Spiegel Online oder als Signalwörter in sozialen Medien. Antifeminismus hat daher heute eine starke Integrations- und Scharnierfunktion, organisatorisch aber auch ideologisch. Die Politikwissenschaftlerin Juliane Lang oder auch die Soziologin Rebekka Blum haben das gut herausgearbeitet, sie sprechen auch von einer „Brückenideologie“. Das heißt einmal, Antifeminismus tritt heute meistens nicht allein auf, sondern verbunden mit anderen antimodernen Ressentiments. Wie diese Verschränkungen in Bezug auf Antifeminismus und Antisemitismus, aber auch Verschwörungsvorstellungen funktionieren, haben Janne Misiewicz und ich – hoffentlich anschaulich – an einem exemplarischen Fall analysiert. Der Kern ist in jedem Fall die Behauptung, gesellschaftliche Veränderungsprozesse oder soziale Bewegungen seien mindestens von außen manipuliert, würden vielleicht gar als Instrumente zu anderen Zwecken erzeugt. Damit einher geht die Schaffung entsprechender, meist personal identifizierbarer Feindbilder.
Weiter wird Antifeminismus – wie gesagt – vor allem durch Chiffren und Schlagwörter kommuniziert. Ein Schlagwort wie „Gendergaga“ wirkt dann wie ein Scharnier zwischen Spektren, von der extremen, neonazistischen, völkischen oder Neuen Rechten bis tief in die sogenannte bürgerliche Mitte hinein. Man meint nicht immer genau das Gleiche, aber man kann sich auf eine gewisse Grundlage einigen. Unter anderem darauf, dass man heute das Geschlechterverhältnis und „die Familie“ vor „dem Feminismus“ in Schutz nehmen müsse. Dass also die Emanzipation weitgehend realisiert sei und nun aber zu weit gehe, sich jetzt gegen die Frauen selbst richte. Die Scharnier- und Integrationsfunktion ist in dieser Form eine Besonderheit des Antifeminismus heute, auch daher findet man wenig originär antifeministische Akteur:innen.
Am nächsten kommt dem in Hamburg die AfD. Andreas Kemper oder auch Juliane Lang weisen schon seit der Parteigründung darauf hin, dass der organisierte Antifeminismus eine zentrale Säule dieser Partei ist – ideologisch und organisatorisch. Das zeigt sich etwa an den kleinen Anfragen der AfD Bürgerschaftsfraktion. 2019 fragte etwa der damalige Abgeordnete Harald Feineis den Senat, wann auch in Hamburg Mutter und Vater zu „Elternteil 1“ und „Elternteil 2“ gegendert würden (Drucksache 21/17515). Kleine Anfragen sind natürlich ein wichtiges parlamentarisches Instrument, aber sie dienen der AfD auch dazu, Strukturen und Institutionen zu beschäftigen und politische Punkte vorzubringen. Die Stimmungsmache gegen die angebliche Rede von „Elternteil 1“ und „Elternteil 2“ ist – neben dem grundsätzlichen Lächerlichmachen realer Diskussionen um Formen geschlechtergerechter Sprache – für verschiedene Rechte anschlussfähig. Sie ist etwa auch ein zentraler Talking point von Vladimir Putin. Wie er setzt die AfD-Anfrage schon voraus, dass es da so etwas wie eine Agenda gibt, Mutter und Vater durch geschlechtsneutrale Bezeichnungen zu ersetzen und fragt nur noch: Wann wird das passieren?
Untiefen: Und leider war die Antwort des Senats nicht: Danke, dass sie fragen, das wird dann und dann passieren – sondern gewohnt einsilbig.
Hessel: Ja, genau, der Senat sagt nur: „Die zuständige Behörde hat sich damit noch nicht befasst. Der zuständigen Behörde liegen keine Daten entsprechend der Fragestellung vor.“
In derselben Anfrage fragte Feineis den Senat: „Mit welchen geschlechtsneutralen Sprach- und Wortkreationen beschäftigen sich die bei der Hansestadt angestellten Mitarbeiter, vor allem jene im ‚Zentrum Genderwissen‘ [sic!] aktuell?“. Das Zentrum GenderWissen war der Vorgänger des Zentrums Gender und Diversity, zu dem die Bibliothek gehört, in der wir hier gerade sprechen. Diese Anfragen landen dann bei den Mitarbeiter:innen, die sich dann mit der Beantwortung befassen müssen. Mit dem Ergebnis: „Dem Senat ist derzeit keine Beschäftigung des Zentrums Genderwissen [sic!] mit dem Thema ‚geschlechterneutrale Sprache‘ bekannt.“ Von diesen Anfragen zu Geschlechterforschung und Gleichstellungspolitik gibt es Dutzende, die gehen mittlerweile wahrscheinlich in den dreistelligen Bereich. Ebenso in anderen Bundesländern und im Bundestag.
