Gegen rechtsextreme Vereinnahmungsversuche – Solidarität mit empower
Im Oktober 2024 veröffentlichten wir anlässlich des Jahrestages des Massakers der Hamas im Süden Israels eine Chronik antisemitischer Vorfälle in Hamburg im zurückliegenden Jahr. Wir kritisierten u.a. die bisherige Datenerhebung in Hamburg. Die AfD versucht dies für ihre rechtsextreme Agenda zu instrumentalisieren.
Am 8. Oktober 2024 veröffentlichten wir anlässlich des vorangegangenen Jahrestages des Massakers der Hamas im Süden Israels gemeinsam mit dem Bildungsverein Bagrut e.V. eine Chronik antisemitischer Vorfälle in Hamburg im Jahr danach.
Darin kritisierten wir unter anderem, dass es, anders als in anderen Bundesländern, in Hamburg keine öffentliche Dokumentation antisemitischer Vorfälle gibt. Die öffentlich geförderte digitale Hinweis- und Meldestelle memo und ihren bisherigen[1] Träger, die Beratungsstelle empower, kritisierten wir dafür, dass sie bis 2024 die Fallzahlen für rechte, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe nur zusammengefasst veröffentlichten. Außerdem bemängelten wir, dass die von der Meldestelle sowie von anderen, städtischen Institutionen bislang veröffentlichten Daten kaum Hinweise auf die Qualität und die Umstände antisemitischer Gewalt in Wort und Tat in Hamburg sowie auf mögliche ideologische Motivationen der Täter:innen geben.
Unserer Kritik liegen die von uns recherchierten Daten sowie die Wahrnehmung von Betroffenen zugrunde, denen zu Folge der öffentliche Umgang mit Antisemitismus auch in Hamburg selektiv ist. Insbesondere im Umgang mit selbsterklärt »pro-palästinensisch«, also nationalistisch und/oder antiimperialistisch gerechtfertigten Taten entziehen sich Hochschulen, Kulturinstitutionen oder politische Gruppen oft klarer Stellungnahmen, anstatt Antisemitismus klar zu benennen und die Stimmen der Betroffenen, von Hamburger Jüdinnen und Juden, ernst zu nehmen. Im Gespräch sagte uns im Oktober 2024 Rebecca Vaneeva, Präsidentin des Verbands jüdischer Studierender Nord: »Es gibt einen verbreiteten Selbstbetrug über die Komplexität des Phänomens Antisemitismus. Rechtsextremer Antisemitismus wird zum Glück weitgehend verurteilt. Es handelt sich aber auch um ein muslimisches und ein linkes Phänomen.«
Daher forderten wir eine systematischere Erhebung und ein entsprechendes institutionalisiertes Monitoring zur weiteren Aufklärung des Dunkelfeldes und der Hintergründe antisemitischer Gewalt in der Hamburger Gesellschaft heute – mit allen Herausforderungen und Konflikten, in der ganzen Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit. Es braucht hier mehr Wissen, nicht weniger.
Unsere Kritik druckte auch die taz in einem kurzen Bericht zu unserer Chronik ab. Unter Bezug auf diesen Artikel versuchte die Bürgerschaftsfraktion der AfD Anfang Dezember in einem Antrag zum Doppelhaushalt 2024/2025 unsere Chronik zu instrumentalisieren.
Unter Verweis u.a. darauf, dass »selbst Autoren des linken Magazins Untiefen« die Erhebungspraxis von memo »kritisch« sähen, beantragte die AfD-Fraktion, dem bisherigen Träger der Meldestelle, der Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt empower, im neuen Haushalt jegliche Mittel zu streichen. Empower wird im Antrag als »Fake-Beratungsstelle« und »Propagandazentrale« bezeichnet. Zusätzlich forderte die AfD, Zuwendungen unter anderem an die VVN-BdA, den CJD oder die Falken im neuen Haushalt zu streichen. Sämtliche Anträge der AfD zum Haushalt wurden – wie zu erwarten – in den Haushaltsberatungen vom 16. bis 18. Dezember 2024 von den demokratischen Fraktionen der Bürgerschaft abgelehnt.
Die Agenda hinter diesen Anträgen der AfD-Bürgerschaftsfraktion ist klar: Es geht um die Mobilisierung autoritärer Affekte und um rassistische und xenophobe Stigmatisierung ganzer Gruppen der deutschen Bevölkerung. Suggeriert wird durch die AfD ein Bild angeblicher »links-grüner« Korruption und Klientelwirtschaft bis hin zu einer Förderung vorgeblich verdeckter »linksextremistischer« Strukturen. Zudem soll der Eindruck entstehen, Gewalttaten von Asylbewerber:innen und Muslimen würden grundsätzlich verharmlost und unter den Teppich gekehrt, während sie in Wahrheit in dieser Stadt das größte Sicherheitsproblem darstellten. Demgegenüber möchte sich die AfD als Kämpferin gegen Korruption und als Anwältin der »öffentlichen Sicherheit« inszenieren.
Entgegen ihrer eigenen Inszenierung hat sich die Hamburger AfD nicht damit hervorgetan, die Informationslage bezüglich Vorfällen menschenfeindlicher Gewalt zu verbessern. Wie wir in unserer Chronik hervorheben, waren es Angehörige anderer Oppositionsfraktionen (Linkspartei und CDU), die maßgeblich dazu beigetragen haben, der Hamburger Öffentlichkeit ein besseres Bild zu verschaffen. Und während die AfD in ihrem Antrag zwar behauptet, sie unterstütze den Kampf gegen jegliche politisch motivierte Gewalt, zeigen die konkreten Forderungen, dass sie die Erfassung von Gewalttaten der (extremen) Rechten – inklusive des dort kultivierten Judenhass – am liebsten ganz einstellen will. Gleiches gilt für Ausstiegsberatung aus der rechten Szene und weitere Angebote, insbesondere der Opferberatung.
Wir widersprechen dem rechtsextremen Versuch, unsere Arbeit zu vereinnahmen, aufs Schärfste. Die AfD ist unter der Kritik. Wir solidarisieren uns mit allen in den Anträgen angegriffenen Vereinen und Einrichtungen, vor allem mit der Opferberatung empower sowie der Meldestelle memo. Ihre Arbeit sollte ausgebaut, verbessert und zugänglicher gemacht werden, nicht zusammengestrichen.
Redaktion Untiefen & Bagrut e.V. Hamburg, Januar 2025
[1] Laut der Website von memo befindet sich die Hinweisstelle seit dem 1. Januar 2025 in Trägerschaft der Lawaetz-Stiftung.
Chronik antisemitischer Vorfälle in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023
Seit dem Massaker der Hamas am 07. Oktober 2023 gibt es auch in Hamburg eine Welle antisemitischer Vorfälle. Wir haben gemeinsam mit dem Bildungsverein Bagrut e.V. eine Chronik über das vergangene Jahr erstellt, um das Ausmaß und die Formen des Antisemitismus sichtbar zu machen.
Am 7.10.2023 verübte die islamistische Terrororganisation Hamas auf israelischem Boden ein genozidales, antisemitisches und misogynes Massaker. Die grausame und wahllose Ermordung von 1.200 Menschen, die Vergewaltigung zahlreicher Frauen und die Entführung von 250 Personen bedeuteten eine Zäsur selbst in der an gewaltvollen Ereignissen kaum armen Geschichte des Judenhasses. Die libanesische, vom Iran gesteuerte Miliz Hisbollah startete am 8.10.2023 in Solidarität mit der Hamas eine neue Angriffswelle gegen Israels Norden; die Houthi-Milizen im Jemen schlossen sich mit ähnlichen Angriffsversuchen an. Die militärische Reaktion der israelischen Streitkräfte dauert bis heute an. Die Kämpfe haben im Gazastreifen bereits viele Tausend zivile Opfer gefordert und große Teile der dortigen Infrastruktur zerstört.
Weltweit, und auch in Hamburg, formierte sich nach einer nur kurzen Schockstarre eine Welle antisemitischer und israelfeindlicher Gewalt in Wort und Tat – auf Wänden, auf den Straßen, in den Hörsälen, in den digitalen Medien. Die Gewalt richtet sich gegen (vermeintliche) Jüdinnen und Juden, gegen (vermeintlich) jüdische und israelische Einrichtungen, gegen mit Israel solidarische oder auch lediglich antisemitismuskritische Demonstrierende, Aktivist:innen oder Künstler:innen, Kulturzentren, Clubs oder Bars und viele weitere.
Die Folgen für jüdisches Leben in Hamburg
Welche Folgen dieses gewalttätige Klima für Jüdinnen und Juden in Hamburg hat, berichtete uns eindrücklich Rebecca Vaneeva. Sie ist derzeit Präsidentin des Verbands jüdischer Studierender Nord. Die Zunahme antisemitischer Anfeindungen führt ihr zu Folge unter den Mitgliedern ihres Verbandes zu einem Rückzug in die Anonymität. Jüdische Identität wird versteckt. Im öffentlichen Auftreten zensieren Jüdinnen und Juden sich zunehmend selbst, um keine Angriffsfläche zu bieten: »Besonders an den Hochschulen war die ständige Präsenz israelfeindlicher und antisemitischer Proteste schwer erträglich«, so Vaneeva.
Besonders an den Hochschulen war die ständige Präsenz israelfeindlicher und antisemitischer Proteste schwer erträglich
Gegenüber dem Zeitraum vor dem 07. Oktober hat sich in ihrer Wahrnehmung die Lage »auf jeden Fall verschlimmert«. Vaneeva kritisiert gegenüber Untiefen: »Jüdische Studierende und unser Verband erfahren zwar vereinzelt Solidarität, aber es gibt keine aktive Gegenbewegung gegen Antisemitismus.« Woran fehlt es aus ihrer Sicht konkret? »Es bräuchte Safe Spaces, Anlaufstellen, die konsequente Moderation von Online-Inhalten und auch strafrechtliche Konsequenzen für Terror-Propaganda. Würde das ähnliche engagiert verfolgt wie etwa die rassistischen Gesänge in dem berüchtigten ›Sylt-Video‹, wäre schon viel gewonnen«. Die Hochschulen machen es sich ihrer Meinung nach etwa bei antisemitischen und israelfeindlichen Verstaltungen zu bequem. Terror-relativierende Seminare und Vorträge, die unter dem Deckmantel von Hochschulgruppen nahezu anonym organisiert werden können, werden fast immer toleriert, selbst wenn einschlägige Aktivist:innen beteiligt sind.
Es gibt einen verbreiteten Selbstbetrug über die Komplexität des Phänomens Antisemitismus.
Den Umgang mit den verschiedenen Formen von Antisemitismus bezeichnet Rebecca Vaneeva insgesamt als »selektiv«, denn: »Es gibt einen verbreiteten Selbstbetrug über die Komplexität des Phänomens Antisemitismus. Rechtsextremer Antisemitismus wird zum Glück weitgehend verurteilt. Es handelt sich aber auch um ein muslimisches und ein linkes Phänomen. Unsere Mitglieder berichten uns, dass sogar die Mehrzahl der Anfeindungen, die sie erleben, aus muslimischen und linken Milieus kommen«.
Wie ist die Datenlage in Hamburg?
Dieser »selektive Umgang« wird in Hamburg auch dadurch gestützt, dass es, anders als in anderen Bundesländern, keine öffentliche Dokumentation antisemitischer Vorfälle gibt. Abseits der v.a. durch Kleine Anfragen in der Hamburgischen Bürgerschaft[1] veröffentlichten Daten der Polizei, die auf zur Anzeige gebrachten Delikten von Hasskriminalität basieren, existiert offenbar keine systematische Sammlung. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum haben sich laut diesen Daten die Fälle antisemitischer Hasskriminalität im 4. Quartal 2023 verfünffacht. Bundesweite Zahlen des Bundeskriminalamts zur „politisch motivierten Kriminalität“ (PMK) und des Bundesverbands Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) weisen in dieselbe Richtung.
Das zivilgesellschaftliche Monitoring betreibt in Hamburg die 2021 gegründete, öffentlich geförderte digitale Hinweis- und Meldestelle memo. Sie veröffentliche allerdings bislang die Fallzahlen für rechte, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe nur zusammengefasst. In einem im Sommer 2024 vorgelegten Bericht veröffentlichte die Trägerin der Meldestelle, die Beratungsstelle empower, für 2023 genauere Zahlen und berichtete 282 dort bekannt gewordene Fälle von Antisemitismus in Hamburg. Nach dem 7. Oktober verzeichnete man auch hier einen starken Anstieg.
Aber: Alle verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass es ein großes Dunkelfeld gibt. In einer ebenfalls im Sommer 2024 veröffentlichten Studie der Akademien der Polizei Hamburg und Niedersachsen gaben 77 % der befragten Hamburger Jüdinnen und Juden an, innerhalb des vergangenen Jahres Antisemitismus erfahren zu haben. Die Studie schätzt den Anteil unbekannter Fälle auf 80 %. Und: die Daten verraten nichts über die konkreten Fälle. Wer sind die Täter, wer die Geschädigten? Welche Ideologien stehen jeweils dahinter?
Eine öffentliche Chronik für das Jahr nach 07/10
Aufgrund dieser offenen Fragen haben wir uns entschlossen, selbst eine Chronik antisemitischer Vorfälle in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023 anzulegen. Damit wollen wir einen Eindruck vom Ausmaß und den verschiedenen Formen des Antisemitismus in Hamburg vermitteln. Und Entgleisungen in Erinnerung halten, die meist allzu schnell in Vergessenheit geraten. Wir haben dazu aus verschiedenen Quellen eine Liste von derzeit 187 antisemitischen Vorfällen für den Zeitraum 7.10.2023 bis 7.10.2024 zusammengestellt. Darunter sind Presseberichte, online dokumentierte Vorfälle, persönliche Berichte aus der jüdischen Community und von anderen Betroffenen sowie die genannten, durch die Anfragen in der Bürgerschaft veröffentlichten Quartalszahlen zu Hasskriminalität. Diese Momentaufnahme für das Jahr nach dem 7. Oktober kann und will aber natürlich nicht eine systematische Erhebung und ein entsprechendes institutionalisiertes Monitoring ersetzen. Das bleibt notwendig.
Was wir erfasst haben – und was nicht
Bekanntlich ist die Frage, was als antisemitisch einzuordnen ist, durchaus umstritten. Wir haben uns an der Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) von 2019 sowie der Systematik des Bundesverbands RIAS orientiert. Diese unterscheidet „verletzendes Verhalten“, „Bedrohung“, „Angriff“, „(extreme) Gewalt“, „(gezielte) Sachbeschädigung“ und „Massenzuschriften“. Das bedeutet, die Fälle reichen potenziell von einschlägigen Äußerungen oder antisemitisch motivierten Veranstaltungen bis hin zu körperlicher Gewalt.
Bei einigen Vorfällen, die wir recherchieren konnten, ist nicht ohne Weiteres zu klären, ob sie nach der verwendeten Systematik antisemitisch genannt werden können.[2] Meist deshalb, weil über den Kontext und/ oder den konkreten Ablauf wenig bekannt ist. Wir haben daher nur Fälle aufgenommen, bei denen der antisemitische Gehalt bzw. eine entsprechende Intention deutlich erkennbar ist. Um unserer Verfahren transparent zu machen, haben wir in Anhang 1 (unter der Tabelle) drei Beispiele für Fälle, deren Kategorisierung wir intensiver diskutiert haben, zusammengestellt und unsere Entscheidung kurz skizziert.
Nicht aufgenommen haben wir etwa einige Fälle von – gleichwohl eindeutigem – Israelhass. Das meint die Dämonisierung Israels, z.B. als »Apartheidstaat« oder als »kolonial«, die durchaus in der Praxis meist antisemitisch, d.h. judenfeindlich gemeint sein kann bzw. die praktisch oft eine solche Wirkung hat. Ähnlich sind wir mit einigen offensichtlich falschen Darstellungen des 7. Oktobers (etwa als bloße Verteidigung, als Widerstand o.Ä.) umgegangen. Unser Hauptaugenmerk lag darauf, eine möglichst konsistente Liste zu erzeugen.
Das bedeutet auch: nicht nur gab es mit Sicherheit in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023 mehr Fälle der Art, wie wir sie zusammengetragen haben. Sondern Antisemitismus bedient sich im gegenwärtigen kulturellen Klima noch weiterer Sujets und Techniken. Dass sie nicht immer eindeutig als antisemitisch erkennbar sind, ist dabei durchaus beabsichtigt – und Teil des Problems im Umgang mit dem Antisemitismus. Er ist nach Auschwitz in der BRD – noch – mit einem öffentlichen Tabu belegt und wird eher indirekt geäußert. Die Kommunikation auf Umwegen, in Codes, Schlagworten und auf Einverständnis zielenden Andeutungen dient dazu, dieses Tabu zu umgehen. Kaum jemand bezeichnet sich selbst als Antisemiten. Im Gegenteil wird der Hinweis auf antisemitische Gehalte und Wirkungen in der Praxis allzu oft als „Antisemitismusvorwurf“ abgewehrt.[3]
Schlussfolgerungen
Unsere Liste bestätigt die politische Einschätzung Rebecca Vaneevas: bei den von uns recherchierten Fällen handelt es sich, soweit erkennbar, vielfach um selbsterklärt „pro-palästinensisch“, also nationalistisch und/oder antiimperialistisch gerechtfertigte Taten. Der rechtsextreme Antisemitismus mit positivem Bezug auf den Nationalsozialismus oder als Relativierung des Holocausts sowie ein Alltagsantisemitismus aus der „Mitte der Gesellschaft“ (z.B. Juden seien „ganz anders als wir“) spielen allerdings nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Rolle.
In der untenstehenden Tabelle haben wir nicht alle 187 Fälle aufgenommen, sondern nur exemplarische, die die verschiedenen Formen des Antisemitismus und ihre Gewichtung in Hamburg möglichst gut illustrieren. Der vollständige Datensatz kann auf Anfrage zugänglich gemacht werden.
Unsere Sammlung für das Jahr nach dem 7. Oktober 2023 kann aus den genannten Gründen keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität erheben. Die allermeisten Vorfälle werden nie gemeldet oder öffentlich bekannt. Daher möchten wir Sie herzlich bitten: Bringen Sie entsprechende Fälle ggf. zur Anzeige und melden Sie sie in jedem Fall einer Meldestelle wie dem Bundesverband RIAS. Falls Sie von weiteren Vorfällen im zurückliegenden Jahr in Hamburg wissen, berichten Sie uns bitte davon. Wir werden die Chronik dann aktualisieren.
Ein gemeinsames Projekt von Untiefen und dem Bildungsverein Bagrut e.V., bearbeitet von Felix Breuning und Florian Hessel.
Wann?
Was?
Wo?
Quelle
10/8/2023
Antisemitischer Kommentar auf der Instgram-Seite von Bagrut e.V.: »Dann verpisst euch einfach aus deren Gebieten! Wieso müsst ihr weiterhin solche kolonialisten [sic!] sein! Apartheids Südafrika und Nazi Deutschland können von euch noch ne Menge lernen [weinendes Emoji]«
Ottensen
Instagram
10/9/2023
Übergriff auf israelsolidarische Demonstrantinnen »In Hamburg sind nach einer Solidaritätskundgebung für Israel zwei Teilnehmerinnen angegriffen worden. […] Die beiden 32 und 47 Jahre alten Frauen waren nach der Kundgebung mit dem Abbau beschäftigt, als sie plötzlich attackiert wurden. Zwei junge Männer griffen sie von hinten an, schlugen und traten auf die Frauen ein. Dabei rissen sie ihnen auch eine Israel-Flagge aus der Hand und trampelten auf ihr herum.«
Altstadt
NDR
10/20/2023
Antisemitische Flyer in St. Georg »Einige Menschen verteilten dort [vor den gut besuchten Moscheen im Stadtteil St. Georg] Flyer, auf denen die Angriffe Israels auf den Gaza-Streifen kritisiert wurden.« Darauf verwendete Ausdrücke sind u.a.: »Verbrecherische Zionisten«, »Zionistengebilde«, »Genozid«. (Anm.: Der Begriff »Zionistengebilde« ruft das antisemitische Klischee auf, Juden wären nicht zum Aufbau eines »normalen« Staates fähig und/oder spricht dem Staat grundsätzlich das Existenzrecht ab.)
