Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Kollektivität
Eine Veranstaltungsreihe der Innenrevision Kulturbetrieb fragt nach antisemitischen Weltbildern in gegenwärtigen Kunstdiskursen. Die Auftaktveranstaltung findet am 03.05.2023, 19.30 Uhr im BARBONCINO zwölphi statt.
Im September 2022 traten zwei Vertreter des indonesischen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruangrupa eine Gastprofessur an der Hamburger HfbK an. Seitdem ist die Auseinandersetzung über die von Ruangrupa verantwortete antisemitische Kunstschau auch zu einem Streit in Hamburg geworden. Bisher gab es zwar verdienstvolle, aber vereinzelte Proteste, zurückhaltende Ermahnungen aus der Landespolitik sowie einige wenig ergiebige Interviews und Veranstaltungen mit den Ruangrupa-Leuten. Insgesamt aber ist von Betroffenheit oder gar (Selbst-)Kritik innerhalb des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs wenig zu vernehmen. Woran liegt das – auch und gerade jenseits des offensichtlich unverbesserlichen Ruangrupa-Kollektivs?
Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Hamburg eine „Innenrevision Kulturbetrieb“ gegründet. In ihr haben sich in Kunst und Kultur Tätige zusammengeschlossen, die mit einer Veranstaltungsreihe in das beredte Hamburger Schweigen intervenieren wollen. Die Reihe untersucht anhand dreier für den gegenwärtigen Kunstbetrieb zentraler Begriffe – Kollektivität, Widerstand und Solidarität – über welche Einfallstore sich antisemitische Weltbilder im Kunstdiskurs immer wieder verbreiten können.
Die Reihe beginnt am 03.05. mit einer Veranstaltung zu „Kollektivität“.
Die Redaktion Untiefen unterstützt diese Intervention (wie auch der Bagrut e.V., die Untüchtigen sowie der Textem-Verlag) und dokumentiert im Folgenden den Ankündigungstext der Veranstaltung.
Weitere Informationen zu den folgenden Veranstaltungen werden zu gegebener Zeit hier auf Untiefen und auf dem Instagramaccount der Innenrevision Kulturbetrieb veröffentlicht.
Zahlreiche antisemitische Darstellungen auf der Documenta 15 haben einen seit Jahren schwelenden Konflikt in die breite Öffentlichkeit geholt – und altbekannte Frontbildungen verschärft. Mittlerweile kann ohne Übertreibung von einem Kulturkampf gesprochen werden. Gestritten wird über eine vermeintliche Konkurrenz zwischen der Erinnerung an die Shoah und der Erinnerung an deutsche Kolonialverbrechen. Gestritten wird nicht zuletzt auch über das jeweilige Verhältnis zu Israel. Spätestens durch die Berufung zweier Mitglieder des Künstlerkollektivs Ruangrupa an die HFBK ist dies auch ein Hamburger Streit. Gerade im Kunstfeld wird er vehement geführt. Das lässt die Frage aufkommen, ob zentrale Begriffe in der aktuellen Selbstbeschreibung künstlerischer Praxis nicht selbst ideologische Elemente enthalten, die gewollt oder ungewollt antisemitische Weltbilder reproduzieren. Anhand der Begriffe Kollektivität, Solidarität und Widerstand stellen sich die Gäste unserer dreiteiligen Veranstaltungsreihe dieser wichtigen, aber in der bisherigen Debatte vernachlässigten Frage.
Soviel steht fest: Kollektivität liegt im Trend. Noch nie gab es so viele künstlerische Kollektive wie heute. Sie gewinnen renommierte Preise, leiten Theater, Biennalen und Großereignisse wie die Documenta 15. Ihre Popularität verdanken sie einem Versprechen: Basisdemokratisch und anti-hierarchisch, gerecht und inklusiv sollen sie sein, nahbar und zum Mitmachen anregend. Über globale Grenzen hinweg und gleichzeitig lokal verbunden gelten sie als Wegweiser zu einer neuen solidarischen Sharing-Ökonomie, von der alle profitieren. Auf grundlegende Veränderungen der Gesellschaft – so die verbreitete Vorstellung – reagieren heutige Kollektive mit einer grundlegenden Veränderung der Kunst. Sie integrieren politischen Aktivismus, um gesellschaftlichen Fortschritt anzustoßen. Aber geht diese Rechnung auf? Welches Weltbild entwirft die Idee des Kollektivs in der zeitgenössischen Kunst? Was sind die problematischen Implikationen der damit verbundenen Vorstellung von Gemeinschaft und kultureller Identität?
Es diskutieren:
- Tina Turnheim (Theatermacherin, Institut für Neue Soziale Plastik)
- Ole Frahm (Bildtheoretiker, Comicexperte und Mitglied des Künstlerkollektivs Ligna)
Am 21. Dezember jährt sich der Mord an Ramazan Avcı in Hamburg. Die Gewalttat steht auch für die zugespitzten Auseinandersetzungen um Migration und Rassismus in der Bundesrepublik während der 1980er Jahre. Rassistische Straßengewalt war brutaler Ausdruck dieser Entwicklung.
Am 21. Dezember 1985 wartete der Arbeiter Ramazan Avcı mit seinem Bruder und einem Freund an einer Bushaltestelle bei der S‑Bahnstation Landwehr in Hamburg. Es war Avcıs 26. Geburtstag und die drei waren auf dem Nachhauseweg. Als einige junge rechte Skinheads, die sich vor dem Eingang einer nahegelegenen Kneipe aufhielten, auf die türkischen Männer aufmerksam wurden, beschlossen sie spontan, die Wartenden anzugreifen. Die erste Attacke konnten Avcı und seine Begleiter noch mit Reizgas abwehren, doch die laut Presseberichten 30-köpfige Skinheadgruppe kehrte kurz darauf bewaffnet zurück. Während seine Begleiter sich in einen Linienbus retten konnten, rannte Avcı in Panik auf die Fahrbahn, wo ihn ein Autofahrer anfuhr. Den am Boden Liegenden traktierten die Angreifer mit Knüppeln. Er starb drei Tage später auf einer Hamburger Intensivstation an den Folgen eines Schädelbruchs.
Die Täter waren Mitglieder der berüchtigten »Lohbrügge Army«. Diese Skinheadgruppierung, benannt nach einem Hamburger Stadtteil, gehörte der Hooliganszene um den HSV an. Für viele Beobachter:innen war sofort klar, dass es sich um eine rassistische Gewalttat handelte. Der Vorfall war nicht der erste rechte Mord in Hamburg und Umgebung. Im August 1980 hatten neonazistische Terrorist:innen bei einem Brandanschlag in der Halskestraße zwei Geflüchtete aus Vietnam getötet. In Norderstedt, einem Vorort Hamburgs, hatte am 19. Juni 1982 ein rassistischer Mob den 26-jährigen Tevfik Gürel angegriffen und tödlich verletzt. Wiederum rechte Skinheads hatten am 24. Juli 1985 in Hamburg-Langenhorn den jungen Bauarbeiter Mehmet Kaymakçı auf brutale Weise erschlagen.
Indes folgte erst auf den Mord an Ramazan Avcı im Dezember 1985 eine aufbrausende öffentliche Reaktion. Intensive Presseberichterstattung, Bürgerschaftsdebatten und eine Demonstration anlässlich des Todes Avcıs deuten darauf hin, dass die Auseinandersetzungen um Migration und Rassismus eine neue Qualität erlangt hatten. Tatsächlich brodelte es in Hamburg und der Bundesrepublik der 1980er Jahre um diese Themen, während rassistische Gewalttaten zunahmen. Im weiteren Verlauf des Jahrzehnts spitzte sich dieser widersprüchliche Diskurs zu, zumal die Zugewanderten mit ihren Stimmen gesellschaftlich mehr und mehr empordrängten und ihre Rechte einforderten.
Die doppelte Transformation der Bundesrepublik
Seit der ersten Hälfte der 1970er machten die westlichen Länder eine krisenhafte Wandlung durch, die den Beginn der neoliberalen Epoche markierte. Mit der Abwicklung weiter Teile der Industrie galten die Arbeitskräfte, die die Bundesregierung seit den 1950ern und 1960ern vor allem aus der Türkei, Griechenland und Italien angeworben hatte, als wirtschaftlich überflüssig. Für große Teile der Öffentlichkeit schienen sie außerdem zunehmend die vermeintliche ethnische Homogenität Deutschlands zu stören. »Überfremdung« war das rassistische Schlagwort der Stunde. Die Regierungen Helmut Schmidts und Helmut Kohls versuchten daher, die »Gastarbeiter:innen« mit Geldprämien zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu bewegen. Diese Rückführungspolitik verkehrte Kohls Parole »Deutschland ist kein Einwanderungsland« jedoch in ihr Gegenteil. Vor die Wahl gestellt, machten die meisten Arbeitsmigrant:innen die Bundesrepublik zu ihrem dauerhaften Zuhause und holten ihre Familien nach. Hinzu kam eine wachsende Zahl von Asylsuchenden. Allein 1985 waren es 100.000 Anträge, auch wenn Bonn eine immer restriktivere Asylpolitik betrieb.
Im Jahr 1986 lebten in Westdeutschland 4,5 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Sie sollten die deutsche Gesellschaft nachhaltig prägen, blieben als »Ausländer:innen« jedoch vorerst Bürger:innen zweiter Klasse. Die Rassismuswelle dieser Jahre ist also vor dem Hintergrund einer Phase der doppelten Transformation zu sehen. Erstens begann sich die Bundesrepublik zu einer neoliberalen Dienstleistungsgesellschaft zu wandeln, was starke sozioökonomische Friktionen verursachte. Von der hohen Arbeitslosigkeit waren vor allem die »Gastarbeiter:innen« betroffen. Zweitens bildete sich das Land zunehmend als pluralistische und liberale, aber widersprüchliche Einwanderungsgesellschaft heraus, die das traditionelle nationale Selbstverständnis herausforderte.
Die Baseballschlägerjahre begannen vor 1990
Die Migrationsabwehr der Bonner Regierungen konnte sich der rassistischen Zustimmung breiter Bevölkerungsteile sicher sein. Diese Konjunktur drückte sich besonders scharf in einer vielseitigen rechten Mobilisierung aus, die auch die Hansestadt erfasste. Dazu zählten die erwähnten Gewalttaten, aber auch das Auftreten verschiedener Organisationen. Im Jahr 1982 gründete sich aus dem Umfeld der NPD eine »Hamburger Liste Ausländerstopp«, die bei den Bürgerschaftswahlen antrat und ähnlichen Parteien in anderen Bundesländern als Vorbild diente. Die seit 1979 existierende rechtsextreme »Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei« (FAP) wurde 1983 vom bekannten Hamburger Neonazi Michael Kühnen und den Anhängern seiner »Aktionsfront Nationaler Sozialisten« (ANS) unterwandert. Die ANS, die die Behörden im gleichen Jahr verboten hatten, rekrutierte ihre Mitglieder wiederum in der hamburgischen Skinheadszene, der auch die Mörder Ramazan Avcıs angehörten.
Avcı, Kaymakçı und Gürel waren nicht die einzigen Opfer solcher Gewalttäter. In verschiedenen Hamburger Vierteln waren Jugendgangs aktiv, doch die Hooliganszene um den HSV ragte als stramm rechts und besonders gefährlich heraus. Eine Sonderausstellung des HSV-Museums dokumentierte 2022 eine lange Chronik rechter Übergriffe und Gewaltexzesse, für die diese männerbündischen Fangruppierungen verantwortlich waren. Die Morde an Avcı und Kaymakçı sowie die Tötung des Bremer Fußballfans Adrian Maleika bildeten traurige Höhepunkte.
Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Chronik nur einen Bruchteil der Taten dokumentiert. Sowohl Flugblätter antifaschistischer Gruppen als auch Berichte etablierter Medien aus den 1980er Jahren vermitteln ein Bild alltäglicher Gefahr für Menschen, die als »Ausländer:innen« identifiziert wurden. »Skinheads schlugen wieder zwei Ausländer nieder« titelte das Hamburger Abendblatt am 2. Januar 1986 und am 13. Januar: »Skinheads überfielen Türken in der S‑Bahn.« Im Archiv des Spiegels sind vergleichbare Berichte einsehbar. In den Vorjahren sah die Situation nicht anders aus. In einem »Bericht über (neo)faschistische und antifaschistische Aktivitäten in Hamburg« aus der Feder einer Antifagruppe hieß es 1984: »Hamburg-Bergedorf 20.5.: 50 Skins prügeln sich mit Türken am Bhf. Ein Türke wird mit einem Holzknüppel schwer verletzt.« Eine ähnliche Antifa-Recherche von 1983 berichtet: »29.11. Das ›Broadway‹ zeigt den Film ›Under Fire‹. Die ›Savage Army‹ lief auf, beschimpfte Ausländer und Linke und verprügelte eine chilenische Frau.«[1] Vor wenigen Jahren wurde der Begriff »Baseballschlägerjahre« geprägt, um die Hochphase rechter Straßengewalt im Deutschland der 1990er zu beschreiben. Dieser Ausdruck ist auch für Hamburg im Jahrzehnt vor der Wende angemessen.
Migrantische Selbstorganisierung gegen Rassismus
Gegenüber der migrationsfeindlichen Politik sowie dem Straßenterror regte sich jedoch zunehmend Widerstand. Auf Sankt Pauli hatte sich am 26. Mai 1982 die türkische Arbeiterin und Dichterin Semra Ertan aus Protest gegen diesen Rassismus selbst entzündet. Ein weniger tragischer Ausdruck des Aufbegehrens war die Avcı-Demo am 11. Januar 1986, zu der ein breites Bündnis von 23 deutsch-türkischen Organisationen und Gewerkschaften aufgerufen hatte. Je nach Quelle folgten zwischen 10.000 und 15.000 Menschen dem Aufruf, was ebenfalls auf den großen gesellschaftlichen Stellenwert des Vorfalls hinweist. Die zahlreichen türkischsprachigen Transparente und Pappschilder, die die Presse dokumentierte, bewiesen den hohen Anteil türkischer beziehungsweise migrantischer Personen an dem Protest. Dieser wandte sich gegen »Ausländerfeindlichkeit«, wie Rassismus seinerzeit genannt wurde, und forderte die generelle Gleichstellung der Immigrierten.
Migrantische Selbstorganisierung war in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren aufgekommen und spielte überdies eine wichtige Rolle in industriellen Arbeitskämpfen der neoliberalen Transformationsphase, beispielsweise bei der spektakulären Besetzung der HDW-Werft im Hamburger Hafen 1983. Diese Aneignung politischer Subjektivität erhielt nach dem Mord an Avcı neuen Schwung. Organisator:innen des Protest gründeten nun das »Bündnis Türkischer Einwanderer«, aus dem zehn Jahre später die »Türkische Gemeinde Deutschland« hervorgehen sollte. In der Tat spiegelte sich diese emanzipative Entwicklung auch im Bereich der Jugendgangs. Die »Champs« auf Sankt Pauli waren etwa stark migrantisch geprägt und setzten sich gegen die Übergriffe der Skinheadbanden zur Wehr.
Die Wahrnehmung der Betroffenen geriet nach Avcıs Tod wenigstens vorrübergehend in den Fokus der Medien. Den Zuschauer:innen des Hamburg Journals des Norddeutschen Rundfunks erklärte ein junger türkischer Mann Anfang 1986 zum Beispiel: »Ich hatte so viele Scheiben in der S‑Bahn gesehen und so, wo die da geschrieben haben, ›Scheißtürken, raus aus Deutschland‹. Also ehrlich gesagt, ich trau mich nicht … Ich habe Angst in Deutschland zu leben, denn ich habe Angst, dass wir irgendwann mal aus Deutschland rausgeschmissen werden und dass wir überhaupt keine Rechte haben wie ein Deutscher.«
Widersprüchliche Liberalisierung
Dass Reporter:innen Betroffene zu Wort kommen ließen, hing auch damit zusammen, dass die westdeutsche Gesellschaft zumindest teilweise eine neue Sensibilität gegenüber Rassismus und rechter Gewalt entwickelt hatte. Diese blieb jedoch widersprüchlich. So sammelte die Pressestelle des Hamburger Senats nach der Tat vom 21. Dezember 1985 hunderte einschlägige Presseartikel größtenteils Hamburger Zeitungen, die meisten davon aus dem Jahr 1986. Die Medien berichteten intensiv zum Vorfall, zu »Ausländerfeindlichkeit« generell sowie über Skinheads. Deren Gewalt gegen migrantische Gruppen und linke Punks framte man jedoch häufig als unpolitische Auseinandersetzungen.