Ein weiterer wichtiger Akteur mit Scharnierfunktion ist zumindest ein Teil der CDU. Der ehemalige Landesvorsitzende Christoph Ploß hat sich da ja sehr hervorgetan. Zum Auftakt des letzten Bundestagswahlkampfs gab es in Hamburg einen Parteitag unter seiner Führung. Hauptthema war die Forderung, „Gendersprache“ zu verbieten. Der Hintergrund war derselbe wie bei der kleinen Anfrage der AfD, nämlich, dass der Senat den Hamburger Behörden erlaubt hat, gendersensible oder genderneutrale Anreden zu verwenden. Die CDU hat daraus gemacht: Hier soll uns etwas verboten werden – das gehört verboten. In dieser Konstellation, dieser Verkehrung, liegt eine anschauliche Illustration der projektiven Logik von Ressentiments. Das zielte ganz eindeutig auf eine öffentliche Wirkung, auf Affekte und Emotionen. Die wollte man mobilisieren und in Wählerstimmen ummünzen.
Bei der CDU ist das ziemlich instrumentell gedacht. Man hat das auch jetzt im Frühjahr gesehen, bei der berüchtigten Hamburger „Volksinitiative gegen das Gendern in Schulen und Behörden“. Die CDU hat sich einerseits von der Organisatorin Sabine Mertens distanziert, weil die rechtsoffen und homophob auftritt. Zugleich aber will sie von der Initiative und den dadurch erhofften Wählerstimmen nicht ablassen. Sie versucht also von den Affekten zu profitieren, diesem „Man will uns hier von oben etwas aufdrücken“.
Schließlich noch zu den aktivistischen Milieus: Das sind einzelne Personen oder kleine, oft eher lose Gruppen, angefangen mit den bereits von Dir erwähnten Abtreibungsgegner:innen oder christlich-fundamentalistischen Gruppierungen. Die scheinen mir allerdings für Hamburg keine besondere Bedeutung zu haben. Wichtiger sind da gerade Zusammenhänge wie das überschaubare Netzwerk von Personen, das aktuell die Initiative gegen „Gendersprache“ betreibt. Eine ähnliche Struktur hat auch die Querdenken-Szene, und hier wurden antifeministische Topoi im bundesweiten Vergleich in Hamburg sehr stark bedient. Dazu gibt es einen aktuellen Bericht, verfasst unter anderem von Larissa Denk. Vor allem über die schon klassisch zu nennende Chiffre der Kinder, die vor Masken und Pandemiemaßnahmen geschützt werden müssten – oder auch vor staatlichen Schulen und dem, was dort über Geschlecht und Sexualität gelehrt wird. Das zeigte sich dann an Initiativen wie „Eltern stehen auf“. Die knüpft an einen der Kristallisationspunkte des organisierten Antifeminismus in Deutschland an. In den Jahren 2014/2015 entstand aus der Agitation gegen den Bildungsplan in Baden-Württemberg die Bewegung „Demo für alle“. Diese „besorgten Eltern“ richteten und richten sich gegen eine vermeintliche „Frühsexualisierung“ und „Genderisierung“.
Trieb auch in Hamburg sein Unwesen: Der antifeministische Aktivist Yannic Hendricks. Foto: Hinnerk11 Lizenz: CC BY-SA 4.0
Untiefen: Eine tragende Säule ist der Antifeminismus also bei den politischen Parteien eigentlich nur bei der AfD. Auch die Taz hat die CDU im Zusammenhang mit der Volksinitiative gegen „Gendersprache“ als „nützliche Idioten“ statt als Überzeugungstäter bezeichnet. Und sicher stimmt es, dass der Hamburger Landverband liberal ist. Aber: historisch hat das die CDU ja nicht abgehalten – siehe die von Beus/Schill-Koalition 2001–2003 – sich von populistischen radikalen Rechten zur Macht verhelfen zu lassen.Wenn wir momentan von einem Stimmen- und Machtzuwachs der AfD ausgehen müssen: Könnte es sein, dass die CDU den Antifeminismus in Zukunft stärker als Thema (wieder-)entdecken wird? Eben weil er diese Scharnierfunktion hat? Oder ist da das liberale Selbstverständnis doch zu wirksam?
Hessel: Liberal bedeutet bei der Hamburger CDU ja vor allem wirtschaftsliberal – im Sinne von: was gut für Hafen und Handel ist, ist gut für die Stadt.
Untiefen: Auch wenn das heißt, dass z.B. Frauen mit Kindern beim Container-Hafenbetrieb Eurokai Teilzeitarbeit systematisch verwehrt wird.
Hessel: Ja. Aber die CDU vertritt dennoch einen modernisierten Konservatismus. Das ist ja eine der Errungenschaften der deutschen politischen Landschaft nach 1945: Bestimmte Traditionslinien der großen konservativen politischen Parteien konnten wirklich abgeschnitten werden. Für Hamburg teile ich die Einschätzung der Taz, dass der aktuelle Vorsitzende, Dennis Thering, kein Interesse an einer antifeministischen Positionierung hat. Aber dennoch will man es sich mit diesem Wählerpotential nicht verscherzen. Man manövriert, man versucht es nicht zu offensiv anzugehen, will sich diese Themen aber auch nicht ganz nehmen lassen, weil es dann doch ein bestimmtes interessiertes Milieu gibt, das CDU wählt oder vermeintlich wählen könnte.