St. Georg
NDR
10/20/2023
NDR-Moderator und Centralcongress-Betreiber Michel Abdollahi nutzt in IG-Video antisemitische Stereotype, behauptet u.a., Israel wolle den Menschen im Gaza-Streifen »bis zum letzten Blutstropfen alles wegnehmen«.
Altstadt
X (Twitter)
10/23/2023
Ausschreitungen und Parolen in Harburg: »Am Montagabend hat es in Hamburg-Harburg Randale von Jugendlichen und jungen Männern gegeben. Vor Ort wurden rechtsextreme und israelfeindliche Botschaften verbreitet. Nach Angaben der Polizei versammelten sich ab 18 Uhr rund 40 Jugendliche und junge Männer am Harburger Ring. Bis 1 Uhr nachts sollen sie dort für Unruhe gesorgt haben. Unter anderem sprayten die Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 21 Jahren israelfeindliche Parolen und zündeten offenbar auch Böller. Die Polizei spricht von politisch motivierten Straftaten im Zusammenhang mit den Nahost-Konflikt. Vor Ort äußerten sich einige Jugendliche rechtsextrem und israelfeindlich. Andere sagten, sie wollten ein Zeichen dafür setzen, dass sie auf der Seite von Palästina stünden und sich solidarisch zeigen.«
Harburg
NDR
10/24/2023
Plakatzerstörung an der Roten Flora: »Unbekannte [haben] das riesige Solidaritätsplakat [für die Opfer des Massakers am 7. Oktober] an der Flora-Fassade überklebt, die Worte „Jüdinnen“ und „Juden“ wurden entfernt. Viele Betrachter sind empört.«
Sternschanze
Mopo
10/27/2023
Die organisierenden Gruppen einer geplanten »Anti-Repressionsparty« im Centro Sociale (u.a. das Offene Antifaschistische Treffen Hamburg (OAT)), wollen sich nicht von den mitorganisierenden »Young Struggle« distanzieren, obwohl diese zuvor auf ihrer Website einen Artikel veröffentlicht haben, der das Massaker vom 07. Oktober 2023 als »Gefängnisausbruch des palästinensischen Volkes« verharmlost und legitimiert. Das Nutzer:innenplenum sagt daraufhin die Veranstaltung ab.
Sternschanze
Jungle World
10/28/2023
Islamistische Versammlung in St. Georg: »Etwa 500 Menschen haben sich am Sonnabend auf dem Steindamm im Hamburger Stadtteil St. Georg versammelt. Angeblich um für die Palästinenser und Palästinenserinnen im Gazastreifen zu demonstrieren. Doch hinter dem gewaltsamen Protest steckten offenbar radikale Islamisten. […] Die ausschließlich männlichen Demonstranten hätten außerdem dazu aufgerufen, auch in Deutschland die Scharia, das islamische Recht, einzuführen. Darüber hinaus sei die Rede davon gewesen, das Blut der Palästinenser und Palästinenserinnen in Gaza auch hier in Deutschland zu rächen.«
St. Georg
NDR
11/1/2023
Anruf in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: »Anrufer meldet sich mit ›Adolf Hitler‹ und verstellter Stimme… ›Steht denn die Dusche noch?‹, auf Nachfrage Wiederholung«
Neuengamme
Mitteilung Gedenkstätte
11/9/2023
Ganzseitiger Eintrag “Free Palestine” im Besucherbuch der Gedenkstätte Bullenhuser Damm (erinnert an 20 jüdische Kinder und mindestens 28 Erwachsene, die am 20. April 1945 im Keller des Gebäudes von SS-Männern ermordet wurden)
Mitte
Zeug*in
11/11/2023
Bombendrohung gegen Jüdisches Bildungszentrum (»Vor dem Jüdischen Bildungszentrum an der Rothenbaumchaussee hat ein unbekannter Mann per App ein Taxi bestellt; über die Chatfunktion schickt er dem Fahrer mehrere Nachrichten, behauptet unter anderem, er habe Sprengstoff in der Synagoge Hohe Weide platziert; er spricht von angeblichen erfolgten Straftaten, droht Taten an. Der Taxifahrer alarmiert die Polizei. Auf dem von der Polizei bewachten Gelände der Synagoge befindet sich zu dieser Zeit eine kleine Gruppe jüdischer Menschen; sie verbringen nach Abendblatt-Informationen eine Stunde voller Angst in einem Keller, bis die Polizei Entwarnung gibt. […] Es hätten sich keine Hinweise auf ›konkrete Gefährdungssituationen‹ ergeben, teilt die Polizei auf Anfrage mit. Gleichwohl laufen strafrechtliche Ermittlungen, geführt von der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamts.«
Rotherbaum
Abendblatt
11/21/2023
Antisemitische, nationalsozialistische Schmiererei (»NSDAP«) auf Plakatwand, die über jüdisches Leben (»Ist Chanukka das jüdische Weihnachten?«) informiert
Altona
X (Twitter)
11/26/2023
Großflächig rote Farbe auf das Synagogenmahnmal und Gestecke in Harburg gesprüht
Harburg
Zeug*in
1/19/2024
Rote-Hände Graffito in Kombination mit einer Palästinaflagge. (Die roten Hände beziehen sich positiv auf einen Lynchmord an israelischen Soldaten zu Beginn der Zweiten Intifada im Jahr 2000)
St. Pauli
Zeug*in
1/25/2024
Palästinaflagge mit Aufschrift »Free Gaza from Wiedergutmachung« (Der Slogan fordert ein Ende der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und/ oder suggeriert, diese würde im Dienste Israels bzw. gegen die Palästinenser geschehen)
Winterhude
ZEIT/Elbvertiefung Newsletter
1/25/2024
Keynote der antizionistisch-antisemitischen Klimaaktivistin Zamzam Ibrahim im Rahmen der Klima-Tagung »How Low Can We Go« auf Kampnagel. Ibrahim unterstützte zuvor bekanntermaßen die antisemitische BDS-Kampagne gegen Israel, setzte Israel mit dem NS gleich und legitimierte öffentlich den Terror von Hamas und Huthi-Rebellen. Sie trat u.a. im iranischen Staatsfernsehen auf.
Winterhude
Bericht Untiefen
1/25/2024
Gegendemonstration zu einer israelsolidarischen Demonstration vor Kampnagel, skandiert wird laut der ZEIT u.a. »Free Palestine from Wiedergutmachung«
Winterhude
Bericht Untiefen, ZEIT Newsletter
1/28/2024
»Der Verurteilten wurde vorgeworfen, am 28. Januar 2024 im Valentinskamp einer pro-israelischen Versammlungsteilnehmerin u.a. eine mitgeführte Israel-Flagge entrissen zu haben. Im Strafbefehlswege wurde sie zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen wegen Nötigung verurteilt.«
Neustadt
Mitteilung Staatsanwaltschaft
1/31/2024
Im Rahmen einer Podiumsdiskussion in den Bücherhallen tritt ein Störer auf, beleidigt nach Aufforderungen, den Raum zu verlassen, die jüdischen Diskutantinnen als »Nazis« und proklamiert, er lasse sich von ihnen »nicht ins KZ sperren«. Ein physischer Übergriff kann vom Moderator verhindert werden.
St. Georg
Zeug*in
2/4/2024
Parolen an einem Privathaus: »We stand with Palestine – Genocide apologists – zionists + other racists not welcome«; nach Mitteilung zuvor bereits angebracht: »Israels Staatsräson: Völkermord!«
Lokstedt
Zeug*in
2/8/2024
Störung der Jahresausstellungseröffnung der HfbK und Morddrohung gegen Besucher: »HFBK-Präsident Martin Köttering hatte gerade mit seiner Eröffnungsrede begonnen, als plötzlich Flugblätter durch die Eingangshalle flogen und eine Gruppe von circa zehn Menschen ›Free Palestine‹ (deutsch: Befreit Palästina) skandierte. Als jener Besucher sich daraufhin entschied, die Veranstaltung zu verlassen, und beim Hinausgehen mit den Worten ›from the Hamas Murders‹ (deutsch: von den Hamas-Mördern) auf die Rufe reagierte, wurde er von einem der Anwesenden mit dem Tod bedroht. Der Unbekannte hatte auf die Aussage des Besuchers mit der Drohung ›I will follow and kill you‹ (Ich werde dich verfolgen und töten) reagiert und sein Opfer damit erreicht.«
Barmbek-Süd
Abendblatt
2/9/2024
Verletzung eines Studierenden an der Uni Hamburg: »Ein jüdischer Studierender der Universität Hamburg [wurde] bei einem Handgemenge an der Hand verletzt. […] Nach Informationen des Abendblatts kam es zu dem Handgemenge wegen pro-palästinensischer Flugblätter, die in der Mensa verteilt worden waren. Der jüdische Studierende sammelte diese ein, der Flugblattverteiler konfrontierte ihn; es kam zum Streit, dann zum Gerangel – bei diesem Handgemenge wurde der Studierende an der Hand verletzt.« Der Betroffene wurde zudem als »Zionist« beschimpft.
Rotherbaum
Abendblatt; Zeug*in
2/19/2024
Heil Hitler‹-Schmiererei an Wand der Hauptausstellung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Neuengamme
Mitteilung Gedenkstätte
3/2/2024
Beleidigung auf der Mönckebergstraße: »Dem Verurteilten wurde vorgeworfen, am 2. März 2024 auf der Mönckebergstraße die Teilnehmer einer Mahnwache für Israel u.a. als „Scheiß Juden“ beschimpft zu haben. Er wurde deshalb wegen Volksverhetzung und Beleidigung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt.«
Altstadt
Mitteilung Staatsanwaltschaft
4/10/2024
Transparent auf einer pro-palästinensischen Demonstration: »Free Gaza from Wiedergutmachung«
Zeug*in;
4/15/2024
Antisemitischer und israelfeindlicher Shitstorm gegen den Veranstalter des unabhängigen Musikfestivals »Booze Cruise«
St. Pauli
Jungle World
4/27/2024
Islamistische Demo der Gruppe Muslim Interaktiv (Tarnorganisation der verbotenen Hizb ut-Tahrir) am Steindamm, u.a. Forderung nach einem Kalifat in Deutschland.
St. Georg
Zeug*in
4/28/2024
Zahlreiche Plakate der Partei DIE GRÜNEN mit »Zionismus = Faschismus« beschmiert
Eimsbüttel
Zeug*in
5/2/2024
Aktivist*in »Heal d Wrld« filmt als Instagram Reel in einem Edeka im Grindelviertel »Hass-Avocados« mit der Herkunft Israel. Das Preisschild ist mit »IsraHell« beschmiert und mit einem »Fuck Zionism«-Sticker beklebt.
Rotherbaum
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus
5/3/2024
Graffito rotes Zieldreieck (Hamas-Propaganda) und Parole »All Eyes on Gaza«
St. Pauli
Instagram
5/6/2024
Einrichtung eines »Protest-Camps« auf der Moorweide (Nähe Universität) unter Beteiligung der palästinensisch-nationalistischen Gruppe »Thawra«. Aus dem Camp gehen bis September 2024 verschiedene antisemitische Aktionen hervor (siehe u.a. Eintrag »Tätlicher Angriff…« am 08.05.2024). Das rote Dreieck der Hamas-Propaganda ist immer wieder am Camp und im Umfeld zu sehen.
Rotherbaum
ZEIT; taz; Bürgerschafts-Drucksache 22/15817
7/5/2024
Sticker mit dem Motiv eines Panzers: »Widerstand ist Leben. Panzer für Palestina.«
Mitte
Zeug*in
5/7/2024
Graffito der genozidalen Parole »From the River to the Sea«
Rotherbaum
Instagram
5/8/2024
Tätlicher Angriff auf ein Vorstandsmitglied der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft nach einer Veranstaltung zu Antisemitismus an der Universität Hamburg; laut Presseberichten ist eine Täterin Mitanmelderin des „Protest-Camps“
Rotherbaum
ZEIT
5/8/2024
Auf einer Kundgebung des linken »Bündnis 8. Mai« auf dem Rathausmarkt wird eine Teilnehmerin, die ein Plakat hochhält (»Bring them home now«) von Menschen aus dem »Jugendblock« (bei dem auch »Young Struggle« mitläuft) angegriffen. Ihr Plakat wird ihr aus den Händen gerissen. Auch ein Antifaschist, der zu vermitteln versucht, wird beiseite gedrängt. Die Kundgebungsleitung bedauert den Zwischenfall.
Altstadt
Zeug*in
5/11/2024
Islamistische Demo der Gruppe Muslim Interaktiv (Tarnorganisation der verbotenen Hizb ut-Tahrir) am Steindamm, u.a. Forderung nach einem Kalifat im Nahen Osten (ca. 2300 Teilnehmer)
St. Georg
Hagalil
5/13/2024
Auf das Graffito einer palästinensischen Fahne wurde »Islamic Jihad muss sein« geschmiert
Rotherbaum
Instagram
5/14/2024
Aktion vor dem autonomen, besetzten Zentrum Rote Flora, gestreamt und beworben von pro-russischen, pro-islamistischen Medienkanälen (RedStream; Salah Said). Legitimiert wird die Aktion mit einer grundsätzlichen Ablehnung der Antisemitismuskritik, die von der Roten Flora zu verschiedenen Anlässen formuliert wurde. Diese wird als »antideutsch« diffamiert.
Sternschanze
taz
5/14/2024
Plakat im »Protest-Camp« Moorweide (»Zionism is Racism is Fascism«)
Rotherbaum
ZEIT/Elbvertiefung Newsletter
5/14/2024
Aufkleber zur Erinnerung an israelische Geisel mit »Israel Terror« beschmiert
Mitte
Instagram
5/15/2024
»Nakba«-Demonstration unter Beteiligung der palästinensisch-nationalistischen Gruppe Thawra. Laut ZEIT bleiben bei den Reden »die Opfer des Terroranschlags vom 7. Oktober unerwähnt. Auf der Bühne ist immer wieder von ›Besatzung, Kolonialisierung und Genozid‹ die Rede. Einmal wird Israel als ›genozidaler Staat‹ bezeichnet.«
St. Georg
ZEIT
5/15/2024
Antisemitische Parolen auf dem Campus der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW). Die Pressestelle der Universität schreibt: »Heute Morgen waren sie auf dem Campus am Berliner Tor zu lesen: Mit Sprühfarbe an den Mauern hinterlassene Parolen zum Krieg in Gaza mit antisemitischem Hintergrund. Die Sachbeschädigung wurde zur Anzeige gebracht, die Parolen dokumentiert, nun werden sie entfernt bzw. überstrichen.«
St. Georg
HAW
5/18/2024
Aufkleber mit rotem Dreieck angebracht
Mitte
Instagram
5/18/2024
Antisemitische Tafel des Künstlerkollektivs »New Red Order« in der Ausstellung »SURVIVAL IN THE 21ST CENTURY« in den Deichtorhallen. Bericht des NDR: »Auf einer Tafel neben dem eigentlichen Kunstwerk wird Israel die alleinige Schuld am Nahost-Konflikt gegeben und mit Nazi-Deutschland in eine Reihe gestellt. […] es ist nichts anderes als eine antisemitische Verschwörungserzählung, die da in der Ausstellung hängt. Der Massenmord an den Indigenen in den USA, die Shoa in Nazideutschland und die israelische Politik von heute seien strukturell alles dasselbe. Israel trage allein die Verantwortung für den Nahostkonflikt. Vom Hamas-Terror kein Wort. Von den iranischen Auslöschungsfantasien keine Silbe.«
Altstadt
NDR
5/19/2024
Antisemitisches und israelfeindliches Plakat in Planten un Blomen (»Zionismus = Kolonialismus, Rassismus, Terrorismus.«)
Mitte
Instagram
5/20/2024
Antisemitisches und israelfeindliches Plakat am Kulturzentrum B5 (»Israels Genozid, 83% der Grundwasserbrunnen […] zerstört.«)
St. Pauli
Instagram
5/24/2024
Pro-Palästina Aktivisten und Aktivistinnen hatten im Gebäude der Hochschule für bildende Künste (HfbK) antisemitische Graffitis und Plakate angebracht. Die Hochschule hat diese entfernt.
Barmbek-Süd
NDR/Meldung Hamburg Journal
5/27/2024
Kundgebung Thawra unter dem Motto »Israel sofort entwaffnen« bzw. »Boykottiert Israel«
St. Georg
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus
5/28/2024
Instagram Story der Gruppe Thawra aus dem »Protest-Camp«, mit Aufkleber »Free Gaza from German Antifa!«
Rotherbaum
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus
5/30/2024
Auf Instagram filmen sich Aktivist*innen von Thawra, wie sie im Auto über die Grindelallee fahren, aus den Seitenfenstern halten sie eine palästinensische Fahne, aus dem Autoradio tönt der Song »Free Palestine« vom Interpreten SEB!, in dem das Ende Israels herbeigesehnt wird.
Rotherbaum
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus
5/30/2024
Holocaustleugnung an der Universität Hamburg: »Ein Mann soll auf dem Campus der Universität Hamburg volksverhetzende Äußerungen gemacht haben. Was bekannt ist. Im Internet kursiert ein Video des Vorfalls. Darauf ist zu hören, wie der Mann die Frage, ob er den Holocaust leugne, bejaht. In einer anderen Aufnahme sagt er, Adolf Hitler habe versucht, Juden zu schützen. Laut Pressestelle der Polizei ermittelt das Landeskriminalamt gegen ihn. Der Vorfall soll sich gegen Mittag vor dem Audimax der Universität ereignet haben. Auf Fotos von Studierenden ist zu sehen, wie der 43-Jährige mit drei Flaggen vor dem Gebäude steht: mit einer Israelflagge, einer Reichsflagge mit Davidstern und einer Fahne, auf der ein Eisernes Kreuz abgebildet ist. Eine Gruppe von Studierenden soll den mutmaßlichen Holocaustleugner angesprochen haben, dabei sei auch das Video entstanden, erklärt die Gruppe Students for Palestine Hamburg, die die Aufnahmen online verbreitet hat. Laut einer Pressesprecherin der Polizei wurde der Mann von Studierenden angezeigt.«
Rotherbaum
Eimsbütteler Nachrichten
6/2/2024
Ehrenamtlicher Guide der Stiftung Historische Gedenkstätten und Lernorte berichtet von antisemitischen Äußerungen einer Besucherin in der Gedenkstätte Fuhlsbüttel
Fuhlsbüttel
Mitteilung Gedenkstätte
6/3/2024
Transparente mit roten Zieldreiecken (der Hamas-Propaganda) sowie »Yallah Intifada« am »Protest-Camp« Moorweide
Rotherbaum
Instagram
6/6/2024
Michel Abdollahi suggeriert als Moderator auf einer auf Kampnagel-Veranstaltung zu »Canceln und Boykott« eine proisraelische Lobby in Deutschland, die eine mccarthyistische Diskursverengung betreibe. Raunt verschwörungsideologisch, dass Theatermacher im Fokus einer »politischen Kampagne« stünden »weil bestimmte Institutionen Sorge haben, dass hier etwas apassiert, was ihnen nicht passt«. Jeder Protest dagegen würde als antisemitisch diffamiert etc. Die israelsolidarische Kundgebung gegen Zamzam Ibrahim vom 25.01.2024 auf Kampnagel bezeichnet er als »Neonazis in Israelfahnen«.
Winterhude
Zeug*in
6/8/2024
Thawra Aktivist »einfach_tarik« markiert Olaf Scholz in Instagram Story mit rotem Dreieck; schreit ihm »Kindermörder« zu
online
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus
6/9/2024
Instagram Story von Students4palestinehh dokumentiert »Zionism = Racism« Graffiti an der UHH Gebäude
Rotherbaum
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus
6/13/2024
Sticker zur Erinnerung an die Geiseln in Gaza wurde mit Sticker »Jüdische Stimme – Juden gegen Genozid« überklebt
Mitte
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus
6/26/2024
Unangemeldete Demonstration gegenüber dem Eingang Ostflügel Hauptgebäude UHH gegen die dort stattfindende Veranstaltung zu »Antisemitismus & Kampf gegen Antisemitismus aus jüdischer Perspektive«. Teilnehmende rufen lautstark Parolen, u.a. »Unsere Kinder, Frauen, Männer wollen leben – Uni Hamburg ist dagegen« und »Gegen Zionismus – gegen Faschismus«.