Angesichts der intensiven Berichterstattung war es kein Wunder, dass sich auch die Bürgerschaft mit Avcıs Tod befasste. Die Fraktionen der »Grün-Alternativen Liste« (GAL) und der SPD beriefen in der Plenarsitzung am 15. Januar 1986 eine Aktuelle Stunde ein, in der es zu hitzigen Schlagabtäuschen kam. Es entsprach einer unter Linken und Migrant:innen weitverbreiteten Auffassung, wenn die GAL rassistische Übergriffe in direkten Zusammenhang mit der bundesdeutschen Migrationspolitik stellte: »Die Mordabsicht der Skinheads ist gegen die Lebensinteressen der Ausländer in dieser Stadt gerichtet. Das Sondergesetz für Ausländer, die Lagerhaltung von Menschen und die Abschiebepraxis sind es ebenso.« Der Erste Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) deutete die anhaltenden rassistischen Angriffe einige Tage später hingegen als Schlägereien zwischen Jugendlichen um und verharmloste sie auf diese Weise. Die Betreffenden rief er dazu auf, »diese Kette der Gewalt abzureißen. Hamburg will Frieden. Ich weiß wohl: diese Vorfälle sind nicht typisch für das Zusammenleben der Deutschen und Türken in Hamburg. […] Aber eine böse Tat droht die nächste hervorzurufen.«
Zu der erwähnten, in den 1970er Jahren einsetzenden Transformation gehörten schwere Kämpfe der Mehrheitsgesellschaft um ihr wichtiger werdendes Selbstverständnis als liberale Demokratie. So kritisierten linksliberale Stimmen die restriktive und diskriminierende Ausländerpolitik der Bundesregierung massiv. Auch für die radikale Linke wurde Rassismus und Rechtsextremismus zu bestimmenden Themen. Der Diskurs war extrem polarisiert und dominierte die Innenpolitik in der zweiten Hälfte der 1980er. Kaum zufällig fielen in diese Phase erinnerungskulturelle Wegmarken wie der »Historikerstreit« oder die Anerkennung »vergessener Opfer« des Nationalsozialismus. Ein weiterer Gradmesser ist der enorme Erfolg von Günther Walraffs Buch »Ganz unten«, das zwei Monate vor dem Überfall auf Ramazan Avcı erschienen war und die Lage türkischer Arbeitsmigrant:innen skandalisierte. Nach zwei Wochen waren 650.000, nach vier Monaten vier Millionen Exemplare verkauft. Wallraff sprach dann auch bei der Großdemo am 11. Januar 1986 in Hamburg. Weiterhin fiel der Start einer antirassistischen Kampagne des Deutschen Gewerkschaftsbundes unter der Parole »Mach‘ meinen Kumpel nicht an« in den Aufruhr um den Mord an Avcı.
Diese Liberalisierungstendenzen in Gesellschaft und Geschichtspolitik waren keineswegs eindeutig und unumstritten, sondern konkurrierten etwa mit einem erinnerungskulturellen Hype um »Preußen«. Nicht zuletzt stand die progressive Entwicklung dem alltäglichen und dem institutionellen Rassismus gegenüber, der sich auch im Urteil gegen die Mörder Ramazan Avcıs zeigte: Das Landgericht Hamburg verurteilte die Haupttäter im Juli 1986 zwar zu mehrjährigen Gefängnisstrafen wegen Totschlags, weigerte sich jedoch eine rassistisch motivierte Mordabsicht anzuerkennen. Die Folge war ein empörter Tumult im Gerichtssaal.
Trotz der intensiven Auseinandersetzung um den Mord im Frühjahr 1986, scheint diese Geschichte – wie der Terror in der Halskestraße – ebenfalls im Schatten der extrem rechten Mobilisierungen der 1990er zu stehen. In der Tat ist die rassistische Gewalt in Westdeutschland vor 1990 heute generell weitgehend verdrängt worden. In der Regel fokussiert die Geschichte des rechten Terrors in der Bundesrepublik auf die Zeit nach der »Wiedervereinigung« und die neuen Bundesländer, was erinnerungskulturell problematisch ist. So erscheinen rassistische Mobilisierungen zuvörderst als ostdeutsches Phänomen, während die Kontinuität des bundesrepublikanischen Rechtsextremismus hinter der Nebelwand der Epochengrenze verschwindet. Die westdeutsch dominierte Berliner Republik kann unangenehme Aspekte der nationalen Vergangenheit damit als Problem postsozialistischer »Ossis« externalisieren.
Auch deswegen ist eine umfassende Gedenkkultur um die Opfer rechter Gewalt umso wichtiger. Anschub, die Erinnerung an den Mord an Avcı wenigstens lokal wachzurufen, kam »von unten«, aus den Reihen eines migrantischen Zusammenhangs. Nachdem sich 2010 eine Gedenkinitiative gegründet hatte, weihte der Hamburger Senat 2012 auf deren Betreiben einen Gedenkstein ein und benannte den Platz bei der S‑Bahnstation Landwehr nach Ramazan Avcı feierlich um. Jährlich am 21. Dezember hält die Initiative eine Gedenkveranstaltung am Ort des Geschehens, bei der Angehörige von Ramazan Avcı sprechen. Auch an den Mord an Mehmet Kaymakçı erinnert seit Sommer 2021 ein Mahnmal im Kiwittsmoor-Park in Langenhorn, jedoch besuchten nur relativ wenige Menschen die Einweihungszeremonie. Das Gedenken an die Hamburger Baseballschlägerjahre erhält noch nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient.
Kühne + Nagel: ›Arisierung‹, Sponsoring und Schweigen
Am 27.11.2022 um 19 Uhr sprechen wir mit Henning Bleyl über die NS-Geschichte von K+N, ihre Nicht-Aufarbeitung durch Klaus-Michael Kühne, über die Debatte um das ›Arisierungs‹-Mahnmal in Bremen und um den Kühne-Preis in Hamburg. Eine Veranstaltungsankündigung.
Die ursprünglich in Bremen und Hamburg beheimatete Firma Kühne + Nagel (K+N), heute drittgrößtes Logistikunternehmen der Welt, ist tief in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. 1933 drängten die Inhaber Alfred und Werner Kühne ihren jüdischen Teilhaber, den Hamburger Kaufmann Adolf Maass, aus dem Unternehmen. Später profitierte K+N von den ›Arisierungen‹ in den von Deutschland besetzten Ländern: Im Zuge der sogenannten ›M‑Aktion‹ transportierte K+N im großen Maßstab Möbel aus den Wohnungen geflohener und deportierter Jüdinnen und Juden nach Deutschland.
Das Unternehmen hat diese Verstrickung lange verschwiegen und nie aufgearbeitet; der Patriarch und Firmenerbe Klaus-Michael Kühne wehrt sich bis heute dagegen, seine Familien- und Unternehmensgeschichte öffentlich untersuchen zu lassen. In Hamburg, wo der 1944 in Auschwitz ermordete Adolf Maass tätig war und wo lange Zeit der Hauptsitz von K+N lag, erinnert nichts an die Beteiligung des Unternehmens an NS-Verbrechen. Zugleich ist Klaus-Michael Kühne in Hamburg vor allem als wohltätiger Sport- und Kulturmäzen bekannt und omnipräsent.
Eines von Kühnes Prestigeprojekten ist das Harbour Front Literaturfestival. Die Kühne-Stiftung war maßgeblich an seiner Gründung beteiligt, fungierte seither als Hauptsponsor und finanzierte den jährlich vergebenen Klaus-Michael Kühne-Preis für das beste Romandebüt. Dieses Jahr zogen zwei der für den Preis nominierten Autor:innen ihre Teilnahme zurück – mit Verweis auf die verweigerte Aufarbeitung der NS-Geschichte. Diese Rücktritte sorgten Anfang September für einen Eklat, der einige öffentliche Kritik an Kühne nach sich zog, während er und seine Stiftung keinerlei Verständnis zeigten. Mit dem Rückzug der Kühne-Stiftung aus der Finanzierung des Festivals und der Umbenennung des Preises wurde die Debatte nach wenigen Wochen vorläufig beendet.
Die entscheidenden Fragen, die der Eklat um den Kühne-Preis freigelegt hat, sind allerdings immer noch offen. Wir wollen daher mit etwas zeitlichem Abstand zu diesem Eklat diskutieren: Warum gibt es in Hamburg keinen kritischen Umgang mit der NS-Geschichte von Kühne + Nagel? Wie könnten Erinnerung, Aufklärung und Konsequenzen aussehen? Wie kann mit Klaus-Michael Kühne als Kultursponsor umgegangen werden? Welche Probleme der privatisierten Kulturförderung stehen dahinter? Und was ist in der im Hinblick auf diese Fragen in der öffentlichen Diskussion um den Kühne-Preis gut gelaufen, was blieb unterbelichtet?
Vortrag und Diskussion mit:
Henning Bleyl, Journalist und Initiator des Bremer ›Arisierungs‹-Mahnmals
Moderation: Redaktion des Blogs Untiefen – Das Stadtmagazin gegen Hamburg (www.untiefen.org)
Organisiert in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hamburg, gefördert durch die Landeszentrale für politische Bildung Hamburg.
Gestern, am 20. Oktober, wurde der ZDF-aspekte-Literaturpreis an Sven Pfizenmaier verliehen. Morgen, am 22. Oktober, endet das diesjährige Harbour Front Literaturfestival. Grund genug, auf den Eklat zurückzublicken, den Pfizenmaier mit der Zurückweisung seiner Nominierung für den Kühne-Preis auslöste. Was geschah – und was bleibt? Eine Chronik und Presseschau.
25./26. Juli 2022:
Acht Autor:innen (bzw. ihre Verlage) erhalten eine E‑Mail von der Redaktion Untiefen. Betreff: Klaus-Michael Kühne. In dieser E‑Mail schildern wir den Nominierten für den diesjährigen Klaus-Michael Kühne-Preis, der seit 2010 auf dem Harbour Front Literaturfestival vergeben wird, die Hintergründe des Geld- und Namensgebers Kühne: die tiefe Verstrickung des Unternehmens Kühne+Nagel, das damals von Klaus-Michael Kühnes Vater geleitet wurde, in den Nationalsozialismus sowie die beharrliche Weigerung Kühnes, Verantwortung für diese Geschichte zu übernehmen und sich um Aufarbeitung zu bemühen (siehe Kühne+Nagel, Logistiker des NS-Staats). Wir fragen die Autor:innen, welche Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Situation sie für sich sehen, und bitten um Antworten – sei’s off the record, sei’s als zur Veröffentlichung freigegebenes Statement.
18. August 2022:
Sven Pfizenmaier, mit seinem im März erschienenen Roman Draußen feiern die Leute für den Preis nominiert, zieht aus den Informationen über die Hintergründe Kühnes seine Konsequenz: Er teilt dem Literaturfestival intern und mit einer kurzen schriftlichen Erklärung mit, dass er seine Teilnahme am Festival zurückziehe und auf die Nominierung verzichte.1Der Zufall will es, dass am selben Tag im Neuen Deutschlandein Beitrag Berthold Seligers zur Kritik an (vermeintlich) Putin-nahen russischen Künstler:innen bzw. Sponsoren bei den Salzburger Festspielen erscheint. Seliger weist in seinem Beitrag auch auf die NS-Verbrechensgeschichte von Kühne+Nagel hin und fordert: »Wer sich über das Sponsoring russischer Konzerne echauffiert, sollte auch den Mut haben, nämliches bei Konzernen wie Audi, der Deutschen Bank, Siemens oder der Kühne-Stiftung anzuklagen.«
24. August 2022:
Das Festival reagiert auf die Absage, indem es in der denkbar knappsten Form via Twitter und Presseaussendung ein »Programm-Update« verkündet:
»Nach der Absage von Sven Pfizenmaier wurde ein sogenanntes Nachrück-Verfahren eingeleitet, so dass Przemek Zybowski nun seinen Debütroman ›Das pinke Hochzeitsbuch‹ beim 2. #Debütantensalon am 10. September vorstellen wird.«
Kein Wort des Bedauerns über Pfizenmaiers Rückzug, kein Wort dazu, warum Pfizenmaier absagte. Und auch kein:e Pressevertreter:in scheint sich über die kommentarlose Absage zu wundern und sich für ihre Gründe zu interessieren. Auf der Festivalwebsite wird Pfizenmaiers Name kommentarlos ersetzt.
29. August 2022:
Die Branchen-Website buchmarkt.de veröffentlicht die Erklärung, mit der Pfizenmaier seine Absage begründet. In ihr heißt es unter anderem:
»Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dagegen wehrt, die NS-Historie seines Unternehmens aufzuarbeiten, möchte ich meinen Text nicht in einen Wettbewerb um sein Geld und eine Auszeichnung mit seinem Namen stellen.«
Doch auch auf diese Erklärung folgt zunächst keine Reaktion. Die Strategie des Festivals, die Absage unter den Teppich zu kehren und erst gar keinen Eklat aufkommen zu lassen, scheint zunächst aufzugehen.
1. September 2022:
Das Kalkül des Festivals scheitert mit einem Knall: Die Mopo titelt Kühne-Preis: Eklat um NS-Vergangenheit des Hamburger Unternehmens und veröffentlicht einen großen doppelseitigen Beitrag. Aus Pfizenmaiers Absage wird so tatsächlich ein Eklat. Am Nachmittag desselben Tags erscheint ein Beitrag in der taz. Während die Kühne-Stiftung gegenüber der Mopo noch keinen Kommentar abgeben wollte, demonstriert sie nun gegenüber taz-Redakteur Jean-Philipp Baeck eine stupende Kombination aus gekränkter Eitelkeit, Geschichtsvergessenheit und Aggressivität:
»Die Kühne-Stiftung fühle sich ›in dieser Angelegenheit im höchsten Grade ungerecht behandelt‹. Und: ›Sie hat mit Vorgängen, die ca. 80 Jahre zurückliegen, nichts zu tun und wird die traditionelle Verleihung des Klaus-Michael Kühne-Preises jetzt überdenken.‹ «
Am selben Tag veröffentlicht Untiefen den Beitrag Kühne+Nagel, Logistiker des NS-Staats, der fordert, die NS-Geschichte von Kühne+Nagel auch in Hamburg zum Gegenstand erinnerungspolitischer Arbeit zu machen.
7. September:
Das Hamburger Abendblatt greift die Entwicklung auf. Abendblatt-Redakteur Thomas Andre zitiert nun auch das Jury-Mitglied Stephan Lohr sowie – ohne Nennung eines Namens – die Hamburger Kulturbehörde; die Behörde würdigt die Kritik an Kühne als »Beitrag zur Aufarbeitung unserer Geschichte«, lässt aber auch ihre Abhängigkeit von seiner Stiftung durchscheinen:
»[…] Die Kühne-Stiftung leistet seit vielen Jahren insbesondere für die Kultur und Wissenschaft gute und wichtige Unterstützung, die nicht ohne Weiteres durch die öffentliche Hand ersetzt werden kann.«
In einem Kommentar, der den Artikel flankiert, erklärt Abendblatt-Redakteur Andre im Einklang mit der Kulturbehörde, dass Kritik an Kühne zwar »erlaubt« sei, aber es »mehr als schade« wäre, Kühne als großzügigen Kultursponsor zu vergraulen.
Auch Franziska Gänsler erklärt nun ihren Rückzug vom Festival. Anders als Pfizenmaier, dessen Roman im selben Verlag erschienen ist wie ihr Debüt Ewig Sommer, hatte sie sich zunächst gegen einen Rücktritt entschieden. In einer Stellungnahme, die auf buchmarkt.de veröffentlicht und in der Presse vielfach zitiert wird, erklärt sie, dass der Umgang des Festivals und der Kühne-Stiftung mit Pfizenmaiers Absage sie zu ihrem Schritt bewogen haben.
Die Festivalleitung veröffentlicht eine (inzwischen nur noch via Internet Archive auffindbare) Stellungnahme zu der Debatte rund um die Absagen von Pfizenmaier und Gänsler. Sie bekundet:
»Wir finden diese Absagen sehr bedauerlich. Für die Beweggründe der Betreffenden haben wir Verständnis – auch wir sehen Diskussionsbedarf in dieser Angelegenheit.«
Dass der »Diskussionsbedarf« der Festivalleitung nicht so dringend ist, offenbart sich jedoch in der nachgeschobenen Aussage: »Wir hoffen, dass es trotz der gegenwärtigen Diskussion gelingt, die Literatur für die Zeit des Festivals in den Mittelpunkt zu rücken.« Zeitgleich mit der Stellungnahme stellt das Festival auch die beiden Stellungnahmen von Gänsler und Pfizenmaier auf seine Homepage.
Am selben Tag erscheint auf Zeit Onlineein Beitrag von Christoph Twickel. In ihm kommen auch weitere nominierte Schriftsteller:innen zu Wort: Domenico Müllensiefen und Annika Büsing. Beide heben den strukturellen Charakter des Problems hervor, das weit über den Fall Kühne hinausweise, und regen eine breite Debatte über die Mechanismen der (privaten) Kulturförderung an. In den Sozialen Medien zieht die Artikelüberschrift »Nazizeit? – Lange her!«, die sich auf die Stellungnahme der Kühne-Stiftung bezieht, rechte Kommentator:innen an. Das entsprechende Posting auf der Facebook-Seite der Zeit erhält 570 Kommentare, größtenteils von rechts: Den Kühne-Kritiker:innen werden Neid und Moralismus vorgeworfen, die Verbrechen von K+N werden relativiert. Nahezu alle Kommentare schließen sich der Forderung der Kühne-Stiftung nach einem Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit an.
Domenico Müllensiefen veröffentlicht die Stellungnahme, um die er von der Zeit gebeten worden war, in voller Länge auf seinem Blog.
Die Redaktion Untiefen veröffentlicht den Beitrag »Kühne-Preis: Kulturförderung als Schweigegeld?«. Der Beitrag rekapituliert die bisherige Debatte und zitiert die der Redaktion zugesandten Stellungnahmen von Domenico Müllensiefen (die sich zu großen Teilen mit der Stellungnahme gegenüber der Zeit deckt) und von Daniel Schulz. Junge Autor*innen seien »auf die wenigen Förderungen angewiesen […], die es noch gibt«, schreibt Schulz, und sieht daher eigentlich andere Angehörige des Kulturbetriebs in der Pflicht, gegenüber problematischen Förderern wie Kühne Stellung zu beziehen.