Bei der Bundes-CDU gibt es dagegen sehr deutliche Zeichen, dass das antifeministische Ticket stärker gezogen werden wird. Äußerungen von Friedrich Merz, aber auch die Rede von Claudia Pechstein lassen das erkennen. Das versucht einen recht weit verbreiteten liberalen, besser vielleicht: libertären Antiliberalismus zu mobilisieren: Hier würde „dem Volk“ von „den Eliten“ in Berlin etwas aufgedrückt und das Leben miesgemacht. Wir sehen hier auch wieder die schon erwähnte Verschränkung und Vermischung mit Elementen anderer Ressentiments, von Intellektuellenfeindlichkeit etwa, Verschwörungsvorstellungen und zumindest die Anschlussfähigkeit an einen gewissen latenten Antisemitismus. Markus Söder hat schon im Frühjahr gegen eine „Woke-Ideologie“ gewettert und gesagt: „Wir brauchen keine Gedankenpolizei, sondern mehr Polizei auf den Straßen.“ Solche Aussagen zeigen schon in ihrer Formulierung, man mobilisiert autoritäre Bedürfnisse en gros, gegen die Verunsicherungen und Herausforderungen einer pluralistischen, diversen, heterogenen Gesellschaft.
Untiefen: Weshalb er dann auch die Grünen als politischen Hauptfeind darstellt, statt die AfD, die ja politisch offensichtlich die viel größere Bedrohung für die CDU/CSU ist.
Hessel: Genau. Und das ist nicht einmal strategisch klug. Die AfD ist mittlerweile eine etablierte Partei und kann mit einem gewissen Erfolgsversprechen locken. Gerade wenn Menschen zwar gefühlt rebellieren wollen, aber sich immer von Autoritäten und „der Mehrheit“, vom „Wir“ gedeckt sehen wollen, warum sollten die in dieser Konstellation CDU wählen statt AfD? Der gefährliche Effekt wird vielmehr eine weitere Normalisierung autoritärer Haltungen und Ideologiefragmente sein.
Untiefen: Wenn wir nochmal auf die Massenebene schauen: Anhand welcher Indikatoren kann man ablesen, dass Antifeminismus als Alltagsphänomen zunimmt? Und: Was gibt er eigentlich den Leuten, warum verfängt dieses Ressentiment immer wieder?
Hessel: Seit der vorletzten Leipziger Autoritarismusstudie werden zum ersten Mal explizit antifeministische Einstellungen abgefragt. Zum Beispiel durch Zustimmung zu Aussagen wie: „Frauen machen sich in der Politik häufig lächerlich.“ Herausgekommen ist, dass aktuell 25 % der Befragten ein zusammenhängendes, antifeministisches Weltbild haben, bei Männern ist es jeder Dritte. Die Zustimmung zu einzelnen Items ist teilweise noch höher. Wir können das aber auch ablesen an der Zunahme alltäglicher, frauen- oder transfeindlicher Gewalt – über ein paar Zahlen haben wir ja schon kurz gesprochen – und an der Zunahme bestimmter Veröffentlichungen und öffentlicher Diskussionen, z.B. um gendersensible Sprache. Und nicht zuletzt eben am Erfolg der AfD, für die Antifeminismus von Beginn an zentral war.
Zur Frage, was es den Leuten gibt: Wie in allen Ressentiments findet hier eine Umkehrung oder Verschiebung statt. Konkret: Statt der Verunsicherung und dem Unbehagen im Geschlechterverhältnis wird die Beschäftigung damit zum eigentlichen Problem erklärt. Zum Beispiel in Form der Gender Studies, über die Chiffre „der Feminismus“, mit den Codes und Schlagwörtern, über die wir bereits gesprochen haben. Es wird also auf eine autoritäre, projektive Weise auf gesellschaftliche Widersprüche und Krisentendenzen der modernen kapitalistischen Gesellschaft reagiert. Man benennt angeblich Schuldige und versucht, das ganz reale Unbehagen durch eine „Rückkehr“ zu einer Ordnung zu beseitigen, die es so nie gegeben hat. Die vorherrschenden Vorstellungen von der bürgerlichen Kernfamilie – Vater, Mutter, gemeinsame Kinder, verheiratet, mit klarer Ordnung von Autorität und Macht – entsprechen seit etwa 30 Jahren zunehmend weniger der Realität. Familienformen haben sich vervielfältigt. Das hat natürlich emanzipatorische Momente, ist aber zugleich für uns alle auch höchst verunsichernd. Dahinter steht ja auch eine gesellschaftliche Veränderung, oft eine Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und Berufsbiographien, generell eine Umverteilung von Bildungsressourcen, von Lebenschancen und von Reichtum auf immer weniger Menschen.
Darauf reagiert Antifeminismus, deshalb sind Menschen auch jenseits ultrakonservativer Milieus für ihn empfänglich. Wie jedes Ressentiment kann allerdings auch der Antifeminismus das Versprechen einer stabilen, beruhigenden Ordnung nie erfüllen. Das Geschlechterverhältnis, so hat es Rebekka Blum treffend in unserem Podiumsgespräch formuliert, ist ja immer in der Krise, da bleibt also immer eine offene Wunde. Agitatoren wollen diese Wunde auch offen halten, die Unruhe immer wieder aufwühlen und diese Energien dann in ihrem eigenen Interesse lenken.
Untiefen: Leo Löwenthal hat das mal so ausgedrückt, dass das Unbehagen wie ein Juckreiz ist, und statt zu einer heilenden Therapie rät der Agitator zum Kratzen, was den Juckreiz noch steigert.