Rotherbaum
Zeug*in
6/26/2024
Störungen der Veranstaltung »Antisemitismus & Kampf gegen Antisemitismus aus jüdischer Perspektive«: »Offenbar hatten sich im Hörsaal mehrere Aktivisten verteilt. Bei sich trugen sie kleine Lautsprecherboxen, aus denen sie dann – einer nach dem anderen – etwas abspielten. Ob es sich dabei um Parolen handelte, sei kaum zu verstehen gewesen, erzählt die schon erwähnte Besucherin, die ebenfalls anonym bleiben möchte. ›Es war in erster Linie laut und plärrend.‹ Immer wieder habe die Veranstaltung unterbrochen werden müssen. Die von der Universität engagierten Sicherheitsleute hätten einen Störenden nach dem anderen aus dem Saal geführt. Dann sei etwas geschehen, das für einen ›Schreckmoment‹ im Publikum gesorgt habe: In den Reihen seien zwei Männer mit Palästinensertüchern aufgestanden und langsam nach vorne gegangen. Dort hätten sie sich in der ersten Reihe neben einem weiteren Aktivisten niedergelassen – direkt vor dem Rednerpult. Einige im Publikum hätten gerufen: ›Jenny, pass auf!‹ Es sei eine ganz offensichtliche Drohgebärde gewesen, so die erwähnte Besucherin gegenüber dem Abendblatt.«
Die Sicherheitsleute hätten sich dann nahe bei den drei Männern postiert. Diese seien sitzen geblieben. Die sich an den Vortrag anschließende Gesprächsrunde habe einer der Männer mit Zwischenrufen gestört. Als die Veranstaltung endete, seien einige Besucher gebeten worden, den Saal über einen Seiteneingang zu verlassen.« (Abendblatt)
Rotherbaum
Abendblatt
6/26/2024
Einer Person, die ein T‑Shirt mit hebräischer Aufschrift trägt, wird am Dammtorbahnhof von einem Mann mehrmals der Hitlergruss gezeigt.
Rotherbaum
Betroffener
6/28/2024
Plakate zur Erinnerung an Hamas Geiseln wurden abgerissen und beschädigt
Ottensen
Zeug*in
7/1/2024
Aufkleber »Bring them home to Europe! Decolonize Palestine« (auf rotem Dreieck)
Eimsbüttel
Instagram
7/3/2024
Demonstration Haupteingang Universität, nähe Vorlesungsreihe zu Judenfeindschaft
Rotherbaum
Zeug*in
7/8/2024
Rotes Dreieck auf dem »Thawra Kalender« (Instagram)
Rotherbaum
Instagram
7/10/2024
Demonstration Haupteingang Universität, nähe Vorlesungsreihe zu Judenfeindschaft; ca. 150 Personen; Parolen u.a. »Gegen den Faschismus! Gegen Antisemitismus! Gegen Zionismus!«
Rotherbaum
Zeug*in
7/15/2024
Angriff, antisemitische Beleidigung: »Die 56 Jahre alte Fußgängerin hatte sich über die Radfahrerin, die auf dem Gehweg fuhr, geärgert und sie angesprochen. Der Polizei sagte sie später, die Radfahrerin habe sie daraufhin zunächst antisemitisch beleidigt. Und dann nach ihrer markanten Halskette gegriffen und sie gewürgt. Die Radfahrerin soll auch noch auf die bereits am Boden liegende Fußgängerin eingetreten haben.« (NDR)
Bahrenfeld
NDR
7/17/2024
Demonstration von Thawra von der Roten Flora nach Altona; auf Transparenten steht u.a.: »Intifada Generation«, »Das einzig rote an der Flora ist das Blut an ihren Händen«.
Sternschanze
Instagram; Abendblatt; Zeug*innen
7/17/2024
Eine Kundgebung gegen die zuvor genannte Demo (Rote Flora nach Altona) wird attackiert. Ein Mann versucht, eine Israel Fahne zu erobern, stürzt sich zwischen die TN der Kundgebung und verletzt TN. Er wird von der Polizei, die die Kundgebung absichert, festgenommen.
Sternschanze
Zeug*in
7/26/2024
Graffiti »Free Gaza« und Hammer und Sichel an einem von orthodoxen Juden bewohnten Haus
Eimsbüttel
Instagram; Auskunft Zeug*in
7/26/2024
Schmiererei an der Meinungswand der Hauptausstellung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: »Man muss wohl die Öfen wieder anschmeißen«
Neuengamme
Mitteilung Gedenkstätte
8/3/2024
Auftritt der u.a. antisemitischen, verschwörungstheoretischen Deutsch-Rap-Crew »Rapbellions« in Bramfeld
Bramfeld
Instagram
9/19/2024
In einem Aufruf von »ahrar.de« (Instagram) zu einer Demonstration am 5. Oktober wird das Massaker vom 7. Oktober relativiert und gerechtfertigt, Israel dämonisiert, die Zerstörung Israels gefordert (»Wir werden nicht aufhören, wir werden nicht ruhen, bis jeder Zentimeter Palästinas frei ist.«
Altstadt
Instagram
10/5/2024
Palästinensisch-nationalistische »Massendemonstration« nach Aufruf von »ahrar.de« (siehe Eintrag 19.09.2024); u.a. Plakat »Deutsche Staatsräson: Palästinenser und Libanesen müssen heute für die deutschen Verbrechen von damals büßen. WARUM???«
Altstadt
Zeug*in
10/5/2024
Während der palästinensisch-nationalistischen »Massendemonstration« versuchen ca. 20 junge Männer zur »Mahnwache für Israel« durchzubrechen, wird von der Polizei verhindert, Ordner greifen ein
Altstadt
Zeug*in
10/5/2024
Im Umfeld der palästinensisch-nationalistischen »Massendemonstration« werden Sticker mit dem Davidstern in den ein rotes Dreieck integriert ist und der Aufschrift »Liberate Judaism from Zionism»gefunden
Altstadt
Instagram
Anhang – Erläuterungen
Beispiel 1:
18.10.2023
Am Mittwoch sind in der Hamburger Innenstadt erneut pro-palästinensische Demonstrierende auf die Straße gegangen. Unterdessen wurde das Verbot solcher Kundgebungen bis Sonntag verlängert. Auf dem Jungfernstieg hatten zunächst etwa 20 Menschen gegen die Angriffe Israels protestiert – unter anderem mit Pappplakaten auf denen eine Wassermelone zu sehen war, das altbekannte Zeichen der Palästina-Proteste. Vier junge Männer wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen, wie NDR 90,3 berichtete. Laut Augenzeugen sollen sie zwei Palästina-Flaggen mit dem Abbild des irakischen Diktators Saddam Hussein gezeigt haben.«
Altstadt
NDR
In diesem Fall stehen uns keine ausreichenden Informationen für eine Kategorisierung zur Verfügung. Es ist aller Erfahrung nach wahrscheinlich, dass es im Rahmen dieser sog. pro-palästinensischen Kundgebung zu diesem Zeitpunkt zu Israel dämonisierenden, antisemitischen Aussagen kam; das Zeigen eines Bilds des ehemaligen irakischen Diktators Saddam Hussein, der 1991 im Rahmen des zweiten Golfkriegs Raketen auf Israel – das keine Kriegspartei darstellte – abfeuern ließ, kann so interpretiert werden. Kundgebungen stellen ein demokratisches Grundrecht dar. Wir folgen der Systematik der Recherche und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) und ordnen entsprechende Versammlungen nur als antisemitische Versammlungen ein, wenn „in Reden, Parolen, auf mitgeführten Transparenten oder in Aufrufen antisemitische Inhalte festgestellt“ werden. In diesem Fall „wird die gesamte Versammlung als ein antisemitischer Vorfall vom Typ verletztendes Verhalten registriert. Ereignen sich bei oder am Rande einer solchen Versammlung Angriffe oder Bedrohungen, so werden diese jeweils als zusätzliche antisemitische Vorfälle dokumentiert.“ (RIAS 2024)
Beispiel 2:
20.10.2023
Israelfeindliche, terrorrelativierende Aussage gegenüber NDR Kamerateam: »Israel hat zuerst Palästina angegriffen und Palästina hat sich verteidigt, meiner Meinung nach.»
St. Georg
NDR
Dieser Fall wurde von uns nicht als antisemitisch kategorisiert. Die im Interview mit dem NDR getätigte Aussage kann plausibel als Rechtfertigung antijüdischer Aggression und des Massakers vom 7. Oktober interpretiert werden. Allerdings stehen uns nicht genügend Informationen (insbesondere zum Gesprächsverlauf und ‑kontext) zur Verfügung, die eine seriöse Entscheidung absichern würden. In der ethnozentristischen Wahrnehmung zweier homogener Kollektive („Israel hat…“, „Palästina hat…“) liegt eine Logik absoluter Feindbestimmung, die auch ein Element des Antisemitismus darstellt.
Beispiel 3:
26.07.2024
Graffiti »Free Gaza« und Hammer und Sichel an einem von orthodoxen Juden bewohnten Haus
Eimsbüttel
Zeug*in
Dieser Fall wurde als antisemitisch eingeordnet. Es handelt sich um eine (gezielte) Sachbeschädigung, d.h. „die Beschädigung oder das Beschmieren jüdischen Eigentums“ (RIAS 2024). Obwohl der Gehalt der Schmierereien selbst nicht antisemitisch ist, werden hier praktisch deutsche Bürger:innen jüdischen Glaubens für ein (vermeintliches) Handeln des israelischen Staats verantwortlich gemacht. Auch dieser Vorfall illustriert exemplarisch, wie Antisemitismus als ein kulturelles Klima von Bedrohung und Ausschluss von Jüd:innen in Deutschland sowie der Rechtfertigung antijüdischer Aggression wirkt.
[1] Stellvertretend für alle engagierten Parlamentarier:innen sei hier die Arbeit von Cansu Özdemir und Deniz Celik (beide Mitglieder der Bürgerschaftsfraktion der Linkspartei) hervorgehoben, die durch ihre regelmäßigen Kleinen Anfragen dabei helfen, die notwendige Transparenz und Öffentlichkeit im Bereich Hasskriminalität herzustellen.
[2] Nach Mitteilung der Pressestelle der Staatsanwaltschaft Hamburg arbeitet die Zentralstelle Staatsschutz mit der Arbeitsdefinition Antisemitismus der IHRA; entsprechende Bewertungen könnten sich allerdings im Laufe von Ermittlungen und Verfahren ändern.
[3] In diesem Zusammenhang weisen wir nochmals auf den an dieser Stelle vor einigen Wochen erschienenen Text „Klima der Judenfeindschaft“ zum Antisemitismus in Hamburg von Florian Hessel hin; die dort skizzierten Überlegungen Begriffe und Analysen formulieren einige der Grundlagen und Grundannahmen des vorliegenden Chronikprojekts aus und geben weitere Literaturhinweise.
Das Logistikunternehmen Kühne+Nagel hat sich im NS erheblich an jüdischem Eigentum bereichert. Vor zwei Jahren löste Kritik daran auf dem Harbourfront Literaturfestival einen kleinen Eklat aus. Das Festival fällt dieses Jahr nun aus. Multimilliardär Kühne hingegen scheint keinen Schaden davongetragen zu haben. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen: In Bremen gibt es seit einem Jahr ein Mahnmal; und neue Recherchen eines renommierten Journalisten könnten die Debatte noch einmal anfachen.
Vor zwei Jahren, Ende August 2022, kam es auf dem Harbourfront Literaturfestival zum Eklat: Die Untiefen-Redaktion hatte einige Wochen zuvor in einer E‑Mail die acht für den nach Klaus-Michael Kühne benannten Debütpreis des Festivals nominierten Schriftsteller:innen über die NS-Geschichte von Kühne+Nagel sowie ihre Verleugnung durch den Familienerben und Unternehmensinhaber Kühne informiert. Einer von ihnen, der für sein Debüt Draußen feiern die Leute nominierte Sven Pfizenmaier, zog daraufhin seine Teilnahme zurück.
Das Festival versuchte noch, Pfizenmaiers Rückzug und seine Gründe unter dem Radar der Öffentlichkeit zu halten, doch es gelang nicht: Die Medien berichteten darüber, Pfizenmaiers Kollegin Franziska Gänsler zog ihre Teilnahme ebenfalls zurück, das Festival und die Kühne-Stiftung, die nicht nur das Preisgeld stiftete, sondern auch als Hauptsponsor fungierte, gerieten stark unter Druck. Dieser öffentliche Druck war es, der dann dazu führte, dass binnen weniger Tage nicht nur der Kühne-Preis umbenannt wurde, sondern auch die Kühne-Stiftung sich aus dem Sponsoring zurückzog. Die Jury des Preises sprach Pfizenmaier und Gänsler in ihrer Stellungnahme zur Preisvergabe dann ausdrücklich ihren Respekt und ihre Unterstützung aus (eine ausführliche Chronik der Ereignisse findet sich hier).
Aufruhr im Hamburger Literaturbetrieb
Der Ausstieg Kühnes als Sponsor des Harbourfront Festivals war wohl schon zuvor geplant gewesen. Doch ein nachhaltiger Ersatz für den jahrelangen Hauptsponsor scheint sich nicht gefunden zu haben: Dieses Jahr fällt das Festival erstmals seit seiner Gründung vor 15 Jahren aus. Es wird zwar sicher nicht nur an dem Eklat von vor zwei Jahren liegen, dass sich das Festival nun »organisatorisch, personell und finanziell neu aufzustellen« versucht, wie in einer Pressemitteilung vom Februar dieses Jahres verkündet wurde. Aber ganz ohne Zusammenhang wird es nicht sein, denn mit der Kühne-Stiftung zog sich der zentrale Geldgeber zurück, ohne den das Festival gar nicht hätte ins Leben gerufen werden können – trotz jährlich 100.000 Euro fester Förderung von der Kulturbehörde.
In den Medien und im Hamburger Literaturbetrieb wurde die Nachricht vom Ausfall des Festivals mit Sorge aufgenommen. Schließlich reichte die Ausstrahlung des Harbourfront weit über Hamburg hinaus. Und es hat, wie Literaturhauschef Rainer Moritz es gegenüber dem NDR im Betriebsjargon ausdrückte, in Hamburg ›den literarischen Markt unglaublich belebt‹. Auch die Kulturbehörde wirkte, als sei sie von der Nachricht überrascht worden. Sie kündigte zwar an, sich um Ersatz zu kümmern, doch suchte offenbar nicht selbst das Gespräch mit den Akteur:innen des Hamburger Literaturbetriebs.
Die Initiativen für ›Ersatzfestivals‹ kamen stattdessen von privatwirtschaftlichen Akteur:innen. Gleich zwei Festivals wollen nun die Lücke füllen, die das Harbourfront dieses Jahr lässt: Die Blankeneser Buchhandlung Wassermann richtet in der ersten Septemberhälfte mit der Herbstlese Blankenese ein eigenes Literaturfestival aus. Sogar einen Debütpreis gibt es. Das Geld für die großen Namen und den Preis kommt vor allem vom Blankeneser Besitzbürgertum: Die Lange-Rode-Stiftung, deren Geld ursprünglich vor allem aus der Kronkorken-Produktion stammt, ist der Hauptsponsor. Das zweite ›Ersatzfestival‹ ist umstritten. Das Unternehmen hinter der lit.COLOGNE hat mit ELB.lit einen Hamburger Ableger gestartet, der wie das Harbourfront vor allem auf Events und große Namen setzt. Aber nicht das in weiten Teilen ambitionslose Programm, sondern nur der Umstand, dass die 100.000 Euro Förderung von der Kulturbehörde nun nicht an ein Hamburger, sondern an ein Kölner Unternehmen gehen, sorgte hier für Empörung.
Rückblickend auf den Eklat
Besser als der Hamburger Literaturbetrieb scheinen die beiden aus Protest gegen Kühne zurückgetretenen Autor:innen den Eklat vor zwei Jahren überstanden zu haben. Beide haben inzwischen ihren zweiten Roman veröffentlicht. Franziska Gänslers Wie Inseln im Licht erschien im Frühjahr, Sven Pfizenmaiers Schwätzer ist gerade erschienen und feiert am 4. September in Berlin Buchpremiere.
Wie blickt er auf die Geschichte zurück? Gegenüber Untiefen sagte Pfizenmaier, er würde die Entscheidung heute genauso wieder treffen. Es sei zwar ein Kampf gegen Windmühlen, aber trotzdem: »Wo es Literatur betrifft, fühlt es sich auch ein bisschen persönlich an, und ich bin froh, die Gelegenheit genutzt zu haben, ein Zeichen zu setzen.«
Die Befürchtung, dass die Entscheidung negative Auswirkungen auf sein Standing im Literaturbetrieb gehabt hätte, scheint sich nicht bewahrheitet zu haben, sagt Pfizenmaier: »Man prognostizierte mir teilweise, mich mit der Entscheidung bei Preisjurys womöglich unbeliebt zu machen, ich kann das nicht bisher nicht bestätigen. Ich habe viel Zuspruch und Unterstützung von allen möglichen Seiten bekommen.«
Die Kritik an Kühnes verweigerter Aufarbeitung seiner Familien- und Unternehmensgeschichte, an seinem art washing und an dem Schweigen der Öffentlichkeit dazu scheint jedoch schnell verpufft zu sein. Die vom damals ebenfalls nominierten Schriftsteller Domenico Müllensiefen geäußerte Forderung, dem Rückzug der öffentlichen Kulturförderung Einhalt zu gebieten, und sein Beharren darauf, dass nicht Kühne allein das Problem sei, sondern dass »deutscher Reichtum in vielen, wenn nicht sogar in den meisten Fällen auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit entstanden« sei, fanden kaum Widerhall.
Kühnes Milliarden: ungefährdet
Strukturell hat sich tatsächlich nichts verändert. Während die Buchbranche mehr denn je auf finanzielle Förderung – öffentlich oder privat – angewiesen ist,1Die Krise der Buchbranche hat sich verschärft, auch in Hamburg, wo zuletzt die Edition Nautilus einen Hilferuf abgesetzt und eine strukturelle Verlagsförderung gefordert hat, ähnlich wie es sie schon für Programmkinos und Theater gibt. sieht die Lage bei den Superreichen gewohnt rosig aus. So ist auch Klaus-Michael Kühne in den letzten zwei Jahren vor allem reicher geworden. Auf dem Bloomberg Billionaires Index wird sein geschätztes Vermögen aktuell mit knapp 45 Mrd. US-Dollar angegeben, womit er nun erstmals als reichster Deutscher firmiert. Und wie eh und je hält er sich mit ›Vorschlägen‹ und Statements in der (Medien-)Öffentlichkeit: Wieder und wieder wirbt er für seine Pläne eines neuen Opernhauses, er ist als Anteilseigner beim Elbtower eingestiegen (und ist dabei, so die Selbstdarstellung, »dem Charme von Benko erlegen«), er hat sich über den geplanten Teilverkauf der HHLA an den Hapag-Lloyd-Konkurrenten MSC geärgert und das DB-Konkurrenzunternehmen Flix übernommen.
Den Eklat von vor zwei Jahren scheint er gänzlich unbeschadet überstanden zu haben. Dass Kühne+Nagel 1933 seinen jüdischen Teilhaber Adolf Maass aus dem Unternehmen drängte, um dann während des Zweiten Weltkriegs in vielen besetzten Ländern Europas Niederlassungen zu gründen, sich so ein Quasi-Monopol auf den Abtransport jüdischen Eigentums zu sichern und dadurch massiv von der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden zu profitieren – davon ist kaum noch zu lesen oder zu hören. Im Gegensatz etwa zu der Frage, welchen Trainer Kühne für ›seinen‹ HSV wünschen würde, hat diese Geschichte offenbar keinen Nachrichtenwert. Und für das Privileg eines Exklusivinterviews mit Kühne verzichtet man etwa beim Hamburger Abendblatt sehr bereitwillig auf kritische Fragen. Auch eine kritische Zivilgesellschaft hat sich in Hamburg immer noch nicht formiert. Kühnes Wunsch nach einem Schlussstrich scheint sich hier weitestgehend erfüllt zu haben.