8. September 2022:
Die dpa veröffentlicht eine Meldung zum Eklat und zu Gänslers Rücktritt, die in zahlreichen (Online-)Medien aufgegriffen wird. Darin wird auch die Kühne-Stiftung zitiert, die – auf etwas weniger brüske Weise – ihre Stellungnahme vom 1. September bekräftigt:
»Die Kühne-Stiftung stellte klar, dass ihre Förderleistungen keinen Bezug zu einer Zeit haben, ›die weit zurück liegt und zu der ganz andere Verhältnisse herrschten‹. Das teilte sie auf Nachfrage am Donnerstag mit. ›Hierbei Zusammenhänge zu konstruieren, würden wir als eine bewusste Schädigung unserer rein philanthropischen Unterstützung des Harbour Front Literaturfestivals betrachten.‹ «
Mehrere Medien, darunter Mopo und Abendblatt, berichten, dass sich das Festival von der Kühne-Stiftung als Sponsor trennt. Die Festivalleitung bekundet, dass dieser Schritt jedoch nichts mit dem Eklat zu tun habe, sondern bereits länger geplant gewesen sei. Im Mopo-Artikel heißt es dazu:
»Auf MOPO-Anfrage erklärte Heinz Lehmann aus dem Leitungsteam: ›Dieser Schritt hat überhaupt nichts mit dem aktuellen Wirbel um die Vergangenheit der Familie Kühne zu tun, sondern war seit Monaten geplant.‹ Die Kühne-Stiftung war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.«
Am Abend des 8. September findet die Eröffnung des Festivals in der Elbphilharmonie statt. Wie das Abendblatt am 10. September berichtet, kommt der Eklat hier von Beginn an zur Sprache: Der Generalintendant der Elbphilharmonie verharmlost die Kritik an Kühne zu einem »Skandälchen« unter anderen, das zudem ja den Kartenverkäufen zuträglich sei. Die Leiterin des Festivals Petra Bamberger äußert sich unverbindlich (»Wir danken allen unseren Förderern, aber wir sind vor allem unseren Autorinnen und Autoren verpflichtet«). Der Manager und Kühne-Vertraute Michael Behrendt, Mitglied im Stiftungsrat der Kühne-Stiftung, hingegen zeigt sich »betroffen« – nicht aber von den verbrecherischen Geschäften Kühne+Nagels oder vom Schicksal des in Auschwitz ermordeten Ex-Teilhabers Adolf Maass, sondern von den »kritischen Stimmen«. Schließlich, so Behrendt, sei Klaus-Michael Kühne bei Kriegsende erst sieben Jahre alt gewesen.
14. September:
Die Festivalleitung teilt mit: Der Klaus-Michael Kühne-Preis heißt ab sofort »Debütpreis des Harbour Front Literaturfestivals« – und er wird nicht in Kühnes Luxushotel The Fontenay an der Außenalster, sondern im Nachtasyl des Thalia Theaters überreicht werden. Die Änderungen entspringen jedoch keiner souveränen Entscheidung des Festivals, sondern geschehen auf Anordnung der schmollenden Kühne-Stiftung. In der Mitteilung der Festivalleitung, die unter anderem von der Mopo zitiert wird, heißt es:
»Nach der öffentlichen Debatte um die Absage der Teilnahme zweier Autor:innen am Debütantensalon 2022 hat die Kühne-Stiftung das Harbour Front Literaturfestivalam 12. September 2022 dazu aufgefordert, den Namen des ›Klaus-Michael Kühne-Preises‹ und den Ort der Preisverleihung zu ändern.«
Die Zeit kommentiert die Umbenennung kritisch: »Sie dient bloß dazu, eine Debatte zu vermeiden, die überfällig ist. Das ist feige.« Von der im Beitrag zitierten Sprecherin der Kühne-Stiftung lässt sich etwas über die Gründe für die Umbenennung erfahren: »Format und Benennung des mit dem Festival verbundenen Preises sollen von Diskussionen frei sein.« Das also versteht der Mäzen unter Freiheit der Kunst – sie soll frei sein von Kritik und Diskussion.
15. September:
Über die Umbenennung des Preises wird in einer dpa-Meldung berichtet, die vielfach übernommen wird.
Das »Hamburger Tüddelband«, die im Rahmen des Harbour Front Festivals verliehene Auszeichnung für herausragende Kinderbuchkünstler:innen, wird in der Hauptkirche St. Katharinen an Axel Scheffler und Julia Donaldson verliehen. Schirmherrin dieses Preises ist Christine Kühne, Klaus-Michael Kühnes Ehefrau. Anders als in vergangenen Jahren ist sie aber nicht anwesend. Das Abendblatt schreibt:
»Ob es das ›Hamburger Tüddelband‹ im kommenden Jahr noch geben wird […], ließ die Festivalleitung auf Nachfrage offen.«
16. September:
Die Jury gibt den Preisträger des nun umbenannten Preises bekannt: Behzad Karim-Khani mit seinem Roman Hund, Wolf, Schakal. In ihrer Begründung geht die Jury ausführlich auf die vorhergegangene Debatte ein:
»In diesem Jahr haben zwei der acht von der Vorjury ausgewählten Nominierten ihre Teilnahme zurückgezogen. Wir hätten gerne auch über ihre Bücher diskutiert. Aber wir möchten Sven Pfizenmaier und Franziska Gänsler für ihre Entscheidung unseren Respekt aussprechen. Und wir schließen uns ihren Forderungen ausdrücklich an: Wir würden uns wünschen, dass Kühne + Nagel sein unternehmerisches Handeln in der NS-Zeit durch Historiker*innen unabhängig untersuchen lassen und die Forschungsergebnisse öffentlich machen würde.«
18. September:
Der Debütpreis wird im Nachtasyl (Thalia-Theater) verliehen. Am 19. September veröffentlich die dpa zur Preisvergabe eine Meldung, die auch auf die Stellungnahme der Jury zum Eklat eingeht und von vielen Medien übernommen wird.
20. September:
Der Literaturwissenschaftler und Kulturjournalist Johannes Franzen, der erst im Februar im Merkur über die Heteronomie der Kunst angesichts der Abhängigkeit von ihren Geldgeber:innen schrieb, greift die Debatte in seinem Newsletter Kultur und Kontroverse auf. Er kommentiert:
»Was an der Geschichte besonders interessant erscheint, ist zunächst, wie ein Milliardär einen Preis von läppischen 10.000 Euro stiften kann und dafür mit viel kulturellem Kapital belohnt wird, wie dann aber dieses kulturelle Kapital ihm plötzlich in der Hand explodieren kann. Man muss davon ausgehen, dass über die schreckliche Vergangenheit des Unternehmens Kühne + Nagel aktuell weniger stark berichtet werden würde, wenn nicht das Prestige des Literarischen auf dem Spiel stehen würde.«
27. September:
Das Magazin Oper! veröffentlicht ein Interview mit Klaus-Michael Kühne (online nur auszugsweise verfügbar), über das kurz darauf ein Artikel im Abendblatt erscheint. Kühne wirbt darin für seinen Vorschlag, ein neues Opernhaus in Hamburg zu errichten, und zeigt sich – vom Interviewer freundlich sekundiert – verständnislos über den Undank für seinen »gut gemeinten Ratschlag«.
4. Oktober:
Im Hamburg-Teil der Zeitgreift Florian Zinnecker die Debatte noch einmal auf. Er betont die enge Verzahnung des Harbour Front Literaturfestivals mit der Kühne-Stiftung und fordert, dass die Diskussionen, die sich um den Kühne-Preis entwickelt haben, weitergeführt werden müssten:
»Die große Frage aber, die durch die Eruptionen erst so richtig freigelegt wurde, ist noch offen – und sie ist um ein Vielfaches zu groß, als dass das Festival sie allein abräumen könnte. Die Kühne-Stiftung fördert die Staatsoper und die Philharmoniker; ohne Kühnes Zuwendungen wäre Kent Nagano als Generalmusikdirektor wohl weder nach Hamburg zu locken noch hier zu halten gewesen. Kühne gab 4 Millionen Euro für die Elbphilharmonie, die VIP-Lounge des Hauses ist nach ihm benannt. Das Internationale Musikfest fördert er mit einer halben Million jährlich. Und für den HSV (Fußball ist auch Kultur) wendete Kühne schon mehr als 100 Millionen Euro auf. All diese Institutionen begleiten die Debatte bislang mit vehementem Schweigen.Es wäre billig, von ihnen klare Kante zu fordern, wer vergrätzt schon gern einen Hauptsponsor. Aber zu reden wäre darüber schon. Denn sonst beantwortet sich die Frage, ob das Störgefühl groß genug ist für eine Neubewertung der Lage, von allein – mit Nein. Alles egal. Hauptsache, er zahlt.«
20. Oktober:
Auf der Frankfurter Buchmesse wird Sven Pfizenmaier der mit 10.000€ dotierte ZDF-aspekte-Literaturpreis für sein Romandebüt verliehen.
5. November:
Im Hamburger Abendblatterscheint auf einer Doppelseite ein langes Interview mit Klaus-Michael Kühne. Ganz kurz kommt der Interviewer – der stellvertretende Chefredakteur Matthias Iken – auch auf die NS-Vergangenheit von K+N und den Eklat vom September zu sprechen und lässt Kühne dabei unwidersprochen seine Schlussstrichforderung wiederholen:
»Ihr Literaturpreis heißt nicht mehr Klaus-Michael Kühne-Preis, junge Literaten verzichteten auf eine Nominierung, weil Sie die NS-Geschichte Ihres Unternehmens intensiver aufarbeiten sollen … Das hat mich persönlich getroffen. Wir wollten uns zwar aus dem Harbourfront-Literaturfestival zurückziehen, das wir maßgeblich gefördert hatten, den Nachwuchspreis aber weiter finanzieren. Das machen wir jetzt nicht mehr. Den Organisatoren habe ich verübelt, dass sie diese einseitigen Vorwürfe so übernommen und das Thema einseitig betrachtet haben.
Sie könnten ja eine Untersuchung durch Historiker beauftragen … Die Archive sind zerstört, die Fakten sind bekannt. Es wird vieles hineininterpretiert. Warum sollten wir die alten Wunden nach so langer Zeit wieder aufreißen? Das hätte man viel früher machen müssen. 2015 kam das Thema zum 125. Jubiläum zum ersten Mal hoch, das beim 100. Geburtstag keinen interessiert hatte. Wir haben die unschönen Dinge in unserer Jubiläumsschrift dargestellt und unser Bedauern darüber mehrmals öffentlich geäußert.«
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Der Zufall will es, dass am selben Tag im Neuen Deutschlandein Beitrag Berthold Seligers zur Kritik an (vermeintlich) Putin-nahen russischen Künstler:innen bzw. Sponsoren bei den Salzburger Festspielen erscheint. Seliger weist in seinem Beitrag auch auf die NS-Verbrechensgeschichte von Kühne+Nagel hin und fordert: »Wer sich über das Sponsoring russischer Konzerne echauffiert, sollte auch den Mut haben, nämliches bei Konzernen wie Audi, der Deutschen Bank, Siemens oder der Kühne-Stiftung anzuklagen.«
Am 18. September wird im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals in Hamburg der renommierte Klaus-Michael Kühne-Preis verliehen. Nun haben zwei Schriftsteller:innen ihre Nominierungen zurückgezogen – weil der Geld- und Namensgeber die NS-Historie seines Familienunternehmens nicht aufarbeite. Wir hatten zuvor sie und die übrigen Nominierten kontaktiert, um über die finanzielle Abhängigkeit des Kulturbetriebes von privater Förderung und die Imagepolitik problematischer Mäzene zu sprechen.
Im Kunst- und Kulturbetrieb rumort es: Das Londoner British Museum benennt alle nach einem Großspender benannten Räume um, die Videokünstlerin Hito Steyerl zieht eines ihrer Werke aus einer angesehenen Sammlung zurück, die Salzburger Festspiele beenden in Reaktion auf einen offenen Brief des Autors Lukas Bärfuss und der Regisseurin Yana Ross die Zusammenarbeit mit einem Sponsor. All diese Auseinandersetzungen ereigneten sich in den letzten Monaten. Und bei allen ging es um ganz ähnliche Fragen: Wer finanziert eigentlich Kulturinstitutionen und Kulturschaffende? Aus welchen Quellen stammen die Milliarden an privaten Mitteln, mit denen Museen, Konzerthäuser, Preise und Festivals gefördert werden? Und wie kann oder soll man sich gegenüber ›schmutzigen‹ Fördergeldern verhalten, die aus fragwürdigen Quellen stammen und von den Geldgeber:innen zumReinwaschen des eigenen Namens bzw. dem Verdecken von Schandtaten genutzt werden?
Auf die Frage nach dem praktischen Umgang haben Kulturinstitutionen und Künstler:innen in den genannten drei Fällen klare Antworten gefunden. Sie zogen Konsequenzen daraus, dass die Milliardärsfamilie Sackler mit ihrem Unternehmen Purdue Pharma maßgeblich für die Opioidkrise in den USA verantwortlich war; daraus, dass die Unternehmerin und Kunstsammlerin Julia Stoschek ihr Milliardenvermögen ihrem Nazi-Urgroßvater verdankt, der den Automobilzulieferer Brose gründete, den NS-Staat belieferte und als treues NSDAP-Mitglied zum Wehrwirtschaftsführer aufstieg; und daraus, dass das Bergbauunternehmen Solway nicht nur massive Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung verantwortet, sondern zudem enge Verbindungen zum Kreml unterhalten soll.
Die Kühne-Stiftung
Eine in Hamburg besonders aktive und ebenfalls fragwürdige Kultursponsorin ist die Kühne-Stiftung: Bei der Elbphilharmonie, dem Philharmonischen Staatsorchester und dem Harbour Front Literaturfestival tritt die Stiftung als Hauptförderin auf. Gegründet wurde sie 1976 vom Unternehmer Alfred Kühne, seiner Frau Mercedes und ihrem gemeinsamem Sohn Klaus-Michael Kühne. Das Stiftungskapital stammt aus den Erträgen der Kühne Holding, also vorrangig aus jenen des Unternehmens Kühne + Nagel (K+N), eines der weltweit größten Transport- und Logistikunternehmen.
Damit aber verdankt sich das Kapital zum einen dem Umstand, dass Alfred Kühne und sein Bruder Werner 1933 ihren jüdischen Teilhaber Adolf Maass aus dem Unternehmen drängten, und zum anderen der maßgeblichen Beteiligung von K+N an der ›Arisierung‹ jüdischen Eigentums in den von Deutschland besetzten Ländern während des Zweiten Weltkriegs. Hinzu kommt: Klaus-Michael Kühne, der das Unternehmen von 1966 bis 1998 leitete und bis heute sowohl die Mehrheit der Aktienanteile als auch die Fäden in der Hand hält, zeigt keinerlei Verständnis dafür, dass die NS-Vergangenheit seines Unternehmens »immer wieder hochgekocht wird«, und wehrt jegliche Aufarbeitung dieser – seiner – Familien- und Unternehmensgeschichte vehement ab.
Kulturförderung als Schweigegeld
Bislang scheint Klaus-Michael Kühnes Strategie des Relativierens und Verschweigens aufzugehen. Zwar haben insbesondere aus Anlass des 125-jährigen Firmenjubiläums im Jahr 2015 viele Medien kritisch über die Unternehmensgeschichte berichtet, über die man dank der Recherchen des ehemaligen taz-Redakteurs Henning Bleyl und von Historikern wie Wolfgang Dreßen, Frank Bajohr und Johannes Beermann-Schön immerhin einiges weiß. Doch einer breiten Öffentlichkeit sind Klaus-Michael Kühne und sein Unternehmen nach wie vor nicht als NS-Profiteure bekannt. Das öffentliche Bild von Kühne bestimmt vielmehr sein Engagement als Investor und Kulturförderer. Die Hamburger Morgenpost etwa veröffentlichte in den letzten zwei Jahren 50 Artikel über Kühne; nur ein einziger von ihnen behandelt die Geschichte des Unternehmens im Nationalsozialismus und seine Nachgeschichte. Stattdessen produziert Kühne (überwiegend) positive Schlagzeilen mit seinem Engagement beim HSV (dem er die Benennung des Stadions nach Uwe Seeler finanzieren will), mit Investitionen (er hat seine Anteile an der Lufthansa und an der Immobiliengesellschaft Signa Prime erhöht und Anteile am Elbtower erworben) und eben mit seinen Aktivitäten in der Kulturförderung.
Es steht daher außer Frage: Klaus-Michael Kühnes Mäzenatentum dient effektiv der Imagepflege des Familiennamens, dem Verschweigen bzw. Reinwaschen. ›Tue Gutes und sprich darüber‹, sagt man; im Fall von Kühne ließe sich ergänzen: ›damit über das Schlechte nicht gesprochen wird‹. Dass er den von ihm gestifteten Preis für das beste Romandebüt des Jahres ganz unbescheiden nach sich selbst benannt hat, ist davon der wohl krasseste Ausdruck. Es hat zur Folge, dass der Klaus-Michael-Kühne-Preis nicht nur eine Auszeichnung für die Autor:innen darstellt, die ihn erhalten. Vielmehr verschaffen die Preisträger:innen auch dem Mäzen, in dessen an der Außenalster gelegenen Luxushotel The Fontenay die Preisverleihung stattfinden wird, Ansehen und Anerkennung. Und sie drängen damit wider Willen die Beteiligung des Unternehmens an der Enteignung von Jüdinnen und Juden im NS aus dem Blick der Öffentlichkeit. Wenn etwa, wie im Jahr 2014 mit Per Leos Roman Flut und Boden, die literarische Aufarbeitung einer deutschen Familiengeschichte und Abrechnung mit der NS-Täter:innengeneration den Klaus-Michael Kühne-Preis erhält, ohne dass dieser zynische Widerspruch zur Sprache kommt, dient der Preis ganz offenkundig als Feigenblatt.