Hessel: Ja, genau!
Untiefen: Wir haben jetzt über rechten und bürgerlichen Antifeminismus gesprochen. Wie steht es mit Antifeminismus in migrantischen Communities, wo es patriarchale, konservative Strömungen des Islam gibt? Das ist sicher von der Zahl der Anhänger:innen und vom Mobilisierungspotential her deutlich kleiner, zugleich gibt es da doch viel offenere und umfangreichere patriarchale Ansprüche. Wenn wir allein an die Islamisten vom IZH an der Außenalster denken, die das patriarchale Regime im Iran stützen, aber auch hier Iraner:innen bedrohen, die feministisch kämpfen. Oder an das Al-Azhari Institut in St. Georg mit dem Imam Mahmoud Ahmed, der durch krass patriarchale Predigten aufgefallen ist, und wo es Demos gab mit separaten Frauenblöcken etc. Wie würdest Du das im Verhältnis zum rechten Antifeminismus einschätzen? Ist der zurecht als größeres Problem stärker auf dem Schirm? Oder sollten wir uns mehr auch um den islamischen Antifeminismus kümmern und das im Blick behalten?
Hessel: Ich bin leider kein wirklicher Kenner der islamistischen Szene in Hamburg. Aber ich glaube, das ist ein großes Problem. Wenn etwa die Hizb ut-Tahrir oder ihre Frontorganisationen es schaffen, über Jahre in Hamburg immer wieder Demos im dreistelligen oder gar vierstelligen Bereich zu organisieren, dann muss einem das zu denken geben. Frauenfeindschaft ist ein Kernbestandteil jedes Islamismus, jedes politischen Islam, dazu kommt der Antifeminismus, als Verlängerungen dessen auch Schwulenfeindlichkeit, Transfeindlichkeit, Ressentiments gegen queere Menschen. All das stabilisiert patriarchale Herrschaft. Selbst der österreichische Verfassungsschutz hat kürzlich explizit davor gewarnt, dass sich extrem rechte und islamistische Akteure bis hin zur terroristischen Szene – zusätzlich zum Judenhass – genau darauf einigen können: auf Queer- und Transfeindlichkeit, Schwulenfeindlichkeit und Antifeminismus. Ich glaube nicht, dass sich da offene Allianzen ergeben werden, zumindest nicht in Hamburg. Aber als ein Hintergrundrauschen gibt das zu denken. Erst vor einigen Monaten wurden ja in Hamburg islamistische Anschlagspläne aufgedeckt und verhindert. Andere, rechtsterroristische, zumindest durch Antifeminismus mit grundierte Attentate konnten nicht verhindert werden, etwa der Anschlag auf die Versammlung der Zeugen Jehovas in Alsterdorf im März. Es kann jederzeit zu auch explizit antifeministischen Anschlägen in Hamburg kommen. Wer immer sich feministisch engagiert, ist in den Köpfen von extrem rechten, islamistischen und anderen Antifeministen ein legitimes Ziel.
Dagegen wäre es wichtig, die gerade stattfindenden Kämpfe gegen patriarchale Herrschaft aller Art mehr wahrzunehmen und zu unterstützen, allen voran etwa für mehr Schutzräume wie Frauenhäuser, aber eben auch den Kampf der Deutsch- und Exil-Iraner:innen in Hamburg.
Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Kollektivität
Eine Veranstaltungsreihe der Innenrevision Kulturbetrieb fragt nach antisemitischen Weltbildern in gegenwärtigen Kunstdiskursen. Die Auftaktveranstaltung findet am 03.05.2023, 19.30 Uhr im BARBONCINO zwölphi statt.
Im September 2022 traten zwei Vertreter des indonesischen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruangrupa eine Gastprofessur an der Hamburger HfbK an. Seitdem ist die Auseinandersetzung über die von Ruangrupa verantwortete antisemitische Kunstschau auch zu einem Streit in Hamburg geworden. Bisher gab es zwar verdienstvolle, aber vereinzelte Proteste, zurückhaltende Ermahnungen aus der Landespolitik sowie einige wenig ergiebige Interviews und Veranstaltungen mit den Ruangrupa-Leuten. Insgesamt aber ist von Betroffenheit oder gar (Selbst-)Kritik innerhalb des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs wenig zu vernehmen. Woran liegt das – auch und gerade jenseits des offensichtlich unverbesserlichen Ruangrupa-Kollektivs?
Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Hamburg eine „Innenrevision Kulturbetrieb“ gegründet. In ihr haben sich in Kunst und Kultur Tätige zusammengeschlossen, die mit einer Veranstaltungsreihe in das beredte Hamburger Schweigen intervenieren wollen. Die Reihe untersucht anhand dreier für den gegenwärtigen Kunstbetrieb zentraler Begriffe – Kollektivität, Widerstand und Solidarität – über welche Einfallstore sich antisemitische Weltbilder im Kunstdiskurs immer wieder verbreiten können.
Die Reihe beginnt am 03.05. mit einer Veranstaltung zu „Kollektivität“.
Die Redaktion Untiefen unterstützt diese Intervention (wie auch der Bagrut e.V., die Untüchtigen sowie der Textem-Verlag) und dokumentiert im Folgenden den Ankündigungstext der Veranstaltung.