Von Bremen lernen
In Bremen, wo Kühne+Nagel vor 134 Jahren gegründet wurde und wo immer noch die Deutschlandzentrale ihren Sitz hat, ist das anders. Vor allem dem Engagement Henning Bleyls und Evin Oettingshausens ist es zu verdanken, dass das Thema dort, anders als in Hamburg, weiterhin im öffentlichen Bewusstsein gehalten wird. Bleyl und Oettingshausen kämpften jahrelang für ein Mahnmal in Bremen, das an den systematischen Raub und die Enteignung jüdischen Eigentums im Nationalsozialismus und die Beteiligung bremischer Unternehmen, Behörden und Bürgerinnen und Bürger daran erinnert. Vor einem Jahr, am 10. September 2023, wurde das Mahnmal eingeweiht, das nun in Sichtweite des Kühne+Nagel-Gebäudes an die Opfer der ›Arisierungen‹ erinnert.
Zur Einweihung zeigte sich Grigori Pantijelew, Vertreter der jüdischen Gemeinde Bremen, kämpferisch: Das kleine Mahnmal und das protzige Riesengebäude von Kühne+Nagel erinnerten ihn an die Geschichte von David und Goliath, sagte er, – und man wisse ja, wer am Ende gewonnen hat. Bei der Einweihung sprach auch Barbara Maass, eine Enkelin von Adolf und Käthe Maass, die eigens zu diesem Anlass zusammen mit ihrem Mann aus Montréal nach Deutschland gekommen war. Sie hielt in Bremen eine (hier nachzulesende) Rede, in der sie die Aufarbeitung der »skrupellosen Handlungen der Komplizen und Profiteure des Holocausts« – auch und gerade von Kühne+Nagel – forderte, und zwar »hier und jetzt«. Ihr Deutschlandbesuch führte Barbara Maass auch nach Hamburg, wo sie das ehemalige Wohnhaus der Familie Maass in Winterhude besichtigte, in dem ihr Vater Gerhard seine Eltern noch 1938 besucht hatte. Außerdem besuchte sie die Gedenkstätte Hannoverscher Bahnhof – den Ort, an dem im Juli 1942 auch jener Zug abfuhr, der ihre Großeltern nach Theresienstadt deportierte.
Bleyl und Oettingshausen engagieren sich derweil weiter. Sie organisieren erinnerungspolitische Radtouren, betreiben weiter Recherchen und kümmern sich um das Mahnmal. Mit Spachtel und Putzzeug haben sie eigenhändig Aufkleber und Farbe von den Fenstern und Rahmen geschrubbt. Und sie haben dafür gesorgt, dass das Mahnmal nun auch endlich eine Texttafel erhält, die über seine Bedeutung aufklärt. Am 10. September, zum Jahrestag der Eröffnung, wird die neue Tafel in Bremen eingeweiht werden.
Neue Impulse im Kampf um Aufklärung?
Neue Impulse könnte die öffentliche Auseinandersetzung um den Umgang mit der Geschichte Kühne+Nagels als NS-Profiteur nun aus den USA erhalten. Der niederländische Journalist David de Jong hatte 2022 mit seinem Buch Braunes Erbe über die NS-Verstrickungen der reichsten deutschen Unternehmerdynastien – der Familien Quandt, Flick, von Finck, Porsche-Piëch, Oetker und Reimann – international für Aufsehen gesorgt. Die Familie Kühne fehlte in dieser Zusammenstellung. Nun aber hat er anderthalb Jahre recherchiert, um einen Nachtrag zu Kühne+Nagel zu schreiben. Noch im September wird sein umfangreicher Investigativartikel in der Zeitschrift Vanity Fairerscheinen.
Dass Kühne in seinem Buch nicht auftauchte, hatte einen einfachen Grund: Klaus-Michael Kühne hat zwar ein ›braunes Erbe‹ angetreten, doch er selbst hat keine Erben. Sein Vermögen wird nach seinem Tod einer Stiftung vermacht werden. Der Impuls, nun trotzdem noch über Kühne zu recherchieren und zu schreiben, kam zunächst von außen, berichtet de Jong im Gespräch mit Untiefen: Er sei 2022 nach dem Erscheinen seines Buchs von mehreren Leser:innen – darunter der in England lebenden Großnichte von Adolf und Käthe Maass – angeregt worden, auch noch zur Geschichte der Kühnes zu recherchieren.
Die Recherchen führten im Verlauf der anderthalb Jahre in vier verschiedene Länder, berichtet de Jong. So sprach er in Montréal mit Barbara Maass und sichtete Bestände des Montreal Holocaust Museum; er besuchte in Bremen die Eröffnung des Mahnmals und recherchierte in Hamburg im hiesigen Staatsarchiv. Obwohl Klaus-Michael Kühne den Zugang zum Unternehmensarchiv immer noch versperrt, verspricht de Jongs Artikel brisante neue Erkenntnisse – und zwar nicht nur über das Ausmaß der Beteiligung von Kühne+Nagel an der M‑Aktion, sondern auch über das Ausmaß der Verschleierung und Verdrängung dieser Verbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht zuletzt durch Klaus-Michael Kühne selbst.
Die deutsche Ausgabe der Vanity Fair wurde vor 15 Jahren eingestellt. De Jongs Artikel wird also zunächst nicht auf Deutsch zu lesen sein. Es steht zu hoffen, dass seine Enthüllungen trotzdem auch hier gebührende Wirkung entfalten werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Herstellung einer internationalen Öffentlichkeit für den entscheidenden Impuls in einer Debatte um die NS-Aufarbeitung sorgt – erinnert sei hier etwa an die Debatte um die Entschädigung von Zwangsarbeiter:innen Ende der neunziger Jahre. Dass erst auf internationalen Druck hin gehandelt wird, ist bezeichnend für den in Deutschland üblichen Widerwillen, die Vergangenheit ernsthaft aufzuarbeiten. Aber es zeigt auch: Beharrlichkeit lohnt sich; und niemand sitzt so fest auf seinem Thron, dass er nicht ins Wanken gebracht werden kann. Der HSV, von Kühne maßgeblich finanziell unterstützt, galt lange als »unabsteigbar« und dümpelt nun seit sechs Jahren in der zweiten Bundesliga herum. Auch Kühne, der manchmal als unbezwingbar erscheint, wird mit seiner Forderung nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit und seiner Behinderung der Aufarbeitung nicht mehr lange durchkommen.
Lukas Betzler, September 2024
Der Autor ist Mitglieder der Redaktion Untiefen. Er hat hier schon vor zwei Jahren Beiträge zu Kühne+Nagel veröffentlicht und einen auf Youtube nachzuhörenden Vortrag von Henning Bleyl zu dem Thema moderiert. Den neuen Roman von Sven Pfizenmaier hat er gerade mit im Urlaubsgepäck.
1
Die Krise der Buchbranche hat sich verschärft, auch in Hamburg, wo zuletzt die Edition Nautilus einen Hilferuf abgesetzt und eine strukturelle Verlagsförderung gefordert hat, ähnlich wie es sie schon für Programmkinos und Theater gibt.
Der Überfall der radikal-islamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und das folgende Massaker mit über 1.200 Todesopfern sind eine Zäsur, selbst in der an grauenvollen Ereignissen keineswegs armen Geschichte des Antisemitismus. Ihre globalen Nachwirkungen – keine Ächtung anti-humanistischer Ideologien und Politik, sondern im Gegenteil eine Enthemmung der aggressiven Dämonisierung des Judenstaats und der Bedrohung von Jüdinnen und Juden – sind auch in Hamburg zu spüren.
Schon der Blick auf die Zahlen ist erschreckend: Bundesweit ist die Zahl antisemitischer Vorfälle nach dem 7. Oktober dramatisch gestiegen, dasselbe gilt für Hamburg. Hier machte Antisemitismus 2023 24% aller erfassten Fälle von Hasskriminalität aus – wobei weniger als 0,2% der Hamburger:innen jüdischen Glaubens sind. Im vierten Quartal hat sich die Fallzahl gegenüber dem Vorjahreszeitraum verfünffacht, auf 67 gegenüber 12 Fällen (siehe die Kleinen Anfragen der Linksfraktion zur Hasskriminalität in Hamburg in 2022 und 2023). Im Rahmen einer im Sommer 2024 erschienenen Studie unter anderem der Hochschule der Akademie der Polizei Hamburg gaben mehr als drei Viertel der befragten Hamburger Jüdinnen und Juden an, innerhalb der letzten zwölf Monate Antisemitismus erfahren zu haben.
Nach allen Erkenntnissen bleibt ein großer Teil der dahinter liegenden Fälle antisemitischer Diskriminierung und Gewalt außerhalb der Wahrnehmung von Öffentlichkeit und Behörden – die erwähnte Studie schätzt den Anteil auf 80%. Zivilgesellschaftlich gesammelte Daten, die dieses große Dunkelfeld erfahrungsgemäß erhellen könnten, standen für Hamburg allzu lange nicht zur Verfügung: Die 2021 gegründete, öffentlich geförderte digitale Hinweis- und Meldestelle memo veröffentlicht im Gegensatz zu den Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) in anderen Bundesländern keine Fälle oder (aussagekräftige) Zahlen. Ein nun vom Träger der Meldestelle, der Beratungsstelle für Betroffene rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt Empower, vorgelegter Bericht gibt 282 Fälle von Antisemitismus in Hamburg für 2023 an – mehr als ein Drittel der ingesamt dort bekannt gewordenen menschenfeindlichen Taten; im Zeitraum nach dem 7. Oktober verdoppelten sich auch hier die Fälle.
Plakativer Judenhass
Die Wände und die Öffentlichkeit der Stadt erlauben uns einen weiteren Einblick in die Realität des Antisemitismus. Wenige Tage nach dem 7. Oktober beginnend, werden auf Hauswänden und Laternen fortlaufend sogenannte pro-palästinensische Slogans, Aufkleber etc. angebracht. Neben die seit Jahrzehnten obligatorischen nationalistischen Parolen wie »Free Palestine« treten immer wieder auch Israel dämonisierende, manifest antisemitische Bilder: So wurde laut Bericht eines Anwohners auf St. Pauli z.B. nach dem 7. Oktober ein Graffito mit blutroten Handabdrücken platziert – eine Chiffre, die sich zustimmend auf den Lynchmord an zwei israelischen Soldaten zu Beginn der Zweiten Intifada ab 2000 bezieht; aus Eimsbüttel meldeten Anwohner:innen der Instagramseite Civil-Watch against Anti-Semitism Anfang Juli 2024 Aufkleber mit dem roten Dreieck (der Zielmarkierung der Hamas-Propaganda) und dem Slogan »Bring Them Back to Europe – Decolonize Palestine«. Israelsolidarische oder auch nur antisemitismuskritische Botschaften, sogar Plakate, die an die von der Hamas festgehaltenen Geiseln erinnern, werden abgerissen, beschädigt oder übermalt.
Jegliche israelsolidarische Kundgebung und antisemitismuskritische Veranstaltung hat mit Störungen und mit mindestens verbalen Bedrohungen zu rechnen
Jegliche israelsolidarische Kundgebung und antisemitismuskritische Veranstaltung hat mit Störungen und mit mindestens verbalen Bedrohungen zu rechnen: Im Anschluss an eine Solidaritätskundgebung mit Israel Mitte Oktober 2023 etwa wurden zwei Organisator:innen beschimpft und physisch angegriffen, eine israelische Fahne wurde gewaltsam entwendet; auf einer Podiumsdiskussion in den Bücherhallen Ende Januar 2024 wurden die jüdischen Podiumsteilnehmerinnen als »Nazis« und »KZ-Wächter« beschimpft und physisch bedroht.
Boykotte und alltäglicher Antisemitismus
Konkrete Positionierungen sind dabei zunehmend irrelevant: So war z.B. das Punkfestival Booze Cruise massiven Anfeindungen im Netz und international einem faktischen Boykott ausgesetzt, weil der Veranstalter als »Zionist« und »Gen0cide-Supporter« [sic!] markiert wurde. Seit Anfang Mai 2024 konnte nach US-amerikanischem Vorbild von palästinensisch-nationalistischen Gruppen und Aktivist:innen ein »Protest-Camp« am Rande der Universität Hamburg etabliert werden. Aus dessen Umfeld kam es am 8. Mai im Anschluss an eine antisemitismuskritische Vortragsveranstaltung in der Universität zu einer wohl spontanen, aber gezielten verbalen und physischen Attacke auf ein Vorstandsmitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, wenige Tage später zu einer als Angriff zu verstehenden kurzzeitigen Besetzung der Roten Flora.
Nach einer kurzen Phase medialer Diskussion direkt nach dem 7. Oktober sind die Hamburger Schulen aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden. Die Zahl von Anfragen für Antisemitismus-Workshops an Akteure der politischen Bildung ist jedoch seither weiter gestiegen und zumindest an einigen Schulen ist das Niveau der Vorfälle hoch. Wie Lehrer:innen von Harburger Schulen gegenüber Untiefen berichteten reichen diese Vorfälle bis hin zu demonstrativer Verherrlichung des antisemitischen Massenmords und der Bedrohung engagierter Lehrkräfte. Nur Weniges überschreitet die Schwelle der öffentlichen Wahrnehmung: In der Antwort des Senats auf eine Kleine Anfrage in der Bürgerschaft vom November 2023 werden vier Bombendrohungen gegen Schulen »im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt« erwähnt, die von der Polizei jedoch als »keine Gefährdungslage« eingestuft worden seien.
Wie sich deutlich zeigt, eröffnet die Dynamik der Ereignisse – von den Morden, Vergewaltigungen und Entführungen am 7. Oktober in Israel bis hin zum grausamen Kriegsgeschehen in Gaza und dessen medialer Dauerpräsenz – auch in Hamburg Möglichkeitsräume und Gelegenheitsstrukturen für judenfeindliche Aggressionen und Affekte. Gefüllt und genutzt werden diese Räume ebenso im persönlichen Umgang und Umfeld – offline oder online – wie von öffentlichen Akteur:innen.
In der Sache geeint: IslamistInnen und autoritäre Linke
Antisemitismus bezeichnet Judenhass – eine auf Jüdinnen und Juden bezogene Praxis der Gewalt in Wort und Tat und deren gleichzeitige Rechtfertigung, und tritt in allen gesellschaftlichen Schichten und politischen Spektren auf. Der Aussage, Israel mache im Prinzip mit den Palästinensern dasselbe wie die Nazis mit den Juden, stimmte zuletzt 2022 43% der deutschen Wohnbevölkerung zu. Gleichwohl sind es bestimmte Milieus, die gegenwärtig eine hervorgehobene Rolle spielen. Namentlich sind dies islamistische Milieus, Teile der autoritären Linken sowie aktivistische, selbsterklärt »pro-palästinensische« Kreise. Die Chiffre »Palästina« sowie Israelhass und Antisemitismus dienen hier – in jeweils unterschiedlicher Weise – als Agitationsmittel, die einen großen emotionalen Rückhall in postmigrantischen und/oder aktivistischen Milieus versprechen, vor allem unter Jugendlichen und bis in die bürgerlich-liberale Mitte hinein.
Vorfeldorganisationen der islamistischen Hizb ut-Tahrir hatten bereits kurz nach dem 7. Oktober in St. Georg eine »spontane« anti-israelische Kundgebung organisiert. 2024 folgten zwei weitere, angemeldete Demonstrationen, die bundesweit breit thematisiert wurden. Über Social Media als Bilder der Stärke inszeniert, sollen darüber Anhänger mobilisiert und Sympathisanten für eine misogyne, juden- und minderheitenfeindliche, insgesamt islamistische, demokratiefeindliche Agenda gewonnen werden. Autoritär-linke, »rote« oder »kommunistische« Gruppen veröffentlichten zügig Israel dämonisierende Statements (»Der Terrorist heißt Israel» u.ä.) und agitieren entsprechend. Die Bündnisdemo dieses Spektrums zum 1. Mai 2024 wurde weitgehend von palästinensisch-nationalistischen Parolen und Symbolen dominiert. Neben der Mobilisierung dient diese Positionierung als Instrument, um anti-autoritäre Linke im Kampf um Einfluss, Deutungen (v.a. von Antisemitismus) und Kontrolle von Räumen unter Druck zu setzen.
Gegenüber den islamistischen und autoritär-linken Gruppen ist das als aktivistisch umschriebene Milieu deutlich heterogener in Zusammensetzung und Ausrichtung. Anders als diese kann man eine Wirkung in die weitere politische Öffentlichkeit hinein entfalten. Dies gilt auch für organisierte Gruppen der »Palästina-Solidarität« wie Thawra, deren Grundstrukturen bereits länger etabliert sind und die mindestens ideologisch auch Überschneidungen mit den zuvor beschriebenen Gruppen aufweisen. Sie betreiben Kampagnenpolitik und radikalisieren sich in widerspruchsfreien Echokammern wie dem »Protest-Camp«. Wie bereits skizziert, werden entgegen der Selbstbeschreibung als sich der ganzen Macht von Staat und Gesellschaft entgegenstellenden Widerstandskämpfer:innen, vor allem »weiche«, nicht-staatliche und in diesem Sinn ungeschützte Ziele aus Subkultur und Bildungssektor gewählt: Man versucht jedweden linken Protest und jede Struktur vereinnahmend zu kapern und bedroht ein besetztes autonomes Zentrum; man demonstriert regelmäßig gegen eine universitäre Vorlesungsreihe zu Judenfeindschaft und stört diese mehr oder weniger organisiert. (Alles praktischerweise meist nur einen kurzen Fußweg oder eine S‑Bahnstation vom »Protest-Camp« entfernt.)
Israelhass als kultureller Code
Eine wesentliche Zielgruppe dieser nationalistischen Kampagnenpraxis ist ein weiteres, eher diffuses, formal unorganisiertes, aktivistisch-künstlerisches Milieu von Personen an oder im Umfeld von Kulturinstitutionen oder Hochschulen, die sich mehrheitlich als links oder linksliberal verstehen würden. Im Fokus standen in jeweils anderer Weise die Hochschule für bildende Künste Hamburg (HfBK), das Kulturzentrum Kampnagel und seit dem Frühjahr 2024 zunehmend die Universität Hamburg.
Der Kampagnenpolitik im Sinne eines undifferenzierten, kompromisslosen palästinensischen Nationalismus wird im weiteren künstlerisch-aktivistischen Milieu von einer Haltung Raum gegeben, in der das Ressentiment gegen Israel (als Schlagwort: »die Israelkritik«) affektiv verankert ist. Durchaus auch aufgrund dieser jahrzehntealten nationalistischen Kampagnen wie des entsprechenden Erbes der Neuen Linken nach 1968, fungieren die »Israelkritik«, der »Anti-Zionismus«, die Dämonisierung Israels als ein kultureller Code, wie dies die Historikerin Shulamit Volkov benannt hat (2000: 84ff.), d.h. als »Erkennungszeichen der Zugehörigkeit zu einem bestimmten, subkulturellen Milieu« und einer emotionalisierten moralisch-politischen Haltung: Im Mittelpunkt, so Volkovs Analyse, stehen nicht die tatsächlichen Fragen, sondern »der symbolische Wert, ihnen gegenüber einen Standpunkt zu beziehen.« Und heute gilt umso deutlicher was Volkov bereits in den 1980er Jahren festgehalten hatte, dass global anscheinend »die Juden oft zum Symbol für all das geworden [sind][…], was man am Westen gehaßt und verabscheut hat«: namentlich Kolonialismus, Nationalismus und Rassismus, Ausbeutung, Ausgrenzung und Unterdrückung.[1]
Dämonisierender Israelhass muss nicht selbst propagiert werden, sondern dessen Normalisierung als ein kultureller Orientierungspunkt ist das entscheidende Moment, wie es Lukas Betzler an dieser Stelle anhand des Klimafestivals im Januar auf Kampnagel exemplarisch beschrieben hat. In diesem kulturellen Klima aus offener Aggression und bestenfalls verunsicherter Derealisierung angesichts eines »kontroversen Themas« – Antisemitismus und ein politisch komplexer, historisch aufgeladener Konflikt – bilden sich die Möglichkeitsräume und Gelegenheitsstrukturen, die ein Medium von Judenhass in der Gegenwart darstellen.
»Berechtigter« Antisemitismus?
Aufrufe zu Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, Israelis, »Zionisten« – auf Social Media oder zumindest einigen Hamburger Schulhöfen immer weniger codiert zu hören –, sind dabei ein Moment. Entscheidender sind die Derealisierung und Konsequenzlosigkeit der für sich sprechenden Taten und Tatsachen, die Verschiebung der Debatte auf den »Antisemitismusvorwurf« statt den Antisemitismus, und die Verweigerung von Empathie gegenüber den Erfahrungen von Jüdinnen und Juden. Entscheidender ist das Misstrauen, das derart entsteht. Die immer hemmungslosere Aggression zieht ihre Ziele – Jüdinnen und Juden; Akteure, die sich gegen Antisemitismus und Israelhass positionieren; beliebige Festivalveranstalter, die ein unterwerfendes Bekenntnis verweigern – mit in Verdacht. In diesem kulturellen Klima prägt sich Antisemitismus als sogenannter sekundärer aus, als Entlastungs- oder Schuldabwehrantisemitismus: Die Opfer werden für Gewalt, Hass und Verfolgung, die auf sie gerichtet werden, verantwortlich gemacht. Oder wie der Soziologe Detlev Claussen in Grenzen der Aufklärung sarkastisch formulierte (2005, XIV): »Unter Antisemitismus wird eine unberechtigte Aggression gegen Juden verstanden; aber berechtigte Angriffe sind denk- und artikulierbar geworden.«
Die Wände und Räume der Stadt sind ein passendes Bild für das, was heute Antisemitismus heißt, die aktuellste Rechtfertigung von antijüdischer Aggression in Wort und Tat: Von jeder Wand muss es herunter schreien. Jeder Raum soll mit der absoluten Gewissheit besetzt werden. Nichts Abweichendes mag noch ertragen werden. Der sich stetig selbst radikalisierende, kompromissunfähige, hoch emotionalisierte Modus der anti-israelischen Camps, Graffitis, Kampagnen und Bekenntnisse enthält das Ressentiment gegen Geist, Dialog und Reflexion und zwingt die unübersichtliche Welt in sein eindeutiges Schema von Gut und Böse. Und von solcher in widerspruchslosen Räumen verstärkten (Selbst-)Gewissheit ist es nur noch ein kurzer Weg dahin, den von den eigenen martialischen Parolen erzeugten Mythos als Rechts- und Machtanspruch in die (Gewalt-)Tat umsetzen zu dürfen, ja geradezu: umsetzen zu müssen.
Man wäge genau ab, wo man hingehe, berichtet eine aus der Ukraine geflüchtete Hamburger Jüdin der taz: »Ich frage mich: Wann werde ich angegriffen?« Die allgegenwärtige, Israel dämonisierende Propaganda, die Vereinnahmung des Raums der Stadt, das kulturelle Klima erzeugen für Jüdinnen und Juden eine Atmosphäre der Bedrohung und des Ausschlusses von Orten ihres Alltags. Gegen die allzu breit akzeptierte, falsche Wahrnehmung zweier gleichermaßen kompromiss- und dialogunfähiger »Gegner« ist festzuhalten: Während die anti-israelischen Aktivist:innen selbsterklärt für ein politisches Anliegen eintreten und die Freiheit reklamieren, Menschen mit abweichenden Haltungen zu bedrohen, wollen Jüdinnen und Juden einfach in Freiheit von solcher Drohung in ihrer Stadt leben.
– Dieser Artikel erschien in einer früheren Version auf vernetztgegenrechts.hamburg –
Der Autor dankt Janne Misiewicz und Olaf Kistenmacher sowie der Redaktion Untiefen.
[1] Ähnliches gilt auch für einige postmigrantische, stärker türkisch- oder arabisch-nationalistisch geprägte Milieus. Hier verbindet sich ähnlich wie im Islamismus der einigende, dämonisierende Israelhass mit Ressentiments gegen Minderheiten wie Kurd:innen oder Yezid:innen – gerade wo diese ihre eigene Verfolgungserfahrung im Massaker vom 7. Oktober und dessen Relativierung reflektiert sehen.
Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg
Die deutsche Geschichte ist für radikal rechte Parteien ein zentrales Agitationsfeld. Auch die Hamburger AfD verbreitet einerseits immer wieder klassisch revisionistische Thesen, die vor allem den Holocaust und die Kolonialgeschichte umdeuten. Vor allem aber vertritt sie einen nostalgischen Nationalismus, der für die eigene politische Agenda durch gezieltes Auswählen und Verschweigen Mythen über die deutsche Vergangenheit entwirft.
Das Verhältnis zur deutschen Vergangenheit ist die zentrale Eintrittskarte in den politischen Diskurs der BRD. Offene Holocaustleugnung oder ‑relativierung sind nicht nur strafbar, sondern auch politisch äußerst schädlich. Bei der populistischen, als Verteidigerin der Demokratie auftretenden AfD spielen sie daher auch in Hamburg nur eine untergeordnete Rolle. Dennoch wird immer wieder erkennbar, dass es sich hier um strategische Zurückhaltung handelt.
Offener Revisionismus
Bekannt sind etwa NS-Relativierungen des Hamburger AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Baumann, frühere revisionistische Kommentare des derzeitigen Hamburger AfD-Pressesprechers Robert Offermann und der Verdacht auf antisemitische Aussagen eines Mitarbeiters der Bürgerschaftsfraktion. Am meisten Aufsehen erregte wohl der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD in der Bürgerschaft, Alexander Wolf. 2017 wurde bekannt, dass er 1994 eine Sammlung von NS-Liedern unter dem Titel „Schlachtruf“ herausgab, in deren Vorbemerkungen er mit Blick auf die Kapitulation Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg zu einem „entschlossenen ‚Nie wieder!’“ aufrief.
Überhaupt, Alexander Wolf: Er ist in der Bürgerschaftsfraktion der Mann für die provokanten historischen Thesen. So behauptete er etwa im März 2023 in der Bürgerschaft, die Nazis hätten sich „keineswegs als rechts, sondern bewusst als Sozialisten“ verstanden. Die DDR und den NS-Staat parallelisierte er als „Diktaturen“, um sogleich zu seinem eigentlichen Anliegen zu kommen, nämlich der Lüge, auch der heutige Kampf gegen Rechts sei wieder ähnlich eine ähnliche „Freiheitseinschränkung“ und „Ausgrenzung“.
„Vogelschiss“ als Programm: der nostalgische Nationalismus
Diese offenen Relativierungen sind aber die Ausnahme. Die wirkliche geschichtspolitische Strategie der Hamburger AfD besteht darin, die Gaulandsche Rede vom „Vogelschiss“ in die Praxis umzusetzen. In den Beiträgen der AfD-Abgeordneten findet sich kaum eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oder mit der Kolonialgeschichte. Und wenn diese Themen berührt werden, dann geht es stets darum, für die radikal rechte Politik nostalgisch-nationalistische, positive Ankerpunkte in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu finden.
Historische Würdigung fordert die AfD etwa für folgende Gruppen: die Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg („Höhepunkt des deutschen Widerstands“), die Opfer der alliierten Bombardierung Hamburgs im Juli 1943 („Kriegsverbrechen“), die Aufständigen vom 17. Juni 1953 in der DDR („identitätsstiftendes Datum“) sowie für die an der Grenzen zwischen DDR und BRD Ermordeten und den Mauerbau 1961 („Schicksalsdatum der deutschen Nation“).
Und die im Jahr 2020 aufgekommenen Rufe nach einem Denkmal für die Leistungen der sogenannten türkischen „Gastarbeiter“ konterte Wolf im November 2021 mit der Forderung, stattdessen ein Denkmal für „Trümmerfrauen“ zu schaffen.
Das Kaiserreich soll rechtsradikale Herzen wärmen
Neben den deutschen Opfern alliierter Bomben und kommunistischer SED-Herrschaft sowie patriotischen konservativen Generälen steht vor allem das Deutsche Kaiserreich im Zentrum der AfD-Geschichtspolitik. Eine Folge des Podcasts „(Un-)Erhört!“ der Hamburger AfD-Fraktion vom Januar 2021 zum 150. Jahrestag der Reichsgründung 1871 illustriert das.
Zum eingangs gespielten „Heil dir im Siegerkranz“ spricht Wolf von einem „der glücklichsten Momente der deutschen Geschichte“. Heutige Politiker:innen würden sich jedoch der Erinnerung daran verweigern, sie hätten ein „gestörtes Verhältnis zur „eigenen Geschichte“. So hätte die „über tausendjährige Geschichte Deutschlands“ zwar „problematische Seiten“, doch sei sie eben auch „mehr“. Ab dort verschwindet der Nationalsozialismus aus dieser Erzählung und das heutige Deutschland wird schlicht in Kontinuität zum Kaiserreich gesetzt. Das ist eine ganz bewusste Konstruktion einer Tradition, die nur über Auslassung funktioniert. An die „positiven Momente der Geschichte“ soll erinnert werden, so Wolf weiter, „weil das unsere Identität prägt. Eine Nation lebt nicht nur von der Ratio und von der Verfassung, sondern auch von einem positiven Gemeinschaftsgefühl.“ Nur daraus könnten „Solidarität und Miteinander erwachsen.“
Gereinigt werden soll die deutsche Geschichte also nicht, indem der Holocaust geleugnet wird. Der „Schuldkult“-Vorwurf wird hier subtiler formuliert: Der bedingten Anerkennung der Verbrechen in den 12 Jahren NS-Herrschaft wird eine saubere Version der vermeintlich anderen 988 Jahre deutscher Geschichte und deutschen Glanzes entgegengestellt.
Mit Bismarck gegen die Wahrheit
Diese Strategie zeigt sich auch an der Position der AfD zur Debatte um das Otto von Bismarck-Denkmal auf St. Pauli. In einer Folge des besagten Podcasts vom Juli 2021 zeichnet Wolf den ersten Reichskanzler als eine positive Figur der deutschen Geschichte. Die geforderte Neu-Kontextualisierung des Denkmals sei selbst Geschichtsrevisionismus, schließlich würde Bismarck dabei „aus dem Blickwinkel eines Antifanten und einer Feministin“ gesehen. Die sogenannte Westafrika-Konferenz 1884/85 in Berlin, zu der Bismarck einlud und bei der die europäischen Großmächte den afrikanischen Kontinent als Kolonialbesitz unter sich aufteilten, verschweigt Wolf dabei nicht. Aber er stellt sie als rein friedensstiftende Maßnahme zur Sicherung der innereuropäischen Ordnung dar. Das funktioniert wiederum nur durch Ausblenden der Folgen für die kolonisierten Bevölkerungen außerhalb Europas. Aber mehr noch: Kolonialismus ist für Wolf „nicht per se von vornherein schlecht“. Denn es sei „viel Positives geleistet worden, Infrastruktur, Gesundheit etc.“ Es dürfe eben nicht „einseitig die negative Brille“ aufgesetzt werden, wie es bei der Black Lives Matter-Bewegung geschehen sei. So hält Wolf dann auch die gängige Forschungsposition, dass die Deutschen 1904/5 in Südwestfrika einen Völkermord begangen haben, für „absurd“, ja „Quatsch“. Man sieht: Obwohl nostalgischer Nationalismus die Kernstrategie der AfD Hamburg ausmacht, ist der Schritt zu offenem Revisionismus schnell gemacht.
Zamzam Ibrahim durfte auf Kampnagel sprechen. Während draußen eine propalästinensische Demo antizionistische Parolen brüllte, eröffnete sie das Klima-Festival online per Zoom – und setzte mit ihrer Mischung aus Esoterik und raunender ›Systemkritik‹ den Ton fürs Wochenende. Jüdische und antisemitismuskritische Stimmen wurden von diesem ›vielstimmigen‹ Chor übertönt.
»Ich sollte nicht hier sein.« Diesen Satz äußerte Dor Aloni in einem so persönlichen wie politischen Statement, das er seiner Performance Atlantis am Donnerstagabend im Saal K4 auf Kampnagel voranstellte und in dem er seiner Kritik an der Einladung Zamzam Ibrahims deutlichen Ausdruck verlieh. Alonis Satz lässt sich auf zwei Arten verstehen: als Feststellung, dass er als jüdisch-israelischer Theatermacher auf einem Klimafestival, das von einer antisemitischen Rednerin eröffnet wurde, fehl am Platze ist; und als Hadern mit seiner Entscheidung, nun auf Kampnagel aufzutreten, obwohl Zamzam Ibrahim nicht ausgeladen wurde.
Denn seit Aloni Anfang der Woche erfahren hatte, wessen Keynote-Vortrag den Klimaschwerpunkt »How Low Can We Go?« eröffnen solle, in dessen Rahmen auch er auftreten würde, konnte er nicht mehr ruhig schlafen. Auch davon sprach er in seinem Statement. Für ihn, dessen Familie in Israel lebt und der durch den antisemitischen Terror der Hamas vom 7. Oktober auch Kolleg:innen verloren hat, war der Gedanke unerträglich, einen (Diskurs-)Raum mit einer Aktivistin zu teilen, die den Terror der Huthi im Jemen und der Hamas in Israel als ›Widerstand‹ verklärt. Am Dienstag hatte er daher bei der Kampnagel-Leitung interveniert und deutlich gemacht, dass für ihn hier eine rote Linie überschritten ist: Entweder Ibrahim wird ausgeladen, oder er sagt seine Auftritte ab.
Kampnagel befand sich dadurch in einer misslichen Lage: Dass ein jüdischer Künstler sich aus Protest gegen die Tolerierung antisemitischer Positionen und aus Sorge um sein Wohlbefinden zurückzieht, wäre für ein – laut Selbstdarstellung »diskriminierungssensibles« – deutsches Theater gelinde gesagt problematisch. Aber eine antiisraelische Aktivistin auszuladen, zumal eine, die Schwarz und muslimisch ist, hätte Kampnagel wohl ebenso geschadet, insbesondere in der internationalen ›freien Szene‹, in der Terrorapologie weithin als ›Israelkritik‹ zu gelten scheint und jede Kritik daran als ›Silencing‹ und ›Cancel Culture‹ beklagt wird.
Um wessen Sicherheit geht es?
Man kann sich vorstellen, wie der »empathische Dialog« (Kampnagel-Leitbild) aussah, in dem Aloni unter Druck gesetzt wurde, Kampnagel doch nicht in diese Lage zu bringen. Und tatsächlich ließ er sich auf einen Alternativvorschlag ein: Am Mittwoch verkündete Kampnagel, dass man Zamzam Ibrahim nicht auslade, dass sie aber nur online, per Zoom-Zuschaltung, sprechen werde. Dies als Kompromiss oder salomonische Lösung zu bezeichnen, wäre jedoch völlig verfehlt. Denn erstens bot man Ibrahim so weiterhin eine Bühne (und sogar eine größere als zuvor); und zweitens wurde in der am Mittwochabend veröffentlichten Erklärung der Antisemitismus konsequent entnannt, während Ibrahim zum Opfer einer rassistischen Kampagne stilisiert wurde.
Zu den »Antisemitismusvorwürfen« gegen Ibrahim äußert Kampnagel sich in der Erklärung mit einer Distanzierung, die sich schwächer nicht formulieren ließe: »In der Tat sind von der Speakerin Äußerungen bekannt geworden, die auch wir so nicht teilen können.« Nicht ›antisemitische Äußerungen‹ oder wenigstens ›Äußerungen, die wir nicht teilen‹, sondern: ›Äußerungen, die wir so nicht teilen können.‹ Was mag das heißen – so nicht, aber in anderer Form schon? Kampnagel wollte dazu auf Nachfrage nichts antworten.1Wenn Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard gegenüber Untiefen lediglich allgemein proklamiert: »Wir distanzieren uns in aller Deutlichkeit von antisemitischen und israelfeindlichen Haltungen«, muss sie sich die Frage gefallen lassen: Wo war diese Deutlichkeit im konkreten Falle Zamzam Ibrahims?
Als verantwortlich für die Verlegung ins Internet präsentiert die Erklärung nicht Ibrahims Antisemitismus, sondern zum einen das mangelnde Vertrauen »Einzelner« in die Versicherung Kampnagels, »dass es im Rahmen des Klimaschwerpunktes zu keiner antisemitischen Äußerung kommen wird«, und zum anderen die mediale Verbreitung der Kritik und die dadurch laut werdenden »Aufrufe zum Verhindern der Keynote«. Beklagt wird schließlich noch, die Berichterstattung habe »rassistische und islamfeindliche Narrative« hervorgerufen. Auch wenn vage von der »Sicherheit aller Anwesenden« geschrieben wird, ist der Tenor deutlich: Weil Ibrahim von einem aufgeheizten Mob bedroht werde, könne sie zu ihrem eigenen Schutz nur online sprechen.
Es ist eine klassische Form des relativierenden Umgangs mit Antisemitismus: Als Problem gilt nicht der Antisemitismus selbst, sondern der Umstand, dass er benannt und kritisiert wird – und dass Konsequenzen aus dieser Kritik gefordert werden.2Auch in Ihren Eröffnungsworten nannte Amelie Deuflhard die Debatte als Grund für die Verlegung ins Internet: »The controversy around the keynote made us decide to place it online.« Als Problem gilt nicht der Antisemitismus, sondern der ›Antisemitismusvorwurf‹, gelten also Menschen, die es für falsch halten, eine Antisemitin unwidersprochen öffentlich reden zu lassen. Und weil es nun einmal oft die Betroffenen selbst sind, die gegen Antisemitismus einstehen, heißt das: Als Problem gelten Jüdinnen und Juden. Vom Kampnagel-Statement zum am Donnerstag in antiisraelischen Kreisen zirkulierenden Aufruf, die »Hetze« gegen Ibrahim zu stoppen, ist es nur ein kleiner Schritt. Man nennt das Täter-Opfer-Umkehrung.
Nicht gar so offene Debattenräume
Symptomatisch war hierfür das Bild, das sich am Donnerstagabend vor Kampnagel bot. Etwa dreißig Kritiker:innen des Antisemitismus – darunter Mitglieder des Jungen Forums der DIG Hamburg und der jüdischen Gemeinde sowie Exiliraner:innen – versammelten sich dort gegen halb sechs, um gegen die Einladung Ibrahims zu protestieren. Zahlenmäßig überlegen war jedoch eine spontan angemeldete antiisraelische Gegenkundgebung, die von der Polizei in Sicht- und Hörweite vorgelassen wurde.
Dank Lautsprecheranlage übertönten deren Sprechchöre zudem diejenigen der Kundgebung gegen Antisemitismus. Und im Gegensatz zum Anti-Antisemitismus konnte der Israelhass auf ein großes Repertoire griffiger Slogans zurückgreifen – neben dem notorischen »From the river to the sea« gehörte dazu am Donnerstag etwa »Alle zusammen gegen Zionismus«. Die antisemitismuskritischen Demonstrant:innen wurden als ›Verteidiger eines Genozids‹ verleumdet.
Drinnen, in der Installation »Cruise Tentare«, eröffnete Amelie Deuflhard währenddessen kurz angebunden den Klima-Schwerpunkt vor ca. vierzig etwas desorientierten Gästen. Die eigentlich für 18:15 Uhr angekündigte Keynote von Zamzam Ibrahim war wenige Minuten vor dem geplanten Beginn auf 19:45 Uhr verlegt worden. Der Hintergrund dieser Verschiebung ist brisant: Die Kampnagel-Leitung wollte dem Radiosender NDR 90,3 untersagen, O‑Töne aus Ibrahims Keynote-Vortrag für die Berichterstattung zu nutzen. Die Kulturredaktion von NDR 90,3 wandte sich in der Sache an ihr Justiziariat, das ein derartiges Verbot als unzulässig erachtete. Auch das daraufhin kontaktierte Justiziariat von Kampnagel folgte dieser Einschätzung. Kampnagel entschied sich vor diesem Hintergrund gegen eine Live-Übertragung und stellte – anderthalb Stunden später als eigentlich geplant – eine Aufzeichnung des Gesprächs online.3Das Video ist nun auch wieder aus dem Internet verschwunden – samt vieler kritischer Kommentare. Ein erstaunliches Verhalten für ein Haus, das stets die Notwendigkeit offener Debatten betont.
Auf Nachfrage erläutert Amelie Deuflhard, Ibrahim habe zunächst nur einer einmaligen Veröffentlichung ihrer Rede zugestimmt, nicht aber einer Aufzeichnung; erst nach erneuter Rücksprache habe Ibrahim die Zustimmung, O‑Töne zu verwenden, erteilt. »Zu keiner Zeit wurde die freie Presseberichterstattung über die Rede Zamzam Ibrahims beschränkt oder sollte beschränkt werden.« Doch wie sonst soll man es bezeichnen, wenn einem Radiojournalisten untersagt werden soll, O‑Töne aus einem öffentlichen Vortrag für seine Berichterstattung zu verwenden?
Climate Justice lies with God?
Ibrahims Keynote-Vortrag war dann eine Mischung aus religiös-esoterischem Pathos und raunender ›Systemkritik‹. Zur Klimagerechtigkeit hatte sie nur Gemeinplätze zu bieten. Stattdessen war ihre Rede voll von Anspielungen auf das Thema, über das zu sprechen ihr ›verboten‹ worden war: »I wouldn’t be me without talking about the pain and suffering that is happening this very second«, proklamierte sie, und sprach sodann von »Genoziden«, die wir alle live auf unseren Bildschirmen verfolgen könnten. Zu diesem raunenden Sprechen in Anspielungen passte auch ihr Outfit – ein weißer Pullover mit einem Print der Jerusalemer al-Aqsa-Moschee, der gerade deutlich genug zu sehen war, um die Botschaft erkennen zu lassen, und gerade unauffällig genug, um sich keinen Bruch der Abmachung vorwerfen lassen zu können.
In politischer Hinsicht offenbarte Ibrahim ein mit religiösem Pathos aufgeladenes Schwarz-Weiß-Denken – Gerechtigkeit vs. Unterdrückung, Gut vs. Böse, Globaler Süden vs. Globaler Norden, ›wir‹ gegen ›die‹. Eine Anerkennung von Widersprüchen suchte man vergeblich: »You are either part of the problem or part of the solution. There is no other side to this coin.« Dieses dichotome Denken verband sich mit einer raunenden Verdammung ›des Systems‹, das jede Kritik mundtot zu machen und jeden Widerstand im Keim zu ersticken versuche.4»You see, when you stand on the side of justice, the systems of oppression that we seek to break down will try to deplatform you, but no sensations headlines or lies can ever win against you.« Gegen eine politisch-ökonomische Ordnung, die auf white supremacy, Rassismus, Ausbeutung und Gier beruhe und »profit over people« stelle, brachte Ibrahim die Vorstellung einer »green economy« in Anschlag, die den Bedürfnissen der Menschen und unseres Planeten diene.5Wörtlich heißt es in der Rede: »See, the fight against climate change is a fight against all systems that fuel the climate crisis: white supremacy, racism, economic exploitation, greed – I could be here all day.« Und weiter: »We need a green economy, financial systems that exist to serve the needs of people and our planet.« Diese von Gier befreite »green economy« klingt auffällig ähnlich wie das Programm des »Islamic Banking«, das als ein mit der Scharia konformes Finanzwesen etwa im Iran propagiert wird.
Mögen diese Ausführungen auch nicht explizit antisemitisch gewesen sein – ihre Nähe zu dem, was der Künstler Leon Kahane in einem Interview mit dem Ausdruck ›Antisemitismus als Kulturtechnik‹ bezeichnet, ist evident: »Antisemiten positionierten sich immer gegen das Establishment und gesellschaftliche Zwänge und für etwas vermeintlich Fortschrittliches. Der Antisemitismus als Kulturtechnik ist der Versuch, Widersprüche aufzulösen – zur Not mit Gewalt. Die eigenen Konflikte und das eigene Böse werden externalisiert und auf Jüdinnen und Juden oder den jüdischen Staat Israel projiziert.«
Es fragt sich zudem, was genau Ibrahims Rede zum Problem der Klimagerechtigkeit beizutragen hatte. Wenn es in der Erklärung von Kampnagel heißt, »Ibrahims Perspektive bleibt für den Diskursschwerpunkt des Festivals ein wichtiger Bestandteil«, bleibt offen, worin genau diese ›Perspektive‹ liegt. Mit ihrem Denken in Dichotomien und ihrer religiös-esoterisch verbrämten Systemkritik gab Ibrahim aber zumindest einen Vorgeschmack darauf, was im Rest des Diskursprogramms passierte – etwa die Beschwörung eines Olivenbaums als Zeuge oder das »öko-intime« Streicheln von Aloe-Vera-Pflanzen. Wenn das die von Kampnagel versprochenen neuen »Strategien im Klimadiskurs« sind, ist wenig Grund zur Hoffnung.
Antisemit:innen mit Grund zum Jubeln
Draußen vor Kampnagel hatte sich die antisemitismuskritische Kundgebung derweil aufgelöst, die Gegenkundgebung blieb jedoch noch eine Weile vor Ort, um in ausgelassener Stimmung bei lauter Musik zu tanzen und ihren Sieg zu feiern. Man feiere, »dass Kampnagel nicht vor den Zionisten eingeknickt ist«, erklärte eine Demonstrantin. Und bevor die Lautsprecheranlage abgebaut wurde, rief der Versammlungsleiter zum Abschluss noch einmal ins Mikro: »Danke, Kampnagel!«
»Danke, Kampnagel!« ist auch der Tenor der propalästinensischen Kommentare in den sozialen Medien. Die Verlegung von Zamzam Ibrahims Vortrag ins Internet wird hier keineswegs als ›Einknicken‹ verstanden.6Daher ist auch der Bericht im Hamburger Abendblatt irreführend, der behauptet, die propalästinensische Demo habe gegen die Verlegung von Ibrahims Vortrag ins Internet demonstriert, und die Situation also so darstellt, als werde Kampnagel von zwei Seiten gleichermaßen angegriffen. Richtig ist: Diejenigen, die für Zamzam Ibrahim demonstrierten, sahen sich mit Kampnagel auf derselben Seite – und das zu Recht. Davon zeugen vor allem viele Kommentare zur Erklärung von Kampnagel auf Instagram.7Ein Statement der im Workshopprogramm von »How Low Can You Go« auftretenden Künstlerin Niya B brint diese Sicht auf den Punkt: »[…] they [Kampnagel] are refusing to cancel speakers who are falsely branded as antisemitic. In the current climate, this is a bold public statement for a German cultural institution.« Und auch Ibrahim selbst präsentierte sich nach ihrem Auftritt als Siegerin. In ihrer Instagram-Story zeigt sie sich mit Siegerlächeln, Victoryzeichen und dem nun in Gänze sichtbaren al-Aqsa-Moschee-Pullover, den sie auch schon bei der Keynote trug. Ergänzt ist dieses Bild um die Worte: »Just Germanys most hated climate activist reporting in let you all know, I’m doing great and also to remind ya’ll… Ain’t Climate Justice without a FREE PALESTINE«.
Kampnagel ›verlernresistent‹
Für all jene, die gegen Antisemitismus einstehen, endete die Debatte um Ibrahims Auftritt so in einer Niederlage. Und hegte man die Hoffnung, dass man zumindest auf Kampnagel etwas aus den Vorfällen gelernt (oder eher, wie es im Jargon heißt, verlernt) habe, wurde man ebenfalls enttäuscht. Gegenüber Untiefen sagte Amelie Deuflhard zwar: »Den Prozess rund um den Schwerpunkt zur Klimagerechtigkeit werden wir gründlich aufarbeiten. Dabei nehmen wir die geäußerte Kritik ernst und setzen uns damit auseinander, was der Vorgang für jüdisches und antisemitismuskritisches Publikum hervorgerufen hat.« Bisher deutet aber nichts darauf hin, dass man sich auf diese Ankündigung verlassen könnte.
Eher das Gegenteil ist der Fall: Deuflhard zeigte sich nach der Keynote in ihrer Entscheidung bestärkt. Ibrahims Vortrag bezeichnete sie gegenüber NDR 90,3 als »ausgewogene, gemäßigte und kämpferische Rede für alle«. Und auf die Frage, ›ob es das wert war‹, antwortete sie: »Es war’s vielleicht wert dafür, dass es keine gute Idee ist, dass wir unterschiedliche Stimmen von schwarzen Aktivistinnen, von muslimischen Aktivistinnen verstummen lassen. Wir müssen ohne solche harten Anwürfe diskutieren können«. Mit den »harten Anwürfen« ist fraglos die vornehmlich von Jüdinnen und Juden geäußerte Benennung von Ibrahims Positionen als antisemitisch gemeint. Die Botschaft ist also deutlich: Kampnagel will den ›vielstimmigen Diskurs‹ gerne ohne antisemitismuskritische jüdische Stimmen führen.
Diese Erkenntnis ist bitter enttäuschend. In Enttäuschung aber steckt zumindest immer auch die aufklärerische Dimension einer Desillusionierung. Die Vorgänge um den Auftritt Zamzam Ibrahims waren gut geeignet, Illusionen zu verlieren – allen voran die Illusion, dass man Kampnagel im Kampf gegen Antisemitismus zu den Verbündeten zählen könne.
Anti-Antisemitismus bleibt Handarbeit
Enttäuscht in diesem Sinne sind auch einige Kampnagel-Künstler:innen. Dor Aloni fand in einem Interview mit Zeit Online am Dienstag klare Worte: »Für mich ist das eine politische Frage, ich finde, die Relativierung des Holocaust und die Rechtfertigung des Hamas-Massaker keine Position, die man mit anderen konträren Positionen diskutieren kann. Kampnagel hat den Anspruch, sichere Räume für bedrohte und marginalisierte Gruppen zu bieten. Ich habe den Eindruck, dass das für Juden so nicht gilt.«
Und der Performancekünstler Tucké Royale kommentierte auf Instagram, das Verhalten Kampnagels zeige die gefährliche Tendenz, dass in Sachen Antisemitismus aufs Bauchgefühl gehört wird statt auf die Antisemitismusforschung und auf Jüdinnen und Juden: »Ein absoluter Irrtum zu denken, dass sich Antisemitismuskritik und Antirassismus ausschließen.« Ansonsten aber wurde Ibrahims Antisemitismus von Künstler:innen aus dem Kampnagel-Umfeld geleugnet oder legitimiert – oder es herrschte Schweigen. Das zeigt: Sich hier offen gegen Antisemitismus und Israelhass zu stellen, macht schnell einsam.
In ihrer Eröffnungsrede am Donnerstag sagte Amelie Deuflhard: »Ich bin mir sicher, dass uns diese Kontroverse auch in den nächsten Wochen und Monaten beschäftigen wird.« Damit das keine leeren Worte bleiben, gilt es, diesen Satz als Aufforderung zu verstehen. Hätte es keine kritische Öffentlichkeit gegeben, wäre der Antisemitismus Zamzam Ibrahims nicht einmal Thema geworden; ohne eine weiterhin kritische Öffentlichkeit wird die Debatte auch keine Konsequenzen haben.
Lukas Betzler
Der Autor hat vor einer Woche eine ausführliche Recherche zum Antisemitismus Zamzam Ibrahims veröffentlicht.
1
Wenn Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard gegenüber Untiefen lediglich allgemein proklamiert: »Wir distanzieren uns in aller Deutlichkeit von antisemitischen und israelfeindlichen Haltungen«, muss sie sich die Frage gefallen lassen: Wo war diese Deutlichkeit im konkreten Falle Zamzam Ibrahims?
2
Auch in Ihren Eröffnungsworten nannte Amelie Deuflhard die Debatte als Grund für die Verlegung ins Internet: »The controversy around the keynote made us decide to place it online.«
3
Das Video ist nun auch wieder aus dem Internet verschwunden – samt vieler kritischer Kommentare.
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»You see, when you stand on the side of justice, the systems of oppression that we seek to break down will try to deplatform you, but no sensations headlines or lies can ever win against you.«
5
Wörtlich heißt es in der Rede: »See, the fight against climate change is a fight against all systems that fuel the climate crisis: white supremacy, racism, economic exploitation, greed – I could be here all day.« Und weiter: »We need a green economy, financial systems that exist to serve the needs of people and our planet.« Diese von Gier befreite »green economy« klingt auffällig ähnlich wie das Programm des »Islamic Banking«, das als ein mit der Scharia konformes Finanzwesen etwa im Iran propagiert wird.
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Daher ist auch der Bericht im Hamburger Abendblatt irreführend, der behauptet, die propalästinensische Demo habe gegen die Verlegung von Ibrahims Vortrag ins Internet demonstriert, und die Situation also so darstellt, als werde Kampnagel von zwei Seiten gleichermaßen angegriffen. Richtig ist: Diejenigen, die für Zamzam Ibrahim demonstrierten, sahen sich mit Kampnagel auf derselben Seite – und das zu Recht.
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Ein Statement der im Workshopprogramm von »How Low Can You Go« auftretenden Künstlerin Niya B brint diese Sicht auf den Punkt: »[…] they [Kampnagel] are refusing to cancel speakers who are falsely branded as antisemitic. In the current climate, this is a bold public statement for a German cultural institution.«
Der geplante Auftritt der antisemitischen Klimaaktivistin Zamzam Ibrahim in der Kulturfabrik Kampnagel sorgt für Empörung. Die Kritik an Ibrahim ist mehr als berechtigt, der Eklat legt jedoch vor allem grundsätzliche Probleme offen.
Eigentlich soll sich auf Kampnagel von Donnerstag bis Samstag alles um die gesellschaftlichen Herausforderungen durch die Klimakatastrophe drehen. Der dreitägige Schwerpunkt unter dem Titel How Low Can We Go? umfasst drei (Theater-)Performances, eine Performance-Installation sowie ein Workshop- und Vortragsprogramm. Gemeinsam sollen diese Formate zu einer kollektiven »Reorientierung« angesichts der Klimakatastrophe, der »wahrscheinlich langfristigsten politischen Mega-Krise unserer Zeit«, beitragen, wie es in der Ankündigung heißt.
Jetzt erhält die Veranstaltungsreihe breite mediale Aufmerksamkeit. Im Fokus stehen jedoch nicht die Herausforderungen der Klimakatastrophe, sondern die Gefahren des Antisemitismus. Grund dafür ist die Einladung der britischen Aktivistin Zamzam Ibrahim, die den Klima-Schwerpunkt mit einem Keynote-Vortrag »über intersektionale Aspekte von Klimagerechtigkeit« eröffnen und einen ›Safer-Space‹-Workshop für BIPoC (Schwarze, Indigene und People of Color) leiten soll.
Der Antisemitismusbeauftragte der Stadt Hamburg, Stefan Hensel, kritisierte diese Einladung in einer Pressemitteilung am Montag scharf: Kampnagel biete »einer ausgewiesenen Antisemitin […] eine Bühne«, lasse damit die Jüdinnen und Juden Hamburgs im Stich und wiederhole die Fehler der Documenta fifteen. Hensels Kritik, die sich zudem an den Kultursenator Carsten Brosda richtete, dessen Behörde den dreitägigen Klimaschwerpunkt finanziell unterstützt, wurde in den Medien schnell und breit rezipiert.
Wo verlaufen die ›roten Linien‹?
Hensel fordert, Ibrahim auszuladen: Sie unterstütze die antisemitische BDS-Kampagne gegen Israel und relativiere den Hamas-Terror, schreibt er mit Verweis auf Social-Media-Aktivität und öffentliche Auftritte Ibrahims. Amelie Deuflhard hingegen, die Intendantin von Kampnagel, verteidigt die Einladung: Man habe Ibrahim eingeladen, weil sie Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit verbinde, wird Deuflhard im Hamburg-Journal zitiert. Außerdem werde sie am Donnerstag nicht über den ›Nahostkonflikt‹ sprechen und habe im persönlichen Gespräch auf Nachfrage bestätigt, »dass sie den Anschlag der Hamas [vom 7. Oktober 2023] klar verurteilt«.
Der von Hensel ebenfalls adressierte Kultursenator Carsten Brosda zeigt sich kritischer: Ibrahim sei »aufgrund ihrer teils antisemitischen Äußerungen im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt zu Recht auf Kritik gestoßen«, urteilte er in einer Stellungnahme. Politischen Eingriffen in die Programmgestaltung von Kultureinrichtungen stehe er allerdings kritisch gegenüber; die Absage der Veranstaltungen mit Zamzam Ibrahim wollte er nicht fordern. Dass er dabei auf die Kunstfreiheit verwies, erstaunt jedoch, schließlich ist Ibrahim dezidiert als Aktivistin eingeladen, nicht als Künstlerin.
Dass alle Beteiligten an der Debatte ihre anti-antisemitische Haltung betonen, versteht sich. Deuflhard etwa benennt ihre ›roten Linien‹ in Sachen Antisemitismus – »die Absprache des Existenzrechtes Israels, Aufrufe zu Gewalt oder Hass gegenüber Juden und Jüdinnen«. Der Streit scheint sich somit mal wieder um die Frage zu drehen, wo genau diese ›roten Linien‹ verlaufen und wann sie erreicht sind: ob etwa die Unterstützung der BDS-Kampagne oder die Behauptung, Israel begehe in Gaza einen Genozid, auszuhaltende politische Positionen oder eine nicht zu tolerierende Form des Antisemitismus darstellen.
Deuflhard hat – wie auch Kultursenator Carsten Brosda – im Jahr 2020 die Erklärung der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit unterzeichnet, die im Namen der Vielfalt gegen die BDS-Resolution des Bundestags Stellung bezieht: »Unter Berufung auf diese Resolution werden durch missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt«, so die Erklärung.
Ist die Debatte also eigentlich nur eine um unterschiedliche Antisemitismusdefinitionen, wie Deuflhard es auch am Dienstag Abend im Hamburg Journaldarstellte? Ist es schlicht so, dass Ibrahims Äußerungen gemäß IHRA-Definition antisemitisch sind, qua JDA-Definition jedoch nicht, und dass der Bezug auf die umfassendere IHRA-Antisemitismusdefinition hier eine ›wichtige Stimme beiseitedrängen‹ soll? Um diese Fragen zu beantworten, gilt es, sich die Äußerungen und Positionen Zamzam Ibrahims genauer anzuschauen, für die sie nun kritisiert wird.
Als Studierendenvertreterin gegen Israel
Zamzam Ibrahim ist eine profilierte und gut vernetzte Klimaaktivistin. Sie hat eine Nachhaltigkeits-NGO gegründet, ist Beraterin der UN und besuchte bereits drei UN-Klimakonferenzen, zuletzt die COP28 in Dubai. Aber auch vor ihrem Klimaaktivismus war sie bereits politisch umtriebig – erst als Präsidentin der Students’ Union ihrer Universität in Salford, dann als Vorsitzende der britischen National Union of Students (NUS) und als Vizepräsidentin der European Students’ Union (ESU). Aktivismus gegen Israel bildet dabei eine Konstante ihres studentischen Engagements.
Als frisch gewählte NUS-Präsidentin versprach sie 2019, Antisemitismus-Trainings für NUS-Funktionär:innen anzubieten, nachdem es in den Jahren zuvor mehrere antisemitische Vorfälle1Im Januar 2023 veröffentlichte die NUS einen unabhängigen Bericht, der den Antisemitismus in der Studierendengewerkschaft aufarbeitet. Zamzam Ibrahim wird darin nicht erwähnt. in der Studierendengewerkschaft gegeben hatte. Der Erfolg dieser Trainings ist allerdings zweifelhaft: Zwei Jahre nach dem Ende von Ibrahims Amtszeit, im März 2022, lud die NUS zu ihrer Jahreskonferenz den antizionistischen und verschwörungsideologischen Rapper Lowkey ein.2Lowkey hatte sich durch Songtexte wie »You say you know about the Zionist lobby / But you put money in their pocket when you’re buying their coffee« und »It’s about time we globalised the intifada« profiliert. Auch zum 7. Oktober hat er antisemitische Verschwörungsideologien verbreitet. Auf Kritik jüdischer Mitglieder an diesem Programmpunkt reagierte die NUS mit der Aufforderung, diese sollten dann doch einfach den Konzertsaal verlassen.3Vgl. dazu diesen Artikel der Zeitung The Jewish Chronicle. Als daraufhin Forderungen an Spotify laut wurden, Songs von Lowkey mit antisemitischen Lyrics von der Plattform zu nehmen, protestierte Ibrahim auf Twitter gegen diese Unterdrückung ›unseres [!] palästinensischen Aktivismus‹ und drohte mit Boykott: »If Spotify remove a single song of his [i.e. Lowkey], I swear will make it my full time job to campaign for a mass boycott. Don’t play with your bag Oga, ya’ll know how BDS has impacted companies.«
Bereits 2021, da war sie Vizepräsidentin der ESU, kritisierte die European Union of Jewish Students (EUJS) Ibrahim für ihre Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus auf Instagram.4In einer Instagram-Story habe sie einen Post geteilt, in dem es heißt: »If you are silent when it comes to Palestine, you would have been silent at the time of the Holocaust.« Die Aufforderung der EUJS, Ibrahim solle sich von ihrem Instagram-Post distanzieren oder anderenfalls von ihrem Amt entfernt werden, verhallte jedoch wirkungslos.
Nach dem 7. Oktober
Die Anschläge der Hamas vom 7. Oktober scheint Ibrahim nie öffentlich verurteilt zu haben. Im Gegenteil, sie veröffentlichte in den Sozialen Medien mehrere Posts, die kaum anders denn als Legitimierung des Massakers gelesen werden können. Am 9. Oktober, zwei Tage nach dem Massaker, schrieb sie auf Twitter: »History will remember those that sided with the oppressor and ignored the oppressed. Justice lies with God, but the resistance is in our hands.« Am 12. Oktober polemisierte sie gegen einen Artikel Naomie Kleins, der die Legitimierung oder gar Feier des Hamas-Massakers durch viele (vermeintlich) Linke kritisiert: »Babe, what did you mean by Radical resistance you spoke about for indigenous communities? Or did that never apply to Palestinians?« Über die Opfer des zum ›(radikalen) Widerstand‹ verklärten Terrors verlor Ibrahim kein Wort.
Ibrahims Twitter-Profil ist seit dem 14. Januar auf ›privat‹ gestellt. Aber auch auf ihrem weiterhin öffentlichen Instagram-Profil ist sie aktiv. Am 15. Januar teilte Ibrahim in ihrer Instagram-Story etwa ein Bild mit dem Spruch: »Palestine has showed the world what resilience is. Yemen has showed the world what courage is. South Africe has showed the world what justice is.« Was genau mit der »palästinensischen Resilienz« gemeint ist, ist hier offen gelassen. Mit dem »Mut« des Jemen ist in diesem Zusammenhang aber unmissverständlich der Terrorismus der vom Iran finanzierten Huthi-Rebellen gemeint.
Gutes Klima mit Islamisten
Der Einwand, dass einzelne Posts in den sozialen Medien als Grundlage für eine Ausladung womöglich nicht ausreichen, hat durchaus seine Berechtigung. Im Falle Ibrahims geht das antiisraelische Engagement jedoch weit über symbolischen Social-Media-Aktivismus hinaus. Dabei offenbaren sich vor allem ihre Verbindungen zum politischen Islam.
Am 29. November etwa war sie eingeladener Gast bei einer Veranstaltung der Friends of Al-Aqsa (FOA), einer der Muslimbruderschaft zugehörigen, die Hamas unterstützenden britischen Organisation.5Ihr Gründer Ismail Patel vertritt einen politischen Islam und ist offener Anhänger der Hamas. 2009 verkündete er auf einer Demonstration für Gaza: »[W]e salute Hamas for standing up to Israel«. Am 7. Oktober postete FOA triumphierend das Video eines Baggers, der im Rahmen des Hamas-Angriffs auf Israel den Zaun an der Grenze von Gaza zerstört. Vgl. für eine palästinasolidarische, aber vergleichsweise antisemitismuskritische Perspektive auf FOA: https://www.workersliberty.org/story/2023–11-22/who-are-friends-al-aqsa. Ibrahims, vorsichtig formuliert, unkritische Nähe zum politischen Islam äußert sich auch in ihrem Aufruf im Februar 2022, für das Forum of European Muslim Youth and Student Organizations (FEMYSO) zu spenden, das vom Landesverfassungsschutz Baden-Württemberg ebenfalls der Muslimbruderschaft zugerechnet wird.6Im Bericht des Landesverfassungsschutzes Baden-Württemberg von 2022 wird FEMYSO als »Dachorganisation für die Jugendarbeit der Muslimbruderschaft« bezeichnet, die »in enger Kooperation mit den nationalen muslimischen Studenten- und Jugendverbänden als breiter Nachwuchspool für die europäische Muslimbruderschaft fungiert«.
So fragt der Moderator sie etwa nach der »intersectionality« der Anti-Israel-Proteste am Rande der COP28. Ibrahim antwortet: »Climate justice fundamentally is a global call for the end of destruction, displacement of people and land, which of course perfectly fits into the experience of the Palestinian people. […] The call for climate justice itself is very much intersectional in its practice, and calls for understanding that [in] any form of ethnic cleansing and genocide, wether it’s indigenous communities in the Amazonia forest or it’s the people of Palestine, the issues and the systems of oppression that exist there are very much the same.« Auf die Suggestivfragen des Moderators, etwa danach, ob das Ziel Israels es sei, den Gazastreifen »unbewohnbar« zu machen, antwortet Ibrahim stets zustimmend: »absolutely«.
Zweierlei Antisemitismus?
Zamzam Ibrahim ist also, das zeigen diese Quellen, eine ausgewiesene antizionistische Aktivistin, die es selbst beim Thema Klimagerechtigkeit schafft, in Israel das größte Übel auszumachen. Sie hat zur Unterstützung der BDS-Kampagne aufgerufen und Israels Politik mit der Shoah verglichen, sie hat den antisemitischen Terror der Hamas und der Huthi legitimiert und sie pflegt enge Verbindungen zu Organisationen und Vertretern des politischen Islam. Zusammengenommen sprechen diese Aspekte eine derart deutliche Sprache, dass selbst die Antisemitismusdefinition der – von vielen Antisemitismusforscher:innen als unzureichend kritisierten – Jerusalemer Erklärung hinreicht, um Ibrahims Äußerungen und Positionen als antisemitisch zu erkennen. Das Zusammentreffen all dieser Aspekte unterscheidet sie auch von anderen Eingeladenen im Rahmen des Klimafestivals, die in den sozialen Medien teilweise vergleichbar antisemitische Positionen zu Israel vertreten.7 Da ist zum Beispiel Juneseo Hwang, der auf Twitter ein Posting des rechten antiisraelischen Aktivisten Jackson Hinkle geteilt hat, das die internationale Unterstützung der von Südafrika initiierten Anklage Israels vor dem IGH feiert. Hwang verbindet diesen Tweet mit der Forderung, Israel nicht nur für ›Genozid‹, sondern aufgrund der mit dem Krieg einhergehenden Umweltzerstörung in Gaza auch für ›Ökozid‹ anzuklagen. Und da ist Giulia Casalini, die in einer Instagram-Story einen Post geteilt hat, in dem Gaza als »the world’s largest open-air prison and concentration camp« bezeichnet wird. Dass internationale Klimaaktivist:innen derartige antiisraelische Positionen vertreten, ist wenig überraschend. Dass solche Positionen und Haltungen auch in Deutschland keinerlei öffentliche Kritik hervorrufen, widerlegt zudem die verbreitete Erzählung, man könne angesichts der Zensur durch eine ›proisraelische Lobby‹ gar keine Kritik an Israel üben, ohne mit ›Antisemitismusvorwürfen‹ überzogen zu werden. So wie die allermeisten antiisraelischen und ›israelkritischen‹ Künstler:innen und Aktivist:innen haben Casalini und Hwang nichts zu befürchten.
Es stellt sich daher die Frage: Wie kann es sein, dass dieser Antisemitismus nicht erkannt wurde und dass daraus keine Konsequenzen gezogen wurden? Schließlich wurden informierten Kreisen zufolge nach dem 7. Oktober eigens interne Schulungen zu Antisemitismus angeboten. Und schließlich hat Kampnagel im November selbst gezeigt, dass es auch anders geht, indem eine Lesung des soeben mit antisemitischen Äußerungen hervorgetretenen Fernsehphilosophen Richard David Precht abgesagt wurde. Offiziell geschah die Ausladung bloß, weil am selben Abend der israelische Sänger Asaf Avidan im Haus auftrat und eine »Konfrontation« vermieden werden sollte. Die Kampnagel-Sprecherin Siri Keil machte gegenüber t‑online jedoch ein Bemühen Prechts »um ein tiefergehendes Verständnis der berechtigten Kritik und damit verbundenen Reflexion seiner Äußerungen« zur Bedingung für zukünftige Auftritte. Warum im Falle Ibrahims nicht einmal derartige Bedingungen formuliert werden, ist nicht nachvollziehbar.
Antisemitismus als blinder Fleck
Dass ein Umgang mit dem Problem des Antisemitismus hier gänzlich ausblieb, ist auch deshalb besonders frappierend, weil mit dem Hamburger Schauspieler und Regisseur Dor Aloni, der in Israel geboren und aufgewachsen ist, ein Künstler im Programm des Klimafestivals auftritt, der von Antisemitismus unmittelbar betroffen ist. In seiner gemeinsam mit Meera Theunert entwickelten (und bereits an allen drei Abenden ausverkauften) Performance Atlantis spürt er dem Atlantis-Mythos als »Vorlage für die Verbreitung faschistoider Welterzählungen und Zerstörungsphantasien« nach. Auch Antisemitismus wird in der Performance thematisiert. Die Idee, Aloni über die antisemitischen Haltungen der Eröffnungsrednerin zu informieren und ihn nach seiner Perspektive zu fragen, scheint aber niemandem gekommen zu sein – etwas, das auf Kampnagel im Falle von Rassismus oder Queerfeindlichkeit wohl undenkbar wäre. Es fällt schwer, daraus andere Schlüsse zu ziehen als, wie es der britische Comedian David Baddiel prägnant formuliert hat: Jews don’t count.
Das Leitbild von Kampnagel, man wolle ein von »Rücksichtnahme und Fürsorge« geprägter Ort des (Ver)Lernens sein, der »solidarisch mit marginalisierten, diskriminierten und illegalisierten Künstler:innen, Gästen und Kolleg:innen« ist, wird dadurch konterkariert. Wenn sich Kampnagel in einem Statement »zur Debatte über die Lage im Nahen Osten« zur Aufgabe setzt, »komplexe und widersprüchliche Realitäten von Menschen zu vermitteln«, dann ist das Haus an dieser Aufgabe durch die Einladung Ibrahims und den ungenügenden Umgang mit Kritik krachend gescheitert. Der ›plurale Diskursraum‹ Kampnagel erweist sich in Hinblick auf israelbezogenen Antisemitismus als ziemlich einstimmig. Nonkonformistische jüdische Perspektiven wie die von Dor Aloni sind in diesem Raum offenbar nicht vorgesehen.
Ob sich daran noch einmal etwas ändern wird, muss bezweifelt werden. Denn von Lernfähigkeit und Problembewusstsein ist in einem Statement Amelie Deuflhards gegenüber dem NDR gelinde gesagt wenig zu merken. »Es muss«, warnt sie, »auch in Deutschland möglich sein, die Regierungspolitik von Israel zu kritisieren. Wenn das nicht mehr möglich ist, wäre nicht nur die Kunstfreiheit, sondern auch die Meinungsfreiheit verloren.« Deuflhard suggeriert hier zum einen, es gehe Zamzam Ibrahim um eine ›Kritik der Regierungspolitik von Israel‹, und impliziert zum anderen ebenso wahrheitswidrig, in Deutschland drohe die Verunmöglichung dieser Kritik und damit das Ende von Kunst- und Meinungsfreiheit. Damit aber malt sie ein derart verzerrtes Bild des öffentlichen Diskurses, dass sich die Frage stellt, zu welchem Grad es sich in dieser Hinsicht von jenem Ibrahims unterscheidet.
Was tun?
Stefan Hensels Pressemitteilung zu den Hintergründen der Einladung Zamzam Ibrahims hat starke öffentliche Reaktionen hervorgerufen. Vor allem Jüdinnen und Juden äußerten ihre Bestürzung und ihr Unverständnis angesichts der Entscheidung Kampnagels, an der Einladung festzuhalten. Das Junge Forum der DIG Hamburg und der DIG-Vorsitzende Volker Beck rufen inzwischen für Donnerstag zu einer Kundgebung vor Kampnagel auf.
Weitgehend still ist es bisher hingegen aus der Klimabewegung geblieben. In der Vergangenheit kam es hier, insbesondere angesichts antisemitischer Tendenzen in der weltweiten Klimabewegung, auch immer wieder zu Solidaritätserklärungen mit Jüdinnen und Juden und Bekenntnissen gegen Antisemitismus und Israelfeindschaft, etwa von Fridays for Future (FFF) Hamburg. Nicht so im aktuellen Fall. Eine Anfrage von Untiefen an FFF Hamburg blieb ebenso unbeantwortet wie eine Anfrage an Quang Paasch, ehemaliger Sprecher von FFF Deutschland, der am Samstag zusammen mit Zamzam Ibrahim den intersektionalen BIPoC-Workshop leiten soll.
Es ist wichtig, dass Jüdinnen und Juden in der aktuellen Situation konkrete sicht- und hörbare Solidarität erfahren. Und es gilt, den verbreiteten Versuchen der Selbstviktimisierung antiisraelischer Stimmen entgegenzutreten, mit denen die Gewalt antisemitischer (Sprech-)Handlungen geleugnet und die Rolle von Tätern und Opfern vertauscht wird. Gleichzeitig müssen ressentimentbeladene Reflexe und Instrumentalisierungsversuche der aktuellen Situation aber auch als solche benannt werden. Blickt man auf die Kommentare in den sozialen Medien, drängt sich der Eindruck auf, dass manche sich weniger aus Empörung über den Antisemitismus speisen (der bei einem bayerischen Rechtskonservativen wie Hubert Aiwanger viel eher entschuldigt wird) als aus der Freude über die Gelegenheit, einer jungen schwarzen Muslima die Pest an den Hals zu wünschen. Wenn die Welt den Unternehmer Daniel Sheffer mit der Behauptung zitiert, Ibrahim stehe »auf so fast jeder Liste der gefährlichsten Antisemiten in Europa«, ist das außerdem nicht nur überzogen, sondern schlicht unseriös – wo, bitteschön, soll es solche Listen geben? Die Häme schließlich, mit der den Verantwortlichen auf Kampnagel nun bisweilen »Schämt euch!« zugerufen wird, hat auch deshalb einen faden Beigeschmack, weil hier eine Institution im Fokus steht, die – ungeachtet aller Kritik – als Ort queerer und (post-)migrantischer Kultur in Hamburg einmalig ist.
Fest steht: Zamzam Ibrahim muss zwingend ausgeladen werden. Aber statt polternder Rhetorik und ressentimentgeladener Empörung darüber, was da mit ›unseren Steuergeldern‹ gemacht wird, bedarf es einer grundlegenden Auseinandersetzung mit den Strukturen, die zu der aktuellen Situation geführt haben. In dieser Hinsicht ist Amelie Deuflhard sogar rechtzugeben: Es braucht Diskursräume für Austausch und Auseinandersetzung. Der erste Schritt dahin wäre freilich, zu dieser Auseinandersetzung keine Antisemit:innen einzuladen. Damit sich Jüdinnen und Juden angstfrei in diesen Diskursräumen bewegen können; und damit in ihnen Platz für den Austausch über die drängenden gesellschaftlichen Probleme ist: über die Klimakatastrophe, globale Ausbeutungsverhältnisse und Rassismus – und vor allem über den Antisemitismus, der im Kulturbetrieb wie im Rest der Gesellschaft einen festen Platz hat.
Lukas Betzler
Der Autor hatte bereits länger zu Haltungen zum Antisemitismus im Hamburger Kulturbetrieb recherchiert. Die Diskussion um die Einladung Zamzam Ibrahims hat der Recherche eine unerwartete Brisanz und Tagesaktualität gegeben – und den eigentlichen Artikelplan völlig über den Haufen geworfen.
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Im Januar 2023 veröffentlichte die NUS einen unabhängigen Bericht, der den Antisemitismus in der Studierendengewerkschaft aufarbeitet. Zamzam Ibrahim wird darin nicht erwähnt.
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Lowkey hatte sich durch Songtexte wie »You say you know about the Zionist lobby / But you put money in their pocket when you’re buying their coffee« und »It’s about time we globalised the intifada« profiliert. Auch zum 7. Oktober hat er antisemitische Verschwörungsideologien verbreitet.
In einer Instagram-Story habe sie einen Post geteilt, in dem es heißt: »If you are silent when it comes to Palestine, you would have been silent at the time of the Holocaust.«
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Ihr Gründer Ismail Patel vertritt einen politischen Islam und ist offener Anhänger der Hamas. 2009 verkündete er auf einer Demonstration für Gaza: »[W]e salute Hamas for standing up to Israel«. Am 7. Oktober postete FOA triumphierend das Video eines Baggers, der im Rahmen des Hamas-Angriffs auf Israel den Zaun an der Grenze von Gaza zerstört. Vgl. für eine palästinasolidarische, aber vergleichsweise antisemitismuskritische Perspektive auf FOA: https://www.workersliberty.org/story/2023–11-22/who-are-friends-al-aqsa.
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Im Bericht des Landesverfassungsschutzes Baden-Württemberg von 2022 wird FEMYSO als »Dachorganisation für die Jugendarbeit der Muslimbruderschaft« bezeichnet, die »in enger Kooperation mit den nationalen muslimischen Studenten- und Jugendverbänden als breiter Nachwuchspool für die europäische Muslimbruderschaft fungiert«.
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Da ist zum Beispiel Juneseo Hwang, der auf Twitter ein Posting des rechten antiisraelischen Aktivisten Jackson Hinkle geteilt hat, das die internationale Unterstützung der von Südafrika initiierten Anklage Israels vor dem IGH feiert. Hwang verbindet diesen Tweet mit der Forderung, Israel nicht nur für ›Genozid‹, sondern aufgrund der mit dem Krieg einhergehenden Umweltzerstörung in Gaza auch für ›Ökozid‹ anzuklagen. Und da ist Giulia Casalini, die in einer Instagram-Story einen Post geteilt hat, in dem Gaza als »the world’s largest open-air prison and concentration camp« bezeichnet wird. Dass internationale Klimaaktivist:innen derartige antiisraelische Positionen vertreten, ist wenig überraschend. Dass solche Positionen und Haltungen auch in Deutschland keinerlei öffentliche Kritik hervorrufen, widerlegt zudem die verbreitete Erzählung, man könne angesichts der Zensur durch eine ›proisraelische Lobby‹ gar keine Kritik an Israel üben, ohne mit ›Antisemitismusvorwürfen‹ überzogen zu werden. So wie die allermeisten antiisraelischen und ›israelkritischen‹ Künstler:innen und Aktivist:innen haben Casalini und Hwang nichts zu befürchten.
Am 19.01. eröffnete im Hamburger Rathaus eine Sonderausstellung über »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute«. Unter den Macher:innen sind auch Betroffene und Angehörige von Opfern rechter Gewalt. Die Ausstellung bietet einen sehr guten Einstieg in die lokale Geschichte rechtsextremer Gewalt, ringt aber mit einigen Schwierigkeiten.
Im großen Festsaal des Rathauses wurde gestern, am 19.01.2024, die neue Sonderausstellung »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute« eröffnet. Wie schon seit über 20 Jahren präsentiert die Bürgerschaft wieder anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar eine neue temporäre historische Ausstellung. Ungewöhnlich ist dieses Mal die große Aktualität. Denn die neue Ausstellung beleuchtet rechte Gewalt nach dem Zweiten Weltkrieg – bis heute. Verantwortet wird sie dabei wie immer von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Die Ausstellung eröffnet mit den persönlichen Geschichten von fünf Todesopfern rechter Gewalt in Hamburg:
Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân (1980; Nazi-Brandanschlag auf Flüchtlingsunterkunft in der Halskestraße), Mehmet Kaymakçı (1985; erschlagen von Skinheads im Kiwittsmoorpark), Ramazan Avcı (1985; erschlagen von Skinheads an der S‑Bahn-Station »Landwehr«) und Süleyman Taşköprü (2001; erschossen in der Schützenstraße von Terroristen des »NSU«).
Auch das letzte Wort haben die Betroffenen. In einer Videostation werden Ausschnitte aus Interviews mit Überlebenden rechter Gewalt und Angehörigen von Opfern gezeigt, die unter anderem von dem jahrzehntelangen Desinteresse von Staat und Gesellschaft und sogar Gedenkinitiativen an ihren Erfahrungen und Perspektiven berichten. Aber nicht nur in der Ausstellung kommen die Betroffenen zu Wort, auch in der Entstehung waren sie beteiligt. Im Gespräch mit Untiefen sagt Lennart Onken (KZ-Gedenkstätte Neuengamme), einer der Kurator:innen: »Insbesondere für die ersten fünf Tafeln haben wir eng mit Initiativen und Angehörigen zusammengearbeitet, haben Texte und Bildauswahl intensiv besprochen. Das war ein sehr spannender Prozess, bei dem auch wir sehr viel gelernt haben.«
İbrahim Arslan: »Ich führe das zurück auf unseren Widerstand und unsere Kämpfe«
Einer der Mitgestalter, der Aktivist İbrahim Arslan (Überlebender des rassistischen Brandanschlags 1992 in Mölln) betont gegenüber Untiefen: »Wir haben die gesamte Ausstellung gemeinsam konzipiert, haben die Vernetzung der Betroffenen und das Empowerment gemacht und unsere Expertise eingebracht.« Er findet die Ausstellung gelungen, denn: »Die Betroffenen sind zufrieden. Ihre Wünsche und Bedürfnisse stehen im Vordergrund. Das ist relativ neu, dass Antifaschist:innen und Antiras und Institutionen uns einbeziehen. Ich führe das zurück auf unseren Widerstand und unsere Kämpfe. Wir machen hervorragende Arbeit und langsam werden unsere Interventionen auch staatlich anerkannt.«
Die Ausstellung präsentiert auf über dreißig Tafeln die jeweils wichtigsten und prägnantesten Fälle rechter Gewalt für die Nachkriegsjahrzehnte, aber auch Widerstandsbewegungen finden Erwähnung. So bietet sie einen sehr guten Überblick über die Wellen rechter Gewalt – und eignet sich gut auch für jüngere Antifaschist:innen, die vielleicht das Gefühl haben, diese Geschichte Hamburgs bislang nur bruchstückhaft zu kennen. Aber auch für schon länger Interessierte gibt es neue Abgründe und bislang unbekannte Opfer zu entdecken, selbst für den Historiker Onken von der KZ-Gedenkstätte: »Besonders krass finde ich den Fall des Zeitungsboten Rudi M., der 1988 in Eimsbüttel von einem Skinhead erstochen wurde, weil er ihm angeblich homosexuelle Avancen gemacht hat. Ich hatte noch nie vorher von Rudi M. gehört. Sein Fall ist total unbekannt.«
Nicht viel bekannter dürfte das Schicksal des thailändischen Ingenieurs Prayong Rungjangs sein, der 1977 an den Folgen eines Neonazi-Übergriffs in der Talstraße starb. Hier hält lediglich sein Sohn, der Video- und Objektkünstler Arin Rungjang, die Erinnerung wach.
Was tun mit den Tätern?
Auch auf der Täter:innenseite liefert die Ausstellung einen Überblick über die Organisationen und zentralen Personen. Nazi-Haufen wie die »Hamburger Bruderschaft«, »Aktionsfront Nationaler Sozialisten«, die »Wehrwolf-Gruppe«, die »Deutschen Aktionsgruppen« und natürlich der »NSU« werden vorgestellt. Dabei verzichten die Kurator:innen auf persönliche Anekdoten und letztlich auch auf Thesen dazu, warum bestimmte Milieus und Personen erstens für rechtsextreme Ideologie empfänglich sind und zweitens den Schritt zur Gewalt gehen. Lediglich für die unmittelbare Gegenwart verweist die Ausstellung darauf, dass die Zustimmungswerte der AfD mit Beginn des Krieges gegen die Ukraine und der zunehmenden Inflation gestiegen seien. Die theoretische Zurückhaltung ist vor dem Hintergrund der Fokussierung auf die Opfer und aus Platzgründen zwar verständlich, erschwert es aber, Schlussfolgerungen für die Gegenwart zu ziehen. Das Video-Interview am Ende der Ausstellung schließt mit Worten Thời Trọng Ngũs, Überlebender des Anschlags in der Halskestraße von 1980 und Aktiver der »Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân«: »Wie kann man weitere Taten vermeiden? Das ist die Frage.« Die Ausstellung antwortet auf ihren letzten Tafeln: durch antifaschistischen und migrantischen Widerstand sowie durch breites gesellschaftliches Engagement und staatliche Maßnahmen gegen Rechts. Das ist natürlich unerlässlich. Aber bleibt der antifaschistische Widerstand nicht im Modus des ewigen Reagierens, wenn er über kein Konzept der gesellschaftlichen Hintergründe rechter Gewalt verfügt? Wenn er nicht nach der psychischen und ökonomischen Funktionalität von Ressentiment und Gewalt fragt?
İbrahim Arslan hebt im Gespräch auch hier die Bedeutung der Betroffenenfokussierung hervor: »Migrantisch situiertes Wissen hat schon in den 1980ern rassistisch motivierte Taten vorhergesagt.« Seiner Wahrnehmung nach konnte man sich auch bei dieser Ausstellung nicht von »einer gewissen Täterfokussierung« befreien. Das Interesse an den Täter:innen und den Tathintergründen sei zwar verständlich, grade jetzt angesichts der ans Licht gekommenen Deportations-Pläne im Umfeld der AfD. Aber das führe eben immer wieder zu der Vorstellung, man habe es nun mit etwas Neuem zu tun. Stattdessen sei klar: »Die AfD wird von Neonazis getragen. Diese Pläne gibt es schon seit der Gründung der AfD.« Und würde man Betroffenen zuhören, so Arslan weiter, wüsste man, dass sie auch darauf schon lange hinweisen.
Was ist »rechte Gewalt«?
Eine konzeptuelle Unklarheit der Ausstellung ist derweil deutlich spürbar. »Rechtsextremes Denken« wird zunächst breit gefasst, im Sinne einer allgemeinen, gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit: »Grundlegend ist die Auffassung von einer generellen Ungleichwertigkeit der Menschen.« Laut Lennart Onken hat das Ausstellungsteam in dieser Perspektive allein durch eigene Recherchen eine Liste von 500 dokumentierten Fällen zusammengestellt, die von Beleidigungen bis zum Mord reichen. Ein parallel laufendes Forschungsprojekt der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg (FZH), der KZ-Gedenkstätte sowie der Landeszentrale für politische Bildung unter dem Titel »HAMREA – Hamburg rechtsaußen« hat laut Onken für Hamburg und das Umland seit 1945 schon »über 1000 Fälle« zusammengetragen – mit einer vermutlich deutlich höheren Dunkelziffer. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts werden fortlaufend sehr anschaulich auf der neuen Website veröffentlicht: https://rechtegewalt-hamburg.de/ Selbstverständlich können aber 1000 oder auch nur 500 Fälle nicht in einer Ausstellung präsentiert werden. Angesichts der Fülle rechter Taten fokussieren die Kurator:innen notwendig auf bestimmte Opfer- und Tätergruppen. Laut Onken haben die Kurator:innen versucht, für jedes Nachkriegsjahrzehnt die zentralen Fälle darzustellen: »Wir haben uns gefragt: Was ist jeweils das bestimmende Thema, das bestimmende Feindbild der extremen Rechten gewesen?« Nur die sieben dokumentierten Todesopfer rechter Gewalt wurden ohne solche Gewichtung aufgenommen. Darunter ist auch der Fall des Bauingenieurs Neşet Danış, der 1977 in Norderstedt bei einem Überfall von türkischen Rechten aus dem Umfeld der »Grauen Wölfe« lebensgefährlich verletzt wurde und später seinen Verletzungen erlag. Das wirft die Frage auf: Zählen solche nicht-deutschen extremistischen Gewalttaten zu »rechter Gewalt«? Und wie ist es mit islamistischer oder israelfeindlicher Gewalt, die ja auch antisemitisch motiviert ist? In der Ausstellung tauchen etwa von den späten 1970ern bis in die 2020er keine antisemitischen Gewalttaten auf.
Onken erläutert den Umgang des Kurator:innen-Teams so: »Wir haben recht früh gesagt, dass wir uns auf die biodeutsche extrem rechte Szene fokussieren.« Und für die wäre der Antisemitismus zwar in den Nachkriegsjahren sehr wichtig gewesen, in den 1980ern habe sich das Feindbild allerdings deutlich auf Migrant:innen verlagert. »Beim Antisemitismus kommt noch hinzu, dass es kein Alleinstellungsmerkmal der extremen Rechten ist, sondern da unterschiedliche Gruppe zur Tat schreiten.« Bei der Fokussierung habe auch die Sorge eine Rolle gespielt, sich durch weitere Themen in Diskussionen zu verstricken, die von der Kontinuität deutscher extrem rechter Gewalt ablenken könnten. Onken ergänzt allerdings: »Grade im Nachgang des 7. Oktober 2023 ist fraglich, ob das so auch in Zukunft weiter klug und machbar ist. Mit Blick auf den Islamismus würde es aus meiner Sicht Sinn machen, die extreme Rechte und den Islamismus enger zusammen zu denken. Denn beide teilen die Modernitätsfeindschaft und den virulenten Antisemitismus.«
Die Fokussierung schafft es aber, zumindest für die deutsche extrem rechte Gewalt, einen guten Überblick über Opfer, Täter und Kontinuitäten zu geben. Vielleicht kann sie den Wunsch der Mehrheitsgesellschaft unterlaufen, in den kommenden rechten Mobilisierungen und den staatlichen Reaktionen wieder eigentlich doch längst Überwundenes, Ewiggestriges aus einer ganz anderen Zeit zu sehen. Gülüstan Avcı, die Witwe des 1983 ermordeten Ramazan Avcı, beklagte bei der Eröffnung der Ausstellung am Freitag unter anderem, dass in Hamburg bis heute kein Untersuchungsausschuss zum Mord des „NSU“ an Süleyman Taşköprü eingerichtet wurde. Auch das kann man im Gedächtnis behalten, wenn man dieser Tage mit der »Mitte« und den regierenden Parteien gegen Rechts demonstriert.
Felix Jacob
Die Ausstellung »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute« ist vom 19.01.2024 bis zum 18.02.2024 kostenlos in der Rathausdiele zu sehen. Öffnungszeiten:
Die Website des Forschungsprojektes »Hamburg rechtsaußen. Rechtsextreme Gewalt- und Aktionsformen in, mit und gegen die städtische Gesellschaft« ist unter https://rechtegewalt-hamburg.de/ zu erreichen.
Eine Veranstaltungsreihe der Innenrevision Kulturbetrieb fragt nach antisemitischen Weltbildern in gegenwärtigen Kunstdiskursen. Die dritte und letzte Veranstaltung findet am 30.11.2023, 19.30 Uhr in der Fabrique (Gängeviertel) statt.
Nachdem im September 2022 zwei Vertreter des indonesischen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruangrupa eine Gastprofessur an der Hamburger HfbK antraten, ist die Auseinandersetzung über die von Ruangrupa verantwortete antisemitische Kunstschau auch zu einem Streit in Hamburg geworden. Zwar gab es verdienstvolle, aber vereinzelte Proteste, zurückhaltende Ermahnungen aus der Landespolitik sowie einige wenig ergiebige Interviews und Veranstaltungen mit den Ruangrupa-Leuten. Insgesamt aber ist von Betroffenheit oder gar (Selbst-)Kritik innerhalb des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs wenig zu vernehmen. Der HfbK-Präseident Köttering lügt die von ihm initiierte Gastprofessur rückblickend zum Auslöser wichtiger »Lernprozesse« um, gar zum Beginn eines »Dialogs«: »Zum anderen ist durch die beiden DAAD-Gastprofessoren das Thema Antisemitismus im Kunstfeld nach Hamburg getragen worden, worauf wir mit vielen Veranstaltungen reagiert haben, vor allem mit dem Symposium. Damit ist es uns seit der documenta erstmalig gelungen, sehr divergente Positionen zusammen und in einen Dialog zu bringen«. Auf die Frage, ob er die Einladung wieder aussprechen würde, antwortete er entsprechend: »Das kann ich wirklich mit aller Deutlichkeit und sehr klar sagen: Ja, unbedingt! Denn es ist die Aufgabe und Pflicht von wissenschaftlichen Institutionen, sich diesen komplexen und schwierigen Diskursen zu stellen, um Lernprozesse entstehen zu lassen.« Antisemitismus geht in der Kunstwelt also weiterhin in Ordnung, so lange man dabei das Gefühl hat, mit irgendwem im Dialog zu sein. Woher kommt diese Unerschütterlichkeit – auch und gerade jenseits des offensichtlich unverbesserlichen Ruangrupa-Kollektivs?
Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Hamburg eine „Innenrevision Kulturbetrieb“ gegründet. In ihr haben sich in Kunst und Kultur Tätige zusammengeschlossen, die mit einer Veranstaltungsreihe in das beredte Hamburger Schweigen intervenieren wollen. Die Reihe untersucht anhand dreier für den gegenwärtigen Kunstbetrieb zentraler Begriffe – Kollektivität, Widerstand und Solidarität – über welche Einfallstore sich antisemitische Weltbilder im Kunstdiskurs immer wieder verbreiten können.
Die Reihe wird am 30.11. mit einer Veranstaltung zu „Widerstand“ fortgesetzt: 19.30 Uhr in der Fabrique im Gängeviertel, Valentinskamp 34a.
Die Redaktion Untiefen unterstützt diese Intervention (wie auch der Bagrut e.V., die Untüchtigen sowie der Textem-Verlag) und dokumentiert im Folgenden den Ankündigungstext der Veranstaltung.
Die feministische Revolution im Iran oder der ukrainische Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg. Widerstand wird mit emanzipatorische Bewegungen, die für Gerechtigkeit und Freiheit und gegen autoritäre oder totalitäre Machtstrukturen kämpfen, assoziiert. Gleichzeitig schaffen Widerstandsbewegungen auch klare Feindbilder, die von inneren Widersprüchen entlasteDer feministische Aufstand im Iran oder der ukrainische Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg – Widerstand wird mit emanzipatorischen Bewegungen assoziiert, die für Freiheit, Gerechtigkeit und gegen autoritäre oder totalitäre Machtstrukturen kämpfen. Gleichzeitig schaffen Widerstandsbewegungen auch klare Feindbilder, die von inneren Widersprüchen entlasten. Aus einem gerechten Anliegen kann sich ein manichäisches Weltbild entwickeln: Die Komplexität der Welt wird in Gut und Böse überführt.
Viele Arbeiten der Documenta 15 nahmen auf konkrete Widerstandsbewegungen Bezug. Auch für diejenigen, die antisemitische Weltbilder reproduzierten, war Widerstand das zentrale Motiv. Tatsächlich wurde schon der Begriff des Antisemitismus als Selbstbezeichnung einer Widerstandsbewegung erfunden. Sie richtete sich gegen die vermeintliche Macht und kulturelle Übernahme Deutschlands durch „die Juden“. Antisemitische Pogrome wurden von den Nationalsozialisten als eine Form von Widerstand dargestellt.
Aktuell wird die Terroraktion der Hamas gegen Israel am 7. Oktober 2023, der größte Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Shoah, als Widerstand für eine gerechte Sache verklärt. Das ist nicht nur im Internet und auf Straßenprotesten überall auf der Welt zu beobachten, sondern auch in Hamburg. Zahlreiche renommierte Künstlerinnen und Künstler sehen sich an der Seite dieses vermeintlichen Freiheitskampfes. Ihre Reaktionen reichen von subtiler Relativierung bis zur offenen Glorifizierung des Terrors. Auch darüber wollen wir im letzten Teil unserer Veranstaltungsreihe reden.
Veranstaltung: »Gegen den Geist des Sozialismus«. Buchvorstellung mit Olaf Kistenmacher
Wie geht eine linksradikale Kritik des linken Antisemitismus? Der Hamburger Historiker und Autor Olaf Kistenmacher stellt sein Buch über Kritik der Judenfeinschaft in der KPD der Weimarer Republik vor: 01.11.2023, 19 Uhr, Monetastr. 4.
Der mörderische Terror der Hamas und des Islamischen Jihad gegen Israel wurde am 07. Oktober in einer neuen Qualität entfesselt. Wer in diesen Tagen mit linken und linksradikalen Freund:innen und Bekannten spricht oder in den sozialen Medien aus dieser Ecke liest, sieht viel Mitgefühl, Wut, Verzweiflung angesichts des Terrors. Aber auch: Verharmlosung, Gleichgültigkeit bis hin zu offener Billigung oder gar Befürwortung für das Morden als vermeintlichem »Widerstand« oder »Befreiungskampf«. Leider ist der linke Antisemitismus, ohne den dieser Abgrund nicht möglich wäre, keine neue und keine vorübergehende Erscheinung. Wer wissen will, wie Anarchist:innen und Kommunist:innen schon in der Weimarer Republik gegen ihn kämpften und wie sie ihn kritisierten, kann das am kommenden Mittwoch erfahren. Der Hamburger Historiker und Autor Olaf Kistenmacher stellt sein neues Buch vor: »Gegen den Geist des Sozialismus. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik« (ça ira).
Der politische Bildungsverein Bagrut e.V. organisiert die Vorstellung in Kooperation mit Untiefen zu 19 Uhr in der Zentralen Bibliothek Frauenforschung, Gender & Queer Studies (Monetastr. 4). Die historische Perspektive wird auch Bezüge zum aktuellen linken Elend und zur Hamburger Geschichte ermöglichen.
Im Folgenden dokumentieren wir den Klappentext des Verlags.
Antisemitismus in der politischen Linken wurde nicht erst nach 1945 zum Thema. Die Kritik daran ist so alt wie die Sache selbst. In der Weimarer Republik waren es ehemalige Gründungsmitglieder der KPD wie Franz Pfemfert oder Anarchosyndikalisten wie Rudolf Rocker, die die antisemitische Agitation während des Schlageter-Kurses kritisierten. Mitte der 1920er Jahre warnte Clara Zetkin auf dem Parteitag der KPD vor judenfeindlichen Stimmungen an der Basis. 1929 erschien im Zentralorgan der um Heinrich Brandler und August Thalheimer gebildeten KPD-Opposition eine der ersten radikalen Kritiken des Antizionismus der KPD. Mit ihrer Kritik knüpften die anarchistischen und kommunistischen Linken an Interventionen von Rosa Luxemburg oder Leo Trotzki an und reflektierten zugleich die Entwicklung in Russland nach der bolschewistischen Revolution. Marx’ Anspruch, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, schloss für sie den Kampf gegen Antisemitismus auch in den eigenen Reihen mit ein. Ihre Kritik kam nicht nur Jahrzehnte vor der innerlinken Debatte über Antisemitismus von links, Luxemburg und Pfemfert nahmen auch Argumente der späteren antinationalen und antideutschen Linken vorweg.
Olaf Kistenmacher »Gegen den Geist des Sozialismus«. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik November 2023, 156 Seiten Französisch Broschur 20,00 €