Suche nach dem angemessenen Umgang
Natürlich haben fast alle deutschen Großunternehmen, die vor 1945 gegründet wurden, eine Verbrechensgeschichte. Der niederländische Politikwissenschaftler David de Jong hat das in seinem Buch Braunes Erbe kürzlich noch einmal eindrücklich dargelegt. Doch das Ausmaß der Kollaboration der Gebrüder Alfred und Werner Kühne mit dem NS-Staat, die anhaltende Weigerung ihres Erben Klaus-Michael Kühne, diese Geschichte aufzuarbeiten und Konsequenzen daraus zu ziehen, sowie die Benennung des Preises nach Kühne selbst machen den Klaus-Michael Kühne-Preis zu einem besonders hervorstechenden Fall.
Was aber wäre ein angemessener Umgang mit dem problematischen Geldgeber? Diese Frage stellten wir, die Redaktion von Untiefen, uns im Vorfeld der diesjährigen Verleihung des Kühne-Preises, ohne zu einer befriedigenden Antwort zu kommen. Wir versuchten daher im Juli, mit den acht Nominierten des Preises selbst ins Gespräch darüber zu kommen. In einer E‑Mail an die Autor:innen schilderten wir ausführlich die Verstrickung von K+N in die NS-Verbrechen und hoben vor allem die Weigerung Klaus-Michael Kühnes hervor, das Firmenarchiv zu öffnen und die Unternehmensgeschichte von unabhängigen Historiker:innen untersuchen zu lassen. In unserem Schreiben an die Nominierten hoben wir auch die Komplexität der Situation hervor und fragten die Autor:innen nach einem möglichen Umgang:
»Klar ist einerseits: Diese Umstände können und dürfen nicht (weiter) beschwiegen werden. Klar ist andererseits aber auch: Ein Literaturpreis ist für eine Debütantin / einen Debütanten wie Sie auch über das hohe Preisgeld hinaus von beträchtlicher Bedeutung. Hinzu kommt, dass Kühnes eigene Ansichten bei der Entscheidung der Jury gewiss keine Rolle spielen werden. Die Forderung, den Preis oder gar schon die Nominierung zurückzuweisen, wäre daher wohlfeil. Doch wir fragen uns – und Sie: Wenn die öffentliche Ablehnung des Preises keine sinnvolle Option ist, was könnten dann alternative Wege sein, mit dem problematischen Hintergrund des Preises und seines Stifters dennoch einen Umgang zu finden? Diese Frage, auf die wir selbst bislang keine befriedigende Antwort gefunden haben, weist auch über den konkreten Fall hinaus und zieht weitere, grundsätzliche Fragen nach sich: Wie kann man sich zum Widerspruch der Neutralisierung von Kritik durch ihre Vereinnahmung, der auch nur die Zuspitzung eines generellen Widerspruchs im ›wiedergutgewordenen‹ Deutschland ist, ins Verhältnis setzen? Ist das Pathos etwa eines Thomas Brasch bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises 1981 (noch) angemessen? Stellt die Literatur selbst Mittel bereit, sich der Vereinnahmung zu widersetzen, oder ist sie ohnmächtig angesichts der Machtverhältnisse eines Betriebs, in dem man es sich mit seinen Geldgebern nicht ›verscherzen‹ darf?«
Die Antworten der Nominierten: Zwischen Realismus…
Auf unsere Fragen und unsere Bitte um Austausch erhielten wir in den folgenden Wochen von immerhin drei der acht Autor:innen Rückmeldung. Domenico Müllensiefen, der für seinen Roman Aus unseren Feuern nominiert wurde, schreibt: »Ich denke, dass es ein großes Problem ist, dass die öffentliche Kulturförderung in Deutschland stark eingeschränkt ist.« Denn in die Lücke, die die öffentliche Förderung lässt, stießen private Förderer. Was es bräuchte, so Müllensiefen, sei eine »breite und preisunabhängige Förderung von AutorInnen«. Bis dahin bleibe er auch beim Klaus-Michael Kühne-Preis „Realist“, denn: »Die Jury ist hochkarätig besetzt und frei in Ihrem Handeln. Die nominierten SchriftstellerInnen gefallen mir sehr gut. Der Umgang mit den AutorInnen ist erstklassig. […] Und ganz ehrlich, wäre es mir eine sehr große Freude, mal eine Nacht in diesem schicken Hotel von Herrn Kühne zu übernachten.« In einem späteren Statement gegenüber der ZEIT fügt er hinzu: »Deutscher Reichtum ist in vielen, wenn nicht sogar in den meisten Fällen auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit entstanden. So zu tun, als wäre alles in Ordnung, wenn Herr Kühne die NS-Vergangenheit aufarbeiten ließe, wäre auch falsch. Wir haben ein strukturelles Gesellschaftsproblem, zu dem wir AutorInnen uns individuell verhalten sollen.« Und: »Und wäre es nicht an der Zeit, dass wir, und da darf DIE ZEIT gern vorneweg gehen, ernsthaft über eine Umverteilung der Vermögen in Deutschland sprechen?«
Ähnlich antwortete Daniel Schulz, taz-Redakteur und Autor des Romans Wir waren wie Brüder. Er betont wie Müllensiefen: „Die Unabhängigkeit und Fachkompetenz der Jury stehen außer Zweifel. Klaus-Michael Kühne hat auf ihre Entscheidungen keinen Einfluss“. Vor allem hält er die Autor:innen für die falschen Ansprechpartner:innen für die Frage nach dem Umgang mit dem NS-Erbe von Kühne + Nagel. Schließlich seien sie in der abhängigsten und prekärsten Lage von allen und „auf die wenigen Förderungen angewiesen […], die es noch gibt“. Die Ressourcen und die Verantwortung dafür, einen Umgang mit problematischen Förderern wie Kühne zu finden, sieht er vor allem bei den Verlagen und der Kulturpolitik.
Der Tenor dieser Antworten ist klar: In dieser Gesellschaft als Schriftsteller:in tätig zu sein bedeutet, in zahlreiche Widersprüche verstrickt und nicht wenigen Zwängen unterworfen zu sein. Solange die Kulturförderung maßgeblich über private Stiftungen und Organisationen geleistet wird und die Autor:innen von deren Geld abhängig seien, müsse man letztlich damit leben, dass Gelder im Kulturbetrieb aus fragwürdigen Quellen stammen Das zentrale Problem sehen die beiden Autoren in der privatisierten Kulturförderung in einer postfaschistischen Gesellschaft – und die Verantwortung auf Seiten der öffentlichen Hand.
… und Absagen
Sven Pfizenmaier, nominiert für Draußen feiern die Leute, ist zu einem anderen Schluss für seinen individuellen Umgang mit der Situation gekommen. Er hat seine Nominierung zurückgewiesen und seine Teilnahme am ›Debütantensalon‹ auf dem Harbour Front Literaturfestival abgesagt. In seiner am 29. August veröffentlichten Erklärung schreibt er so knapp wie deutlich: »Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dagegen wehrt, die NS-Historie seines Unternehmens aufzuarbeiten, möchte ich meinen Text nicht in einen Wettbewerb um sein Geld und eine Auszeichnung mit seinem Namen stellen.«
Anderthalb Wochen später, am 07.09., sagte auch Franziska Gänsler, nominiert für Ewig Sommer, ihre Teilnahme am Harbour Front Festival ab. In ihrer Erklärung, die diesmal durch die Festivalleitung veröffentlicht wurde, führt sie die Nicht-Diskussion um die Absage Pfizenmaiers als Grund an:
»Mich hat der Rückzug des mitnominierten Autors Sven Pfizenmaier und die darauf folgende Reaktion sehr beschäftigt. Ich denke, es hätte einen öffentlichen Diskurs gebraucht, der ein Ernstnehmen seiner Kritik erkennbar macht und zeigt, dass es das Anliegen der Stiftung ist, genau das zu fördern – kritische literarische Stimmen. Leider zeigt die Reaktion für mich, dass dies nicht gegeben scheint. Unter diesen Umständen weiter auf die Auszeichnung zu hoffen erscheint mir, unabhängig von der finanziellen Komponente, wie ein Wegsehen, das ich nicht gut mit mir und meinem Schreiben vereinbaren kann.«
Pfizenmaier und Gänsler haben damit drastische Schritte gewählt. Pfizenmaier betont in seiner Erklärung aber auch, dass er seine Entscheidung »explizit nicht als Vorwurf« gegen die Mitnominierten und Mitarbeitenden des Festivals verstanden wissen wolle: »Das Verhältnis zwischen Geldgeber:innen und Kulturschaffenden in Deutschland ist ein dermaßen komplexes Feld, dass es unzählige Wege gibt, einen angemessenen Umgang damit zu finden. Dieser hier ist meiner.«
Drastisch sind diese Entscheidungen nicht nur, weil beide damit auf die Möglichkeit verzichtet, das stattliche Preisgeld von 10.000 Euro zu gewinnen, sondern auch und vor allem, weil der Debütantensalon und der Klaus-Michael Kühne-Preis in den letzten Jahren zu einem wichtigen Sprungbrett für junge Autor:innen geworden sind. Bei Verlagen, Buchhändler:innen und Autor:innen genießt der Preis ebenso hohes Ansehen wie bei Kritik und Leser:innenschaft. Autor:innen, deren Debüt eine Nominierung erhalten oder den Preis gar gewonnen hat, steigern nicht nur die Verkäufe ihres Romans, sondern haben gute Aussichten, sich fest zu etablieren. Zu den bisherigen Preisträger:innen zählen etwa Olga Grjasnowa, Per Leo, Dmitrij Kapitelman, Fatma Aydemir und Christian Baron.
Der Eklat
Pfizenmaiers und Gänslers Entscheidung ist bisher präzedenzlos. Obwohl viele der früheren Nominierten und Preisträger:innen als engagierte Stimmen in der öffentlichen Debatte bekannt (geworden) sind, hatte bisher noch kein:e Autor:in öffentlich Kritik an Kühne geübt – geschweige denn die Nominierung oder den Preis zurückgewiesen.
Dementsprechend überfordert und ratlos wirkt der Umgang des Harbour Front-Festivals mit der Situation. Man glaubte dort offenbar, Pfizenmaiers Absage einfach unter den Teppich kehren zu können. Am 24. August wurde in einer Pressenachricht und auf Twitter lapidar ein »Programmupdate« verkündet: Nach Sven Pfizenmaiers Absage trete Przemek Zybowski durch ein Nachrückverfahren an seine Stelle. Bis zur Absage Gänslers ging das Festival weder auf die Gründe für Pfizenmaiers Absage ein, noch drückte es sein Bedauern darüber aus. Auf der Homepage des Festivals wurde Pfizenmaier stillschweigend ersetzt. Nach Gänslers Absage lässt das Festival auf der Website knapp verlautbaren:
»Wir finden diese Absagen sehr bedauerlich. Für die Beweggründe der Betreffenden haben wir Verständnis – auch wir sehen Diskussionsbedarf in dieser Angelegenheit.«
Die Reaktion der Kühne-Stiftung aber übertrifft das anfängliche Schweigen des Festivalsum Längen. Während sie der Mopo noch keinen Kommentar geben wollte und wohl auch hoffte, das Problem löse sich von selbst auf, ging sie gegenüber der tazin die Offensive: Man habe »mit Vorgängen, die ca. 80 Jahre zurückliegen, nichts zu tun«. Und weil sich die Stiftung »in höchstem Maße« ungerecht behandelt fühlte, setzte man dort zum Gegenangriff gegen die undankbaren Kulturschaffenden und ‑liebhaber:innen an: Man werde »die traditionelle Verleihung des Klaus-Michael Kühne-Preises jetzt überdenken« ließ die Kühne-Stiftung auf Anfrage der taz verlauten. Wer Kritik übt, erhält kein Geld – das ist die Botschaft, die die Kühne-Stiftung vermittelt.
Kulturförderung entprivatisieren
Die Reaktion der Kühne-Stiftung zeigt: Man scheint sich dort sehr bewusst darüber zu sein, wer hier am längeren Hebel sitzt. Der Kulturbetrieb ist in hohem Grad abhängig von seinen (privaten) Gönnern. Sie können den von ihnen geförderten Einrichtungen und Veranstaltungen ihre Bedingungen diktieren – und bei Kritik oder Nichtbefolgen die Förderung beenden oder zumindest damit drohen. Die Kühne-Stiftung zeigt mit ihrem Verhalten gegenüber den Kulturschaffenden überdeutlich auf, wo die Grenze(n) der Autonomie der Kunst liegen: Don’t bite the hand that feeds you.
Die ersten Leidtragenden eines Rückzugs wären die Schriftsteller:innen und Künstler:innen, also ausgerechnet die schwächsten Glieder in der Kette. Tatsächlich sind die anderen Nominierten nicht zu beneiden. Durch Pfizenmaiers und Gänslers Absage stehen sie unter Druck, sich zu bekennen, womöglich gar, ihrem Beispiel zu folgen. Vieles hängt davon ab, dass die Debatte solidarisch geführt wird, und das heißt: nicht individualisierend und moralisierend, sondern im Bewusstsein der Widersprüche und des strukturellen Charakters des Problems.
Klar ist: Solange die Kultur den Marktgesetzen unterliegt und die Förderung der Kulturschaffenden nicht durch öffentliche Hand getragen wird, ist sie auf private Förder:innen angewiesen. Denn wenn nicht allein die Marktgängigkeit von Kunst, Musik oder Literatur zählen soll, sondern auch die inhärenten Maßstäbe der Kunst, braucht es Kultursponsoring. An Beispielen wie Kühne zeigt sich aber, zu welchen Problemen es führen kann, wenn dies privat organisiert und zwangsläufig von besonders vermögenden Unternehmen und Einzelpersonen mit eigenen Interessen übernommen wird. Deshalb muss im Sinne einer demokratischen Kulturförderung zumindest eine Reduktion des Anteils privaten Sponsorings durch die (Wieder-)Einführung öffentlicher Förderung durchgesetzt werden. Die Leidtragenden des privaten Kultursponsorings sind letztlich auch die Autor:innen selbst, denen in diesem System mitunter nur eine Wahl bleibt zwischen Verzicht auf das, was ihren Unterhalt finanziert, oder der Annahme fragwürdiger Fördergelder – eine infame Verantwortungsverschiebung.
In Bezug auf den aktuellen Eklat heißt das: Der Kühne-Preis muss umbenannt und öffentlich finanziert werden. Wie wäre es etwa mit einem von der Stadt Hamburg finanzierten Peter-Rühmkorf-Preis? Wenn man sich anschaut, wie schnell die Stadt im Cum-Ex-Skandal bereit war, auf 47 Millionen Euro an Steuern zugunsten der Warburg-Bank zu verzichten, sollten 10.000 Euro Preisgeld sicherlich kein Problem darstellen. Und Kühnes Geld könnte auch in einer unabhängigen, wissenschaftlichen Aufarbeitung der eigenen Firmengeschichte sehr gute Verwendung finden.
Kühne + Nagel ist eines der größten Logistikunternehmen der Welt. Die entscheidende Grundlage dafür schuf die Beteiligung des Unternehmens an NS-Verbrechen – und seine ›Arisierung‹ im Jahr 1933. Während in Bremen nun ein Mahnmal entsteht, gibt es in Hamburg bislang keine Praxis des Erinnerns.
Bremen erhält einen neuen Gedenkort: ein Mahnmal zur Erinnerung an die systematische Ausplünderung der europäischen Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus – und an die maßgebliche Beteiligung von Bremer Logistikunternehmen an diesem Verbrechen. Initiiert wurde das Mahnmal vom ehemaligen taz-Redakteur und heutigen Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung Bremen, Henning Bleyl. Als 2015 auf dem Bremer Marktplatz mit viel Pomp das 125-jährige Bestehen des Logistikunternehmens Kühne + Nagel (K+N) gefeiert wurde, begann er, zur NS-Geschichte des Unternehmens zu recherchieren und zu publizieren.1Alle seit 2015 von Bleyl und anderen Autor:innen in der taz erschienenen Beiträge sind in einem umfassenden Dossier versammelt, das einen hervorragenden Überblick über die Causa Kühne + Nagel verschafft.
Bleyl und seine Mitstreiter:innen forderten ein Mahnmal für die Verbrechen, an denen K+N beteiligt war, und erzwangen so eine Auseinandersetzung der Politik und der Öffentlichkeit mit dem lange Zeit beschwiegenen Thema. Nun, sieben Jahre später, gegen viele Widerstände und nach langwierigen Auseinandersetzungen vor allem um den Standort, materialisieren sich diese Bemühungen: An den Weser-Arkaden in Sichtweite der 2020 neu errichteten Deutschland-Zentrale von K+N soll in Kürze mit dem Bau des Mahnmals nach einem Entwurf von Evin Oettingshausen begonnen werden. Spätestens 2023 soll das Mahnmal eingeweiht werden.
Willige Vollstrecker und Profiteure der ›Arisierung‹
Dort, wo jetzt der Neubau steht, befand sich seit 1909 die Zentrale des 1890 in Bremen gegründeten Unternehmens Kühne + Nagel. Innerhalb kurzer Zeit war das Unternehmen zu einem bedeutenden Transport- und Logistikkonzern aufgestiegen und hatte Niederlassungen in zahlreichen deutschen Städten gegründet, darunter auch in Hamburg. 1932 starb der Firmengründer August Kühne; seine beiden Söhne Alfred und Werner übernahmen das Geschäft. Unter ihrer Leitung war das Unternehmen dann an NS-Verbrechen beteiligt, insbesondere an ›Arisierungen‹. Die von den Nazis so bezeichneten Verbrechen umfassten nicht nur die Verdrängung von Jüdinnen und Juden aus ihren Unternehmen, Berufen und Wohnungen, sondern auch den systematischen Raub jüdischen Eigentums in ganz Europa.
K+N war an diesem Raub insbesondere in Frankreich, Belgien und den Niederlanden in beträchtlichem Ausmaß beteiligt. Das Unternehmen transportierte im Rahmen der sogenannten ›M‑Aktion‹ der ›Dienststelle Westen‹ Raubgut (vor allem Möbel) aus den Wohnungen deportierter oder geflohener Jüdinnen und Juden nach Deutschland. In diesem wahrscheinlich größten Raubzug der jüngeren Geschichte wurden zwischen 1942 bis 1944 etwa 70.000 Wohnungen geplündert, davon wohl etwa die Hälfte mit Hilfe von K+N. In Deutschland wurden die Möbel günstig an ›Volksgenossen‹ weiterverkauft oder versteigert. »Zwischen 1941 und 1945 verging in Hamburg kaum ein Tag, an dem nicht Besitz von Juden öffentlich versteigert wurde«, schrieben Linde Apel und Frank Bajohr 2004.
So profitierten unzählige ›ganz normale Deutsche‹ von den systematischen Plünderungen, die ihnen günstig Hausrat verschafften. Ganz besonders profitierten aber der NS-Staat, der mit den Erlösen zur Finanzierung von Krieg und Judenvernichtung beitrug, und das Unternehmen K+N, das für seine Dienstleistungen gut bezahlt wurde. K+N verdiente somit unmittelbar an der Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden.2Auch an der erzwungenen Flucht selbst verdiente K+N als Transportdienstleister für das Hab und Gut der Ausreisenden. Davon zeugt u.a. ein Plakat von 1935 im Bestand des Deutschen Historischen Museums.
Wie der Historiker Johannes Beermann-Schön betont, waren die deutschen Logistikunternehmen, unter denen K+N sich während des NS eine Quasi-Monopolstellung erkämpfte, dabei nicht bloße Handlanger, sondern willige Vollstrecker. Ihr Vorgehen sorgte für eine Verschärfung und Beschleunigung der Entrechtung und der Ausplünderung Deportierter, urteilte er in einem 2020 erschienenen Beitrag.3Vgl. Johannes Beermann-Schön: Taking Advantage: German Freight Forwarders and Property Theft, 1933–1945, in: Christoph Kreutzmüller, Jonathan R. Zatlin (Hg.): Dispossession. Plundering German Jewry, 1933–1953, Ann Arbor/Michigan 2020, 127–147, 142. Ein solches Engagement wurde vom NS-Staat nicht nur gut bezahlt, sondern auch symbolisch honoriert: K+N erhielt 1937 und von 1939 bis zum Kriegsende ein »Gaudiplom« als »Nationalsozialistischer Musterbetrieb«.
Entrechtet, enteignet, ermordet: Adolf und Käthe Maass
Dass Alfred und Werner Kühne deutlich mehr waren als opportunistische Profiteure, zeigt nicht nur ihre Kollaboration mit dem NS-Staat im Rahmen der ›M‑Aktion‹. Ihr Vater, der Unternehmensgründer August Kühne, hatte 1902 seinen vormaligen Lehrling Adolf Maass mit dem Aufbau einer Hamburger Niederlassung betraut und ihn aufgrund seines großen Erfolgs bei dieser Aufgabe schon 1910 zum Teilhaber des Unternehmens gemacht. Ab 1928 hielt Maass 45 Prozent der Anteile am Hamburger Zweig von K+N. Nach August Kühnes Tod und der Übernahme des Geschäfts durch seine Söhne war für den jüdischen Teilhaber aber kein Platz mehr bei K+N. Im April 1933 wurde er von den Kühne-Brüdern mittels eines Knebelvertrags aus dem Unternehmen gedrängt. Wenige Tage nach dieser ›Arisierung‹, am 1. Mai 1933, traten Alfred und Werner Kühne in die NSDAP ein.
Der vormalige Teilhaber Maass blieb in Deutschland und wurde Gesellschafter eines Importunternehmens. Doch die sich verschärfende antisemitische Gesetzgebung drängte ihn auch hier aus dem Unternehmen und raubte ihm zudem einen beträchtlichen Teil seines Vermögens. Nachdem Maass im Gefolge der Pogromnacht vom 9. November 1938 für mehrere Wochen im KZ Sachsenhausen interniert worden war, planten er und seine Frau Käthe die Emigration. Doch der Beginn des Kriegs vereitelte diese Pläne. 1942 wurden Adolf und Käthe Maass nach Theresienstadt deportiert. Von dort wurden sie 1944 nach Auschwitz verbracht, wo sie vermutlich Anfang 1945 ermordet wurden. In der Blumenstraße in Hamburg-Winterhude, in der die beiden wohnten, bis sie ihr Haus 1941 weit unter Wert verkaufen mussten, erinnern seit 2006 zwei Stolpersteine an sie. In der Hamburger Öffentlichkeit sind ihre Namen jedoch weitgehend vergessen.
Der ›wundersame‹ Wiederaufstieg von Kühne + Nagel
Alles andere als vergessen ist hingegen der Name Kühne: Dass er gerade in Hamburg so präsent ist, verdankt sich vor allem dem öffentlichen Auftreten des Multimilliardärs und heutigen K+N‑Eigentümers Klaus-Michael Kühne, dem Sohn und Alleinerben Alfred Kühnes. Kühne, geboren 1937 in Hamburg, ist der Zeitschrift Forbes zufolge die zweitreichste Einzelperson in Deutschland und verfügt über ein Vermögen von geschätzten 32 Milliarden Dollar.
K+N, an dem Kühne die Mehrheit der Anteile hält, ist einer der zehn umsatzstärksten Logistikkonzerne der Welt. Über die Kühne Holding AG hält Kühne außerdem große Anteile an Transportunternehmen wie Lufthansa und Hapag-Lloyd sowie an Immobilienprojekten wie dem in Hamburg im Bau befindlichen Elbtower. Als Sponsor der Elbphilharmonie, der Staatsoper und des Harbourfront Literaturfestivals, als langjähriger Großinvestor des HSV und als Gründer der privaten Kühne Logistics University (KLU) hat er immensen Einfluss auf die Hamburger Politik und Gesellschaft. Seit 2010 verleiht außerdem der von Kühne gestiftete und, gewohnt unbescheiden, nach ihm selbst benannte Literaturpreis für das beste deutschsprachige Romandebüt seinem Namen Glanz.
Doch wie kam Kühne zu derartigem Vermögen, Einfluss und Ansehen? Um dieser Frage nachzugehen, muss man die Nachkriegsgeschichte der BRD in den Blick nehmen. Klaus-Michael Kühnes Vater Alfred Kühne galt nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als belastet, wurde dann allerdings unter fragwürdigen Bedingungen entnazifiziert. Grund dafür war offenbar, dass sein weitverzweigtes Unternehmen als Tarnfirma eine Rolle bei der Etablierung des BND spielen sollte. Durch diese Entlastung konnte Alfred Kühne an seine Tätigkeit als Logistikunternehmer während des Nationalsozialismus nahezu nahtlos anknüpfen. Durch die NS-Geschäfte hatte Kühne nicht nur ein beträchtliches Vermögen erwirtschaftet, sondern war auch europaweit vernetzt. Diesen Wettbewerbsvorteil konnte das Unternehmen sich zunutze machen, und so wuchs es rasant.
Anders als es der etwa von der FAZ bis heute fortgeschriebene Mythos will, bildeten nicht »Fleiß, Fortune und eisenharte Disziplin« der Kühnes die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg von K+N, sondern zuallererst der durch die Beteiligung an den NS-Verbrechen erworbene Akkumulationsvorsprung. »Das Unternehmen verdankt seinem Engagement in der NS-Zeit wesentliche, bis heute relevante Entwicklungsimpulse«, resümiert Henning Bleyl. Der Wiederaufstieg von K+N ist genauso wenig ›wundersam‹ wie das bundesrepublikanische ›Wirtschaftswunder‹, dessen Grundlagen ebenfalls in einer im Krieg u.a. durch Zwangsarbeit und ›Arisierung‹ expandierten und nur zu geringen Teilen zerstörten Industrie lagen. Angesichts dieser Parallele ist es auch nicht verwunderlich, dass Alfred Kühne in der Bundesrepublik hohe gesellschaftliche Anerkennung zuteil wurde: Er erhielt das Bremische Hanseatenkreuz, wurde 1955 zum Honorarkonsul der Republik Chile in Bremen ernannt und erhielt 1960 das Große Bundesverdienstkreuz für seine »Verdienste um den Wiederaufbau«.
Sein Sohn Klaus-Michael Kühne übernahm vom Vater im Alter von 29 Jahren die Führung des Unternehmens. Unter seiner Leitung entwickelte sich K+N zu einem der weltweit größten Logistikunternehmen der Welt – im Bereich Seefracht ist es heute sogar Weltmarktführer.4In den letzten Jahren profitierte K+N zudem von den staatlichen Aufträgen für den Impfstofftransport sowie von den durch die Lieferkettenprobleme hervorgerufenen enormen Preissteigerungen für Frachttransporte. K+N gehört damit zu den größten Krisengewinnlern der letzten Jahre.
Und wie sein Vater erhält auch Klaus-Michael Kühne für diese Erfolge staatliche Ehrungen – insbesondere in seinen beiden ›Heimatstädten‹ Bremen und Hamburg: Im Rahmen der bereits erwähnten 125-Jahr-Feiern im Jahr 2015 machten die damaligen Ersten Bürgermeister der beiden Hansestädte, Jens Böhrnsen und Olaf Scholz, dem Unternehmen und seinem Patriarchen die Aufwartung. Die Stadt Hamburg hat Kühne eine Ehrenprofessur verliehen und ihm ihr Goldenes Buch vorgelegt. Die BILD berichtete 2017 gar von Bestrebungen, Kühne zum Hamburger Ehrenbürger zu machen. Alfred und Klaus-Michael Kühne verlegten den Firmensitz 1969 zwar in die Schweiz, um den unter der sozialliberalen Regierung erlassenen Mitbestimmungsgesetzen zu entgehen, doch Bremen und Hamburg sind als Deutschland- bzw. Europazentrale des Konzerns nach wie vor von großer Bedeutung.
Verweigerte und sabotierte Aufarbeitung
»Wir sind eine sehr offene Firma. Wir stellen uns dar, wir wollen nichts verstecken«, zitiert der Weserkurier den Bremer Niederlassungsleiter anlässlich der Eröffnung der neuen Deutschlandzentrale im Jahr 2020. Schließlich böten die großen Fenster den Passant:innen einen transparenten Einblick – in die Firmenkantine. Ein anderes Bild bietet der Geschäftssitz von K+N in der Schweiz. Dessen Fassade besteht rundum aus verspiegeltem Glas – und kann damit sinnbildlich für das Verhältnis des Unternehmens zur Aufarbeitung seiner Geschichte stehen. Klaus-Michael Kühne weigert sich nämlich beharrlich, die Geschichte des Unternehmens aufzuarbeiten und von Historiker:innen untersuchen zu lassen.
Transparenz à la Klaus-Michael Kühne: Die Zentrale von K+N am Zürichsee. Foto: Roland zh, Wikipedia.
Erst 2015, als Reaktion auf den durch Recherchen der taz und des Bayerischen Rundfunks erzeugten öffentlichen Druck, äußerte sich das Unternehmen erstmals zu seiner NS-Geschichte: In einer Presseerklärung bekundete K+N sein Bedauern, »seine Tätigkeit zum Teil im Auftrag des Nazi-Regimes ausgeübt« zu haben, attestierte sich selbst aber großzügig mildernde Umstände und rühmte sich, »in dunklen und schwierigen Zeiten seine Existenz behaupte[t]« und »die Kriegswirren unter Aufbietung aller seiner Kräfte überstanden« zu haben. Einen ähnlichen Ton schlägt eine firmeninterne Jubiläumsschrift an, aus der bislang nur einzelne Zitate an die Öffentlichkeit gelangt sind. Über das Ausscheiden Adolf Maass’ im Jahr 1933 heißt es darin etwa: »Herr Maass hat von sich aus in freundschaftlicher Abstimmung mit uns die Konsequenzen getragen, indem er bei uns ausschied.«
Dass diese Aussagen mit der Wirklichkeit wenig gemein haben, ist offensichtlich: Nichts spricht dafür, dass Maass das Unternehmen nach mehr als dreißig Jahren ›freiwillig‹ und ohne Abfindung verlassen habe. Um die Details des Vorgangs in Erfahrung zu bringen, bräuchte es jedoch den Zugang zum Unternehmensarchiv – und der wurde bisher niemandem gewährt. Klaus-Michael Kühne behauptet, dieses Archiv sei im Krieg zerstört worden – dabei konnte Henning Bleyl für die taz nachweisen, dass die Unterlagen aus Bremen und Hamburg wohl rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden waren. Das Verzeichnis »Deutsche Wirtschaftsarchive« jedenfalls weist ein Firmenarchiv von K+N in der Stadt Konstanz aus: mit Beständen ab 1902 und der Inhaltsangabe »Urkunden, Akten, Protokolle, Geschäftsberichte, Druckschriften, Fotos etc. Benutzung nur mit Genehmigung der Geschäftsleitung«.
»Milliardär mit eisenharter Disziplin«
Kühne ficht das nicht an. Er bleibt bei seiner unglaubwürdigen Behauptung und geriert sich als Opfer einer Kampagne: Er habe kein Verständnis dafür, dass die NS-Vergangenheit des Unternehmens »immer wieder hochgekocht wird«, sagte er 2019 gegenüber radio bremen. Während andere deutsche Unternehmen zumindest in den letzten Jahren, da die Täter:innen längst unbescholten gestorben sind, Historiker:innen mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte beauftragt haben, verhindert Kühne dies beharrlich. Kein Wunder ist es daher, dass er sich massiv dagegen wehrte, als die Initiative um Henning Bleyl die Forderung erhob, das ›Arisierungs‹-Mahnmal direkt vor der Firmenzentrale aufzustellen. Auch jetzt, wo es ein wenig abseits entsteht, beteiligen sich weder K+N noch ein anderes der in den NS verstrickten Bremer Transportunternehmen an den Kosten des Mahnmals.
Kühne macht keinen Hehl daraus, dass er zur Unternehmens- und Familiengeschichte keinerlei Distanz einnimmt. Häufig betont er die starke Prägung durch seinen Vater; im Firmensitz hängt das Porträt Alfred Kühnes autoritativ über der Tür des Besprechungszimmers.5Christian Rickens: Ganz oben. Wie Deutschlands Millionäre wirklich leben. Köln 2011, S. 177 Dass auch Kühnes Geisteshaltung mehr Kontinuitäten als Brüche mit der seines Vaters aufweist, legt eine Äußerung von ihm im Jahr 2008 nahe. Mit Bezug auf seine Ablehnung einer Übernahme der Reederei Hapag-Lloyd durch ausländische Unternehmen bekundete er damals: »Wir wollen uns möglichst reinrassig deutsch halten.«
Gleichzeitig inszeniert sich Klaus-Michael Kühne als kunstsinniger Mäzen, visionärer Gestalter und sachkundiger Politikberater. In den Medien wird er als »Milliardär mit eisenharter Disziplin« (FAZ) bzw. »Milliardär, der Gedichte schreibt – und nicht aufhören kann zu arbeiten« (SPIEGEL), hofiert. In Interviews und Homestories darf sich Kühne über den ›sehr großen Sozialneid‹ in Deutschland beklagen (NZZ), seine Ablehnung der Übergewinnsteuer bekunden oder seine Pläne für ein neues Opernhauses für Hamburg ausbreiten. Kritische Nachfragen zur NS-Geschichte von K+N bleiben aus.
Klaus-Michael Kühne ›bringt Opfer‹ (FAZ) und er ›verlangt Opfer‹ (Abendblatt). Foto: Monster4711, Wikipedia.
Auch in Hamburg: NS-Verbrechen erinnern!
Kühne ist kein Einzelfall. Zahlreiche Unternehmen in Hamburg und darüber hinaus machten ihr Vermögen im Nationalsozialismus.6Vgl. dazu etwa Frank Bajohrs Studie ›Arisierung‹ in Hamburgund Felix Matheis‹ Beitrag ›Arisieren‹ und Ausbeuten bei Untiefen. Aber Kühne ist ein Extremfall insofern, als er nicht nur dank diesem Vermögen heute einer der reichsten Menschen der Welt ist, sondern zudem jegliche Aufarbeitung der Geschichte verhindert und seinen Namen durch Mäzenatentum und Kultursponsoring weißwäscht.
Das ist nun kein Geheimnis. Vor allem Henning Bleyl recherchierte und publizierte seit 2015 eingehend zu dem Thema; hinzu kommen Recherchen von Historikern wie Wolfgang Dreßen, Götz Aly, Frank Bajohr und Johannes Beermann-Schön. Und auch viele Medien berichteten in den letzten Jahren über die NS-Verstrickungen von K+N – sogar in der Hamburger Morgenpost und im HSV-Fanmagazin Bahrenfelder Anzeiger konnte man schon darüber lesen. In Hamburg hat diese Berichterstattung jedoch offenbar kaum Konsequenzen.
Das muss sich ändern. Die NS-Geschichte der Hamburger Handels- und Transportunternehmen muss in den Blick der erinnerungspolitischen Arbeit geraten. Am Beispiel Kühne offenbart sich ein Skandal, der sich mit dem Selbstbild des ›wiedergutgewordenen‹ Deutschland nicht verträgt und doch konstitutiv für dieses Land ist: Die aktive Beteiligung an NS-Verbrechen zahlt sich für deutsche Unternehmen bis zum heutigen Tag aus. Eine kritische Stadtöffentlichkeit sollte es als ihre Aufgabe begreifen, diesen Skandal ins öffentliche Bewusstsein zu rufen. Und sie sollte derer gedenken, die – wie Adolf und Käthe Maass – diesen Verbrechen zum Opfer fielen. Ein Mahnmal wie in Bremen wäre ein erster Schritt.
Lukas Betzler
Der Autor schrieb für Untiefen bereits über das Holstenareal und das Stadtmagazin SZENE Hamburg. Eine Umfrage in seinem Freundeskreis hat ergeben, dass eine Mehrheit Klaus-Michael Kühne bislang für den Chef des gleichnamigen Hamburger Senf- und Essigherstellers hielt.
1
Alle seit 2015 von Bleyl und anderen Autor:innen in der taz erschienenen Beiträge sind in einem umfassenden Dossier versammelt, das einen hervorragenden Überblick über die Causa Kühne + Nagel verschafft.
2
Auch an der erzwungenen Flucht selbst verdiente K+N als Transportdienstleister für das Hab und Gut der Ausreisenden. Davon zeugt u.a. ein Plakat von 1935 im Bestand des Deutschen Historischen Museums.
3
Vgl. Johannes Beermann-Schön: Taking Advantage: German Freight Forwarders and Property Theft, 1933–1945, in: Christoph Kreutzmüller, Jonathan R. Zatlin (Hg.): Dispossession. Plundering German Jewry, 1933–1953, Ann Arbor/Michigan 2020, 127–147, 142.
4
In den letzten Jahren profitierte K+N zudem von den staatlichen Aufträgen für den Impfstofftransport sowie von den durch die Lieferkettenprobleme hervorgerufenen enormen Preissteigerungen für Frachttransporte. K+N gehört damit zu den größten Krisengewinnlern der letzten Jahre.
5
Christian Rickens: Ganz oben. Wie Deutschlands Millionäre wirklich leben. Köln 2011, S. 177
Am 22. August jährt sich das neonazistische Attentat in der Hamburger Halskestraße zum 42. Mal. Eine angemessene Gelegenheit, seiner Opfer zu gedenken und sich die widersprüchliche gesellschaftliche Auseinandersetzung um diesen wohl ersten rassistischen Mordanschlag in der Bundesrepublik in Erinnerung zu rufen.
Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu. Foto: Initiative zum Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân.
In der Nacht des 22. August 1980 schlichen sich drei Gestalten an das Gebäude Halskestraße 72 heran, die ein abgelegenes Gewerbegebiet im Stadtteil Billbrook im Südosten Hamburgs durchzieht. Es handelte sich um Angehörige der selbsternannten »Deutschen Aktionsgruppen«. Sie schmierten die Parole »Ausländer raus!« an die Wand und schleuderten brennende Molotow-Cocktails durch eine Scheibe im Erdgeschoss. Hinter dem Fenster schliefen Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân. Sie waren kurz zuvor als sogenannte »boat people« aus Vietnam geflohen und gemeinsam mit weiteren Geflüchteten in dem Wohnheim untergekommen. Die Brandsätze explodierten und setzten das kleine Zimmer sofort in Flammen. Nguyễn Ngọc Châu starb wenige Stunden später. Đỗ Anh Lân erlag neun Tage darauf seinen schweren Verletzungen in einem Hamburger Krankenhaus.
Der brutale Anschlag war ein rechtsextremer Terrorakt. Er gilt heute als erster dokumentierter rassistischer Mord in der Geschichte der Bundesrepublik und stellt den Beginn einer ganzen Reihe ähnlicher Mordtaten Rechtsextremer während der achtziger Jahre dar. Allein die »Deutschen Aktionsgruppen« hatten in den Wochen und Monaten zuvor zahlreiche rassistische und antisemitische Anschläge verübt. Im April 1980 explodierte eine Bombe vor der Janusz-Korczak-Schule, der NS-Gedenkstätte »Bullenhuser Damm«, in Rothenburgsort unweit der Halskestraße. Es folgten Attacken auf Geflüchtetenwohnheime in Bayern und Baden-Württemberg sowie auf eine weitere NS-Ausstellung. Die Terrorbande war bei weitem nicht die einzige militante Neonazi-Gruppe dieser Zeit. Beim Oktoberfestattentat vom 26. September 1980 tötete ein junger Rechtsextremer mit Verbindungen zur »Wehrsportgruppe Hoffmann« zwölf Menschen und sich selbst. Der Terroranschlag stellt das herausragendste Ereignis dieser bislang kaum erforschten bundesdeutschen Gewaltgeschichte dar.
Dabei war es keineswegs so, dass die zeitgenössische Öffentlichkeit das Thema ignorierte, wie sich anhand einer kleinen historischen Probebohrung in Hamburg zeigen lässt. Die Auseinandersetzungen um rechte Gewalt intensivierten sich im Laufe der achtziger Jahre. Sie deuten exemplarisch auf die rassistische Stimmung in der Bundesrepublik hin, die zu dieser Zeit eine Konjunktur erlebte. Die öffentlichen Reaktionen sowohl im bürgerlichen wie im linken Spektrum blieben indes widersprüchlich und drehten sich um eigene Befindlichkeiten.
Die egozentrische Empörung der Mehrheitsgesellschaft
Die hamburgische, aber auch die bundesdeutsche Öffentlichkeit nahm den Anschlag in der Halskestraße aufmerksam zur Kenntnis. Das öffentliche Interesse in Hamburg lässt sich exemplarisch an der Berichterstattung des Hamburger Abendblatts nachvollziehen. Die bürgerlich-konservative Publikation widmete dem Angriff und seinem Kontext im August und September 1980 rund ein Dutzend Artikel. Auch führende Vertreter der hansestädtischen Politik nahmen öffentlich Anteil.
So dokumentierte das Hamburger Abendblatt die Trauerfeier für Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân auf dem Öjendorfer Friedhof, wo die beiden am 4. September 1980 bestattet wurden, sowie eine Rede, die der Erste Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) bei der Zeremonie hielt. Demnach wohnten immerhin 400 Personen der Veranstaltung bei, was ebenfalls auf die große Anteilnahme hinweist. Die Darstellung der Zeitung offenbart dabei eindrücklich die disparaten Sichtweisen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Sie bewegten sich zwischen Empörung über die Gewalttat und kulturalistischen Differenzkonstruktionen.
Der Reporter bemühte sich sehr, die vermeintliche gegenseitige Fremdheit der Anwesenden unmissverständlich herauszustellen: »Der bedrückende Anlaß der Trauerfeier sollte gestern zugleich ein Zeichen der Hoffnung setzen, sollte eine Brücke des Verständnisses schlagen helfen. Doch eher staunend und verständnislos als Seite an Seite mit den Vietnamesen standen die Einheimischen unter den 400 Trauergästen.« Die beiden Opfer seien ebenso wie die anschließende Grabesprozession »fremd und fremdländisch« geblieben. »Verstehen konnte der eine die anderen nicht«, so der Autor über die Gruppe von »Menschen aus zwei Kulturkreisen«, zumal die Zeremonie »die Hamburger […] mit der völlig fremden Kultur jener Menschen konfrontierte, die als Opfer der Politik plötzlich zu Nachbarn und dann doch wieder zu Opfern geworden sind«. Bloß die »Abscheu vor dem Verbrechen« habe die Gäste verbunden.
Die Perspektiven der Betroffenen blieben eine Randnotiz. Nur knapp zitierte der Autor eine nicht namentlich genannte Vietnamesin: »Wir fragen die Mörder, was sie wohl empfinden mögen«. Das war zugleich der einzige Hinweis auf die Täter und ihre hier ungenannt bleibende rassistische Motivation. Zwar benannte der Teaser des Artikels die Tat als »Terroranschlag«, doch die Überbetonung der angeblichen Differenz zwischen »Einheimischen« und den Opfern beziehungsweise der Gruppe, der sie angehörten, konterkariert selbst den Versuch, »eine Brücke schlagen« zu wollen. Die Befindlichkeiten eines mehrheitsdeutschen Blicks stellte das Abendblatt in den Vordergrund, echte Solidarität und Mitgefühl mit den »Nachbarn« ließen sich so nicht ausdrücken.
Der Ort des neonazistischen Terrors – die Halskestraße 72 im Jahr 2022. Foto: privat.
Dem Bürgermeister gelang es in seiner Ansprache hingegen besser, empathische Anteilnahme angesichts des »brutalen, heimtückischen Anschlags« zum Ausdruck zu bringen. Dennoch zeigen seine Äußerungen ebenfalls einen bemerkenswert deutsch-zentrierten Fokus. So bemühte Klose den Mythos von Hamburg als liberaler und weltoffener Stadt, der eine wichtige Rolle im beschönigenden historischen Selbstbild der seehandelsorientierten Kaufmannsmetropole spielt: »Ich bin zutiefst betroffen, daß eine solche Tat in unserem Land geschehen konnte, in einer Stadt, die in ihrer Geschichte Zeichen gesetzt hat für freiheitlichen Geist und Toleranz. Mit dieser Tat ist ein anderes Zeichen gesetzt worden, geprägt von Haß und Feindseligkeit« Für ihn konnte es offenbar kaum sein, dass ausgerechnet in der Hansestadt ein – von ihm nicht als solcher bezeichneter – rassistischer Terrorakt passieren konnte. Er betonte, die Tat sei in verschiedener Hinsicht eine »Mahnung«, Geflüchtete zu unterstützen und »Kräften der Intoleranz und des Hasses gegen Minderheiten« entgegenzutreten.
Rechter Terror als Problem einer wiedergutgewordenen Nation
Auch in Kloses Rede wird deutlich, wer die Adressat:innen der Rede waren: Angehörige des deutschen Mehrheitskollektivs. Die Opfer des Brandanschlags beziehungsweise »Minderheiten« blieben objektifizierte »Andere«, denen gegenüber sich die Deutschen als vorbildlich-demokratisch, anständig und hilfsbereit zu zeigen hätten. Denn jene »Mahnung«, die der Bürgermeister aussprach, galt besonders angesichts der Geschichte des Nationalsozialismus, von der Klose fürchtete, dass sie »uns«, das heißt das deutsche nationale Kollektiv, »einholt«. Die Rede präsentierte hier den Topos von der »deutschen historischen Verantwortung«, die im heutigen bundesrepublikanischen Diskurs zentral ist. »Gerade wir sollten wach und hellhörig sein und bleiben, wenn irgendwo bei uns Mißtrauen und Feindseligkeit gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, Sprache und Kultur aufkeimen … Vergessen wir nie: Wir haben eine Schuld abzutragen – all jenen Menschen gegenüber, die in deutschem Namen verfolgt, gedemütigt, getötet wurden. … Wir – gerade wir, sind zur Hilfe aufgerufen.«
Die Rede Kloses deutet darauf hin, dass 1980 die sogenannte Vergangenheitsbewältigung im bundesdeutschen Diskurs bereits etabliert war. Im Vorjahr hatten die Sender der ARD die US-amerikanische Serie »Holocaust« ausgestrahlt. Sie hatte viele Zuschauer:innen gefunden und gab der (west-)deutschen Gesellschaft einen starken Anschub, sich gründlicher mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu befassen. Diese wurde zunehmend in die nationale Basiserzählung des nunmehr demokratischen Westdeutschland integriert. Rassistisch oder antisemitisch motivierte Gewalttaten von Neonazis konnte man vor diesem Hintergrund nicht einfach ignorieren. Rhetorische Gegenreaktionen wie Kloses Rede kreisten jedoch vor allem um die Konstruktion einer geläuterten Nation, deren moralische Wiedergutwerdung angesichts rechtsextremen Terrors infrage gestellt schien.
Das »refugees welcome« der Konservativen…
Die Auseinandersetzung mit dem Doppelmord in der Halskestraße muss auch vor dem Hintergrund der Diskussion um vietnamesische »boat people« gesehen werden, die um 1980 in Deutschland geführt wurde. In der Tat gab es seit 1979 in Westdeutschland eine Welle der Sympathie für Menschen, die teilweise auf Booten aus dem inzwischen vollständig »kommunistisch« regierten Vietnam flohen. Die Bundesrepublik nahm zahlreiche von ihnen auf, wobei die Unterstützung wesentlich aus dem bürgerlichen und konservativen Spektrum kam. Die Vietnames:innen flohen vor dem Kommunismus. Im Sinne der modernisierten Basiserzählung galten sie einigen überdies als »Juden Asiens«, für die Deutsche besonders verantwortlich seien.
Denkmal für die »boat people« auf dem Öjendorfer Friedhof. Foto: privat.
Die konservative Warmherzigkeit für »boat people« kühlte sich in den Folgejahren deutlich ab und war ein Aspekt einer intensiven und rassistisch aufgeladenen Debatte um Migration und Asyl. Diese unterschied nicht bloß zwischen »Gastarbeitern« und »Asylanten«, sondern bereits auch zwischen vermeintlich legitimer politischer Flucht einerseits, und sogenannten »Wirtschaftsasylanten« andererseits. Neben Vietnames:innen erreichten zu dieser Zeit zahlreiche Menschen Deutschland, die vor den Regimen in Polen und der Türkei flohen, aber auch Flüchtende etwa aus afrikanischen Ländern. Die angebliche »Asylflut« und das generelle »Ausländerproblem« waren nicht nur Rechtsterrorist:innen wie den »Deutschen Aktionsgruppen« ein Dorn im Auge. Dass die Täter:innen die Adresse in der Halskestraße einem Bericht des Hamburger Abendblatts entnommen haben sollen, verweist auf die Doppelrolle vieler Medien, die einerseits kritisch über Rechtsextreme berichteten und andererseits die migrationsfeindliche Stimmung mit anheizten.
…und die Leerstellen des linken Antifaschismus
Die Tatsache, dass es sich bei der Hilfe für »boat people« um ein gleichsam antikommunistisches Projekt handelte, führte dazu, dass viele bundesdeutsche Linke keineswegs eine empathische Haltung gegenüber den zuziehenden Vietnames:innen einnahmen. Zwar nicht alle, doch einige Linksradikale leugneten in diffamierender Weise, dass sie der Solidarität würdig seien: »Viele der Boat-People sind Schwarzhändler, Zuhälter und US-Kollaborateure, die sich gegen Geld Tickets für den Weg zu neuen Ufern kaufen«, war etwa 1981 in konkret zu lesen. Fliehende Vietnames:innen passten kaum in die »antiimperialistische» Schablone zeitgenössischer Linker, die noch wenige Jahre zuvor für eine Niederlage der USA im Vietnamkrieg gefiebert hatten.
Das mag ein Grund dafür sein, dass die hier zugrundeliegenden Recherchen in linken Bewegungsarchiven Hamburgs kaum Material zum Brandanschlag hervorbrachten, obwohl Gruppierungen wie der in der Hansestadt gegründete »Kommunistische Bund« sich bereits seit den siebziger Jahren intensiv mit lokalen Neonazis befassten. Überhaupt war die vermeintlich drohende »Faschisierung der BRD« zentral für die Gesellschaftskritik der Neuen Linken. Die Frage, ob weitere Untersuchungen das Bild korrigieren oder ob die Quellenlage dem linken Desinteresse an vietnamesischen Opfern entspricht, muss noch offenbleiben. Prinzipiell wurden Rechtsextremismus und Rassismus (zeitgenössisch meist »Ausländerfeindlichkeit« genannt) seit 1980 auch in Hamburg immer stärker zum Thema linker Mobilisierungen, zumal die Stadt Tatort weiterer rechtsextremer Morde werden sollte. Auch selbstbewusste migrantische Organisierung spielte in den Kämpfen um Rassismus und Migration eine zunehmende Rolle.
Die Behörden zerschlugen die »Deutschen Aktionsgruppen« im September 1980. Sie fassten die Täter:innen der Brandattacke, zwei Männer und eine Frau, und verurteilten sie in Stuttgart-Stammheim zu Gefängnisstrafen. Trotz der zeitgenössischen Aufmerksamkeit für den Hamburger Terroranschlag, schien er für Jahrzehnte vergessen und erhält erst seit einigen Jahren wieder Aufmerksamkeit. Es ist ein Fortschritt, dass Überlebende und Zeitzeugen 2014 in Hamburg eine Initiative zum Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân gründeten. Sie richtet regelmäßige Gedenkveranstaltungen zu den Jahrestagen des Anschlags aus – in diesem Jahr am 21. August – und fordert, die Halskestraße nach den beiden Getöteten umzubenennen. Die Geschichte rechtsextremer Gewalttaten in der Bundesrepublik steht noch am Anfang ihrer Erforschung und sollte auch von der antifaschistischen Linken stärker betrieben werden. Es begann nicht erst 1990 in Ostdeutschland: Hamburg hat zahlreiche traurige Beispiele zu bieten.
Felix Matheis, August 2022.
Der Autor ist Historiker in Hamburg und arbeitet derzeit zu Antisemitismus und Rassismus in der Bundesrepublik, historisch und aktuell. Auf Untiefen schrieb er bereits über die schuldhafte Rolle Hamburger Kaufleute im Nationalsozialismus.
Vor gut zwei Wochen begann die Invasion der russischen Armee in die Ukraine. Die Sach- und Informationslage ist unübersichtlich und verändert sich ständig, doch jeder Tag bringt neue Schreckensmeldungen. Millionen Menschen fliehen nach Westen. Wie reagiert Hamburgs Linke?
Die aktuelle konkret, erschienen am Tag des russischen Überfalls auf die Ukraine, Screenshot: www.konkret-magazin.de
»Go East!«, prangt groß auf dem Titel der Märzausgabe von konkret, darunter: »Die Nato-Aggression gegen Russland«. Ausgeliefert wurde das Heft am selben Tag, an dem Russland seinen Einmarsch in die Ukraine begann. Auf Facebook und der konkret-Website veröffentlichte die Redaktion sogleich eine kurze Stellungnahme, die den Eiertanz zu vollführen versucht, zähneknirschend die Unangemessenheit dieses Titels einzugestehen und sich trotzdem nicht vom Inhalt zu distanzieren. »So war das mit dem Kreml nicht abgesprochen« gewesen, verlautbart man beschämt-ironisch, um dann die eigene Fehlanalyse – denn wie sicher musste man sich sein, dass Putin keinen Krieg beginnt, um so einen Titel zu veröffentlichen?! – als kritische Äquidistanz darzustellen: konkret hege weder Verständnis für den Angriffskrieg und »Moskaus machtpolitische Ambitionen« noch sei man bereit, ein »Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Weltordnung des Westens« abzulegen. Am 7. März veröffentlichte konkret dann noch eine Podcastfolge, die wegen des Kriegs, mit dem man nicht gerechnet hatte, neu aufgenommen wurde (»um uns nicht komplett zu blamieren«). Darin versuchen die Herausgeberin Friederike Gremliza und der auf die strategisch-geopolitische Vogelperspektive spezialisierte Autor Jörg Kronauer, der in konkret lange das »Erfolgsmodell Putin« pries, zu erläutern, warum sie nun derart falsch lagen. Kronauers kleinlaut-uneinsichtige Erklärung: Der Überfall auf die Ukraine sei ein ihm noch unerklärlicher vollständiger Bruch mit der zuvor »völlig rational kalkulierten« und im Vergleich zur westlichen Politik »viel enger am Völkerrecht« orientierten russischen Außenpolitik. Keine Rede davon, dass sich spätestens im Lichte des jetzigen Kriegs auch derlei apologetische Haltungen gegenüber der putinistischen Außenpolitik der letzten Jahre blamieren.
Die alte Friedensbewegung in der Krise
Das Hamburger Magazin befindet sich mit dieser Einschätzung in fragwürdiger Gesellschaft. Die Nachricht von der russischen Invasion fuhr insbesondere der traditionell antiimperialistischen und oftmals antiamerikanischen Friedensbewegung massiv in die Parade. Die Hamburger DKP etwa hatte einen Krieg im Gegensatz zu konkret zwar offenbar für realistisch gehalten, dabei aber in völliger Verkennung der Fakten die russische Kriegspropaganda reproduziert. In der Mitte Februar erschienenen Ausgabe 1/2022 der Zeitung des Landesverbands, Hamburger Utsichten, verkündet der Landesvorsitzende Michael Götze: »Es ist unglaublich, wie ein Krieg um die Ukraine geradezu herbeigeredet und ‑geschrieben wird. Tausende ukrainische Soldaten marschierten zuerst an die in Minsk vereinbarte Grenze zu den Provinzen Donezk und Lugansk. Die Ukraine wird von den Nato-Staaten mit Waffen vollgepumpt. Aber der Russe ist schuld. Man wartet geradezu auf die Meldung; ›Seit 5 Uhr früh wird zurückgeschossen.‹ « Vom unsäglichen NS-Vergleich ganz abgesehen: Ein Eingeständnis, dass man mit dieser Warnung vor einer Nato-Invasion in Russland völlig falsch lag, sucht man auf der Hamburger DKP-Seite vergeblich. Stattdessen findet sich dort eine Erklärung des Parteivorstands, die den von Russland seit 2014 unterstützten Bürgerkrieg in der Ostukraine als einen vom »nationalistische[n] Regime der Ukraine« geführten »achtjährige[n] Krieg gegen den Donbass« bezeichnet.
Noch eklatanter war die Fehleinschätzung der Volksinitiative gegen Rüstungsexporte. Am 21. Februar, drei Tage vor der russischen Invasion, veröffentlichte sie einen Aufruf zu einer »Friedenskundgebung« am 26. Februar mit dem Motto »Keine Waffenexporte in die Ukraine«. In dem Aufruf heißt es: »Das Säbelrasseln, die Feindbildpropaganda und Panikmache um einen vermeintlichen Einmarsch Russlands in die Ukraine müssen aufhören. Jetzt müssen Dialog und die ernsthafte Diskussion über Sicherheitsgarantien für alle Seiten auf der Tagesordnung stehen. Mit dem Abzug der Manövertruppen aus der Grenznähe zur Ukraine hat die russische Regierung erneut die Hand dazu ausgestreckt.« Geteilt wurde dieser Aufruf unter anderem vom Hamburger Forum und vom frisch aus der Linken ausgetretenen Bürgerschaftsabgeordneten und Querfrontler Mehmet Yildiz. Die Kundgebung fand, unter völlig neuen Bedingungen, am 26. Februar statt – doch von Einsicht oder gar einem Eingeständnis der eklatanten Fehleinschätzung über Russlands zur Versöhnung ›ausgestreckte Hand‹ war den Redner:innen (unter ihnen Yildiz und der notorische Norman Paech) nichts anzumerken.
Unstimmigkeiten in der Linkspartei
Ähnlich wie konkret und DKP kompromittierte sich die Bundestagsabgeordnete und Landessprecherin der Hamburger Linken Żaklin Nastić mit einseitigen Schuldzuweisungen an den Westen kurz vor Kriegsbeginn. In einer Pressemitteilung vom 20. Februar zur Münchner Sicherheitskonferenz beklagte sie, dass »der Westen« nicht »auf russische Forderungen nach Sicherheitsgarantien« eingegangen sei und dass »Russland […] als Aggressor und die Ukraine als Opfer dargestellt« worden seien. Nachdem sich das vermeintliche Zerrbild Russlands als Aggressor in bittere Realität verwandelt hatte, verschob sich Nastićs Argumentation in Richtung ›it takes two to tango‹: Zusammen mit Sahra Wagenknecht und einigen anderen Abgeordneten der Partei Die Linke verfasste sie eine Erklärung zum Angriff Russlands auf die Ukraine, in welcher der »von den USA in den letzten Jahren betriebenen Politik« eine »maßgebliche Mitverantwortung« für den jetzigen Krieg zugeschrieben wird.
Der Landesverband und die Bürgerschaftsfraktion der Linken hingegen haben deutlich gemacht, dass sie einem solchen äquidistanten Antiimperialismus äußerst kritisch gegenüberstehen. Die Partei rief zur Teilnahme an der von Fridays for Future initiierten Friedensdemonstration in der Hamburger Innenstadt am 3. März auf und mobilisierte selbst zu einer anschließenden Kundgebung vor dem russischen Konsulat – unter anderem mit dem unmissverständlichen Hashtag #fckptn. Mediale Aufmerksamkeit erlangte die Partei vor allem mit ihrer Forderung, die in Hamburger Werften liegenden Luxusjachten russischer Oligarchen festzusetzen: Man müsse den »Oligarchen in die Suppe spucken, damit sie sich gegen Putin wenden«, zitiert die Mopo den ehemaligen Bundestagsabgeordneten der Linken Fabio de Masi. Gleichzeitig wendete sich Die Linke Hamburg aber auch gegen den geplanten 100-Milliarden-Euro-Sonderetat für die Bundeswehr und forderte, Maßnahmen zur Kompensation der massiven Preissteigerungen bei Gas, Strom und Kraftstoffen zu ergreifen, von denen vor allem die Armen betroffen seien.
Die radikale Linke zwischen Solidarität und Kritik
Der linksradikale antimilitaristische Block ging am 5. März im blau-gelben Fahnenmeer unter, Foto: privat
Auch große Teile der postautonomen und Bewegungslinken in Hamburg ergreifen Partei gegen den russischen Einmarsch in die Ukraine. Die Interventionistische Linke war mit einem Redebeitrag auf der Kundgebung der Linkspartei vor dem russischen Konsulat vertreten. Die Gruppe Projekt Revolutionäre Perspektive (PRP) verfasste einen Aufruf zu einem antimilitaristischen Block auf der Demo am Samstag – gegen den Krieg und gegen die deutschen Aufrüstungsabsichten –, dem sich mehrere Gruppen anschlossen. Die auf den Transpis sichtbaren Forderungen aus dem Reservoir der linken Antikriegsbewegung (von »Wir wollen eure Kriege nicht« bis »Der Hauptfeind steht im eigenen Land«) wirkten eher hilflos und der konkreten Situation nicht wirklich angemessen. Doch immerhin artikulierte dieser Block den aktuell dringend notwendigen Einspruch gegen Aufrüstung und Nationalismus. Im blau-gelben Fahnenmeer ging der ziemlich in der Mitte der Demo gelegene Block allerdings weitgehend unter. Ein symptomatisches Bild für die aktuelle Situation der Linken: Jedweder Versuch der Differenzierung wird laut übertönt. Das gilt nicht nur für die Kritik an der deutschen Aufrüstung und am aggressiven ukrainischen Nationalismus, sondern auch für die Warnung vor dem Einfluss rechtsextremer Gruppierungen in der ukrainischen Armee und Gesellschaft (der sich nicht zuletzt in der staatlichen Ehrung des Faschistenführers Stepan Bandera ausdrückt), für die Anprangerung der rassistischen und antiziganistischen Doppelmoral, die sich in der aktuellen Flüchtlingspolitik zeigt, und für Kritik an der deutschen Öffentlichkeit, die von all dem nichts wissen will und der deutschen Militarisierung sekundiert.1 Etwa wenn in einem MDR-Beitrag vom 6. März die Entscheidung zum Dienst in der Bundeswehr als patriotischer Akt bejubelt wird.
Die Freiheit, die sie meinen: FDP-Block »für eine freie Ukraine« am 5. März, Foto: privat
In dieser schwierigen Lage bieten die 14 Punkte, mit denen der Twitter-Account Antifa Info Hamburg am 2. März eine mögliche antifaschistische Antwort auf die aktuelle Situation skizzierte, eine gute erste Orientierung. Einer der Punkte lautet: »Widersprüche aushalten«. Denn durch die blau-gelbe Brille, die nahezu alle (vermeintlichen) Friedensfreund:innen gerade aufhaben, sind Nuancen kaum zu erkennen – im Gegenteil, taucht sie doch auch so manchen braunen Gegenstand in leuchtende Farben. Zu den Widersprüchen, auf die eine radikale Linke in dieser Situation aufmerksam machen muss, gehört auch, dass sich unter den Parteigängern beider Konfliktseiten Rechtsextreme und Nazis befinden: Das Hamburger Bündnis gegen Rechts macht vor allem auf den Putinismus der Hamburger AfD aufmerksam – die Bürgerschaftsabgeordnete Olga Petersen etwa war im September 2021 als »Wahlbeobachterin« in Russland, wo sie die »Transparenz« der Duma-Wahl lobte. Antifa Info Hamburg wiederum weist auf die Symboliken hin, an denen man die auch in der hiesigen Ukraine-Solidarität mitmischenden rechtsextremen Kräfte wie den Rechten Sektor und Asow erkennt. Darauf, dass sich in der Ukraine aber auch sich als links verstehende Gruppen für einen bewaffneten Kampf gegen die russische Armee entscheiden, verweist der Account @anarchyinHH. Andere autonome Gruppen wie die Antifa Norderelbe teilen Aufrufe, die anarchistische Initiative Operation Solidarity zu unterstützen, die »networks of mutual aid within Ukraine« aufbauen möchte.
Praktische Solidarität
Derlei Netzwerke praktischer Hilfe haben sich derweil auch schon in Hamburg gegründet. Aus der Black Community Hamburgs – maßgeblich waren hier die Aktivistin Asmara und die SPD-Bezirksabgeordnete Irene Appiah – wurden Busse organisiert, mit denen an der ukrainisch-polnischen Grenze rassistisch diskriminierte Schwarze Flüchtende nach Hamburg gebracht wurden.2Auch über den Hauptbahnhof kamen Afrorukrainer:innen nach Hamburg. Ein auf Facebook zu sehendes (leider akustisch sehr schlecht zu verstehendes) Video von Twi Radio Germany vom 7. März etwa zeigt ein Interview mit einem siebzehnjährigen Schüler und Nachwuchsfußballer aus Nigeria, der aus Kiew geflohen ist und von rassistischer Diskriminierung während der Flucht berichtet. Es zirkulierten Aufrufe zu Geld- und Sachspenden (Powerbanks, Benzinkanister, Taschenwärmer) für den Einsatz an der ukrainischen Grenze und natürlich Aufrufe, Flüchtende vor Ort mit Sachspenden und Unterbringung zu unterstützen. Der Berliner Verein quarteera e.V., in dem sich russischsprachige LGBT* in Deutschland organisieren, ruft zur Unterstützung queerer Geflüchteter auf und vermittelt Unterkünfte – auch in Hamburg. Über Telegramgruppen, etwa die »autonom unter antinationalem Kontext gegründet[e]« Gruppe Ukraine Support Hamburg und Umgebung werden Informationen weitergegeben und wird effizient und solidarisch Hilfe organisiert. Ähnliche Messengergruppen für einzelne Viertel bilden sich gerade nahezu täglich. Die Hilfe, die hier organisiert wird, ist wie schon 2015 angesichts der katastrophal schlecht vorbereiteten öffentlichen Anlaufstellen dringend nötig.
Vor allem über russischsprachige Telegram-Gruppen hat sich schon länger ein ehrenamtliches Unterstützungsnetzwerk am Hauptbahnhof gebildet. Seit Anfang März werden dort ankommende Flüchtende in Empfang genommen und bei ihrer Ankunft unterstützt. Da sie seit dem 6. März auch durch den Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) unterstützt werden, gibt es am Hauptbahnhof gerade häufig mehr freiwillige Helfer:innen als nötig. Ob das aber weiterhin so bleibt, ist fraglich – die Erfahrungen von 2015 haben gezeigt, dass derlei Ausbrüche von Hilfsbereitschaft in Hamburg meist nur von kurzer Dauer sind.
Redaktion Untiefen, März 2022
Die Mitglieder der Redaktion hoffen, dass ihnen der Spagat zwischen Vaterlandsverrat und praktischer Solidarität gelingt, ohne dass sie sich schwere Zerrungen zuziehen.
1
Etwa wenn in einem MDR-Beitrag vom 6. März die Entscheidung zum Dienst in der Bundeswehr als patriotischer Akt bejubelt wird.
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Auch über den Hauptbahnhof kamen Afrorukrainer:innen nach Hamburg. Ein auf Facebook zu sehendes (leider akustisch sehr schlecht zu verstehendes) Video von Twi Radio Germany vom 7. März etwa zeigt ein Interview mit einem siebzehnjährigen Schüler und Nachwuchsfußballer aus Nigeria, der aus Kiew geflohen ist und von rassistischer Diskriminierung während der Flucht berichtet.
In den letzten Wochen des Jahres 2021 erhielt der Hamburger »Querdenken«-Ableger Auftrieb und organisierte zeitweise die größten Proteste der Bundesrepublik. Lokalpresse und manch antifaschistische Gruppe sprechen der Bewegung ab, bürgerlich zu sein – womöglich sollten Kritik und Gegenprotest jedoch genau das fokussieren.
Nicht zu fassen – eine merkwürdige Melange aus Karneval, Neonazis, Hippies, Esoterikmesse und Evangelikalen. Foto: privat
Die stetig steigende Zahl der Teilnehmer:innen bei den sogenannten Querdenken-Demonstrationen im vorweihnachtlichen Hamburg hat bei der Lokalpresse Verunsicherung ausgelöst. Samstag für Samstag formierte sich ein immer größer werdender Protestzug. Am 18. Dezember waren es dann laut Polizei 11.500 Menschen, die dem Aufruf zum »Marsch durch Hamburg« unter dem Motto »Frei sein« folgten. Das Abendblatt berichtete und zitierte eine »Einschätzung der Behörden«, derzufolge der Protest einen »insgesamt ›bürgerlichen‹ Charakter« habe. »Tatsächlich«, wie es mit einigem Erstaunen im Artikel weiter hieß, sahen die Protestierenden auch wirklich so aus. Für die Hamburger Morgenpost passte die schmerzhafte Erkenntnis, dass »ausgerechnet Hamburg, die Stadt des nüchternen Pragmatismus, jetzt zur Hauptstadt der deutschen Corona-Proteste« geworden sei, »kein Stück ins Bild«. Während das Abendblatt hinter die Fassade blickte und meinte, dass die Parolen alles »andere als bürgerlich« seien, ließ die Mopo einen Hirnforscher zu Wort kommen. So als sei die auf die Straße getragene Irrationalität nicht Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern tief in die Natur des Menschen eingeschrieben.
Verunsichert ist offensichtlich auch die linksradikale Szene der Hansestadt: Der Gegenprotest fällt bislang nicht nur überraschend klein aus, sondern hat scheinbar auch nur die gegen tatsächliche Naziaufmärsche erprobten Aktionsformen und Parolen parat.
In der Tat ist es verunsichernd, was dort Samstag für Samstag in einem immer größer werdenden Umzug durch die Straßen der Hamburger Innenstadt zieht. Eine merkwürdige Melange aus Karneval und Esoterikmesse, aus Neonazis und Hippies, Evangelikalen und Kleinunternehmer:innen. Die noch größere Merkwürdigkeit besteht jedoch darin, dass der Protest gerade auch das ist, was er nach Ansicht der Hamburger Lokalpresse und Teilen der antifaschistischen Gruppierungen nicht sein soll: bürgerlich. Der Soziologe Oliver Nachtwey hat mit Kolleg:innen im Jahr 2020 eine Studie zu den Coronaprotesten in Deutschland und der Schweiz veröffentlicht. Demnach ordneten sich die Teilnehmer:innen zu einem Großteil der Mittelschicht zu, sind berufstätig und weisen überdurchschnittlich hohe Bildungsabschlüsse auf. Einem Beobachter des Hamburger Querdenker:innenmilieus zufolge, den die Redaktion Untiefen befragte, lassen sich diese Ergebnisse recht gut auf die hiesigen Proteste übertragen. Wer selbst einmal am Rand besagter Protestumzüge gestanden hat, wird das bestätigen können. So waren Untiefen-Redaktionsmitglieder, die seit mehr als einem Jahr die Coronaproteste beobachten (und gegen sie demonstrieren), überrascht, dass die Selbstbezeichnung des Protestes als »bunt« nicht nur eine Worthülse war.
Am 18. Dezember folgten laut Polizei 11.500 Menschen dem Aufruf zum »Marsch durch Hamburg« unter dem Motto »Frei sein«. Foto: privat
Es sind also durchaus Teile der viel beschworenen Mitte der Gesellschaft, die sich hier im »Widerstand« wähnen – als »rote Linie« gegen die »Corona-Diktatur«. Der Kritik und dem Gegenprotest ist somit offenbar wenig geholfen, wenn die Proteste ohne Weiteres als rechtsextremes Phänomen verstanden werden. Skurril wurde es etwa am 18. Dezember, als nicht nur wieder einmal Querdenker:innen den antifaschistischen Gegendemonstrant:innen ihr »Nazis raus!« zurückgaben, sondern vom Lautsprecherwagen dröhnte, dass die Antifa durch ihren Vergleich die NS-Verbrechen relativiere. Die Querdenker:innen grundsätzlich als »Nazis« oder »Faschos« anzusprechen trifft weder sie selber noch die Sache.
Die Bezeichnung »bürgerlich« hingegen verharmlost die Proteste nicht zwangsläufig. Richtig verstanden weist sie auf ihren Kern hin: autoritäre Ideologien, die in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet sind. Entgegen der politischen Idealisierung der »Mitte« als Stabilitätsanker der Demokratie ist es angezeigt, immer wieder den »Rechtsextremismus der Mitte« (Oliver Decker) zu benennen, der sich anlässlich der staatlichen Corona-Politik nun neu formiert. Dass die allermeisten Teilnehmer:innen nicht rechtsextrem organisiert sind und das wohl auch nicht mit sich vereinbaren könnten, hindert sie nicht daran, ominöse Weltregierungen, Pharmalobbys oder bestimmte Milliardäre kryptoantisemitisch für die Pandemie, Bevölkerungskontrolle und gar gezielten Massenmord verantwortlich zu machen. Der Mobilisierung hilft es vielmehr, dass für die Hamburger Querdenker:innen nicht anstößige rassistische oder nationalistische Thesen zentral sind.
Querdenkendemos am 18.12.2021…
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…und 15.8.2020.Fotos: privat
Stattdessen steht neben Kritik an den Einschränkungen für Ungeimpfte und der sich abzeichnenden Impfpflicht (»Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung«) der Schutz von Kindern vor der vermeintlich unsicheren Corona-Impfung im Vordergrund (»Hände weg von unseren Kindern«). Dafür sind laut unserem Beobachter unter anderem Gruppen des verschwörungstheoretischen Netzwerkes »Eltern stehen auf« verantwortlich, die schon 2020 gegen die Maskenpflicht an Schulen mobilisierten, teilweise mit haarsträubenden Gruselgeschichten von Atemnot und Erstickungstod. Kinderschutz ist in der BRD schon lange ein Thema, mit dem autoritäre Strafbedürfnisse mobilisiert werden können (»Todesstrafe für Kinderschänder«; gegen »Frühsexualisierung«). So überrascht es nicht, dass auch bei »Eltern stehen auf« aus diskutablen Bedenken gegenüber den staatlichen Corona-Maßnahmen schnell ein allgemeiner Vorwurf der »Kindesmisshandlung« wird, die auf satanische und pädophile Eliten oder gleich einen »neuen Faschismus« hindeute – gegen dessen Schergen natürlich auch handgreiflicher Widerstand als legitim gilt. Die begleitenden konservativen Vorstellungen von unschuldiger Kindheit, natürlichen Geschlechterrollen, Mutterinstinkten und männlichen Beschützern können weit über das klassische rechte Publikum hinaus mobilisieren, wie Larissa Denk vom Beratungsnetzwerk Hamburg in einer jüngst erschienenen Expertise (S. 26) herausarbeitet.
Die sichtbare Kritik an den staatlichen Corona-Maßnahmen wird so an vielen Stellen mit altbekannten und weit verbreiteten autoritären Ideologien artikuliert. Das ist nicht allein die Folge des linken Versagens, eine überzeugende Kritik der staatlichen Pandemiepolitik zu entwickeln. Vielmehr begünstigt das ideologische Feld selbst die Regression. Den Corona-Protesten gelingt etwas, das emanzipatorischer Organisation grundsätzlich verwehrt ist. Mit ihren Verschwörungsmythen sprechen sie antimoderne und antiaufklärerische Bedürfnisse an und bringen so Menschen zusammen, die objektiv verschiedene Interessen und oft sogar auch konträre politische Ansichten haben. Diese ermutigende Erfahrung, Teil einer wachsenden Bewegung zu sein, öffnet politisch unerfahrene und unorganisierte Kleinbürger:innen für die Mobilisierung durch rechte Strukturen (Telegram-Gruppen, Verschwörungsideologie-Netzwerke, AfD).
Das kann womöglich auch den nur verhaltenen Gegenprotest erklären. Denn dass von den Querdenken-Demonstrationen ähnlich unmittelbare Gefahr wie von Nazi-Aufmärschen ausgeht, glauben wohl nur wenige. Gegen die überraschend heterogenen Milieus, in denen sich das Autoritäre derzeit formiert, sind jedoch noch keine überzeugenden politischen Strategien zur Hand. Dazu kommt die mittlerweile empirische Gewissheit, dass die Querdenker:innen mit ihrer Leugnung der Pandemie und der Gegnerschaft zur Impfung eine absolute Minderheit darstellen und man also mit der Mehrheitsgesellschaft im Rücken demonstriert. Das wird manche dazu führen, gegen den geschlagenen Gegner gar nicht erst loszuziehen – anderen mag die faktische Gemeinsamkeit mit dem Staat unbequem sein.
Teilt man die Einschätzung, dass die Corona-Pandemie nur als Kristallisationspunkt für autoritäre Ideologie fungiert, könnte eine antifaschistische Antwort sein, diese Ideologien und die entsprechenden Netzwerke – von »Eltern stehen auf«, über die »Ärzte für Aufklärung« bis hin zu »QAnon« – stärker in den Blick zu nehmen. Es hieße, die Kritik näher an das beobachtbare Phänomen heranzurücken und den Gegenprotest nicht mit den althergebrachten Parolen und Transparenten zu gestalten. Im gleichen Atemzug müsste diese Kritik den bürgerlichen Stimmen, wie sie in Mopo und Abendblatt zu finden sind, vorführen, dass die Externalisierung des Protests als unbürgerlich, pathologisch oder Ähnliches wiederum ein identitäres Ticket darstellt. Es gibt nicht nur das trügerische Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, sondern verschleiert darüber hinaus vor allem jene Verhältnisse, die den Protesten zugrunde liegen – die autoritären Sehnsüchte der sogenannten bürgerlichen Mitte.
Vor 98 Jahren begann der »Hamburger Aufstand« der KPD. Der letzte Revolutionsversuch in Hamburg scheiterte zwar beinahe sofort, wirkte aber in der Karriere Ernst Thälmanns und der Stalinisierung der KPD nach. Wie kann eine Auseinandersetzung mit den weitgehend vergessenen Ereignissen von damals heute aussehen?
Eins von offenbar wenigen Bildern der Aufständigen. In Barmbek (Hamburger Str. Ecke Schmalenbecker Str.) wird eine Barrikade errichtet. Foto: unbekannt
Heute, am 23. Oktober 2021, jährt sich zum 98. Mal der sogenannte »Hamburger Aufstand« der KPD. Zwei oder drei, höchstens vier Tage lang lieferten Anhänger*innen der Kommunistischen Partei sich mit der Polizei in Hamburg und den angrenzenden preußischen Gemeinden Wandsbek und Schiffbek (heute Billstedt) einen bewaffneten Straßenkampf. Sie stürmten in den frühen Morgenstunden des 23. Oktober Polizeiwachen in Arbeiter*innenstadtteilen, um Gewehre und Pistolen zu erbeuten und verschanzten sich auf Dächern und hinter Barrikaden. Vor allem in Barmbek und Schiffbek konnten sie einige Straßenzüge zunächst verteidigen, insgesamt aber war der Aufstandsversuch von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Er wurde blutig niedergeschlagen.
Dem Aufstand gingen in einer Hochphase der Inflation spontane Hungerrevolten und Plünderungen voraus, zudem rechtsextreme Putschversuche in Bayern und zugespitzte Auseinandersetzungen zwischen KPD und SPD. Gescheitert ist er nicht erst militärisch, sondern schon politisch im Vorfeld. Er wurde vom »ultralinken« Flügel der Hamburger KPD unter Führung von Hugo Urbahns, Hans Kippenberger und Ernst Thälmann gegen den Mehrheitswillen der Partei ausgerufen und erhielt keine nennenswerte Hilfe von außerhalb. Es waren zwar große Teile des Hamburger Proletariats politisch in Bewegung, doch sie und die breite Bevölkerung unterstützten die etwa 300 kämpfenden Kommunist*innen offenbar nicht maßgeblich.
Folgenlos blieb der Aufstand aber keineswegs. Nationale und konservative Kreise nutzten ihn in Hamburg und der Republik zur Agitation für Ausnahmegesetze und den Abbau demokratischer Rechte. In der KPD dagegen wurde er schnell zum Mythos. Die Diskussion über die Schuld für das Scheitern in Hamburg entschied die Komintern 1924, indem sie die »rechten«, moderaten Kräfte in der KPD verantwortlich machte. So konnte der »ultralinke« moskauhörige Flügel in der KPD zur Macht gelangen und Ernst Thälmann zum Vorsitzenden aufsteigen. Damit trug der Hamburger Aufstand letztlich zur 1924 beginnenden Bolschewisierung und Stalinisierung, auch der deutschen KP, bei. Deren »ultralinke« Politik ab 1929 spielte bekanntlich eine wesentliche Rolle in der Katastrophe, dass keine Einheitsfront von Sozialdemokrat*innen, Kommunist*innen und Gewerkschafter*innen gegen den Nationalsozialismus zu Stande kam. In der Geschichtsschreibung der späteren KPD und der offiziellen Version der DDR wurde er dennoch zu einem heroischen, aber verratenen Aufstand stilisiert, der Vorbild für die kommende Revolution sein sollte. Das wiederum dürfte einer der Gründe dafür sein, dass er heute selbst unter radikalen Linken weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Es ist doch nicht »unser« Aufstand, nicht »unser« Kommunismus, der da gescheitert ist. Gefeiert wird er selbst in Hamburg nur von einigen traditionell kommunistischen Linken im Umfeld der DKP.
Diese Ignoranz aber geht in jene Falle, die Bini Adamczak in Gestern Morgen für die kommunistische Aufarbeitung des Stalinismus insgesamt benannt hat:
»In ihrer Rhetorik des Bruchs mit einer Vergangenheit, mit der sie nicht brechen können, weil sie sie beschweigen, sie nicht einmal kennen, bestätigen diese Kommunistinnen der Gegenwart die Behauptung ihrer Gegner, das Ende der Geschichte sei bereits erreicht, weil für sie diese Geschichte beendet ist. Als gäbe es keine Vorfahren, als habe es keine Vorkämpferinnen gegeben. Aber die vergangenen Kämpfe um die Zukunft zu begraben bedeutet unter den fortwirkenden Bedingungen der Niederlage nichts anderes als die Zukunft selbst, eine andere Zukunft zu begraben.« 1Adamczak, Gestern Morgen, S. 25
Wer eine kommunistische Revolution noch immer für notwendig hält oder gar die Selbstbezeichnung »revolutionär« beansprucht, muss die gescheiterten Revolutionsversuche – zumal im eigenen Land, in der eigenen Stadt – als Teil der eigenen Geschichte begreifen. Sie als Geschichte der Anderen, der Antiimps, der DKP, der Paläomarxist*innen abzutun, gibt den Anspruch Preis, das Befreiungsversprechen der Vergangenheit doch noch Gegenwart werden zu lassen.
Den »Hamburger Aufstand« als Teil der eigenen Geschichte anzuerkennen kann jedoch nicht heißen, einer bloßen (militärischen, politischen, organisatorischen, strategischen…) Niederlage glorifizierend zu gedenken, also »solche Revolutionäre zu Ikonen zu erheben, die starben, bevor sie soweit hätten kommen können« 2Adamczak, S. 26. Es muss der Aufstand auch als Teil eben des Scheiterns begriffen werden, das er mitbewirkt hat: Das stalinistische Totalversagen der kommunistischen Emanzipation.
Wie kann eine solche »kommunistische Trauerarbeit« (Hendrik Wallat) heute aussehen, die weder beschönigt, noch Freiheit unterstellt, wo die Bedingungen nicht frei gewählt waren? Ein Blick auf die Veröffentlichungen zum »Hamburger Aufstand« zeigt, dass von den 1960ern bis in die 1980er recht rege publiziert wurde, seitdem aber immer seltener. Die folgenden Hinweise können vielleicht zumindest die Hürden senken, die Auseinandersetzung von neuem zu beginnen:
Einen mitreißenden, sprachlich starken, aber ebenso stark verklärenden »Erlebnisbericht« hat die russische Kommunistin Larissa Reisner schon 1924 geschrieben. Ihrer Ansicht nach blieb der Aufstand unbesiegt, da er sich »planmäßig zurückgezogen« habe:
(Die jüngste Neuauflage des Berichts in einem nationalbolschewistischen Umfeld (neben Texten von u.a. Otto Strasser) durch den Haag + Herchen-Verlag ist zwar mit Blick auf die Geschichte der KPD wohl leider nicht ganz zufällig, tut aber Reisner und ihrem Bericht Gewalt an.)
Knapp zwei Stunden Interviews mit Beteiligten des Aufstands haben die Dokumentarfilmer*innen Klaus Wildenhahn und Gisela Tuchtenhagen 1971 unter dem Titel »Der Hamburger Aufstand Oktober 1923« veröffentlicht. Die vollständige Fassung ist leider nur vor Ort im Filmarchiv Berlin einsehbar. Die Hamburger Staatsbibliothek bietet in einer DVD-Box mit Wildenhahns Filmen zumindest eine 45-minütige Kurzversion zur Ausleihe an:
Einen kurzen Überblick mit Fokus auf die Auseinandersetzungen innerhalb der KPD und zwischen KPD, SPD und Gewerkschaften hat Wulf D. Hund 1983 veröffentlicht:
Eine umfangreiche wissenschaftliche Aufarbeitung aus engagierter Perspektive und mit großem Materialteil liefert Karl Heinrich Biehl:
Eine auf Karl Heinrich Biehls Arbeit basierende Broschüre mit (teilweise gewagten) Bezügen zur Gegenwart hat die mittlerweile verflossene Gruppe »Rotes Winterhude« 2003 vorgelegt. Sie sticht als aktivistischer Aneignungsversuch heraus und liefert tolle Details und Beobachtungen zur Erinnerungspolitik. Mit ihrem grottigen Layout und dem post-autonomen Tonfall ist sie dazu selbst auch schon Zeitdokument:
Rotes Winterhude: Der Hamburger Aufstand 1923. Verlauf – Mythos – Lehren. Hamburg 2003. Teil 1 und Teil 2 sind über das Internet Archive abrufbar.
Felix Jacob
Der Autor forscht privat zu Hamburger Aufstandsbewegungen.