Weitere Informationen zu den folgenden Veranstaltungen werden zu gegebener Zeit hier auf Untiefen und auf dem Instagramaccount der Innenrevision Kulturbetrieb veröffentlicht.
Zahlreiche antisemitische Darstellungen auf der Documenta 15 haben einen seit Jahren schwelenden Konflikt in die breite Öffentlichkeit geholt – und altbekannte Frontbildungen verschärft. Mittlerweile kann ohne Übertreibung von einem Kulturkampf gesprochen werden. Gestritten wird über eine vermeintliche Konkurrenz zwischen der Erinnerung an die Shoah und der Erinnerung an deutsche Kolonialverbrechen. Gestritten wird nicht zuletzt auch über das jeweilige Verhältnis zu Israel. Spätestens durch die Berufung zweier Mitglieder des Künstlerkollektivs Ruangrupa an die HFBK ist dies auch ein Hamburger Streit. Gerade im Kunstfeld wird er vehement geführt. Das lässt die Frage aufkommen, ob zentrale Begriffe in der aktuellen Selbstbeschreibung künstlerischer Praxis nicht selbst ideologische Elemente enthalten, die gewollt oder ungewollt antisemitische Weltbilder reproduzieren. Anhand der Begriffe Kollektivität, Solidarität und Widerstand stellen sich die Gäste unserer dreiteiligen Veranstaltungsreihe dieser wichtigen, aber in der bisherigen Debatte vernachlässigten Frage.
Soviel steht fest: Kollektivität liegt im Trend. Noch nie gab es so viele künstlerische Kollektive wie heute. Sie gewinnen renommierte Preise, leiten Theater, Biennalen und Großereignisse wie die Documenta 15. Ihre Popularität verdanken sie einem Versprechen: Basisdemokratisch und anti-hierarchisch, gerecht und inklusiv sollen sie sein, nahbar und zum Mitmachen anregend. Über globale Grenzen hinweg und gleichzeitig lokal verbunden gelten sie als Wegweiser zu einer neuen solidarischen Sharing-Ökonomie, von der alle profitieren. Auf grundlegende Veränderungen der Gesellschaft – so die verbreitete Vorstellung – reagieren heutige Kollektive mit einer grundlegenden Veränderung der Kunst. Sie integrieren politischen Aktivismus, um gesellschaftlichen Fortschritt anzustoßen. Aber geht diese Rechnung auf? Welches Weltbild entwirft die Idee des Kollektivs in der zeitgenössischen Kunst? Was sind die problematischen Implikationen der damit verbundenen Vorstellung von Gemeinschaft und kultureller Identität?
Es diskutieren:
- Tina Turnheim (Theatermacherin, Institut für Neue Soziale Plastik)
- Ole Frahm (Bildtheoretiker, Comicexperte und Mitglied des Künstlerkollektivs Ligna)
Am 21. Dezember jährt sich der Mord an Ramazan Avcı in Hamburg. Die Gewalttat steht auch für die zugespitzten Auseinandersetzungen um Migration und Rassismus in der Bundesrepublik während der 1980er Jahre. Rassistische Straßengewalt war brutaler Ausdruck dieser Entwicklung.
Gedenkveranstaltung für Ramazan Avcı. Foto: Ramazan-Avcı-Initiative.
Am 21. Dezember 1985 wartete der Arbeiter Ramazan Avcı mit seinem Bruder und einem Freund an einer Bushaltestelle bei der S‑Bahnstation Landwehr in Hamburg. Es war Avcıs 26. Geburtstag und die drei waren auf dem Nachhauseweg. Als einige junge rechte Skinheads, die sich vor dem Eingang einer nahegelegenen Kneipe aufhielten, auf die türkischen Männer aufmerksam wurden, beschlossen sie spontan, die Wartenden anzugreifen. Die erste Attacke konnten Avcı und seine Begleiter noch mit Reizgas abwehren, doch die laut Presseberichten 30-köpfige Skinheadgruppe kehrte kurz darauf bewaffnet zurück. Während seine Begleiter sich in einen Linienbus retten konnten, rannte Avcı in Panik auf die Fahrbahn, wo ihn ein Autofahrer anfuhr. Den am Boden Liegenden traktierten die Angreifer mit Knüppeln. Er starb drei Tage später auf einer Hamburger Intensivstation an den Folgen eines Schädelbruchs.
Die Täter waren Mitglieder der berüchtigten »Lohbrügge Army«. Diese Skinheadgruppierung, benannt nach einem Hamburger Stadtteil, gehörte der Hooliganszene um den HSV an. Für viele Beobachter:innen war sofort klar, dass es sich um eine rassistische Gewalttat handelte. Der Vorfall war nicht der erste rechte Mord in Hamburg und Umgebung. Im August 1980 hatten neonazistische Terrorist:innen bei einem Brandanschlag in der Halskestraße zwei Geflüchtete aus Vietnam getötet. In Norderstedt, einem Vorort Hamburgs, hatte am 19. Juni 1982 ein rassistischer Mob den 26-jährigen Tevfik Gürel angegriffen und tödlich verletzt. Wiederum rechte Skinheads hatten am 24. Juli 1985 in Hamburg-Langenhorn den jungen Bauarbeiter Mehmet Kaymakçı auf brutale Weise erschlagen.
Ramazan Avcı. Foto: Ramazan-Avcı-Initiative.
Indes folgte erst auf den Mord an Ramazan Avcı im Dezember 1985 eine aufbrausende öffentliche Reaktion. Intensive Presseberichterstattung, Bürgerschaftsdebatten und eine Demonstration anlässlich des Todes Avcıs deuten darauf hin, dass die Auseinandersetzungen um Migration und Rassismus eine neue Qualität erlangt hatten. Tatsächlich brodelte es in Hamburg und der Bundesrepublik der 1980er Jahre um diese Themen, während rassistische Gewalttaten zunahmen. Im weiteren Verlauf des Jahrzehnts spitzte sich dieser widersprüchliche Diskurs zu, zumal die Zugewanderten mit ihren Stimmen gesellschaftlich mehr und mehr empordrängten und ihre Rechte einforderten.
Die doppelte Transformation der Bundesrepublik
Seit der ersten Hälfte der 1970er machten die westlichen Länder eine krisenhafte Wandlung durch, die den Beginn der neoliberalen Epoche markierte. Mit der Abwicklung weiter Teile der Industrie galten die Arbeitskräfte, die die Bundesregierung seit den 1950ern und 1960ern vor allem aus der Türkei, Griechenland und Italien angeworben hatte, als wirtschaftlich überflüssig. Für große Teile der Öffentlichkeit schienen sie außerdem zunehmend die vermeintliche ethnische Homogenität Deutschlands zu stören. »Überfremdung« war das rassistische Schlagwort der Stunde. Die Regierungen Helmut Schmidts und Helmut Kohls versuchten daher, die »Gastarbeiter:innen« mit Geldprämien zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu bewegen. Diese Rückführungspolitik verkehrte Kohls Parole »Deutschland ist kein Einwanderungsland« jedoch in ihr Gegenteil. Vor die Wahl gestellt, machten die meisten Arbeitsmigrant:innen die Bundesrepublik zu ihrem dauerhaften Zuhause und holten ihre Familien nach. Hinzu kam eine wachsende Zahl von Asylsuchenden. Allein 1985 waren es 100.000 Anträge, auch wenn Bonn eine immer restriktivere Asylpolitik betrieb.
Im Jahr 1986 lebten in Westdeutschland 4,5 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Sie sollten die deutsche Gesellschaft nachhaltig prägen, blieben als »Ausländer:innen« jedoch vorerst Bürger:innen zweiter Klasse. Die Rassismuswelle dieser Jahre ist also vor dem Hintergrund einer Phase der doppelten Transformation zu sehen. Erstens begann sich die Bundesrepublik zu einer neoliberalen Dienstleistungsgesellschaft zu wandeln, was starke sozioökonomische Friktionen verursachte. Von der hohen Arbeitslosigkeit waren vor allem die »Gastarbeiter:innen« betroffen. Zweitens bildete sich das Land zunehmend als pluralistische und liberale, aber widersprüchliche Einwanderungsgesellschaft heraus, die das traditionelle nationale Selbstverständnis herausforderte.
Die Baseballschlägerjahre begannen vor 1990
Die Migrationsabwehr der Bonner Regierungen konnte sich der rassistischen Zustimmung breiter Bevölkerungsteile sicher sein. Diese Konjunktur drückte sich besonders scharf in einer vielseitigen rechten Mobilisierung aus, die auch die Hansestadt erfasste. Dazu zählten die erwähnten Gewalttaten, aber auch das Auftreten verschiedener Organisationen. Im Jahr 1982 gründete sich aus dem Umfeld der NPD eine »Hamburger Liste Ausländerstopp«, die bei den Bürgerschaftswahlen antrat und ähnlichen Parteien in anderen Bundesländern als Vorbild diente. Die seit 1979 existierende rechtsextreme »Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei« (FAP) wurde 1983 vom bekannten Hamburger Neonazi Michael Kühnen und den Anhängern seiner »Aktionsfront Nationaler Sozialisten« (ANS) unterwandert. Die ANS, die die Behörden im gleichen Jahr verboten hatten, rekrutierte ihre Mitglieder wiederum in der hamburgischen Skinheadszene, der auch die Mörder Ramazan Avcıs angehörten.
Avcı, Kaymakçı und Gürel waren nicht die einzigen Opfer solcher Gewalttäter. In verschiedenen Hamburger Vierteln waren Jugendgangs aktiv, doch die Hooliganszene um den HSV ragte als stramm rechts und besonders gefährlich heraus. Eine Sonderausstellung des HSV-Museums dokumentierte 2022 eine lange Chronik rechter Übergriffe und Gewaltexzesse, für die diese männerbündischen Fangruppierungen verantwortlich waren. Die Morde an Avcı und Kaymakçı sowie die Tötung des Bremer Fußballfans Adrian Maleika bildeten traurige Höhepunkte.
Aufruf zur Gedenkdemonstration 1986. Quelle: Archiv Infoladen Schwarzmarkt.
Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Chronik nur einen Bruchteil der Taten dokumentiert. Sowohl Flugblätter antifaschistischer Gruppen als auch Berichte etablierter Medien aus den 1980er Jahren vermitteln ein Bild alltäglicher Gefahr für Menschen, die als »Ausländer:innen« identifiziert wurden. »Skinheads schlugen wieder zwei Ausländer nieder« titelte das Hamburger Abendblatt am 2. Januar 1986 und am 13. Januar: »Skinheads überfielen Türken in der S‑Bahn.« Im Archiv des Spiegels sind vergleichbare Berichte einsehbar. In den Vorjahren sah die Situation nicht anders aus. In einem »Bericht über (neo)faschistische und antifaschistische Aktivitäten in Hamburg« aus der Feder einer Antifagruppe hieß es 1984: »Hamburg-Bergedorf 20.5.: 50 Skins prügeln sich mit Türken am Bhf. Ein Türke wird mit einem Holzknüppel schwer verletzt.« Eine ähnliche Antifa-Recherche von 1983 berichtet: »29.11. Das ›Broadway‹ zeigt den Film ›Under Fire‹. Die ›Savage Army‹ lief auf, beschimpfte Ausländer und Linke und verprügelte eine chilenische Frau.«[1] Vor wenigen Jahren wurde der Begriff »Baseballschlägerjahre« geprägt, um die Hochphase rechter Straßengewalt im Deutschland der 1990er zu beschreiben. Dieser Ausdruck ist auch für Hamburg im Jahrzehnt vor der Wende angemessen.
Migrantische Selbstorganisierung gegen Rassismus
Gegenüber der migrationsfeindlichen Politik sowie dem Straßenterror regte sich jedoch zunehmend Widerstand. Auf Sankt Pauli hatte sich am 26. Mai 1982 die türkische Arbeiterin und Dichterin Semra Ertan aus Protest gegen diesen Rassismus selbst entzündet. Ein weniger tragischer Ausdruck des Aufbegehrens war die Avcı-Demo am 11. Januar 1986, zu der ein breites Bündnis von 23 deutsch-türkischen Organisationen und Gewerkschaften aufgerufen hatte. Je nach Quelle folgten zwischen 10.000 und 15.000 Menschen dem Aufruf, was ebenfalls auf den großen gesellschaftlichen Stellenwert des Vorfalls hinweist. Die zahlreichen türkischsprachigen Transparente und Pappschilder, die die Presse dokumentierte, bewiesen den hohen Anteil türkischer beziehungsweise migrantischer Personen an dem Protest. Dieser wandte sich gegen »Ausländerfeindlichkeit«, wie Rassismus seinerzeit genannt wurde, und forderte die generelle Gleichstellung der Immigrierten.
Migrantische Selbstorganisierung war in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren aufgekommen und spielte überdies eine wichtige Rolle in industriellen Arbeitskämpfen der neoliberalen Transformationsphase, beispielsweise bei der spektakulären Besetzung der HDW-Werft im Hamburger Hafen 1983. Diese Aneignung politischer Subjektivität erhielt nach dem Mord an Avcı neuen Schwung. Organisator:innen des Protest gründeten nun das »Bündnis Türkischer Einwanderer«, aus dem zehn Jahre später die »Türkische Gemeinde Deutschland« hervorgehen sollte. In der Tat spiegelte sich diese emanzipative Entwicklung auch im Bereich der Jugendgangs. Die »Champs« auf Sankt Pauli waren etwa stark migrantisch geprägt und setzten sich gegen die Übergriffe der Skinheadbanden zur Wehr.
Die Wahrnehmung der Betroffenen geriet nach Avcıs Tod wenigstens vorrübergehend in den Fokus der Medien. Den Zuschauer:innen des Hamburg Journals des Norddeutschen Rundfunks erklärte ein junger türkischer Mann Anfang 1986 zum Beispiel: »Ich hatte so viele Scheiben in der S‑Bahn gesehen und so, wo die da geschrieben haben, ›Scheißtürken, raus aus Deutschland‹. Also ehrlich gesagt, ich trau mich nicht … Ich habe Angst in Deutschland zu leben, denn ich habe Angst, dass wir irgendwann mal aus Deutschland rausgeschmissen werden und dass wir überhaupt keine Rechte haben wie ein Deutscher.«
Widersprüchliche Liberalisierung
Dass Reporter:innen Betroffene zu Wort kommen ließen, hing auch damit zusammen, dass die westdeutsche Gesellschaft zumindest teilweise eine neue Sensibilität gegenüber Rassismus und rechter Gewalt entwickelt hatte. Diese blieb jedoch widersprüchlich. So sammelte die Pressestelle des Hamburger Senats nach der Tat vom 21. Dezember 1985 hunderte einschlägige Presseartikel größtenteils Hamburger Zeitungen, die meisten davon aus dem Jahr 1986. Die Medien berichteten intensiv zum Vorfall, zu »Ausländerfeindlichkeit« generell sowie über Skinheads. Deren Gewalt gegen migrantische Gruppen und linke Punks framte man jedoch häufig als unpolitische Auseinandersetzungen.
Angesichts der intensiven Berichterstattung war es kein Wunder, dass sich auch die Bürgerschaft mit Avcıs Tod befasste. Die Fraktionen der »Grün-Alternativen Liste« (GAL) und der SPD beriefen in der Plenarsitzung am 15. Januar 1986 eine Aktuelle Stunde ein, in der es zu hitzigen Schlagabtäuschen kam. Es entsprach einer unter Linken und Migrant:innen weitverbreiteten Auffassung, wenn die GAL rassistische Übergriffe in direkten Zusammenhang mit der bundesdeutschen Migrationspolitik stellte: »Die Mordabsicht der Skinheads ist gegen die Lebensinteressen der Ausländer in dieser Stadt gerichtet. Das Sondergesetz für Ausländer, die Lagerhaltung von Menschen und die Abschiebepraxis sind es ebenso.« Der Erste Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) deutete die anhaltenden rassistischen Angriffe einige Tage später hingegen als Schlägereien zwischen Jugendlichen um und verharmloste sie auf diese Weise. Die Betreffenden rief er dazu auf, »diese Kette der Gewalt abzureißen. Hamburg will Frieden. Ich weiß wohl: diese Vorfälle sind nicht typisch für das Zusammenleben der Deutschen und Türken in Hamburg. […] Aber eine böse Tat droht die nächste hervorzurufen.«
Zu der erwähnten, in den 1970er Jahren einsetzenden Transformation gehörten schwere Kämpfe der Mehrheitsgesellschaft um ihr wichtiger werdendes Selbstverständnis als liberale Demokratie. So kritisierten linksliberale Stimmen die restriktive und diskriminierende Ausländerpolitik der Bundesregierung massiv. Auch für die radikale Linke wurde Rassismus und Rechtsextremismus zu bestimmenden Themen. Der Diskurs war extrem polarisiert und dominierte die Innenpolitik in der zweiten Hälfte der 1980er. Kaum zufällig fielen in diese Phase erinnerungskulturelle Wegmarken wie der »Historikerstreit« oder die Anerkennung »vergessener Opfer« des Nationalsozialismus. Ein weiterer Gradmesser ist der enorme Erfolg von Günther Walraffs Buch »Ganz unten«, das zwei Monate vor dem Überfall auf Ramazan Avcı erschienen war und die Lage türkischer Arbeitsmigrant:innen skandalisierte. Nach zwei Wochen waren 650.000, nach vier Monaten vier Millionen Exemplare verkauft. Wallraff sprach dann auch bei der Großdemo am 11. Januar 1986 in Hamburg. Weiterhin fiel der Start einer antirassistischen Kampagne des Deutschen Gewerkschaftsbundes unter der Parole »Mach‘ meinen Kumpel nicht an« in den Aufruhr um den Mord an Avcı.
Diese Liberalisierungstendenzen in Gesellschaft und Geschichtspolitik waren keineswegs eindeutig und unumstritten, sondern konkurrierten etwa mit einem erinnerungskulturellen Hype um »Preußen«. Nicht zuletzt stand die progressive Entwicklung dem alltäglichen und dem institutionellen Rassismus gegenüber, der sich auch im Urteil gegen die Mörder Ramazan Avcıs zeigte: Das Landgericht Hamburg verurteilte die Haupttäter im Juli 1986 zwar zu mehrjährigen Gefängnisstrafen wegen Totschlags, weigerte sich jedoch eine rassistisch motivierte Mordabsicht anzuerkennen. Die Folge war ein empörter Tumult im Gerichtssaal.
Auf Betreiben der Ramazan-Avcı-Initiative 2012 vom Hamburger Senat eingeweihter Gedenkstein. Foto: privat.
Trotz der intensiven Auseinandersetzung um den Mord im Frühjahr 1986, scheint diese Geschichte – wie der Terror in der Halskestraße – ebenfalls im Schatten der extrem rechten Mobilisierungen der 1990er zu stehen. In der Tat ist die rassistische Gewalt in Westdeutschland vor 1990 heute generell weitgehend verdrängt worden. In der Regel fokussiert die Geschichte des rechten Terrors in der Bundesrepublik auf die Zeit nach der »Wiedervereinigung« und die neuen Bundesländer, was erinnerungskulturell problematisch ist. So erscheinen rassistische Mobilisierungen zuvörderst als ostdeutsches Phänomen, während die Kontinuität des bundesrepublikanischen Rechtsextremismus hinter der Nebelwand der Epochengrenze verschwindet. Die westdeutsch dominierte Berliner Republik kann unangenehme Aspekte der nationalen Vergangenheit damit als Problem postsozialistischer »Ossis« externalisieren.
Auch deswegen ist eine umfassende Gedenkkultur um die Opfer rechter Gewalt umso wichtiger. Anschub, die Erinnerung an den Mord an Avcı wenigstens lokal wachzurufen, kam »von unten«, aus den Reihen eines migrantischen Zusammenhangs. Nachdem sich 2010 eine Gedenkinitiative gegründet hatte, weihte der Hamburger Senat 2012 auf deren Betreiben einen Gedenkstein ein und benannte den Platz bei der S‑Bahnstation Landwehr nach Ramazan Avcı feierlich um. Jährlich am 21. Dezember hält die Initiative eine Gedenkveranstaltung am Ort des Geschehens, bei der Angehörige von Ramazan Avcı sprechen. Auch an den Mord an Mehmet Kaymakçı erinnert seit Sommer 2021 ein Mahnmal im Kiwittsmoor-Park in Langenhorn, jedoch besuchten nur relativ wenige Menschen die Einweihungszeremonie. Das Gedenken an die Hamburger Baseballschlägerjahre erhält noch nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient.