Vom Antisemitismus übertönt

Vom Antisemitismus übertönt

Zamzam Ibra­him durfte auf Kamp­na­gel spre­chen. Wäh­rend drau­ßen eine pro­pa­läs­ti­nen­si­sche Demo anti­zio­nis­ti­sche Paro­len brüllte, eröff­nete sie das Klima-Festival online per Zoom – und setzte mit ihrer Mischung aus Eso­te­rik und rau­nen­der ›Sys­tem­kri­tik‹ den Ton fürs Wochen­ende. Jüdi­sche und anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Stim­men wur­den von die­sem ›viel­stim­mi­gen‹ Chor übertönt.

»There is no cli­mate jus­tice with the mude­rers of Ira­nian women.« Demonstrant:innen am Don­ners­tag vor Kamp­na­gel. Foto: Screen­shot Instagram

»Ich sollte nicht hier sein.« Die­sen Satz äußerte Dor Aloni in einem so per­sön­li­chen wie poli­ti­schen State­ment, das er sei­ner Per­for­mance Atlan­tis am Don­ners­tag­abend im Saal K4 auf Kamp­na­gel vor­an­stellte und in dem er sei­ner Kri­tik an der Ein­la­dung Zamzam Ibra­hims deut­li­chen Aus­druck ver­lieh. Alo­nis Satz lässt sich auf zwei Arten ver­ste­hen: als Fest­stel­lung, dass er als jüdisch-israelischer Thea­ter­ma­cher auf einem Kli­ma­fes­ti­val, das von einer anti­se­mi­ti­schen Red­ne­rin eröff­net wurde, fehl am Platze ist; und als Hadern mit sei­ner Ent­schei­dung, nun auf Kamp­na­gel auf­zu­tre­ten, obwohl Zamzam Ibra­him nicht aus­ge­la­den wurde.

Denn seit Aloni Anfang der Woche erfah­ren hatte, wes­sen Keynote-Vortrag den Kli­ma­schwer­punkt »How Low Can We Go?« eröff­nen solle, in des­sen Rah­men auch er auf­tre­ten würde, konnte er nicht mehr ruhig schla­fen. Auch davon sprach er in sei­nem State­ment. Für ihn, des­sen Fami­lie in Israel lebt und der durch den anti­se­mi­ti­schen Ter­ror der Hamas vom 7. Okto­ber auch Kolleg:innen ver­lo­ren hat, war der Gedanke uner­träg­lich, einen (Diskurs-)Raum mit einer Akti­vis­tin zu tei­len, die den Ter­ror der Huthi im Jemen und der Hamas in Israel als ›Wider­stand‹ ver­klärt. Am Diens­tag hatte er daher bei der Kampnagel-Leitung inter­ve­niert und deut­lich gemacht, dass für ihn hier eine rote Linie über­schrit­ten ist: Ent­we­der Ibra­him wird aus­ge­la­den, oder er sagt seine Auf­tritte ab.

Kamp­na­gel befand sich dadurch in einer miss­li­chen Lage: Dass ein jüdi­scher Künst­ler sich aus Pro­test gegen die Tole­rie­rung anti­se­mi­ti­scher Posi­tio­nen und aus Sorge um sein Wohl­be­fin­den zurück­zieht, wäre für ein – laut Selbst­dar­stel­lung »dis­kri­mi­nie­rungs­sen­si­bles« – deut­sches Thea­ter gelinde gesagt pro­ble­ma­tisch. Aber eine anti­is­rae­li­sche Akti­vis­tin aus­zu­la­den, zumal eine, die Schwarz und mus­li­misch ist, hätte Kamp­na­gel wohl ebenso gescha­det, ins­be­son­dere in der inter­na­tio­na­len ›freien Szene‹, in der Ter­rora­po­lo­gie weit­hin als ›Isra­el­kri­tik‹ zu gel­ten scheint und jede Kri­tik daran als ›Silen­cing‹ und ›Can­cel Cul­ture‹ beklagt wird.

Um wessen Sicherheit geht es?

Man kann sich vor­stel­len, wie der »empa­thi­sche Dia­log« (Kampnagel-Leitbild) aus­sah, in dem Aloni unter Druck gesetzt wurde, Kamp­na­gel doch nicht in diese Lage zu brin­gen. Und tat­säch­lich ließ er sich auf einen Alter­na­tiv­vor­schlag ein: Am Mitt­woch ver­kün­dete Kamp­na­gel, dass man Zamzam Ibra­him nicht aus­lade, dass sie aber nur online, per Zoom-Zuschaltung, spre­chen werde. Dies als Kom­pro­miss oder salo­mo­ni­sche Lösung zu bezeich­nen, wäre jedoch völ­lig ver­fehlt. Denn ers­tens bot man Ibra­him so wei­ter­hin eine Bühne (und sogar eine grö­ßere als zuvor); und zwei­tens wurde in der am Mitt­woch­abend ver­öf­fent­lich­ten Erklä­rung der Anti­se­mi­tis­mus kon­se­quent ent­nannt, wäh­rend Ibra­him zum Opfer einer ras­sis­ti­schen Kam­pa­gne sti­li­siert wurde.

Zu den »Anti­se­mi­tis­mus­vor­wür­fen« gegen Ibra­him äußert Kamp­na­gel sich in der Erklä­rung mit einer Distan­zie­rung, die sich schwä­cher nicht for­mu­lie­ren ließe: »In der Tat sind von der Spea­ke­rin Äuße­run­gen bekannt gewor­den, die auch wir so nicht tei­len kön­nen.« Nicht ›anti­se­mi­ti­sche Äuße­run­gen‹ oder wenigs­tens ›Äuße­run­gen, die wir nicht tei­len‹, son­dern: ›Äuße­run­gen, die wir so nicht tei­len kön­nen.‹ Was mag das hei­ßen – so nicht, aber in ande­rer Form schon? Kamp­na­gel wollte dazu auf Nach­frage nichts ant­wor­ten.1Wenn Kampnagel-Intendantin Ame­lie Deufl­hard gegen­über Untie­fen ledig­lich all­ge­mein pro­kla­miert: »Wir distan­zie­ren uns in aller Deut­lich­keit von anti­se­mi­ti­schen und isra­el­feind­li­chen Hal­tun­gen«, muss sie sich die Frage gefal­len las­sen: Wo war diese Deut­lich­keit im kon­kre­ten Falle Zamzam Ibrahims?

Als ver­ant­wort­lich für die Ver­le­gung ins Inter­net prä­sen­tiert die Erklä­rung nicht Ibra­hims Anti­se­mi­tis­mus, son­dern zum einen das man­gelnde Ver­trauen »Ein­zel­ner« in die Ver­si­che­rung Kamp­na­gels, »dass es im Rah­men des Kli­ma­schwer­punk­tes zu kei­ner anti­se­mi­ti­schen Äuße­rung kom­men wird«, und zum ande­ren die mediale Ver­brei­tung der Kri­tik und die dadurch laut wer­den­den »Auf­rufe zum Ver­hin­dern der Key­note«. Beklagt wird schließ­lich noch, die Bericht­erstat­tung habe »ras­sis­ti­sche und islam­feind­li­che Nar­ra­tive« her­vor­ge­ru­fen. Auch wenn vage von der »Sicher­heit aller Anwe­sen­den« geschrie­ben wird, ist der Tenor deut­lich: Weil Ibra­him von einem auf­ge­heiz­ten Mob bedroht werde, könne sie zu ihrem eige­nen Schutz nur online sprechen.

Es ist eine klas­si­sche Form des rela­ti­vie­ren­den Umgangs mit Anti­se­mi­tis­mus: Als Pro­blem gilt nicht der Anti­se­mi­tis­mus selbst, son­dern der Umstand, dass er benannt und kri­ti­siert wird – und dass Kon­se­quen­zen aus die­ser Kri­tik gefor­dert wer­den.2Auch in Ihren Eröff­nungs­wor­ten nannte Ame­lie Deufl­hard die Debatte als Grund für die Ver­le­gung ins Inter­net: »The con­tro­versy around the key­note made us decide to place it online.« Als Pro­blem gilt nicht der Anti­se­mi­tis­mus, son­dern der ›Anti­se­mi­tis­mus­vor­wurf‹, gel­ten also Men­schen, die es für falsch hal­ten, eine Anti­se­mi­tin unwi­der­spro­chen öffent­lich reden zu las­sen. Und weil es nun ein­mal oft die Betrof­fe­nen selbst sind, die gegen Anti­se­mi­tis­mus ein­ste­hen, heißt das: Als Pro­blem gel­ten Jüdin­nen und Juden. Vom Kampnagel-Statement zum am Don­ners­tag in anti­is­rae­li­schen Krei­sen zir­ku­lie­ren­den Auf­ruf, die »Hetze« gegen Ibra­him zu stop­pen, ist es nur ein klei­ner Schritt. Man nennt das Täter-Opfer-Umkehrung.

Nicht gar so offene Debattenräume

Sym­pto­ma­tisch war hier­für das Bild, das sich am Don­ners­tag­abend vor Kamp­na­gel bot. Etwa drei­ßig Kritiker:innen des Anti­se­mi­tis­mus – dar­un­ter Mit­glie­der des Jun­gen Forums der DIG Ham­burg und der jüdi­schen Gemeinde sowie Exiliraner:innen – ver­sam­mel­ten sich dort gegen halb sechs, um gegen die Ein­la­dung Ibra­hims zu pro­tes­tie­ren. Zah­len­mä­ßig über­le­gen war jedoch eine spon­tan ange­mel­dete anti­is­rae­li­sche Gegen­kund­ge­bung, die von der Poli­zei in Sicht- und Hör­weite vor­ge­las­sen wurde.

Dank Laut­spre­cher­an­lage über­tön­ten deren Sprech­chöre zudem die­je­ni­gen der Kund­ge­bung gegen Anti­se­mi­tis­mus. Und im Gegen­satz zum Anti-Antisemitismus konnte der Isra­el­hass auf ein gro­ßes Reper­toire grif­fi­ger Slo­gans zurück­grei­fen – neben dem noto­ri­schen »From the river to the sea« gehörte dazu am Don­ners­tag etwa »Alle zusam­men gegen Zio­nis­mus«. Die anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­schen Demonstrant:innen wur­den als ›Ver­tei­di­ger eines Geno­zids‹ verleumdet.

Drin­nen, in der Instal­la­tion »Cruise Ten­tare«, eröff­nete Ame­lie Deufl­hard wäh­rend­des­sen kurz ange­bun­den den Klima-Schwerpunkt vor ca. vier­zig etwas des­ori­en­tier­ten Gäs­ten. Die eigent­lich für 18:15 Uhr ange­kün­digte Key­note von Zamzam Ibra­him war wenige Minu­ten vor dem geplan­ten Beginn auf 19:45 Uhr ver­legt wor­den. Der Hin­ter­grund die­ser Ver­schie­bung ist bri­sant: Die Kampnagel-Leitung wollte dem Radio­sen­der NDR 90,3 unter­sa­gen, O‑Töne aus Ibra­hims Keynote-Vortrag für die Bericht­erstat­tung zu nut­zen. Die Kul­tur­re­dak­tion von NDR 90,3 wandte sich in der Sache an ihr Jus­ti­zia­riat, das ein der­ar­ti­ges Ver­bot als unzu­läs­sig erach­tete. Auch das dar­auf­hin kon­tak­tierte Jus­ti­zia­riat von Kamp­na­gel folgte die­ser Ein­schät­zung. Kamp­na­gel ent­schied sich vor die­sem Hin­ter­grund gegen eine Live-Übertragung und stellte – andert­halb Stun­den spä­ter als eigent­lich geplant – eine Auf­zeich­nung des Gesprächs online.3Das Video ist nun auch wie­der aus dem Inter­net ver­schwun­den – samt vie­ler kri­ti­scher Kom­men­tare. Ein erstaun­li­ches Ver­hal­ten für ein Haus, das stets die Not­wen­dig­keit offe­ner Debat­ten betont. 

Auf Nach­frage erläu­tert Ame­lie Deufl­hard, Ibra­him habe zunächst nur einer ein­ma­li­gen Ver­öf­fent­li­chung ihrer Rede zuge­stimmt, nicht aber einer Auf­zeich­nung; erst nach erneu­ter Rück­spra­che habe Ibra­him die Zustim­mung, O‑Töne zu ver­wen­den, erteilt. »Zu kei­ner Zeit wurde die freie Pres­se­be­richt­erstat­tung über die Rede Zamzam Ibra­hims beschränkt oder sollte beschränkt wer­den.« Doch wie sonst soll man es bezeich­nen, wenn einem Radio­jour­na­lis­ten unter­sagt wer­den soll, O‑Töne aus einem öffent­li­chen Vor­trag für seine Bericht­erstat­tung zu verwenden?

Climate Justice lies with God?

Ibra­hims Keynote-Vortrag war dann eine Mischung aus religiös-esoterischem Pathos und rau­nen­der ›Sys­tem­kri­tik‹. Zur Kli­ma­ge­rech­tig­keit hatte sie nur Gemein­plätze zu bie­ten. Statt­des­sen war ihre Rede voll von Anspie­lun­gen auf das Thema, über das zu spre­chen ihr ›ver­bo­ten‹ wor­den war: »I wouldn’t be me wit­hout tal­king about the pain and suf­fe­ring that is hap­pe­ning this very second«, pro­kla­mierte sie, und sprach sodann von »Geno­zi­den«, die wir alle live auf unse­ren Bild­schir­men ver­fol­gen könn­ten. Zu die­sem rau­nen­den Spre­chen in Anspie­lun­gen passte auch ihr Out­fit – ein wei­ßer Pull­over mit einem Print der Jeru­sa­le­mer al-Aqsa-Moschee, der gerade deut­lich genug zu sehen war, um die Bot­schaft erken­nen zu las­sen, und gerade unauf­fäl­lig genug, um sich kei­nen Bruch der Abma­chung vor­wer­fen las­sen zu können.

Zamzam Ibra­him atmet in ihrem Vor­trag good vibes ein. Foto: Screen­shot Youtube

In poli­ti­scher Hin­sicht offen­barte Ibra­him ein mit reli­giö­sem Pathos auf­ge­la­de­nes Schwarz-Weiß-Denken – Gerech­tig­keit vs. Unter­drü­ckung, Gut vs. Böse, Glo­ba­ler Süden vs. Glo­ba­ler Nor­den, ›wir‹ gegen ›die‹. Eine Aner­ken­nung von Wider­sprü­chen suchte man ver­geb­lich: »You are eit­her part of the pro­blem or part of the solu­tion. There is no other side to this coin.« Die­ses dicho­tome Den­ken ver­band sich mit einer rau­nen­den Ver­dam­mung ›des Sys­tems‹, das jede Kri­tik mund­tot zu machen und jeden Wider­stand im Keim zu ersti­cken ver­su­che.4»You see, when you stand on the side of jus­tice, the sys­tems of oppres­sion that we seek to break down will try to deplat­form you, but no sen­sa­ti­ons head­lines or lies can ever win against you.« Gegen eine politisch-ökonomische Ord­nung, die auf white supre­macy, Ras­sis­mus, Aus­beu­tung und Gier beruhe und »pro­fit over peo­ple« stelle, brachte Ibra­him die Vor­stel­lung einer »green eco­nomy« in Anschlag, die den Bedürf­nis­sen der Men­schen und unse­res Pla­ne­ten diene.5Wört­lich heißt es in der Rede: »See, the fight against cli­mate change is a fight against all sys­tems that fuel the cli­mate cri­sis: white supre­macy, racism, eco­no­mic explo­ita­tion, greed – I could be here all day.« Und wei­ter: »We need a green eco­nomy, finan­cial sys­tems that exist to serve the needs of peo­ple and our pla­net.« Diese von Gier befreite »green eco­nomy« klingt auf­fäl­lig ähn­lich wie das Pro­gramm des »Isla­mic Ban­king«, das als ein mit der Scha­ria kon­for­mes Finanz­we­sen etwa im Iran pro­pa­giert wird.

Mögen diese Aus­füh­run­gen auch nicht expli­zit anti­se­mi­tisch gewe­sen sein – ihre Nähe zu dem, was der Künst­ler Leon Kahane in einem Inter­view mit dem Aus­druck ›Anti­se­mi­tis­mus als Kul­tur­tech­nik‹ bezeich­net, ist evi­dent: »Anti­se­mi­ten posi­tio­nier­ten sich immer gegen das Estab­lish­ment und gesell­schaft­li­che Zwänge und für etwas ver­meint­lich Fort­schritt­li­ches. Der Anti­se­mi­tis­mus als Kul­tur­tech­nik ist der Ver­such, Wider­sprü­che auf­zu­lö­sen – zur Not mit Gewalt. Die eige­nen Kon­flikte und das eigene Böse wer­den exter­na­li­siert und auf Jüdin­nen und Juden oder den jüdi­schen Staat Israel projiziert.«

Aloe Vera strei­cheln für mehr Kli­ma­ge­rech­tig­keit – ein Work­shop auf Kamp­na­gel. Foto (Aus­schnitt): Screen­shot Insta­gram.

Es fragt sich zudem, was genau Ibra­hims Rede zum Pro­blem der Kli­ma­ge­rech­tig­keit bei­zu­tra­gen hatte. Wenn es in der Erklä­rung von Kamp­na­gel heißt, »Ibra­hims Per­spek­tive bleibt für den Dis­kurs­schwer­punkt des Fes­ti­vals ein wich­ti­ger Bestand­teil«, bleibt offen, worin genau diese ›Per­spek­tive‹ liegt. Mit ihrem Den­ken in Dicho­to­mien und ihrer religiös-esoterisch ver­bräm­ten Sys­tem­kri­tik gab Ibra­him aber zumin­dest einen Vor­ge­schmack dar­auf, was im Rest des Dis­kurs­pro­gramms pas­sierte – etwa die Beschwö­rung eines Oli­ven­baums als Zeuge oder das »öko-intime« Strei­cheln von Aloe-Vera-Pflanzen. Wenn das die von Kamp­na­gel ver­spro­che­nen neuen »Stra­te­gien im Kli­ma­dis­kurs« sind, ist wenig Grund zur Hoffnung.

Antisemit:innen mit Grund zum Jubeln

Drau­ßen vor Kamp­na­gel hatte sich die anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Kund­ge­bung der­weil auf­ge­löst, die Gegen­kund­ge­bung blieb jedoch noch eine Weile vor Ort, um in aus­ge­las­se­ner Stim­mung bei lau­ter Musik zu tan­zen und ihren Sieg zu fei­ern. Man feiere, »dass Kamp­na­gel nicht vor den Zio­nis­ten ein­ge­knickt ist«, erklärte eine Demons­tran­tin. Und bevor die Laut­spre­cher­an­lage abge­baut wurde, rief der Ver­samm­lungs­lei­ter zum Abschluss noch ein­mal ins Mikro: »Danke, Kampnagel!«

Die Hamas­fans vor Kamp­na­gel hat­ten Grund zum Fei­ern. Foto (Aus­schnitt): Screen­shot Instagram.

»Danke, Kamp­na­gel!« ist auch der Tenor der pro­pa­läs­ti­nen­si­schen Kom­men­tare in den sozia­len Medien. Die Ver­le­gung von Zamzam Ibra­hims Vor­trag ins Inter­net wird hier kei­nes­wegs als ›Ein­kni­cken‹ ver­stan­den.6Daher ist auch der Bericht im Ham­bur­ger Abend­blatt irre­füh­rend, der behaup­tet, die pro­pa­läs­ti­nen­si­sche Demo habe gegen die Ver­le­gung von Ibra­hims Vor­trag ins Inter­net demons­triert, und die Situa­tion also so dar­stellt, als werde Kamp­na­gel von zwei Sei­ten glei­cher­ma­ßen ange­grif­fen. Rich­tig ist: Die­je­ni­gen, die für Zamzam Ibra­him demons­trier­ten, sahen sich mit Kamp­na­gel auf der­sel­ben Seite – und das zu Recht. Davon zeu­gen vor allem viele Kom­men­tare zur Erklä­rung von Kamp­na­gel auf Insta­gram.7Ein State­ment der im Work­shop­pro­gramm von »How Low Can You Go« auf­tre­ten­den Künst­le­rin Niya B brint diese Sicht auf den Punkt: »[…] they [Kamp­na­gel] are refu­sing to can­cel spea­k­ers who are fal­sely bran­ded as anti­se­mi­tic. In the cur­rent cli­mate, this is a bold public state­ment for a Ger­man cul­tu­ral insti­tu­tion.« Und auch Ibra­him selbst prä­sen­tierte sich nach ihrem Auf­tritt als Sie­ge­rin. In ihrer Instagram-Story zeigt sie sich mit Sie­ger­lä­cheln, Vic­to­ry­zei­chen und dem nun in Gänze sicht­ba­ren al-Aqsa-Moschee-Pullover, den sie auch schon bei der Key­note trug. Ergänzt ist die­ses Bild um die Worte: »Just Ger­ma­nys most hated cli­mate acti­vist report­ing in let you all know, I’m doing great and also to remind ya’ll… Ain’t Cli­mate Jus­tice wit­hout a FREE PALESTINE«.

Zamzam Ibra­him fei­ert nach ihrer Key­note… Fotos: Screen­shot Instagram
… und zeigt ihre Hal­tung noch­mal überdeutlich.

Kampnagel ›verlernresistent‹

Für all jene, die gegen Anti­se­mi­tis­mus ein­ste­hen, endete die Debatte um Ibra­hims Auf­tritt so in einer Nie­der­lage. Und hegte man die Hoff­nung, dass man zumin­dest auf Kamp­na­gel etwas aus den Vor­fäl­len gelernt (oder eher, wie es im Jar­gon heißt, verlernt) habe, wurde man eben­falls ent­täuscht. Gegen­über Untie­fen sagte Ame­lie Deufl­hard zwar: »Den Pro­zess rund um den Schwer­punkt zur Kli­ma­ge­rech­tig­keit wer­den wir gründ­lich auf­ar­bei­ten. Dabei neh­men wir die geäu­ßerte Kri­tik ernst und set­zen uns damit aus­ein­an­der, was der Vor­gang für jüdi­sches und anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sches Publi­kum her­vor­ge­ru­fen hat.« Bis­her deu­tet aber nichts dar­auf hin, dass man sich auf diese Ankün­di­gung ver­las­sen könnte.

Eher das Gegen­teil ist der Fall: Deufl­hard zeigte sich nach der Key­note in ihrer Ent­schei­dung bestärkt. Ibra­hims Vor­trag bezeich­nete sie gegen­über NDR 90,3 als »aus­ge­wo­gene, gemä­ßigte und kämp­fe­ri­sche Rede für alle«. Und auf die Frage, ›ob es das wert war‹, ant­wor­tete sie: »Es war’s viel­leicht wert dafür, dass es keine gute Idee ist, dass wir unter­schied­li­che Stim­men von schwar­zen Akti­vis­tin­nen, von mus­li­mi­schen Akti­vis­tin­nen ver­stum­men las­sen. Wir müs­sen ohne sol­che har­ten Anwürfe dis­ku­tie­ren kön­nen«. Mit den »har­ten Anwür­fen« ist frag­los die vor­nehm­lich von Jüdin­nen und Juden geäu­ßerte Benen­nung von Ibra­hims Posi­tio­nen als anti­se­mi­tisch gemeint. Die Bot­schaft ist also deut­lich: Kamp­na­gel will den ›viel­stim­mi­gen Dis­kurs‹ gerne ohne anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche jüdi­sche Stim­men führen.

Diese Erkennt­nis ist bit­ter ent­täu­schend. In Ent­täu­schung aber steckt zumin­dest immer auch die auf­klä­re­ri­sche Dimen­sion einer Des­il­lu­sio­nie­rung. Die Vor­gänge um den Auf­tritt Zamzam Ibra­hims waren gut geeig­net, Illu­sio­nen zu ver­lie­ren – allen voran die Illu­sion, dass man Kamp­na­gel im Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus zu den Ver­bün­de­ten zäh­len könne.

Anti-Antisemitismus bleibt Handarbeit

Ent­täuscht in die­sem Sinne sind auch einige Kampnagel-Künstler:innen. Dor Aloni fand in einem Inter­view mit Zeit Online am Diens­tag klare Worte: »Für mich ist das eine poli­ti­sche Frage, ich finde, die Rela­ti­vie­rung des Holo­caust und die Recht­fer­ti­gung des Hamas-Massaker keine Posi­tion, die man mit ande­ren kon­trä­ren Posi­tio­nen dis­ku­tie­ren kann. Kamp­na­gel hat den Anspruch, sichere Räume für bedrohte und mar­gi­na­li­sierte Grup­pen zu bie­ten. Ich habe den Ein­druck, dass das für Juden so nicht gilt.« 

Und der Per­for­mance­künst­ler Tucké Royale kom­men­tierte auf Insta­gram, das Ver­hal­ten Kamp­na­gels zeige die gefähr­li­che Ten­denz, dass in Sachen Anti­se­mi­tis­mus aufs Bauch­ge­fühl gehört wird statt auf die Anti­se­mi­tis­mus­for­schung und auf Jüdin­nen und Juden: »Ein abso­lu­ter Irr­tum zu den­ken, dass sich Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik und Anti­ras­sis­mus aus­schlie­ßen.« Ansons­ten aber wurde Ibra­hims Anti­se­mi­tis­mus von Künstler:innen aus dem Kampnagel-Umfeld geleug­net oder legi­ti­miert – oder es herrschte Schwei­gen. Das zeigt: Sich hier offen gegen Anti­se­mi­tis­mus und Isra­el­hass zu stel­len, macht schnell einsam.

In ihrer Eröff­nungs­rede am Don­ners­tag sagte Ame­lie Deufl­hard: »Ich bin mir sicher, dass uns diese Kon­tro­verse auch in den nächs­ten Wochen und Mona­ten beschäf­ti­gen wird.« Damit das keine lee­ren Worte blei­ben, gilt es, die­sen Satz als Auf­for­de­rung zu ver­ste­hen. Hätte es keine kri­ti­sche Öffent­lich­keit gege­ben, wäre der Anti­se­mi­tis­mus Zamzam Ibra­hims nicht ein­mal Thema gewor­den; ohne eine wei­ter­hin kri­ti­sche Öffent­lich­keit wird die Debatte auch keine Kon­se­quen­zen haben.

Lukas Betz­ler

Der Autor hat vor einer Woche eine aus­führ­li­che Recher­che zum Anti­se­mi­tis­mus Zamzam Ibra­hims veröffentlicht.

  • 1
    Wenn Kampnagel-Intendantin Ame­lie Deufl­hard gegen­über Untie­fen ledig­lich all­ge­mein pro­kla­miert: »Wir distan­zie­ren uns in aller Deut­lich­keit von anti­se­mi­ti­schen und isra­el­feind­li­chen Hal­tun­gen«, muss sie sich die Frage gefal­len las­sen: Wo war diese Deut­lich­keit im kon­kre­ten Falle Zamzam Ibrahims?
  • 2
    Auch in Ihren Eröff­nungs­wor­ten nannte Ame­lie Deufl­hard die Debatte als Grund für die Ver­le­gung ins Inter­net: »The con­tro­versy around the key­note made us decide to place it online.«
  • 3
    Das Video ist nun auch wie­der aus dem Inter­net ver­schwun­den – samt vie­ler kri­ti­scher Kommentare.
  • 4
    »You see, when you stand on the side of jus­tice, the sys­tems of oppres­sion that we seek to break down will try to deplat­form you, but no sen­sa­ti­ons head­lines or lies can ever win against you.«
  • 5
    Wört­lich heißt es in der Rede: »See, the fight against cli­mate change is a fight against all sys­tems that fuel the cli­mate cri­sis: white supre­macy, racism, eco­no­mic explo­ita­tion, greed – I could be here all day.« Und wei­ter: »We need a green eco­nomy, finan­cial sys­tems that exist to serve the needs of peo­ple and our pla­net.« Diese von Gier befreite »green eco­nomy« klingt auf­fäl­lig ähn­lich wie das Pro­gramm des »Isla­mic Ban­king«, das als ein mit der Scha­ria kon­for­mes Finanz­we­sen etwa im Iran pro­pa­giert wird.
  • 6
    Daher ist auch der Bericht im Ham­bur­ger Abend­blatt irre­füh­rend, der behaup­tet, die pro­pa­läs­ti­nen­si­sche Demo habe gegen die Ver­le­gung von Ibra­hims Vor­trag ins Inter­net demons­triert, und die Situa­tion also so dar­stellt, als werde Kamp­na­gel von zwei Sei­ten glei­cher­ma­ßen ange­grif­fen. Rich­tig ist: Die­je­ni­gen, die für Zamzam Ibra­him demons­trier­ten, sahen sich mit Kamp­na­gel auf der­sel­ben Seite – und das zu Recht.
  • 7
    Ein State­ment der im Work­shop­pro­gramm von »How Low Can You Go« auf­tre­ten­den Künst­le­rin Niya B brint diese Sicht auf den Punkt: »[…] they [Kamp­na­gel] are refu­sing to can­cel spea­k­ers who are fal­sely bran­ded as anti­se­mi­tic. In the cur­rent cli­mate, this is a bold public state­ment for a Ger­man cul­tu­ral institution.«

Schiffbruch mit Zuschauern

Schiffbruch mit Zuschauern

Der geplante Auf­tritt der anti­se­mi­ti­schen Kli­ma­ak­ti­vis­tin Zamzam Ibra­him in der Kul­tur­fa­brik Kamp­na­gel sorgt für Empö­rung. Die Kri­tik an Ibra­him ist mehr als berech­tigt, der Eklat legt jedoch vor allem grund­sätz­li­che Pro­bleme offen.

»Wie tief kann man sin­ken?«, fragt Kamp­na­gel – und erlei­det dabei lei­der selbst Schiff­bruch. Foto: Screen­shot kampnagel.de

Eigent­lich soll sich auf Kamp­na­gel von Don­ners­tag bis Sams­tag alles um die gesell­schaft­li­chen Her­aus­for­de­run­gen durch die Kli­ma­ka­ta­stro­phe dre­hen. Der drei­tä­gige Schwer­punkt unter dem Titel How Low Can We Go? umfasst drei (Theater-)Performances, eine Performance-Installation sowie ein Workshop- und Vor­trags­pro­gramm. Gemein­sam sol­len diese For­mate zu einer kol­lek­ti­ven »Reori­en­tie­rung« ange­sichts der Kli­ma­ka­ta­stro­phe, der »wahr­schein­lich lang­fris­tigs­ten poli­ti­schen Mega-Krise unse­rer Zeit«, bei­tra­gen, wie es in der Ankün­di­gung heißt.

Jetzt erhält die Ver­an­stal­tungs­reihe breite mediale Auf­merk­sam­keit. Im Fokus ste­hen jedoch nicht die Her­aus­for­de­run­gen der Kli­ma­ka­ta­stro­phe, son­dern die Gefah­ren des Anti­se­mi­tis­mus. Grund dafür ist die Ein­la­dung der bri­ti­schen Akti­vis­tin Zamzam Ibra­him, die den Klima-Schwerpunkt mit einem Keynote-Vortrag »über inter­sek­tio­nale Aspekte von Kli­ma­ge­rech­tig­keit« eröff­nen und einen ›Safer-Space‹-Workshop für BIPoC (Schwarze, Indi­gene und Peo­ple of Color) lei­ten soll. 

Der Anti­se­mi­tis­mus­be­auf­tragte der Stadt Ham­burg, Ste­fan Hen­sel, kri­ti­sierte diese Ein­la­dung in einer Pres­se­mit­tei­lung am Mon­tag scharf: Kamp­na­gel biete »einer aus­ge­wie­se­nen Anti­se­mi­tin […] eine Bühne«, lasse damit die Jüdin­nen und Juden Ham­burgs im Stich und wie­der­hole die Feh­ler der Docu­menta fif­teen. Hen­sels Kri­tik, die sich zudem an den Kul­tur­se­na­tor Cars­ten Brosda rich­tete, des­sen Behörde den drei­tä­gi­gen Kli­ma­schwer­punkt finan­zi­ell unter­stützt, wurde in den Medien schnell und breit rezipiert.

Wo verlaufen die ›roten Linien‹?

Hen­sel for­dert, Ibra­him aus­zu­la­den: Sie unter­stütze die anti­se­mi­ti­sche BDS-Kampagne gegen Israel und rela­ti­viere den Hamas-Terror, schreibt er mit Ver­weis auf Social-Media-Aktivität und öffent­li­che Auf­tritte Ibra­hims. Ame­lie Deufl­hard hin­ge­gen, die Inten­dan­tin von Kamp­na­gel, ver­tei­digt die Ein­la­dung: Man habe Ibra­him ein­ge­la­den, weil sie Kli­ma­schutz und soziale Gerech­tig­keit ver­binde, wird Deufl­hard im Hamburg-Journal zitiert. Außer­dem werde sie am Don­ners­tag nicht über den ›Nah­ost­kon­flikt‹ spre­chen und habe im per­sön­li­chen Gespräch auf Nach­frage bestä­tigt, »dass sie den Anschlag der Hamas [vom 7. Okto­ber 2023] klar verurteilt«. 

Der von Hen­sel eben­falls adres­sierte Kul­tur­se­na­tor Cars­ten Brosda zeigt sich kri­ti­scher: Ibra­him sei »auf­grund ihrer teils anti­se­mi­ti­schen Äuße­run­gen im Zusam­men­hang mit dem Nahost-Konflikt zu Recht auf Kri­tik gesto­ßen«, urteilte er in einer Stel­lung­nahme. Poli­ti­schen Ein­grif­fen in die Pro­gramm­ge­stal­tung von Kul­tur­ein­rich­tun­gen stehe er aller­dings kri­tisch gegen­über; die Absage der Ver­an­stal­tun­gen mit Zamzam Ibra­him wollte er nicht for­dern. Dass er dabei auf die Kunst­frei­heit ver­wies, erstaunt jedoch, schließ­lich ist Ibra­him dezi­diert als Akti­vis­tin ein­ge­la­den, nicht als Künstlerin.

Dass alle Betei­lig­ten an der Debatte ihre anti-antisemitische Hal­tung beto­nen, ver­steht sich. Deufl­hard etwa benennt ihre ›roten Linien‹ in Sachen Anti­se­mi­tis­mus  – »die Abspra­che des Exis­tenz­rech­tes Isra­els, Auf­rufe zu Gewalt oder Hass gegen­über Juden und Jüdin­nen«. Der Streit scheint sich somit mal wie­der um die Frage zu dre­hen, wo genau diese ›roten Linien‹ ver­lau­fen und wann sie erreicht sind: ob etwa die Unter­stüt­zung der BDS-Kampagne oder die Behaup­tung, Israel begehe in Gaza einen Geno­zid, aus­zu­hal­tende poli­ti­sche Posi­tio­nen oder eine nicht zu tole­rie­rende Form des Anti­se­mi­tis­mus darstellen.

Deufl­hard hat – wie auch Kul­tur­se­na­tor Cars­ten Brosda – im Jahr 2020 die Erklä­rung der Initia­tive GG 5.3 Welt­of­fen­heit unter­zeich­net, die im Namen der Viel­falt gegen die BDS-Resolution des Bun­des­tags Stel­lung bezieht: »Unter Beru­fung auf diese Reso­lu­tion wer­den durch miss­bräuch­li­che Ver­wen­dun­gen des Anti­se­mi­tis­mus­vor­wurfs wich­tige Stim­men bei­sei­te­ge­drängt und kri­ti­sche Posi­tio­nen ver­zerrt dar­ge­stellt«, so die Erklärung.

Ist die Debatte also eigent­lich nur eine um unter­schied­li­che Anti­se­mi­tis­mus­de­fi­ni­tio­nen, wie Deufl­hard es auch am Diens­tag Abend im Ham­burg Jour­nal dar­stellte? Ist es schlicht so, dass Ibra­hims Äuße­run­gen gemäß IHRA-Definition anti­se­mi­tisch sind, qua JDA-Definition jedoch nicht, und dass der Bezug auf die umfas­sen­dere IHRA-Antisemitismusdefinition hier eine ›wich­tige Stimme bei­sei­te­drän­gen‹ soll? Um diese Fra­gen zu beant­wor­ten, gilt es, sich die Äuße­run­gen und Posi­tio­nen Zamzam Ibra­hims genauer anzu­schauen, für die sie nun kri­ti­siert wird.

Als Studierendenvertreterin gegen Israel

Zamzam Ibra­him ist eine pro­fi­lierte und gut ver­netzte Kli­ma­ak­ti­vis­tin. Sie hat eine Nachhaltigkeits-NGO gegrün­det, ist Bera­te­rin der UN und besuchte bereits drei UN-Klimakonferenzen, zuletzt die COP28 in Dubai. Aber auch vor ihrem Kli­ma­ak­ti­vis­mus war sie bereits poli­tisch umtrie­big – erst als Prä­si­den­tin der Stu­dents’ Union ihrer Uni­ver­si­tät in Sal­ford, dann als Vor­sit­zende der bri­ti­schen Natio­nal Union of Stu­dents (NUS) und als Vize­prä­si­den­tin der Euro­pean Stu­dents’ Union (ESU). Akti­vis­mus gegen Israel bil­det dabei eine Kon­stante ihres stu­den­ti­schen Engagements.

Als frisch gewählte NUS-Präsidentin ver­sprach sie 2019, Antisemitismus-Trainings für NUS-Funktionär:innen anzu­bie­ten, nach­dem es in den Jah­ren zuvor meh­rere anti­se­mi­ti­sche Vor­fälle1Im Januar 2023 ver­öf­fent­lichte die NUS einen unab­hän­gi­gen Bericht, der den Anti­se­mi­tis­mus in der Stu­die­ren­den­ge­werk­schaft auf­ar­bei­tet. Zamzam Ibra­him wird darin nicht erwähnt. in der Stu­die­ren­den­ge­werk­schaft gege­ben hatte. Der Erfolg die­ser Trai­nings ist aller­dings zwei­fel­haft: Zwei Jahre nach dem Ende von Ibra­hims Amts­zeit, im März 2022, lud die NUS zu ihrer Jah­res­kon­fe­renz den anti­zio­nis­ti­schen und ver­schwö­rungs­ideo­lo­gi­schen Rap­per Low­key ein.2Low­key hatte sich durch Song­texte wie »You say you know about the Zio­nist lobby / But you put money in their pocket when you’re buy­ing their cof­fee« und »It’s about time we glo­ba­li­sed the inti­fada« pro­fi­liert. Auch zum 7. Okto­ber hat er anti­se­mi­ti­sche Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gien ver­brei­tet. Auf Kri­tik jüdi­scher Mit­glie­der an die­sem Pro­gramm­punkt reagierte die NUS mit der Auf­for­de­rung, diese soll­ten dann doch ein­fach den Kon­zert­saal ver­las­sen.3Vgl. dazu die­sen Arti­kel der Zei­tung The Jewish Chro­nicle. Als dar­auf­hin For­de­run­gen an Spo­tify laut wur­den, Songs von Low­key mit anti­se­mi­ti­schen Lyrics von der Platt­form zu neh­men, pro­tes­tierte Ibra­him auf Twit­ter gegen diese Unter­drü­ckung ›unse­res [!] paläs­ti­nen­si­schen Akti­vis­mus‹ und drohte mit Boy­kott: »If Spo­tify remove a sin­gle song of his [i.e. Low­key], I swear will make it my full time job to cam­paign for a mass boy­cott. Don’t play with your bag Oga, ya’ll know how BDS has impac­ted companies.«

Mit ›Mas­sen­boy­kott‹ gegen die ›Israel-Lobby‹. Foto: Screen­shot Twitter/Archive.org

Bereits 2021, da war sie Vize­prä­si­den­tin der ESU, kri­ti­sierte die Euro­pean Union of Jewish Stu­dents (EUJS) Ibra­him für ihre Gleich­set­zung Isra­els mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus auf Insta­gram.4In einer Instagram-Story habe sie einen Post geteilt, in dem es heißt: »If you are silent when it comes to Pal­es­tine, you would have been silent at the time of the Holo­caust.« Die Auf­for­de­rung der EUJS, Ibra­him solle sich von ihrem Instagram-Post distan­zie­ren oder ande­ren­falls von ihrem Amt ent­fernt wer­den, ver­hallte jedoch wirkungslos.

Nach dem 7. Oktober

Die Anschläge der Hamas vom 7. Okto­ber scheint Ibra­him nie öffent­lich ver­ur­teilt zu haben. Im Gegen­teil, sie ver­öf­fent­lichte in den Sozia­len Medien meh­rere Posts, die kaum anders denn als Legi­ti­mie­rung des Mas­sa­kers gele­sen wer­den kön­nen. Am 9. Okto­ber, zwei Tage nach dem Mas­sa­ker, schrieb sie auf Twit­ter: »History will remem­ber those that sided with the oppres­sor and igno­red the oppres­sed. Jus­tice lies with God, but the resis­tance is in our hands.« Am 12. Okto­ber pole­mi­sierte sie gegen einen Arti­kel Nao­mie Kleins, der die Legi­ti­mie­rung oder gar Feier des Hamas-Massakers durch viele (ver­meint­lich) Linke kri­ti­siert: »Babe, what did you mean by Radi­cal resis­tance you spoke about for indi­ge­nous com­mu­ni­ties? Or did that never apply to Pal­es­ti­ni­ans?« Über die Opfer des zum ›(radi­ka­len) Wider­stand‹ ver­klär­ten Ter­rors ver­lor Ibra­him kein Wort.

Ibra­hims Twitter-Profil ist seit dem 14. Januar auf ›pri­vat‹ gestellt. Aber auch auf ihrem wei­ter­hin öffent­li­chen Instagram-Profil ist sie aktiv. Am 15. Januar teilte Ibra­him in ihrer Instagram-Story etwa ein Bild mit dem Spruch: »Pal­es­tine has showed the world what resi­li­ence is. Yemen has showed the world what cou­rage is. South Africe has showed the world what jus­tice is.« Was genau mit der »paläs­ti­nen­si­schen Resi­li­enz« gemeint ist, ist hier offen gelas­sen. Mit dem »Mut« des Jemen ist in die­sem Zusam­men­hang aber unmiss­ver­ständ­lich der Ter­ro­ris­mus der vom Iran finan­zier­ten Huthi-Rebellen gemeint.

Gutes Klima mit Islamisten

Der Ein­wand, dass ein­zelne Posts in den sozia­len Medien als Grund­lage für eine Aus­la­dung womög­lich nicht aus­rei­chen, hat durch­aus seine Berech­ti­gung. Im Falle Ibra­hims geht das anti­is­rae­li­sche Enga­ge­ment jedoch weit über sym­bo­li­schen Social-Media-Aktivismus hin­aus. Dabei offen­ba­ren sich vor allem ihre Ver­bin­dun­gen zum poli­ti­schen Islam.

Am 29. Novem­ber etwa war sie ein­ge­la­de­ner Gast bei einer Ver­an­stal­tung der Fri­ends of Al-Aqsa (FOA), einer der Mus­lim­bru­der­schaft zuge­hö­ri­gen, die Hamas unter­stüt­zen­den bri­ti­schen Orga­ni­sa­tion.5Ihr Grün­der Ismail Patel ver­tritt einen poli­ti­schen Islam und ist offe­ner Anhän­ger der Hamas. 2009 ver­kün­dete er auf einer Demons­tra­tion für Gaza: »[W]e salute Hamas for stan­ding up to Israel«. Am 7. Okto­ber pos­tete FOA tri­um­phie­rend das Video eines Bag­gers, der im Rah­men des Hamas-Angriffs auf Israel den Zaun an der Grenze von Gaza zer­stört. Vgl. für eine paläs­ti­na­so­li­da­ri­sche, aber ver­gleichs­weise anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Per­spek­tive auf FOA: https://www.workersliberty.org/story/2023–11-22/who-are-friends-al-aqsa. Ibra­hims, vor­sich­tig for­mu­liert, unkri­ti­sche Nähe zum poli­ti­schen Islam äußert sich auch in ihrem Auf­ruf im Februar 2022, für das Forum of Euro­pean Mus­lim Youth and Stu­dent Orga­niza­ti­ons (FEMYSO) zu spen­den, das vom Lan­des­ver­fas­sungs­schutz Baden-Württemberg eben­falls der Mus­lim­bru­der­schaft zuge­rech­net wird.6Im Bericht des Lan­des­ver­fas­sungs­schut­zes Baden-Württemberg von 2022 wird FEMYSO als »Dach­or­ga­ni­sa­tion für die Jugend­ar­beit der Mus­lim­bru­der­schaft« bezeich­net, die »in enger Koope­ra­tion mit den natio­na­len mus­li­mi­schen Studenten- und Jugend­ver­bän­den als brei­ter Nach­wuchs­pool für die euro­päi­sche Mus­lim­bru­der­schaft fungiert«.

Beson­ders schwer wiegt Ibra­hims Auf­tritt in einer anti­is­rae­li­schen Sen­dung von Press TV, dem Aus­lands­sen­der des ira­ni­schen Regimes, am 20. Dezem­ber. Schon der Umstand allein, dass Ibra­him sich von einem Sen­der des anti­se­mi­ti­schen ira­ni­schen Regimes ein­la­den lässt, das auch Umweltaktivist:innen ein­sperrt und fol­tert und das allein in den letz­ten vier Wochen 100 Men­schen hat hin­rich­ten las­sen, ist nicht zu ent­schul­di­gen. Ihr Auf­tritt in der Sen­dung mit dem Titel »Gaza under Attack« ist zudem auch des­halb viel­sa­gend, weil sie darin, eine Woche nach der COP28 in Dubai, expli­zit als Kli­ma­ak­ti­vis­tin auf­tritt und adres­siert wird. 

Zamzam Ibra­him spricht im ira­ni­schen Staats­fern­se­hen über inter­sek­tio­nale Aspekte von Kli­ma­ge­rech­tig­keit. Foto: Screen­shot Press TV.

So fragt der Mode­ra­tor sie etwa nach der »inter­sec­tion­a­lity« der Anti-Israel-Proteste am Rande der COP28. Ibra­him ant­wor­tet: »Cli­mate jus­tice fun­da­men­tally is a glo­bal call for the end of des­truc­tion, dis­pla­ce­ment of peo­ple and land, which of course per­fectly fits into the expe­ri­ence of the Pal­es­ti­nian peo­ple. […] The call for cli­mate jus­tice its­elf is very much inter­sec­tional in its prac­tice, and calls for under­stan­ding that [in] any form of eth­nic cle­an­sing and geno­cide, wether it’s indi­ge­nous com­mu­ni­ties in the Ama­zo­nia forest or it’s the peo­ple of Pal­es­tine, the issues and the sys­tems of oppres­sion that exist there are very much the same.« Auf die Sug­ges­tiv­fra­gen des Mode­ra­tors, etwa danach, ob das Ziel Isra­els es sei, den Gaza­strei­fen »unbe­wohn­bar« zu machen, ant­wor­tet Ibra­him stets zustim­mend: »abso­lut­ely«.

Zweierlei Antisemitismus?

Zamzam Ibra­him ist also, das zei­gen diese Quel­len, eine aus­ge­wie­sene anti­zio­nis­ti­sche Akti­vis­tin, die es selbst beim Thema Kli­ma­ge­rech­tig­keit schafft, in Israel das größte Übel aus­zu­ma­chen. Sie hat zur Unter­stüt­zung der BDS-Kampagne auf­ge­ru­fen und Isra­els Poli­tik mit der Shoah ver­gli­chen, sie hat den anti­se­mi­ti­schen Ter­ror der Hamas und der Huthi legi­ti­miert und sie pflegt enge Ver­bin­dun­gen zu Orga­ni­sa­tio­nen und Ver­tre­tern des poli­ti­schen Islam. Zusam­men­ge­nom­men spre­chen diese Aspekte eine der­art deut­li­che Spra­che, dass selbst die Anti­se­mi­tis­mus­de­fi­ni­tion der – von vie­len Antisemitismusforscher:innen als unzu­rei­chend kri­ti­sier­ten – Jeru­sa­le­mer Erklä­rung hin­reicht, um Ibra­hims Äuße­run­gen und Posi­tio­nen als anti­se­mi­tisch zu erken­nen. Das Zusam­men­tref­fen all die­ser Aspekte unter­schei­det sie auch von ande­ren Ein­ge­la­de­nen im Rah­men des Kli­ma­fes­ti­vals, die in den sozia­len Medien teil­weise ver­gleich­bar anti­se­mi­ti­sche Posi­tio­nen zu Israel ver­tre­ten.7 Da ist zum Bei­spiel June­seo Hwang, der auf Twit­ter ein Pos­ting des rech­ten anti­is­rae­li­schen Akti­vis­ten Jack­son Hinkle geteilt hat, das die inter­na­tio­nale Unter­stüt­zung der von Süd­afrika initi­ier­ten Anklage Isra­els vor dem IGH fei­ert. Hwang ver­bin­det die­sen Tweet mit der For­de­rung, Israel nicht nur für ›Geno­zid‹, son­dern auf­grund der mit dem Krieg ein­her­ge­hen­den Umwelt­zer­stö­rung in Gaza auch für ›Öko­zid‹ anzu­kla­gen. Und da ist Giu­lia Casa­lini, die in einer Instagram-Story einen Post geteilt hat, in dem Gaza als »the world’s lar­gest open-air pri­son and con­cen­tra­tion camp« bezeich­net wird. Dass inter­na­tio­nale Klimaaktivist:innen der­ar­tige anti­is­rae­li­sche Posi­tio­nen ver­tre­ten, ist wenig über­ra­schend. Dass sol­che Posi­tio­nen und Hal­tun­gen auch in Deutsch­land kei­ner­lei öffent­li­che Kri­tik her­vor­ru­fen, wider­legt zudem die ver­brei­tete Erzäh­lung, man könne ange­sichts der Zen­sur durch eine ›pro­is­rae­li­sche Lobby‹ gar keine Kri­tik an Israel üben, ohne mit ›Anti­se­mi­tis­mus­vor­wür­fen‹ über­zo­gen zu wer­den. So wie die aller­meis­ten anti­is­rae­li­schen und ›isra­el­kri­ti­schen‹ Künstler:innen und Aktivist:innen haben Casa­lini und Hwang nichts zu befürchten.

Es stellt sich daher die Frage: Wie kann es sein, dass die­ser Anti­se­mi­tis­mus nicht erkannt wurde und dass dar­aus keine Kon­se­quen­zen gezo­gen wur­den? Schließ­lich wur­den infor­mier­ten Krei­sen zufolge nach dem 7. Okto­ber eigens interne Schu­lun­gen zu Anti­se­mi­tis­mus ange­bo­ten. Und schließ­lich hat Kamp­na­gel im Novem­ber selbst gezeigt, dass es auch anders geht, indem eine Lesung des soeben mit anti­se­mi­ti­schen Äuße­run­gen her­vor­ge­tre­te­nen Fern­seh­phi­lo­so­phen Richard David Precht abge­sagt wurde. Offi­zi­ell geschah die Aus­la­dung bloß, weil am sel­ben Abend der israe­li­sche Sän­ger Asaf Avi­dan im Haus auf­trat und eine »Kon­fron­ta­tion« ver­mie­den wer­den sollte. Die Kampnagel-Sprecherin Siri Keil machte gegen­über t‑online jedoch ein Bemü­hen Prechts »um ein tie­fer­ge­hen­des Ver­ständ­nis der berech­tig­ten Kri­tik und damit ver­bun­de­nen Refle­xion sei­ner Äuße­run­gen« zur Bedin­gung für zukünf­tige Auf­tritte. Warum im Falle Ibra­hims nicht ein­mal der­ar­tige Bedin­gun­gen for­mu­liert wer­den, ist nicht nachvollziehbar.

Antisemitismus als blinder Fleck

Dass ein Umgang mit dem Pro­blem des Anti­se­mi­tis­mus hier gänz­lich aus­blieb, ist auch des­halb beson­ders frap­pie­rend, weil mit dem Ham­bur­ger Schau­spie­ler und Regis­seur Dor Aloni, der in Israel gebo­ren und auf­ge­wach­sen ist, ein Künst­ler im Pro­gramm des Kli­ma­fes­ti­vals auf­tritt, der von Anti­se­mi­tis­mus unmit­tel­bar betrof­fen ist. In sei­ner gemein­sam mit Meera Theu­nert ent­wi­ckel­ten (und bereits an allen drei Aben­den aus­ver­kauf­ten) Per­for­mance Atlan­tis spürt er dem Atlantis-Mythos als »Vor­lage für die Ver­brei­tung faschis­to­ider Welt­er­zäh­lun­gen und Zer­stö­rungs­phan­ta­sien« nach. Auch Anti­se­mi­tis­mus wird in der Per­for­mance the­ma­ti­siert. Die Idee, Aloni über die anti­se­mi­ti­schen Hal­tun­gen der Eröff­nungs­red­ne­rin zu infor­mie­ren und ihn nach sei­ner Per­spek­tive zu fra­gen, scheint aber nie­man­dem gekom­men zu sein – etwas, das auf Kamp­na­gel im Falle von Ras­sis­mus oder Que­er­feind­lich­keit wohl undenk­bar wäre. Es fällt schwer, dar­aus andere Schlüsse zu zie­hen als, wie es der bri­ti­sche Come­dian David Bad­diel prä­gnant for­mu­liert hat: Jews don’t count.

Das Leit­bild von Kamp­na­gel, man wolle ein von »Rück­sicht­nahme und Für­sorge« gepräg­ter Ort des (Ver)Lernens sein, der »soli­da­risch mit mar­gi­na­li­sier­ten, dis­kri­mi­nier­ten und ille­ga­li­sier­ten Künstler:innen, Gäs­ten und Kolleg:innen« ist, wird dadurch kon­ter­ka­riert. Wenn sich Kamp­na­gel in einem State­ment »zur Debatte über die Lage im Nahen Osten« zur Auf­gabe setzt, »kom­plexe und wider­sprüch­li­che Rea­li­tä­ten von Men­schen zu ver­mit­teln«, dann ist das Haus an die­ser Auf­gabe durch die Ein­la­dung Ibra­hims und den unge­nü­gen­den Umgang mit Kri­tik kra­chend geschei­tert. Der ›plu­rale Dis­kurs­raum‹ Kamp­na­gel erweist sich in Hin­blick auf israel­be­zo­ge­nen Anti­se­mi­tis­mus als ziem­lich ein­stim­mig. Non­kon­for­mis­ti­sche jüdi­sche Per­spek­ti­ven wie die von Dor Aloni sind in die­sem Raum offen­bar nicht vorgesehen.

Ob sich daran noch ein­mal etwas ändern wird, muss bezwei­felt wer­den. Denn von Lern­fä­hig­keit und Pro­blem­be­wusst­sein ist in einem State­ment Ame­lie Deufl­hards gegen­über dem NDR gelinde gesagt wenig zu mer­ken. »Es muss«, warnt sie, »auch in Deutsch­land mög­lich sein, die Regie­rungs­po­li­tik von Israel zu kri­ti­sie­ren. Wenn das nicht mehr mög­lich ist, wäre nicht nur die Kunst­frei­heit, son­dern auch die Mei­nungs­frei­heit ver­lo­ren.« Deufl­hard sug­ge­riert hier zum einen, es gehe Zamzam Ibra­him um eine ›Kri­tik der Regie­rungs­po­li­tik von Israel‹, und impli­ziert zum ande­ren ebenso wahr­heits­wid­rig, in Deutsch­land drohe die Ver­un­mög­li­chung die­ser Kri­tik und damit das Ende von Kunst- und Mei­nungs­frei­heit. Damit aber malt sie ein der­art ver­zerr­tes Bild des öffent­li­chen Dis­kur­ses, dass sich die Frage stellt, zu wel­chem Grad es sich in die­ser Hin­sicht von jenem Ibra­hims unterscheidet.

Was tun?

Ste­fan Hen­sels Pres­se­mit­tei­lung zu den Hin­ter­grün­den der Ein­la­dung Zamzam Ibra­hims hat starke öffent­li­che Reak­tio­nen her­vor­ge­ru­fen. Vor allem Jüdin­nen und Juden äußer­ten ihre Bestür­zung und ihr Unver­ständ­nis ange­sichts der Ent­schei­dung Kamp­na­gels, an der Ein­la­dung fest­zu­hal­ten. Das Junge Forum der DIG Ham­burg und der DIG-Vorsitzende Vol­ker Beck rufen inzwi­schen für Don­ners­tag zu einer Kund­ge­bung vor Kamp­na­gel auf.

Weit­ge­hend still ist es bis­her hin­ge­gen aus der Kli­ma­be­we­gung geblie­ben. In der Ver­gan­gen­heit kam es hier, ins­be­son­dere ange­sichts anti­se­mi­ti­scher Ten­den­zen in der welt­wei­ten Kli­ma­be­we­gung, auch immer wie­der zu Soli­da­ri­täts­er­klä­run­gen mit Jüdin­nen und Juden und Bekennt­nis­sen gegen Anti­se­mi­tis­mus und Isra­el­feind­schaft, etwa von Fri­days for Future (FFF) Ham­burg. Nicht so im aktu­el­len Fall. Eine Anfrage von Untie­fen an FFF Ham­burg blieb ebenso unbe­ant­wor­tet wie eine Anfrage an Quang Paasch, ehe­ma­li­ger Spre­cher von FFF Deutsch­land, der am Sams­tag zusam­men mit Zamzam Ibra­him den inter­sek­tio­na­len BIPoC-Workshop lei­ten soll.

Es ist wich­tig, dass Jüdin­nen und Juden in der aktu­el­len Situa­tion kon­krete sicht- und hör­bare Soli­da­ri­tät erfah­ren. Und es gilt, den ver­brei­te­ten Ver­su­chen der Selbst­vik­ti­mi­sie­rung anti­is­rae­li­scher Stim­men ent­ge­gen­zu­tre­ten, mit denen die Gewalt anti­se­mi­ti­scher (Sprech-)Handlungen geleug­net und die Rolle von Tätern und Opfern ver­tauscht wird. Gleich­zei­tig müs­sen res­sen­ti­ment­be­la­dene Reflexe und Instru­men­ta­li­sie­rungs­ver­su­che der aktu­el­len Situa­tion aber auch als sol­che benannt wer­den. Blickt man auf die Kom­men­tare in den sozia­len Medien, drängt sich der Ein­druck auf, dass man­che sich weni­ger aus Empö­rung über den Anti­se­mi­tis­mus spei­sen (der bei einem baye­ri­schen Rechts­kon­ser­va­ti­ven wie Hubert Aiwan­ger viel eher ent­schul­digt wird) als aus der Freude über die Gele­gen­heit, einer jun­gen schwar­zen Mus­lima die Pest an den Hals zu wün­schen. Wenn die Welt den Unter­neh­mer Daniel Shef­fer mit der Behaup­tung zitiert, Ibra­him stehe »auf so fast jeder Liste der gefähr­lichs­ten Anti­se­mi­ten in Europa«, ist das außer­dem nicht nur über­zo­gen, son­dern schlicht unse­riös – wo, bit­te­schön, soll es sol­che Lis­ten geben? Die Häme schließ­lich, mit der den Ver­ant­wort­li­chen auf Kamp­na­gel nun bis­wei­len »Schämt euch!« zuge­ru­fen wird, hat auch des­halb einen faden Bei­geschmack, weil hier eine Insti­tu­tion im Fokus steht, die – unge­ach­tet aller Kri­tik – als Ort quee­rer und (post-)migrantischer Kul­tur in Ham­burg ein­ma­lig ist.

Fest steht: Zamzam Ibra­him muss zwin­gend aus­ge­la­den wer­den. Aber statt pol­tern­der Rhe­to­rik und res­sen­ti­ment­ge­la­de­ner Empö­rung dar­über, was da mit ›unse­ren Steu­er­gel­dern‹ gemacht wird, bedarf es einer grund­le­gen­den Aus­ein­an­der­set­zung mit den Struk­tu­ren, die zu der aktu­el­len Situa­tion geführt haben. In die­ser Hin­sicht ist Ame­lie Deufl­hard sogar recht­zu­ge­ben: Es braucht Dis­kurs­räume für Aus­tausch und Aus­ein­an­der­set­zung. Der erste Schritt dahin wäre frei­lich, zu die­ser Aus­ein­an­der­set­zung keine Antisemit:innen ein­zu­la­den. Damit sich Jüdin­nen und Juden angst­frei in die­sen Dis­kurs­räu­men bewe­gen kön­nen; und damit in ihnen Platz für den Aus­tausch über die drän­gen­den gesell­schaft­li­chen Pro­bleme ist: über die Kli­ma­ka­ta­stro­phe, glo­bale Aus­beu­tungs­ver­hält­nisse und Ras­sis­mus – und vor allem über den Anti­se­mi­tis­mus, der im Kul­tur­be­trieb wie im Rest der Gesell­schaft einen fes­ten Platz hat.

Lukas Betz­ler

Der Autor hatte bereits län­ger zu Hal­tun­gen zum Anti­se­mi­tis­mus im Ham­bur­ger Kul­tur­be­trieb recher­chiert. Die Dis­kus­sion um die Ein­la­dung Zamzam Ibra­hims hat der Recher­che eine uner­war­tete Bri­sanz und Tages­ak­tua­li­tät gege­ben – und den eigent­li­chen Arti­kel­plan völ­lig über den Hau­fen geworfen.

  • 1
    Im Januar 2023 ver­öf­fent­lichte die NUS einen unab­hän­gi­gen Bericht, der den Anti­se­mi­tis­mus in der Stu­die­ren­den­ge­werk­schaft auf­ar­bei­tet. Zamzam Ibra­him wird darin nicht erwähnt.
  • 2
    Low­key hatte sich durch Song­texte wie »You say you know about the Zio­nist lobby / But you put money in their pocket when you’re buy­ing their cof­fee« und »It’s about time we glo­ba­li­sed the inti­fada« pro­fi­liert. Auch zum 7. Okto­ber hat er anti­se­mi­ti­sche Ver­schwö­rungs­ideo­lo­gien ver­brei­tet.
  • 3
    Vgl. dazu die­sen Arti­kel der Zei­tung The Jewish Chronicle.
  • 4
    In einer Instagram-Story habe sie einen Post geteilt, in dem es heißt: »If you are silent when it comes to Pal­es­tine, you would have been silent at the time of the Holocaust.«
  • 5
    Ihr Grün­der Ismail Patel ver­tritt einen poli­ti­schen Islam und ist offe­ner Anhän­ger der Hamas. 2009 ver­kün­dete er auf einer Demons­tra­tion für Gaza: »[W]e salute Hamas for stan­ding up to Israel«. Am 7. Okto­ber pos­tete FOA tri­um­phie­rend das Video eines Bag­gers, der im Rah­men des Hamas-Angriffs auf Israel den Zaun an der Grenze von Gaza zer­stört. Vgl. für eine paläs­ti­na­so­li­da­ri­sche, aber ver­gleichs­weise anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Per­spek­tive auf FOA: https://www.workersliberty.org/story/2023–11-22/who-are-friends-al-aqsa.
  • 6
    Im Bericht des Lan­des­ver­fas­sungs­schut­zes Baden-Württemberg von 2022 wird FEMYSO als »Dach­or­ga­ni­sa­tion für die Jugend­ar­beit der Mus­lim­bru­der­schaft« bezeich­net, die »in enger Koope­ra­tion mit den natio­na­len mus­li­mi­schen Studenten- und Jugend­ver­bän­den als brei­ter Nach­wuchs­pool für die euro­päi­sche Mus­lim­bru­der­schaft fungiert«.
  • 7
    Da ist zum Bei­spiel June­seo Hwang, der auf Twit­ter ein Pos­ting des rech­ten anti­is­rae­li­schen Akti­vis­ten Jack­son Hinkle geteilt hat, das die inter­na­tio­nale Unter­stüt­zung der von Süd­afrika initi­ier­ten Anklage Isra­els vor dem IGH fei­ert. Hwang ver­bin­det die­sen Tweet mit der For­de­rung, Israel nicht nur für ›Geno­zid‹, son­dern auf­grund der mit dem Krieg ein­her­ge­hen­den Umwelt­zer­stö­rung in Gaza auch für ›Öko­zid‹ anzu­kla­gen. Und da ist Giu­lia Casa­lini, die in einer Instagram-Story einen Post geteilt hat, in dem Gaza als »the world’s lar­gest open-air pri­son and con­cen­tra­tion camp« bezeich­net wird. Dass inter­na­tio­nale Klimaaktivist:innen der­ar­tige anti­is­rae­li­sche Posi­tio­nen ver­tre­ten, ist wenig über­ra­schend. Dass sol­che Posi­tio­nen und Hal­tun­gen auch in Deutsch­land kei­ner­lei öffent­li­che Kri­tik her­vor­ru­fen, wider­legt zudem die ver­brei­tete Erzäh­lung, man könne ange­sichts der Zen­sur durch eine ›pro­is­rae­li­sche Lobby‹ gar keine Kri­tik an Israel üben, ohne mit ›Anti­se­mi­tis­mus­vor­wür­fen‹ über­zo­gen zu wer­den. So wie die aller­meis­ten anti­is­rae­li­schen und ›isra­el­kri­ti­schen‹ Künstler:innen und Aktivist:innen haben Casa­lini und Hwang nichts zu befürchten.

Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Widerstand

Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Widerstand

Eine Ver­an­stal­tungs­reihe der Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb fragt nach anti­se­mi­ti­schen Welt­bil­dern in gegen­wär­ti­gen Kunst­dis­kur­sen. Die dritte und letzte Ver­an­stal­tung fin­det am 30.11.2023, 19.30 Uhr in der Fabri­que (Gän­ge­vier­tel) statt.

Nach­dem im Sep­tem­ber 2022 zwei Ver­tre­ter des indo­ne­si­schen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruan­grupa eine Gast­pro­fes­sur an der Ham­bur­ger HfbK antra­ten, ist die Aus­ein­an­der­set­zung über die von Ruan­grupa ver­ant­wor­tete anti­se­mi­ti­sche Kunst­schau auch zu einem Streit in Ham­burg gewor­den. Zwar gab es ver­dienst­volle, aber ver­ein­zelte Pro­teste, zurück­hal­tende Ermah­nun­gen aus der Lan­des­po­li­tik sowie einige wenig ergie­bige Inter­views und Ver­an­stal­tun­gen mit den Ruangrupa-Leuten. Ins­ge­samt aber ist von Betrof­fen­heit oder gar (Selbst-)Kritik inner­halb des Ham­bur­ger Kunst- und Kul­tur­be­triebs wenig zu ver­neh­men. Der HfbK-Präseident Köt­te­ring lügt die von ihm initi­ierte Gast­pro­fes­sur rück­bli­ckend zum Aus­lö­ser wich­ti­ger »Lern­pro­zesse« um, gar zum Beginn eines »Dia­logs«: »Zum ande­ren ist durch die bei­den DAAD-Gastprofessoren das Thema Anti­se­mi­tis­mus im Kunst­feld nach Ham­burg getra­gen wor­den, wor­auf wir mit vie­len Ver­an­stal­tun­gen reagiert haben, vor allem mit dem Sym­po­sium. Damit ist es uns seit der docu­menta erst­ma­lig gelun­gen, sehr diver­gente Posi­tio­nen zusam­men und in einen Dia­log zu brin­gen«. Auf die Frage, ob er die Ein­la­dung wie­der aus­spre­chen würde, ant­wor­tete er ent­spre­chend: »Das kann ich wirk­lich mit aller Deut­lich­keit und sehr klar sagen: Ja, unbe­dingt! Denn es ist die Auf­gabe und Pflicht von wis­sen­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen, sich die­sen kom­ple­xen und schwie­ri­gen Dis­kur­sen zu stel­len, um Lern­pro­zesse ent­ste­hen zu las­sen.« Anti­se­mi­tis­mus geht in der Kunst­welt also wei­ter­hin in Ord­nung, so lange man dabei das Gefühl hat, mit irgend­wem im Dia­log zu sein. Woher kommt diese Uner­schüt­ter­lich­keit – auch und gerade jen­seits des offen­sicht­lich unver­bes­ser­li­chen Ruangrupa-Kollektivs?

Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Ham­burg eine „Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb“ gegrün­det. In ihr haben sich in Kunst und Kul­tur Tätige zusam­men­ge­schlos­sen, die mit einer Ver­an­stal­tungs­reihe in das beredte Ham­bur­ger Schwei­gen inter­ve­nie­ren wol­len. Die Reihe unter­sucht anhand dreier für den gegen­wär­ti­gen Kunst­be­trieb zen­tra­ler Begriffe – Kol­lek­ti­vi­tät, Wider­stand und Soli­da­ri­tät – über wel­che Ein­falls­tore sich anti­se­mi­ti­sche Welt­bil­der im Kunst­dis­kurs immer wie­der ver­brei­ten können.

Die Reihe wird am 30.11. mit einer Ver­an­stal­tung zu „Wider­stand“ fort­ge­setzt: 19.30 Uhr in der Fabri­que im Gän­ge­vier­tel, Valen­tins­kamp 34a.

Die Redak­tion Untie­fen unter­stützt diese Inter­ven­tion (wie auch der Bag­rut e.V., die Untüch­ti­gen sowie der Textem-Verlag) und doku­men­tiert im Fol­gen­den den Ankün­di­gungs­text der Veranstaltung.


Die femi­nis­ti­sche Revo­lu­tion im Iran oder der ukrai­ni­sche Wider­stand gegen den rus­si­schen Angriffs­krieg. Wider­stand wird mit eman­zi­pa­to­ri­sche Bewe­gun­gen, die für Gerech­tig­keit und Frei­heit und gegen auto­ri­täre oder tota­li­täre Macht­struk­tu­ren kämp­fen, asso­zi­iert. Gleich­zei­tig schaf­fen Wider­stands­be­we­gun­gen auch klare Feind­bil­der, die von inne­ren Wider­sprü­chen ent­las­teDer femi­nis­ti­sche Auf­stand im Iran oder der ukrai­ni­sche Wider­stand gegen den rus­si­schen Angriffs­krieg – Wider­stand wird mit eman­zi­pa­to­ri­schen Bewe­gun­gen asso­zi­iert, die für Frei­heit, Gerech­tig­keit und gegen auto­ri­täre oder tota­li­täre Macht­struk­tu­ren kämp­fen. Gleich­zei­tig schaf­fen Wider­stands­be­we­gun­gen auch klare Feind­bil­der, die von inne­ren Wider­sprü­chen ent­las­ten. Aus einem gerech­ten Anlie­gen kann sich ein manich­äi­sches Welt­bild ent­wi­ckeln: Die Kom­ple­xi­tät der Welt wird in Gut und Böse überführt.

Viele Arbei­ten der Docu­menta 15 nah­men auf kon­krete Wider­stands­be­we­gun­gen Bezug. Auch für die­je­ni­gen, die anti­se­mi­ti­sche Welt­bil­der repro­du­zier­ten, war Wider­stand das zen­trale Motiv. Tat­säch­lich wurde schon der Begriff des Anti­se­mi­tis­mus als Selbst­be­zeich­nung einer Wider­stands­be­we­gung erfun­den. Sie rich­tete sich gegen die ver­meint­li­che Macht und kul­tu­relle Über­nahme Deutsch­lands durch „die Juden“. Anti­se­mi­ti­sche Pogrome wur­den von den Natio­nal­so­zia­lis­ten als eine Form von Wider­stand dargestellt.

Aktu­ell wird die Ter­ror­ak­tion der Hamas gegen Israel am 7. Okto­ber 2023, der größte Mas­sen­mord an Jüdin­nen und Juden seit der Shoah, als Wider­stand für eine gerechte Sache ver­klärt. Das ist nicht nur im Inter­net und auf Stra­ßen­pro­tes­ten über­all auf der Welt zu beob­ach­ten, son­dern auch in Ham­burg. Zahl­rei­che renom­mierte Künst­le­rin­nen und Künst­ler sehen sich an der Seite die­ses ver­meint­li­chen Frei­heits­kamp­fes. Ihre Reak­tio­nen rei­chen von sub­ti­ler Rela­ti­vie­rung bis zur offe­nen Glo­ri­fi­zie­rung des Ter­rors. Auch dar­über wol­len wir im letz­ten Teil unse­rer Ver­an­stal­tungs­reihe reden.

Drit­ter Teil: Wider­stand
30. Novem­ber 2023 – 19:30 Uhr
Fabri­que (Gän­ge­vier­tel)

Es dis­ku­tie­ren:

- Kateryna Mish­chenko (Essay­is­tin, Über­set­ze­rin und Ver­le­ge­rin aus Kiew, ist zur­zeit Fel­low am Wis­sen­schafts­kol­leg zu Berlin), 

- Havîn Al-Sîndy (Künst­le­rin, lehrt an der HBK Braun­schweig) und

- Leon Kahane (Künst­ler, Forum-DCCA)

Eine Ver­an­stal­tung von: FORUM DEMOCRATIC CULTURE CONTEMPORARY ART & Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb
Geför­dert von: Bun­des­zen­trale für poli­ti­sche Bil­dung
Unter­stützt von: bag­rut e.V. & Die Untüch­ti­gen & Stadt­ma­ga­zin Untie­fen & Tex­tem Verlag


Veranstaltung: »Gegen den Geist des Sozialismus«. Buchvorstellung mit Olaf Kistenmacher

Veranstaltung: »Gegen den Geist des Sozialismus«. Buchvorstellung mit Olaf Kistenmacher

Wie geht eine links­ra­di­kale Kri­tik des lin­ken Anti­se­mi­tis­mus? Der Ham­bur­ger His­to­ri­ker und Autor Olaf Kis­ten­ma­cher stellt sein Buch über Kri­tik der Juden­fein­schaft in der KPD der Wei­ma­rer Repu­blik vor: 01.11.2023, 19 Uhr, Mone­tastr. 4.

Der mör­de­ri­sche Ter­ror der Hamas und des Isla­mi­schen Jihad gegen Israel wurde am 07. Okto­ber in einer neuen Qua­li­tät ent­fes­selt.
Wer in die­sen Tagen mit lin­ken und links­ra­di­ka­len Freund:innen und Bekann­ten spricht oder in den sozia­len Medien aus die­ser Ecke liest, sieht viel Mit­ge­fühl, Wut, Ver­zweif­lung ange­sichts des Ter­rors. Aber auch: Ver­harm­lo­sung, Gleich­gül­tig­keit bis hin zu offe­ner Bil­li­gung oder gar Befür­wor­tung für das Mor­den als ver­meint­li­chem »Wider­stand« oder »Befrei­ungs­kampf«.
Lei­der ist der linke Anti­se­mi­tis­mus, ohne den die­ser Abgrund nicht mög­lich wäre, keine neue und keine vor­über­ge­hende Erschei­nung. Wer wis­sen will, wie Anarchist:innen und Kommunist:innen schon in der Wei­ma­rer Repu­blik gegen ihn kämpf­ten und wie sie ihn kri­ti­sier­ten, kann das am kom­men­den Mitt­woch erfah­ren.
Der Ham­bur­ger His­to­ri­ker und Autor Olaf Kis­ten­ma­cher stellt sein neues Buch vor: »Gegen den Geist des Sozia­lis­mus. Anar­chis­ti­sche und kom­mu­nis­ti­sche Kri­tik der Juden­feind­schaft in der KPD zur Zeit der Wei­ma­rer Repu­blik« (ça ira).

Der poli­ti­sche Bil­dungs­ver­ein Bag­rut e.V. orga­ni­siert die Vor­stel­lung in Koope­ra­tion mit Untie­fen zu 19 Uhr in der Zen­tra­len Biblio­thek Frau­en­for­schung, Gen­der & Queer Stu­dies (Mone­tastr. 4). Die his­to­ri­sche Per­spek­tive wird auch Bezüge zum aktu­el­len lin­ken Elend und zur Ham­bur­ger Geschichte ermöglichen.

Die Ver­an­stal­tung wird im Rah­men der Akti­ons­wo­chen gegen Anti­se­mi­tis­mus von der Amadeo-Antonio-Stiftung gefördert.

Im Fol­gen­den doku­men­tie­ren wir den Klap­pen­text des Verlags.


Anti­se­mi­tis­mus in der poli­ti­schen Lin­ken wurde nicht erst nach 1945 zum Thema. Die Kri­tik daran ist so alt wie die Sache selbst. In der Wei­ma­rer Repu­blik waren es ehe­ma­lige Grün­dungs­mit­glie­der der KPD wie Franz Pfem­fert oder Anar­cho­syn­di­ka­lis­ten wie Rudolf Rocker, die die anti­se­mi­ti­sche Agi­ta­tion wäh­rend des Schlageter-Kurses kri­ti­sier­ten. Mitte der 1920er Jahre warnte Clara Zet­kin auf dem Par­tei­tag der KPD vor juden­feind­li­chen Stim­mun­gen an der Basis. 1929 erschien im Zen­tral­or­gan der um Hein­rich Brand­ler und August Thal­hei­mer gebil­de­ten KPD-Opposition eine der ers­ten radi­ka­len Kri­ti­ken des Anti­zio­nis­mus der KPD. Mit ihrer Kri­tik knüpf­ten die anar­chis­ti­schen und kom­mu­nis­ti­schen Lin­ken an Inter­ven­tio­nen von Rosa Luxem­burg oder Leo Trotzki an und reflek­tier­ten zugleich die Ent­wick­lung in Russ­land nach der bol­sche­wis­ti­schen Revo­lu­tion. Marx’ Anspruch, »alle Ver­hält­nisse umzu­wer­fen, in denen der Mensch ein ernied­rig­tes, ein geknech­te­tes, ein ver­las­se­nes, ein ver­ächt­li­ches Wesen ist«, schloss für sie den Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus auch in den eige­nen Rei­hen mit ein. Ihre Kri­tik kam nicht nur Jahr­zehnte vor der inner­lin­ken Debatte über Anti­se­mi­tis­mus von links, Luxem­burg und Pfem­fert nah­men auch Argu­mente der spä­te­ren anti­na­tio­na­len und anti­deut­schen Lin­ken vorweg.

Olaf Kis­ten­ma­cher
»Gegen den Geist des Sozia­lis­mus«. Anar­chis­ti­sche und kom­mu­nis­ti­sche Kri­tik der Juden­feind­schaft in der KPD zur Zeit der Wei­ma­rer Repu­blik
Novem­ber 2023, 156 Sei­ten
Fran­zö­sisch Bro­schur
20,00 €

10.09.: Bremer ›Arisierungs‹-Mahnmal (+Video Vortrag Henning Bleyl)

Der Stachel sitzt: Das Bremer ›Arisierungs‹-Mahnmal ist da

In Bre­men wird die­sen Sonn­tag, 10.09., ein lang erkämpf­tes Mahn­mal für den Raub jüdi­schen Eigen­tums im Natio­nal­so­zia­lis­mus ein­ge­weiht. Untie­fen ver­öf­fent­licht den Mit­schnitt der Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tung mit dem Initia­tor Hen­ning Bleyl vom letz­ten Jahr und erin­nert an die offe­nen Auf­ga­ben für Hamburg.

Die Bau­stelle des neuen Mahn­mals in Bre­men. Im Hin­ter­grund die Zen­trale von Kühne + Nagel. Foto: Evin Oettingshausen.

In Bre­men kommt die­sen Sonn­tag, den 10. Sep­tem­ber, eine lange Aus­ein­an­der­set­zung zu ihrem – vor­läu­fi­gen – Ende. Zwi­schen den Weser-Arkaden und der Wilhelm-Kaisen-Brücke, in Sicht­weite der Deutsch­land­zen­trale des Logis­tik­kon­zerns Kühne + Nagel, wird ein Mahn­mal zur Erin­ne­rung an den Raub jüdi­schen Eigen­tums wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus ein­ge­weiht. Die Nähe zu Kühne + Nagel ist gewollt: Der 1890 in Bre­men gegrün­dete, heute welt­weit dritt­größte Logis­ti­kon­zern hat von den han­se­städ­ti­schen Trans­port­un­ter­neh­men mit Abstand am meis­ten vom Raubs jüdi­schen Ver­mö­gens in der NS-Zeit pro­fi­tiert. Mit ihrem fak­ti­schen Mono­pol für den Abtrans­port geraub­ten jüdi­schen Eigen­tums aus Frank­reich und den Benelux-Ländern konnte Kühne + Nagel im Rah­men der soge­nann­ten „M‑Aktion“ (M für „Möbel“) des NS-Staates große Pro­fite machen und ihr Fir­men­netz­werk inter­na­tio­na­li­sie­ren. Der Anteils­eig­ner Adolf Maas, der den Ham­bur­ger Fir­men­stand­ort auf­baute – ein Jude – wurde 1933 aus der Firma gedrängt und spä­ter in Ausch­witz ermordet.

Trotz die­ser bekann­ten Zusam­men­hänge wei­gert sich Kühne + Nagel, vor allem in Per­son des Patri­ar­chen und Fir­men­er­ben Klaus-Michael Kühne (86) bis heute beharr­lich, die eigene Mit­tä­ter­schaft auf­zu­ar­bei­ten. Das nun fer­tig­ge­stellte Mahn­mal wider­spricht mit der Nähe zur K+N‑Zentrale die­ser spe­zi­el­len Ver­tu­schung. Es the­ma­ti­siert aber zugleich die gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Ver­drän­gung des Aus­ma­ßes der „Ari­sie­rung“ jüdi­sche Eigen­tums im Natio­nal­so­zia­lis­mus. Der Ent­wurf von Künstler*in Evin Oet­tings­hau­sen zeigt in einem lee­ren Raum nur Schat­ten geraub­ter Möbel – von die­sem Ver­bre­chen ist, ganz wört­lich, fast nichts zu sehen. Der Initia­tor der Mahnmals-Kampagne, der Bre­mer Jour­na­list Hen­ning Bleyl, schil­dert gegen­über Untie­fen, was die Kam­pa­gne für das Mahn­mal poli­tisch erreicht hat:

„Das Mahnmal-Projekt zeigt, dass man den Anspruch auf his­to­ri­sche Wahr­heit auch gegen­über einem hofier­ten Inves­tor durch­set­zen kann. Es war ein lan­ger Weg – aber jetzt führt die­ser Weg zur Ein­wei­hung eines unter brei­ter Bre­mer und inter­na­tio­na­ler Betei­li­gung ent­stan­de­nen Mahn­mals an der Weser, vor Küh­nes Haus­tür. Und das eigent­li­che Thema, Bre­mens Rolle als Hafen- und Logis­tik­stadt bei der euro­pa­wei­ten ‚Ver­wer­tung‘ jüdi­schen Eigen­tums, hatte im Lauf die­ses Pro­zes­ses viele Gele­gen­hei­ten, in der Gesell­schaft anzukommen.“

Klaus-Michael Kühne ist natür­lich auch in Ham­burg kein Unbe­kann­ter. Als Spon­sor und Mäzen stützt er den HSV, finan­ziert aber über seine Kühne-Stiftung auch das Phil­har­mo­ni­sche Staats­or­ches­ter, för­dert den Betrieb der Elb­phil­har­mo­nie und hob das das Har­bourfront Lite­ra­tur­fes­ti­val aus der Traufe. Dort finan­zierte er bis 2022 den jähr­lich ver­ge­be­nen Klaus-Michael Kühne-Preis für das beste Roman­de­büt. Bis letz­tes Jahr – nach einem Anschrei­ben der Untiefen-Redaktion – zwei der für den Preis nomi­nier­ten Autor:innen ihre Teil­nahme zurück­zo­gen. Grund war Kri­tik an der ver­wei­ger­ten Auf­ar­bei­tung der NS-Geschichte des Unter­neh­mens Kühne + Nagel. Diese Rück­tritte sorg­ten für einen Eklat, der einige öffent­li­che Kri­tik an Kühne nach sich zog, wäh­rend er und seine Stif­tung kei­ner­lei Ver­ständ­nis zeig­ten. Mit dem anschlie­ßen­den Rück­zug der Kühne-Stiftung aus der Finan­zie­rung des Fes­ti­vals und der Umbe­nen­nung des Prei­ses wurde die Debatte nach weni­gen Wochen vor­läu­fig beendet.

Im Novem­ber 2022 luden wir daher Hen­ning Bleyl ins Gän­ge­vier­tel ein, um über Kühne + Nagel und die Bre­mer Kam­pa­gne für ein ‚Arisierungs‘-Mahnmal zu spre­chen. Wer möchte kann Hen­ning Bleyls Vor­trag und das anschlie­ßende Dis­kus­sion nun hier auf You­tube nachhören.

Die zen­tra­len Fra­gen für Ham­burg blei­ben indes auch nach der Mahnmal-Einweihung in Bre­men unbe­ant­wor­tet: Warum gibt es in Ham­burg kei­nen kri­ti­schen Umgang mit der NS-Geschichte von Kühne + Nagel? Wie könn­ten Erin­ne­rung, Auf­klä­rung und Kon­se­quen­zen aus­se­hen? Wie kann mit Klaus-Michael Kühne als Kul­tur­spon­sor umge­gan­gen wer­den? Wel­che Pro­bleme der pri­va­ti­sier­ten Kul­tur­för­de­rung ste­hen dahinter?

Es bleibt span­nend, ob auch an der Elbe ein ein­deu­ti­ges Ein­tre­ten der Stadt­ge­sell­schaft für his­to­ri­sche Red­lich­keit erreich­bar ist

Die neue, 15. Aus­gabe des Harbour-Front-Literaturfestivals wird am 14. Sep­tem­ber eröff­net. Bleibt bis auf den Spon­so­ren­wech­sel und die Umbe­nen­nung in Sachen Kühne + Nagel in Ham­burg also alles beim schlech­ten Alten? Hen­ning Bleyl äußerte gegn­über Untie­fen die Erwar­tung, dass auch hier etwas pas­siert: „Es bleibt span­nend, ob auch an der Elbe ein ein­deu­ti­ges Ein­tre­ten der Stadt­ge­sell­schaft für his­to­ri­sche Red­lich­keit erreich­bar ist – trotz des von Kühne auf­ge­wen­de­ten enor­men kul­tu­rel­len und gesell­schaft­li­chen Kapi­tals. Denn das Eigen­tum der jüdi­schen Fami­lien, das Kühne + Nagel im Rah­men der ‚Aktion M‘ aus den besetz­ten Län­dern abtrans­por­tierte, wurde natür­lich auch in Ham­burg sehr bereit­wil­lig von gro­ßen Tei­len der Bevöl­ke­rung ‚über­nom­men‘. Die Stadt pro­fi­tierte in gro­ßem Stil von der Flucht jüdi­scher Men­schen, deren Eigen­tum im Hafen zurück­blieb, statt ver­la­den zu wer­den. Ich bin gespannt, wel­chen Umgang Ham­burg mit die­sem Erbe findet.“

Wie die Bre­mer Initia­tive erfolg­reich wurde, lässt sich in dem Mit­schnitt von Bleyls Vor­trag nach­hö­ren. Die Ein­wei­hung des Bre­mer Mahn­mals fin­det am Sonn­tag, 10.09., um 11 Uhr direkt vor Ort statt. Ab 18 Uhr folgt ein öffent­li­ches Vortrags- und Dis­kus­si­ons­pro­gramm in der Bre­mi­schen Bürgerschaft. 

Felix Jacob

Dokumente der Barbarei

Hermann Wilhelm Leopold Ludwig Wissmann, seit 1890 von Wissmann (* 4. September 1853 in Frankfurt (Oder); † 15. Juni 1905 in Weißenbach bei Liezen, Steiermark) war ein deutscher Abenteurer, Afrikaforscher, Offizier und Kolonialbeamter. Ursprünglicher Standort Dares Salam Tansania, später Universität Hamburg

Dokumente der Barbarei

Der Foto­graf Mar­kus Dorf­mül­ler erhielt 2022 für seine Arbeit zu den Spu­ren des Kolo­nia­lis­mus in Ham­burg den Georg-Koppmann-Preis. Gerade sind die Fotos im Museum der Arbeit zu sehen. Wir doku­men­tie­ren in unse­rer Foto­stre­cke eine Aus­wahl der Bilder.

Das Denk­mal von Her­mann Wiss­mann (1853–1905) wurde 1968 gestürzt. Foto (Aus­schnitt): M. Dorfmüller

»Es ist nie­mals ein Doku­ment der Kul­tur, ohne zugleich ein sol­ches der Bar­ba­rei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Bar­ba­rei, so ist es auch der Pro­zess der Über­lie­fe­rung nicht, in der es von dem einen an den ande­ren gefal­len ist.« Diese Sätze ste­hen in der sieb­ten der berühm­ten The­sen Über den Begriff der Geschichte, die Wal­ter Ben­ja­min 1940 nie­der­schrieb. Sie geben das Prin­zip der Arbei­ten Mar­kus Dorf­mül­lers vor, die aktu­ell in der Aus­stel­lung Eyes on Ham­burg im Museum der Arbeit zu sehen ist.

Unter Ben­ja­mins historisch-materialistischem Blick offen­ba­ren sich die ›Kul­tur­gü­ter‹ als Beute, die die Sie­ger der Geschichte in ihrem Tri­umph­zug mit­füh­ren. Die­sen ebenso prä­zi­sen wie kri­ti­schen Blick hat sich Dorf­mül­ler zu eigen gemacht. Seine Foto­gra­fien doku­men­tie­ren die Spu­ren des Kolo­nia­lis­mus ebenso wie sein Fort­wir­ken in der post­ko­lo­nia­len Gegen­wart Ham­burgs. Damit ste­hen sie quer zum auf­trump­fen­den Titel der Ausstellung.

Nicht immer sind die Spu­ren des Kolo­nia­lis­mus, dem sich der Reich­tum der Han­dels­stadt Ham­burg ver­dankt, über­haupt noch sicht­bar. Auch aus die­sem Grund sind die Fotos mit Bild­un­ter­schrif­ten ver­se­hen. Sie stel­len die ein­zel­nen Bil­der in ihren gesell­schaft­li­chen Zusam­men­hang, infor­mie­ren über his­to­ri­sche Kon­texte und benen­nen Täter und Pro­fi­teure kolo­nia­ler Gewalt und Aus­beu­tung. In der Aus­stel­lung wird die­ses Kennt­lich­ma­chen von Zusam­men­hän­gen und Struk­tu­ren noch unter­stützt durch die kon­stel­lie­rende Hängung. 

Gegenwärtige Vergangenheit

Man­che der abge­bil­de­ten Orte und ihre kolo­niale Geschichte sind weit­ge­hend bekannt – etwa das Bis­marck­denk­mal oder das Afri­ka­haus (siehe dazu auch unsere eigene Bil­der­stre­cke über kolo­niale Spu­ren in Ham­burg). Viele Gegen­stände und Zusam­men­hänge hin­ge­gen wer­den den meis­ten Besucher:innen neu sein: etwa dass die Pri­vat­bank Don­ner & Reuschel ihr Ver­mö­gen maß­geb­lich kolo­nia­ler Aus­beu­tung ver­dankt; oder dass die Vor­stands­kon­fe­ren­zen der Uni­le­ver bis zu ihrem Umzug in die Hafen­city 2009 vor einer Intar­si­en­wand mit kolo­nia­ler Bild­spra­che statt­fan­den. Andere Foto­gra­fien wie­derum doku­men­tie­ren Spu­ren, die man leicht über­sieht, etwa die Grab­stät­ten und Gedenk­steine für Gene­räle deut­scher Kolo­ni­al­trup­pen oder für Palmölfabrikanten.

Man­che Fotos zei­gen Über­wun­de­nes – beson­ders ein­drück­lich die 1968 von Stu­die­ren­den gestürzte Wissmann-Statue, die nun lädiert, besprüht und mit einer Hals­krause ver­se­hen in einer Depot­kiste liegt. Die Fotos machen aber auch kennt­lich, wie unmit­tel­bar die kolo­niale Ver­gan­gen­heit bis­wei­len in die Gegen­wart hin­ein­reicht. Unver­hoh­len zeigt sich das in einer Skulp­tur auf der soge­nann­ten »Cof­fee Plaza« in der Hafen­city. Sie wurde dort 2009 von der Neu­mann Kaf­fee Gruppe, dem welt­größ­ten Kaf­fee­im­por­teur, errich­tet. Die Inschrift der sti­li­sier­ten Kaf­fee­bohne zeugt von einer Unbe­darft­heit, die sich auf Ver­ro­hung reimt: »Über 1 Mrd. Men­schen trin­ken täg­lich 3 Mrd. Tas­sen Kaf­fee, die 25 Mio. Fami­lien in 70 tro­pi­schen Län­dern ihre Exis­tenz bieten.«

Das Form­prin­zip von Dorf­mül­lers Foto­gra­fien ist so sach­lich wie effekt­voll. In ana­lo­gem 4x5-inch-Format foto­gra­fiert, kom­men sie ohne Gim­micks aus. Es gibt weder dra­ma­ti­sierte Kon­traste, noch Unschär­fen oder extreme Per­spek­ti­ven. Die Wir­kung ver­dankt sich viel­mehr ganz sub­ti­len Ver­fah­ren: Durch distan­zierte Tota­len etwa wird reprä­sen­ta­ti­ven Gebäu­den ihre impo­sante Wir­kung genom­men;1Dass Dorf­mül­ler haupt­be­ruf­lich Archi­tek­tur foto­gra­fiert, macht sich auf die­sen Bil­dern beson­ders bemerk­bar. Auf dem gemein­sam mit sei­ner Kol­le­gin Johanna Klier betrie­be­nen Instagram-Account fin­den sich viele ein­drück­li­che Archi­tek­tur­fo­to­gra­fien, die nicht zuletzt Gebäude vor ihrem (dro­hen­den) Abriss doku­men­tie­ren. und frag­men­tie­rende Bild­aus­schnitte kon­ter­ka­rie­ren die Wir­kungs­in­ten­tion von Denk­mä­lern, ver­mei­den die Repro­duk­tion ras­sis­ti­scher oder ste­reo­ty­per Darstellungen.

Der his­to­ri­sche Mate­ria­list, schreibt Ben­ja­min, »betrach­tet es als seine Auf­gabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürs­ten«. Mar­kus Dorf­mül­ler zeigt ein­drück­lich, wie man die­ser Auf­gabe mit den Mit­teln der Foto­gra­fie gerecht wer­den kann.

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Eine Bro­schüre mit Mar­kus Dorf­mül­lers Fotos und Tex­ten steht zum Ver­kauf in allen Muse­ums­shops der Stif­tung His­to­ri­sche Museen Ham­burg. Die Aus­stel­lung Eyes on Ham­burg ist noch bis zum 3. Okto­ber 2023 im Museum der Arbeit in Barm­bek zu sehen. Neben der Foto­se­rie von Mar­kus Dorf­mül­ler sind in ihr Arbei­ten von Axel Beyer, Robin Hinsch, Sabine Bungert/Stefan Dol­fen, Alex­an­dra Polina und Irina Rup­pert vertreten.

Wir dan­ken Mar­kus Dorf­mül­ler für die freund­li­che Geneh­mi­gung, hier eine Aus­wahl sei­ner Bil­der zei­gen zu dür­fen. Sämt­li­che Rechte an den Bil­dern sowie den Bild­un­ter­schrif­ten lie­gen bei ihm.2Die Bild­un­ter­schrif­ten las­sen sich in der Foto­stre­cke durch Kli­cken bzw. Tip­pen auf das jewei­lige Bild aus- und wie­der einblenden.

Redak­tion Untiefen

  • 1
    Dass Dorf­mül­ler haupt­be­ruf­lich Archi­tek­tur foto­gra­fiert, macht sich auf die­sen Bil­dern beson­ders bemerk­bar. Auf dem gemein­sam mit sei­ner Kol­le­gin Johanna Klier betrie­be­nen Instagram-Account fin­den sich viele ein­drück­li­che Archi­tek­tur­fo­to­gra­fien, die nicht zuletzt Gebäude vor ihrem (dro­hen­den) Abriss dokumentieren.
  • 2
    Die Bild­un­ter­schrif­ten las­sen sich in der Foto­stre­cke durch Kli­cken bzw. Tip­pen auf das jewei­lige Bild aus- und wie­der einblenden.

Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Kollektivität

Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Kollektivität

Eine Ver­an­stal­tungs­reihe der Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb fragt nach anti­se­mi­ti­schen Welt­bil­dern in gegen­wär­ti­gen Kunst­dis­kur­sen. Die Auf­takt­ver­an­stal­tung fin­det am 03.05.2023, 19.30 Uhr im BARBONCINO zwöl­phi statt.

Im Sep­tem­ber 2022 tra­ten zwei Ver­tre­ter des indo­ne­si­schen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruan­grupa eine Gast­pro­fes­sur an der Ham­bur­ger HfbK an. Seit­dem ist die Aus­ein­an­der­set­zung über die von Ruan­grupa ver­ant­wor­tete anti­se­mi­ti­sche Kunst­schau auch zu einem Streit in Ham­burg gewor­den. Bis­her gab es zwar ver­dienst­volle, aber ver­ein­zelte Pro­teste, zurück­hal­tende Ermah­nun­gen aus der Lan­des­po­li­tik sowie einige wenig ergie­bige Inter­views und Ver­an­stal­tun­gen mit den Ruangrupa-Leuten. Ins­ge­samt aber ist von Betrof­fen­heit oder gar (Selbst-)Kritik inner­halb des Ham­bur­ger Kunst- und Kul­tur­be­triebs wenig zu ver­neh­men. Woran liegt das – auch und gerade jen­seits des offen­sicht­lich unver­bes­ser­li­chen Ruangrupa-Kollektivs?

Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Ham­burg eine „Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb“ gegrün­det. In ihr haben sich in Kunst und Kul­tur Tätige zusam­men­ge­schlos­sen, die mit einer Ver­an­stal­tungs­reihe in das beredte Ham­bur­ger Schwei­gen inter­ve­nie­ren wol­len. Die Reihe unter­sucht anhand dreier für den gegen­wär­ti­gen Kunst­be­trieb zen­tra­ler Begriffe – Kol­lek­ti­vi­tät, Wider­stand und Soli­da­ri­tät – über wel­che Ein­falls­tore sich anti­se­mi­ti­sche Welt­bil­der im Kunst­dis­kurs immer wie­der ver­brei­ten können.

Die Reihe beginnt am 03.05. mit einer Ver­an­stal­tung zu „Kol­lek­ti­vi­tät“.

Die Redak­tion Untie­fen unter­stützt diese Inter­ven­tion (wie auch der Bag­rut e.V., die Untüch­ti­gen sowie der Textem-Verlag) und doku­men­tiert im Fol­gen­den den Ankün­di­gungs­text der Veranstaltung.

Wei­tere Infor­ma­tio­nen zu den fol­gen­den Ver­an­stal­tun­gen wer­den zu gege­be­ner Zeit hier auf Untie­fen und auf dem Insta­gra­m­ac­count der Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb veröffentlicht.


Zahl­rei­che anti­se­mi­ti­sche Dar­stel­lun­gen auf der Docu­menta 15 haben einen seit Jah­ren schwe­len­den Kon­flikt in die breite Öffent­lich­keit geholt – und alt­be­kannte Front­bil­dun­gen ver­schärft. Mitt­ler­weile kann ohne Über­trei­bung von einem Kul­tur­kampf gespro­chen wer­den. Gestrit­ten wird über eine ver­meint­li­che Kon­kur­renz zwi­schen der Erin­ne­rung an die Shoah und der Erin­ne­rung an deut­sche Kolo­ni­al­ver­bre­chen. Gestrit­ten wird nicht zuletzt auch über das jewei­lige Ver­hält­nis zu Israel. Spä­tes­tens durch die Beru­fung zweier Mit­glie­der des Künst­ler­kol­lek­tivs Ruan­grupa an die HFBK ist dies auch ein Ham­bur­ger Streit. Gerade im Kunst­feld wird er vehe­ment geführt. Das lässt die Frage auf­kom­men, ob zen­trale Begriffe in der aktu­el­len Selbst­be­schrei­bung künst­le­ri­scher Pra­xis nicht selbst ideo­lo­gi­sche Ele­mente ent­hal­ten, die gewollt oder unge­wollt anti­se­mi­ti­sche Welt­bil­der repro­du­zie­ren. Anhand der Begriffe Kol­lek­ti­vi­tät, Soli­da­ri­tät und Wider­stand stel­len sich die Gäste unse­rer drei­tei­li­gen Ver­an­stal­tungs­reihe die­ser wich­ti­gen, aber in der bis­he­ri­gen Debatte ver­nach­läs­sig­ten Frage.

Ers­ter Teil: Kol­lek­ti­vi­tät
03. Mai 2023 – 19:30 Uhr
BARBONCINO zwöl­phi

Soviel steht fest: Kol­lek­ti­vi­tät liegt im Trend. Noch nie gab es so viele künst­le­ri­sche Kol­lek­tive wie heute. Sie gewin­nen renom­mierte Preise, lei­ten Thea­ter, Bien­na­len und Groß­ereig­nisse wie die Docu­menta 15. Ihre Popu­la­ri­tät ver­dan­ken sie einem Ver­spre­chen: Basis­de­mo­kra­tisch und anti-hierarchisch, gerecht und inklu­siv sol­len sie sein, nah­bar und zum Mit­ma­chen anre­gend. Über glo­bale Gren­zen hin­weg und gleich­zei­tig lokal ver­bun­den gel­ten sie als Weg­wei­ser zu einer neuen soli­da­ri­schen Sharing-Ökonomie, von der alle pro­fi­tie­ren. Auf grund­le­gende Ver­än­de­run­gen der Gesell­schaft – so die ver­brei­tete Vor­stel­lung – reagie­ren heu­tige Kol­lek­tive mit einer grund­le­gen­den Ver­än­de­rung der Kunst. Sie inte­grie­ren poli­ti­schen Akti­vis­mus, um gesell­schaft­li­chen Fort­schritt anzu­sto­ßen. Aber geht diese Rech­nung auf? Wel­ches Welt­bild ent­wirft die Idee des Kol­lek­tivs in der zeit­ge­nös­si­schen Kunst? Was sind die pro­ble­ma­ti­schen Impli­ka­tio­nen der damit ver­bun­de­nen Vor­stel­lung von Gemein­schaft und kul­tu­rel­ler Identität?

Es dis­ku­tie­ren:

- Tina Turn­heim (Thea­ter­ma­che­rin, Insti­tut für Neue Soziale Plastik)

- Ole Frahm (Bild­theo­re­ti­ker, Comic­ex­perte und Mit­glied des Künst­ler­kol­lek­tivs Ligna)

- Patrice G. Pou­trus (His­to­ri­ker, TU Berlin)

- Hami­deh Kazemi (Men­schen­rechts­ak­ti­vis­tin)

mode­riert von Fabian Bechtle & Leon Kahane (Künst­ler, Forum demo­kra­ti­sche Kul­tur und zeit­ge­nös­si­sche Kunst)

Eine Ver­an­stal­tung von: FORUM DEMOCRATIC CULTURE CONTEMPORARY ART & Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb
Geför­dert von: Bun­des­zen­trale für poli­ti­sche Bil­dung
Unter­stützt von: bag­rut e.V. & Die Untüch­ti­gen & Stadt­ma­ga­zin Untie­fen & Tex­tem Verlag

45 Jahre Frauenhäuser in Hamburg

45 Jahre Frauenhäuser in Hamburg

Im August 1977 eröff­nete das erste der auto­no­men Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser. Seit­dem sind sie uner­läss­lich für den Schutz vor Gewalt. Doch die Plätze sind rar und die Finan­zie­rung von poli­ti­schem Wohl­wol­len abhän­gig. Aus einer femi­nis­ti­schen Pra­xis sind pre­käre Insti­tu­tio­nen gewor­den. Anläss­lich des Inter­na­tio­nen Tags gegen Gewalt an Frauen fragt unsere Autorin eine Mit­ar­bei­te­rin: Wie geht es den Ham­bur­ger Frau­en­häu­sern heute?

Die For­de­rung bleibt bestehen. Trans­pa­rent auf einer »One Billion-Rising«-Aktion gegen Gewalt an Frauen 2014 in Ham­burg. Foto: www.sommer-in-hamburg.de Lizenz: CC BY-SA 2.0

Für die Frau­en­be­we­gung der 1970er-Jahre war die Orga­ni­sie­rung gegen Gewalt gegen Frauen zen­tra­ler Bestand­teil der poli­ti­schen Arbeit. Gewalt in der Bezie­hung galt zuvor lange als »Ein­zel­schick­sal«. Die Frauen der zwei­ten Welle des Femi­nis­mus the­ma­ti­sier­ten diese männ­li­che Gewalt durch Selbst­er­fah­rungs­grup­pen und Orga­ni­sie­rung als struk­tu­rel­les Pro­blem von Frauen im Patri­ar­chat. Auch in Ham­burg orga­ni­sier­ten sich im Jahr 1976 Frauen, um gegen geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt zu kämp­fen. Sie grün­de­ten den Ver­ein Frauen hel­fen Frauen e.V. und erschu­fen inner­halb eines Jah­res das erste auto­nome Ham­bur­ger Frau­en­haus. Das Selbst­ver­ständ­nis damals: Das Frau­en­haus ist ein Teil der Frau­en­be­we­gung und soll unab­hän­gig sein – alle Frauen ent­schei­den gemein­sam, was pas­sie­ren soll.

Da die Finan­zie­rung noch nicht staat­lich abge­si­chert war, muss­ten die Frauen zunächst alles selbst machen – reno­vie­ren, Möbel orga­ni­sie­ren, Spen­den sam­meln, das Haus schüt­zen. So erin­nert sich auch eine Zeit­zeu­gin in der fil­mi­schen Doku­men­ta­tion »Juli 76 – Das Pri­vate ist Poli­tisch« an die ers­ten Jahre des Hau­ses: »Selbst­or­ga­ni­sa­tion. Selbst­be­stim­mung. Das ist auch eine Uto­pie gewe­sen.« Das Frau­en­haus selbst war femi­nis­ti­sche Praxis.

Selbstorganisation und Professionalisierung

Die Selbst­or­ga­ni­sa­tion stieß jedoch auch an zeit­li­che, finan­zi­elle und emo­tio­nale Gren­zen, wie die ehe­ma­lige Redak­teu­rin der Ham­bur­ger Frau­en­zei­tung Dr. Andrea Lass­alle in einer Chro­nik der Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser im digi­ta­len deut­schen Frau­en­ar­chiv nach­zeich­net. Inner­halb der Frau­en­be­we­gung wur­den daher Debat­ten um die Orga­ni­sie­rung und Struk­tur der Frau­en­häu­ser geführt, die eng ver­zahnt waren mit den dama­li­gen poli­ti­schen und theo­re­ti­schen Ana­ly­sen um (unbe­zahlte) Sor­ge­ar­beit, Hier­ar­chie­frei­heit und Unabhängigkeit.

Mitt­ler­weile wur­den Frau­en­häu­ser durch bezahlte Mit­ar­bei­te­rin­nen aus der Sozia­len Arbeit pro­fes­sio­na­li­siert. Dadurch ent­stand ein Wider­spruch zwi­schen Selbst­wirk­sam­keit und Pro­fes­sio­na­li­tät, der im All­tag der Mit­ar­bei­te­rin­nen und Bewoh­ne­rin­nen bis heute eine Rolle spielt. Im Gespräch mit Untie­fen berich­tet eine Mit­ar­bei­te­rin eines Frau­en­hau­ses in der Metro­pol­re­gion Ham­burg, die Pro­fes­sio­na­li­sie­rung sei grund­sätz­lich der anspruchs­vol­len Arbeit mit Frauen und Kin­dern aus aku­ten Gewalt­si­tua­tio­nen ange­mes­sen. In vie­len auto­no­men Frau­en­häu­sern über­neh­men aller­dings auch die Bewoh­ne­rin­nen selbst noch Teile der täg­li­chen Arbeit, bei­spiels­weise die nächt­li­che Aufnahme.

In Ham­burg ist dafür seit 2016 die 24/7, die zen­trale Not­auf­nahme für die Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser, zustän­dig. Die Mit­ar­bei­te­rin­nen neh­men die akut betrof­fe­nen Frauen auf und ver­mit­teln sie dann an Häu­ser wei­ter. Dies ent­laste die Bewoh­ne­rin­nen von den nächt­li­chen und wöchent­li­chen Not­diens­ten, so die Mit­ar­bei­te­rin. Gleich­wohl könne es den Bewoh­ne­rin­nen auch Stärke zurück­ge­ben, einen Teil bei­zu­tra­gen und andere Frauen zu unter­stüt­zen. Aller­dings über­neh­men die Bewoh­ne­rin­nen diese Auf­ga­ben nicht in ers­ter Linie auf­grund die­ser ermäch­ti­gen­den Wir­kung, son­dern schlicht­weg, weil das Per­so­nal fehle.

Kein Frau­en­haus, son­dern der Sitz von Frauen hel­fen Frauen e.V., der ande­ren Trä­ger­ver­eine der auto­no­men Frau­en­häu­ser sowie der Koor­di­na­ti­ons­stelle der 24/7 in der Aman­da­straße.
Foto: Dirtsc Lizenz: CC BY-SA 3.0

Die befürch­tete Hier­ar­chie zwi­schen pro­fes­sio­na­li­sier­ten und ehren­amt­lich arbei­ten­den Frauen in den Häu­sern konnte trotz basis­de­mo­kra­ti­scher Struk­tur nicht ver­mie­den wer­den. Da die Frau­en­häu­ser mitt­ler­weile öffent­lich finan­ziert und tarif­lich gebun­den sind, wer­den auch die Anfor­de­run­gen an die Qua­li­fi­ka­tio­nen der Mit­ar­bei­te­rin­nen höher – und schlie­ßen damit viele Frauen, auch ehe­ma­lige Bewoh­ne­rin­nen, aus. Doch gerade diese Frauen brin­gen oft sowohl eigene Erfah­rung mit part­ner­schaft­li­cher Gewalt und dem Leben im Frau­en­haus mit als auch Sprach­kennt­nisse, die dem Leben im Haus zuträg­lich sein könn­ten. Die geringe Aner­ken­nung aus­län­di­scher Abschlüsse in der Sozia­len Arbeit und die struk­tu­relle Ungleich­heit im Bil­dungs­sys­tem in Deutsch­land tra­gen dazu bei, dass die Mit­ar­beit im Frau­en­haus nicht allen glei­cher­ma­ßen zugäng­lich ist – und die Teams ihrem Anspruch an Diver­si­tät nicht immer gerecht wer­den können.

Feministische Debatten in der Frauenhauspraxis

Mit dem Auf­tre­ten anti­ras­sis­ti­scher Dis­kurse an den Uni­ver­si­tä­ten und in der femi­nis­ti­schen Szene ent­brann­ten auch inner­halb der Frau­en­häu­ser Debat­ten über Ras­sis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung, im Zuge derer mit Quo­tie­run­gen in den Teams und bei den Auf­nah­men expe­ri­men­tiert wurde. Weni­ger dis­ku­tiert wurde hin­ge­gen jah­re­lang das hot topic der aktu­el­len femi­nis­ti­schen Debat­ten: Was ist eine Frau? Bis vor weni­gen Jah­ren, so eine Mit­ar­bei­te­rin, war die Dis­kus­sion darum, was Geschlecht eigent­lich ist, in Frau­en­häu­ser nicht anschluss­fä­hig. Dies ändert sich jedoch der­zeit, ins­be­son­dere durch jün­gere Kolleginnen.

Die etwa in der Debatte um das »Selbst­be­stim­mungs­ge­setz« geäu­ßerte Befürch­tung eini­ger Femi­nis­tin­nen, Frau­en­schutz­räume könn­ten unter­lau­fen wer­den, wenn Geschlecht an eine emp­fun­dene Iden­ti­tät statt an kör­per­li­che Merk­male geknüpft ist, erscheint ange­sichts des von der Mit­ar­bei­te­rin beschrie­be­nen Frau­en­haus­all­tags weni­ger eine prak­ti­sche als viel­mehr eine theo­re­ti­sche Frage zu sein: »Die Frau kommt – die kann mir auch irgend­was erzäh­len, wer sie ist – sie muss mir auch nicht ihren Perso zei­gen. So arbei­ten wir nicht. Die Frau erzählt, und wenn sie von häus­li­cher Gewalt betrof­fen ist, dann wird sie auf­ge­nom­men.« Der recht­li­che Per­so­nen­stand spielt in der Pra­xis keine Rolle. Jede Auf­nahme ist außer­dem eine Ein­zel­fall­ent­schei­dung und berück­sich­tigt die Erfah­run­gen der Bewoh­ne­rin­nen. Und: nicht jede sei für diese Art des Zusam­men­woh­nens geeig­net, auch das spielt bei den Auf­nah­me­ge­sprä­chen eine Rolle.

In Ham­burg wurde zudem vor zwei Jah­ren das 6. Frau­en­haus gegrün­det, das sich expli­zit als Schutz­raum für trans Frauen posi­tio­niert und die seit Jah­ren gän­gige Pra­xis unter­mau­ert.  Viel wich­ti­ger als die theo­re­ti­sche Defi­ni­tion von Geschlecht erscheint jedoch die Frage, ob in den Häu­sern über­haupt genug Plätze vor­han­den sind. Zu Beginn der Pan­de­mie fehl­ten in Ham­burg rund 200 Frau­en­haus­plätze.

Zu wenige Plätze, zu wenig Geld, zu wenig Personal

Obwohl aktu­elle inner­fe­mi­nis­ti­sche Debat­ten durch­aus zum Thema wer­den, nimmt das all­täg­li­che Rotie­ren, auch auf­grund feh­len­den Per­so­nals, in den Häu­sern einen Groß­teil der Zeit ein. Die Art und Weise der öffent­li­chen Finan­zie­rung unter­schei­det sich je nach Bun­des­land und Gemeinde. Wäh­rend in Ham­burg, Schleswig-Holstein und Ber­lin die auto­no­men Frau­en­häu­ser durch eine Pau­schale pro Platz im Haus finan­ziert wer­den, ist die Finan­zie­rung in ande­ren Bun­des­län­dern direkt an die betrof­fene Frau gekop­pelt. Da sie in eini­gen Län­dern über das Sozi­al­hil­fe­ge­setz abge­wi­ckelt wird, sind Frauen mit eige­nem Ein­kom­men, Stu­den­tin­nen und Frauen mit unsi­che­rem Auf­ent­halts­sta­tus davon aus­ge­schlos­sen. Diese Frauen wer­den, wenn mög­lich, in Län­dern mit Pau­schal­fi­nan­zie­rung unter­ge­bracht, da sie die Plätze sonst selbst zah­len müss­ten – vor­aus­ge­setzt, Auf­ent­halts­be­stim­mun­gen oder der Job las­sen einen Umzug zu und es sind freie Plätze vor­han­den. Die Zen­trale Infor­ma­ti­ons­stelle der auto­no­men Frau­en­häu­sern (ZIF) for­dert dem­entspre­chend eine bun­des­weite ein­zel­fall­un­ab­hän­gige Finan­zie­rung der Frauenhäuser.

Doch auch die pau­schale Finan­zie­rung bringt Schwie­rig­kei­ten mit sich. Der Erhalt sowie die Aus­wei­tung der Plätze sind vom Wohl­wol­len der jewei­li­gen Lan­des­re­gie­run­gen abhän­gig. Um einer dro­hen­den Schlie­ßung zu ent­ge­hen, wur­den im Jahr 2006 das 1. und das 3. Auto­nome Frau­en­haus zusam­men­ge­legt. Der CDU-geführte Senat hatte Kür­zun­gen beschlos­sen, da die Ver­sor­gungs­lage in Ham­burg bes­ser sei als in ande­ren Großstädten.

Femi­nis­ti­sche Per­fo­mance »Der Ver­ge­wal­ti­ger bist du« des Kol­lek­tivs Las Tesis aus Argen­ti­nien, die mitt­ler­weile auch in Ham­burg regel­mä­ßig zum 25. Novem­ber im Rah­men von Demons­tra­tio­nen auf­ge­führt wird. Foto: Paulo Sla­chevsky Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

Männergewalt und Femizide

Laut behörd­li­cher Aus­künfte wur­den in Ham­burg im lau­fen­den Jahr ins­ge­samt 16 Frauen getö­tet, sechs davon von ihrem (Ex-)Partner, bei den zehn ande­ren ist die Ein­ord­nung unklar. Die Zahl der Femi­zide, also der Tötung von Frauen und Mäd­chen auf­grund ihres Geschlechts, ist in jedem Fall alar­mie­rend. Aller­dings ist Femi­zid im deut­schen Recht kein eige­ner Tat­be­stand, er wird unter Part­ner­schafts­ge­walt sub­su­miert. Stu­dien und genaue Fall­zah­len zu Femi­zi­den feh­len ent­spre­chend im deutsch­spra­chi­gen Raum weit­ge­hend. Die frau­en­po­li­ti­sche Spre­che­rin der Links­frak­tion in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft Cansu Özd­emir kri­ti­sierte daher jüngst den Senat für seine Wei­ge­rung, eine Unter­su­chung zu Femi­zi­den in Ham­burg als »nötige wis­sen­schaft­li­che Basis für ein ziel­ge­rich­te­tes und wir­kungs­vol­les Prä­ven­ti­ons­kon­zept« in Auf­trag zu geben.

Bewoh­ne­rin­nen und ehe­ma­li­gen Bewoh­ne­rin­nen von Frau­en­häu­sern steht die Gefahr, Opfer eines Femi­zids zu wer­den, beson­ders deut­lich vor Augen. 2018 wurde die 42-Jährige Juliet H. von ihrem Expart­ner ermor­det. Nach­dem sie in einem Ham­bur­ger Frau­en­haus Schutz gesucht hatte, zog sie mit ihren Kin­dern in eine eigene Woh­nung, wo sie von ihrem Exmann getö­tet wurde. Doch nicht nur für die Bewoh­ne­rin­nen sind sol­che Fälle alar­mie­rend. Es setzt auch die Mit­ar­bei­te­rin­nen enorm unter Druck, die mit knap­pen Res­sour­cen und staat­li­chen Hür­den kämp­fen, um den Frauen Schutz und eine Per­spek­tive zu bieten.

Väter­rechte ste­hen über dem Schutz von Frauen und ihren Kin­dern. Die Ver­än­de­run­gen im Fami­li­en­recht der letz­ten Jahre machen die Situa­tion von Frauen aus Gewalt­be­zie­hun­gen gefähr­li­cher. Die Zeit unmit­tel­bar nach der Tren­nung vom gewalt­tä­ti­gen Part­ner birgt das höchste Risiko, Opfer eines (ver­such­ten) Femi­zids zu wer­den. Umso wich­ti­ger ist dann ein unkom­pli­zier­ter Zugang zu einem Frau­en­haus. Die­ser Schutz wird aller­dings durch das fami­li­en­recht­lich ange­strebte Wech­sel­mo­dell untergraben.

Das von der jet­zi­gen Bun­des­re­gie­rung in den Mit­tel­punkt von Sorge- und Umgangs­recht gestellte Wech­sel­mo­dell soll eigent­lich zu einer gleich­be­rech­tig­ten Auf­tei­lung der Erzie­hung und Ver­ant­wor­tung für gemein­same Kin­der füh­ren. Es bedarf jedoch einer Kom­mu­ni­ka­tion auf Augen­höhe, um die nöti­gen Abspra­chen für die­ses Arran­ge­ment zu tref­fen. Übt der Vater Gewalt über die Mut­ter aus, ist diese Augen­höhe offen­sicht­lich nicht gege­ben. Aus der Pra­xis berich­tet die Mit­ar­bei­te­rin, dass dem Vater durch das Umgangs­recht in die­sen Fäl­len ermög­licht wird, wei­ter­hin Kon­trolle und Gewalt aus­zu­üben. Das Wech­sel­mo­dell steht des­halb bei Femi­nis­tin­nen und Initia­ti­ven für Allein­er­zie­hende Müt­ter in der Kri­tik.

Gerichte ord­nen sogar bei Müt­tern, die im Frau­en­haus leben, das Wech­sel­mo­dell an. Die Mit­ar­bei­te­rin des Frau­en­hau­ses beschreibt: »Wenn die [Frau] Kin­der hat, geht’s sofort los mit Kon­takt zu Jugend­amt, Kon­takt zu Anwäl­ten, dann wird irgend­wer ver­su­chen sofort das Auf­ent­halts­be­stim­mungs­recht zu bean­tra­gen, es wer­den Sofort­um­gänge in die Wege gelei­tet mit den gewalt­tä­ti­gen Vätern – und das ist krass.«

Die Gerichte gin­gen ohne wei­te­res davon aus, dass die Gewalt durch den Aus­zug der Mut­ter auf­ge­hört habe und also bei Ver­fah­ren zum Sorge- und Umgangs­recht nicht berück­sich­tigt zu wer­den brau­che. Die Müt­ter müss­ten daher irgend­wie Vor­keh­run­gen tref­fen, um dem gewalt­tä­ti­gen Mann die Kin­der zu über­ge­ben, ohne sich selbst in Gefahr zu brin­gen. Durch Per­so­nal­man­gel ist es den Mit­ar­bei­te­rin­nen in den Frau­en­häu­sern oft nicht mög­lich, Frauen zu die­sen Über­ga­ben zu begleiten.

Nach 45 Jah­ren sind auto­nome Frau­en­häu­ser also zwar aner­kannte Insti­tu­tio­nen zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Aber ihre Exis­tenz bleibt pre­kär und die Situa­tion der Frauen selbst wird kom­ple­xer. Die Mit­ar­bei­te­rin und ihre Kol­le­gin­nen erwar­ten vom Senat und der Bun­des­re­gie­rung eine Erhö­hung der Anzahl der Plätze und eine bun­des­weite pau­schale Finan­zie­rung. Im Sorge- und Umgangs­recht müsse das Per­so­nal geschult wer­den, um den Gewalt­schutz kon­se­quen­ter berück­sich­ti­gen. Nicht die Frauen soll­ten im Haus Schutz suchen und dann um ihre Kin­der kämp­fen müs­sen, son­dern die Män­ner soll­ten bewei­sen, dass sie nicht gefähr­lich sind, schließt die Mitarbeiterin.

Lea Rem­mers

Die Autorin schrieb für Untie­fen bereits über die Her­bert­straße als Sym­bol männ­li­cher Herrschaft.

Kühne-Preis: Kulturförderung als Schweigegeld?

Kühne-Preis: Kulturförderung als Schweigegeld?

Am 18. Sep­tem­ber wird im Rah­men des Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­vals in Ham­burg der renom­mierte Klaus-Michael Kühne-Preis ver­lie­hen. Nun haben zwei Schriftsteller:innen ihre Nomi­nie­run­gen zurück­ge­zo­gen – weil der Geld- und Namens­ge­ber die NS-Historie sei­nes Fami­li­en­un­ter­neh­mens nicht auf­ar­beite. Wir hat­ten zuvor sie und die übri­gen Nomi­nier­ten kon­tak­tiert, um über die finan­zi­elle Abhän­gig­keit des Kul­tur­be­trie­bes von pri­va­ter För­de­rung und die Image­po­li­tik pro­ble­ma­ti­scher Mäzene zu spre­chen.

Weiß wie die Unschuld: In Küh­nes Luxus­ho­tel „The Fon­tenay“ an der Als­ter soll der Klaus-Michael Kühne-Preis am 18.09. ver­lie­hen wer­den. Foto: travelswiss1 Lizenz: CC BY-NC 2.0

Im Kunst- und Kul­tur­be­trieb rumort es: Das Lon­do­ner Bri­tish Museum benennt alle nach einem Groß­spen­der benann­ten Räume um, die Video­künst­le­rin Hito Stey­erl zieht eines ihrer Werke aus einer ange­se­he­nen Samm­lung zurück, die Salz­bur­ger Fest­spiele been­den in Reak­tion auf einen offe­nen Brief des Autors Lukas Bär­fuss und der Regis­seu­rin Yana Ross die Zusam­men­ar­beit mit einem Spon­sor. All diese Aus­ein­an­der­set­zun­gen ereig­ne­ten sich in den letz­ten Mona­ten. Und bei allen ging es um ganz ähn­li­che Fra­gen: Wer finan­ziert eigent­lich Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen und Kul­tur­schaf­fende? Aus wel­chen Quel­len stam­men die Mil­li­ar­den an pri­va­ten Mit­teln, mit denen Museen, Kon­zert­häu­ser, Preise und Fes­ti­vals geför­dert wer­den? Und wie kann oder soll man sich gegen­über ›schmut­zi­gen‹ För­der­gel­dern ver­hal­ten, die aus frag­wür­di­gen Quel­len stam­men und von den Geldgeber:innen zum Rein­wa­schen des eige­nen Namens bzw. dem Ver­de­cken von Schand­ta­ten genutzt werden?

Auf die Frage nach dem prak­ti­schen Umgang haben Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen und Künstler:innen in den genann­ten drei Fäl­len klare Ant­wor­ten gefun­den. Sie zogen Kon­se­quen­zen dar­aus, dass die Mil­li­ar­därs­fa­mi­lie Sack­ler mit ihrem Unter­neh­men Pur­due Pharma maß­geb­lich für die Opio­id­krise in den USA ver­ant­wort­lich war; dar­aus, dass die Unter­neh­me­rin und Kunst­samm­le­rin Julia Sto­schek ihr Mil­li­ar­den­ver­mö­gen ihrem Nazi-Urgroßvater ver­dankt, der den Auto­mo­bil­zu­lie­fe­rer Brose grün­dete, den NS-Staat belie­ferte und als treues NSDAP-Mitglied zum Wehr­wirt­schafts­füh­rer auf­stieg; und dar­aus, dass das Berg­bau­un­ter­neh­men Sol­way nicht nur mas­sive Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und Umwelt­zer­stö­rung ver­ant­wor­tet, son­dern zudem enge Ver­bin­dun­gen zum Kreml unter­hal­ten soll.

Die Kühne-Stiftung

Eine in Ham­burg beson­ders aktive und eben­falls frag­wür­dige Kul­tur­spon­so­rin ist die Kühne-Stiftung: Bei der Elb­phil­har­mo­nie, dem Phil­har­mo­ni­schen Staats­or­ches­ter und dem Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­val tritt die Stif­tung als Haupt­för­de­rin auf. Gegrün­det wurde sie 1976 vom Unter­neh­mer Alfred Kühne, sei­ner Frau Mer­ce­des und ihrem gemein­sa­mem Sohn Klaus-Michael Kühne. Das Stif­tungs­ka­pi­tal stammt aus den Erträ­gen der Kühne Hol­ding, also vor­ran­gig aus jenen des Unter­neh­mens Kühne + Nagel (K+N), eines der welt­weit größ­ten Transport- und Logistikunternehmen.

Damit aber ver­dankt sich das Kapi­tal zum einen dem Umstand, dass Alfred Kühne und sein Bru­der Wer­ner 1933 ihren jüdi­schen Teil­ha­ber Adolf Maass aus dem Unter­neh­men dräng­ten, und zum ande­ren der maß­geb­li­chen Betei­li­gung von K+N an der ›Ari­sie­rung‹ jüdi­schen Eigen­tums in den von Deutsch­land besetz­ten Län­dern wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs. Hinzu kommt: Klaus-Michael Kühne, der das Unter­neh­men von 1966 bis 1998 lei­tete und bis heute sowohl die Mehr­heit der Akti­en­an­teile als auch die Fäden in der Hand hält, zeigt kei­ner­lei Ver­ständ­nis dafür, dass die NS-Vergangenheit sei­nes Unter­neh­mens »immer wie­der hoch­ge­kocht wird«, und wehrt jeg­li­che Auf­ar­bei­tung die­ser – sei­ner – Familien- und Unter­neh­mens­ge­schichte vehe­ment ab.

Kulturförderung als Schweigegeld

Bis­lang scheint Klaus-Michael Küh­nes Stra­te­gie des Rela­ti­vie­rens und Ver­schwei­gens auf­zu­ge­hen. Zwar haben ins­be­son­dere aus Anlass des 125-jährigen Fir­men­ju­bi­lä­ums im Jahr 2015 viele Medien kri­tisch über die Unter­neh­mens­ge­schichte berich­tet, über die man dank der Recher­chen des ehe­ma­li­gen taz-Redak­teurs Hen­ning Bleyl und von His­to­ri­kern wie Wolf­gang Dre­ßen, Frank Bajohr und Johan­nes Beermann-Schön immer­hin eini­ges weiß. Doch einer brei­ten Öffent­lich­keit sind Klaus-Michael Kühne und sein Unter­neh­men nach wie vor nicht als NS-Profiteure bekannt. Das öffent­li­che Bild von Kühne bestimmt viel­mehr sein Enga­ge­ment als Inves­tor und Kul­tur­för­de­rer. Die Ham­bur­ger Mor­gen­post etwa ver­öf­fent­lichte in den letz­ten zwei Jah­ren 50 Arti­kel über Kühne; nur ein ein­zi­ger von ihnen behan­delt die Geschichte des Unter­neh­mens im Natio­nal­so­zia­lis­mus und seine Nach­ge­schichte. Statt­des­sen pro­du­ziert Kühne (über­wie­gend) posi­tive Schlag­zei­len mit sei­nem Enga­ge­ment beim HSV (dem er die Benen­nung des Sta­di­ons nach Uwe See­ler finan­zie­ren will), mit Inves­ti­tio­nen (er hat seine Anteile an der Luft­hansa und an der Immo­bi­li­en­ge­sell­schaft Signa Prime erhöht und Anteile am Elb­tower erwor­ben) und eben mit sei­nen Akti­vi­tä­ten in der Kulturförderung.

Es steht daher außer Frage: Klaus-Michael Küh­nes Mäze­na­ten­tum dient effek­tiv der Image­pflege des Fami­li­en­na­mens, dem Ver­schwei­gen bzw. Rein­wa­schen. ›Tue Gutes und sprich dar­über‹, sagt man; im Fall von Kühne ließe sich ergän­zen: ›damit über das Schlechte nicht gespro­chen wird‹. Dass er den von ihm gestif­te­ten Preis für das beste Roman­de­büt des Jah­res ganz unbe­schei­den nach sich selbst benannt hat, ist davon der wohl kras­seste Aus­druck. Es hat zur Folge, dass der Klaus-Michael-Kühne-Preis nicht nur eine Aus­zeich­nung für die Autor:innen dar­stellt, die ihn erhal­ten. Viel­mehr ver­schaf­fen die Preisträger:innen auch dem Mäzen, in des­sen an der Außen­als­ter gele­ge­nen Luxus­ho­tel The Fon­tenay die Preis­ver­lei­hung statt­fin­den wird, Anse­hen und Aner­ken­nung. Und sie drän­gen damit wider Wil­len die Betei­li­gung des Unter­neh­mens an der Ent­eig­nung von Jüdin­nen und Juden im NS aus dem Blick der Öffent­lich­keit. Wenn etwa, wie im Jahr 2014 mit Per Leos Roman Flut und Boden, die lite­ra­ri­sche Auf­ar­bei­tung einer deut­schen Fami­li­en­ge­schichte und Abrech­nung mit der NS-Täter:innengeneration den Klaus-Michael Kühne-Preis erhält, ohne dass die­ser zyni­sche Wider­spruch zur Spra­che kommt, dient der Preis ganz offen­kun­dig als Feigenblatt.

Suche nach dem angemessenen Umgang

Natür­lich haben fast alle deut­schen Groß­un­ter­neh­men, die vor 1945 gegrün­det wur­den, eine Ver­bre­chens­ge­schichte. Der nie­der­län­di­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler David de Jong hat das in sei­nem Buch Brau­nes Erbe kürz­lich noch ein­mal ein­drück­lich dar­ge­legt. Doch das Aus­maß der Kol­la­bo­ra­tion der Gebrü­der Alfred und Wer­ner Kühne mit dem NS-Staat, die anhal­tende Wei­ge­rung ihres Erben Klaus-Michael Kühne, diese Geschichte auf­zu­ar­bei­ten und Kon­se­quen­zen dar­aus zu zie­hen, sowie die Benen­nung des Prei­ses nach Kühne selbst machen den Klaus-Michael Kühne-Preis zu einem beson­ders her­vor­ste­chen­den Fall.

Was aber wäre ein ange­mes­se­ner Umgang mit dem pro­ble­ma­ti­schen Geld­ge­ber? Diese Frage stell­ten wir, die Redak­tion von Untie­fen, uns im Vor­feld der dies­jäh­ri­gen Ver­lei­hung des Kühne-Preises, ohne zu einer befrie­di­gen­den Ant­wort zu kom­men. Wir ver­such­ten daher im Juli, mit den acht Nomi­nier­ten des Prei­ses selbst ins Gespräch dar­über zu kom­men. In einer E‑Mail an die Autor:innen schil­der­ten wir aus­führ­lich die Ver­stri­ckung von K+N in die NS-Verbrechen und hoben vor allem die Wei­ge­rung Klaus-Michael Küh­nes her­vor, das Fir­men­ar­chiv zu öff­nen und die Unter­neh­mens­ge­schichte von unab­hän­gi­gen Historiker:innen unter­su­chen zu las­sen. In unse­rem Schrei­ben an die Nomi­nier­ten hoben wir auch die Kom­ple­xi­tät der Situa­tion her­vor und frag­ten die Autor:innen nach einem mög­li­chen Umgang:

»Klar ist einer­seits: Diese Umstände kön­nen und dür­fen nicht (wei­ter) beschwie­gen wer­den. Klar ist ande­rer­seits aber auch: Ein Lite­ra­tur­preis ist für eine Debü­tan­tin / einen Debü­tan­ten wie Sie auch über das hohe Preis­geld hin­aus von beträcht­li­cher Bedeu­tung. Hinzu kommt, dass Küh­nes eigene Ansich­ten bei der Ent­schei­dung der Jury gewiss keine Rolle spie­len wer­den. Die For­de­rung, den Preis oder gar schon die Nomi­nie­rung zurück­zu­wei­sen, wäre daher wohl­feil. Doch wir fra­gen uns – und Sie: Wenn die öffent­li­che Ableh­nung des Prei­ses keine sinn­volle Option ist, was könn­ten dann alter­na­tive Wege sein, mit dem pro­ble­ma­ti­schen Hin­ter­grund des Prei­ses und sei­nes Stif­ters den­noch einen Umgang zu fin­den? Diese Frage, auf die wir selbst bis­lang keine befrie­di­gende Ant­wort gefun­den haben, weist auch über den kon­kre­ten Fall hin­aus und zieht wei­tere, grund­sätz­li­che Fra­gen nach sich: Wie kann man sich zum Wider­spruch der Neu­tra­li­sie­rung von Kri­tik durch ihre Ver­ein­nah­mung, der auch nur die Zuspit­zung eines gene­rel­len Wider­spruchs im ›wie­der­gut­ge­wor­de­nen‹ Deutsch­land ist, ins Ver­hält­nis set­zen? Ist das Pathos etwa eines Tho­mas Brasch bei der Ver­lei­hung des Baye­ri­schen Film­prei­ses 1981 (noch) ange­mes­sen? Stellt die Lite­ra­tur selbst Mit­tel bereit, sich der Ver­ein­nah­mung zu wider­set­zen, oder ist sie ohn­mäch­tig ange­sichts der Macht­ver­hält­nisse eines Betriebs, in dem man es sich mit sei­nen Geld­ge­bern nicht ›ver­scher­zen‹ darf?«

Die Antworten der Nominierten: Zwischen Realismus…

Auf unsere Fra­gen und unsere Bitte um Aus­tausch erhiel­ten wir in den fol­gen­den Wochen von immer­hin drei der acht Autor:innen Rück­mel­dung. Dome­nico Mül­len­sie­fen, der für sei­nen Roman Aus unse­ren Feu­ern nomi­niert wurde, schreibt: »Ich denke, dass es ein gro­ßes Pro­blem ist, dass die öffent­li­che Kul­tur­för­de­rung in Deutsch­land stark ein­ge­schränkt ist.« Denn in die Lücke, die die öffent­li­che För­de­rung lässt, stie­ßen pri­vate För­de­rer. Was es bräuchte, so Mül­len­sie­fen, sei eine »breite und preis­un­ab­hän­gige För­de­rung von AutorIn­nen«. Bis dahin bleibe er auch beim Klaus-Michael Kühne-Preis „Rea­list“, denn: »Die Jury ist hoch­ka­rä­tig besetzt und frei in Ihrem Han­deln. Die nomi­nier­ten Schrift­stel­le­rIn­nen gefal­len mir sehr gut. Der Umgang mit den AutorIn­nen ist erst­klas­sig. […] Und ganz ehr­lich, wäre es mir eine sehr große Freude, mal eine Nacht in die­sem schi­cken Hotel von Herrn Kühne zu über­nach­ten.« In einem spä­te­ren State­ment gegen­über der ZEIT fügt er hinzu: »Deut­scher Reich­tum ist in vie­len, wenn nicht sogar in den meis­ten Fäl­len auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit ent­stan­den. So zu tun, als wäre alles in Ord­nung, wenn Herr Kühne die NS-Vergangenheit auf­ar­bei­ten ließe, wäre auch falsch. Wir haben ein struk­tu­rel­les Gesell­schafts­pro­blem, zu dem wir AutorIn­nen uns indi­vi­du­ell ver­hal­ten sol­len.« Und: »Und wäre es nicht an der Zeit, dass wir, und da darf DIE ZEIT gern vor­ne­weg gehen, ernst­haft über eine Umver­tei­lung der Ver­mö­gen in Deutsch­land sprechen?«

Ähn­lich ant­wor­tete Daniel Schulz, taz-Redak­teur und Autor des Romans Wir waren wie Brü­der. Er betont wie Mül­len­sie­fen: „Die Unab­hän­gig­keit und Fach­kom­pe­tenz der Jury ste­hen außer Zwei­fel. Klaus-Michael Kühne hat auf ihre Ent­schei­dun­gen kei­nen Ein­fluss“. Vor allem hält er die Autor:innen für die fal­schen Ansprechpartner:innen für die Frage nach dem Umgang mit dem NS-Erbe von Kühne + Nagel. Schließ­lich seien sie in der abhän­gigs­ten und pre­kärs­ten Lage von allen und „auf die weni­gen För­de­run­gen ange­wie­sen […], die es noch gibt“. Die Res­sour­cen und die Ver­ant­wor­tung dafür, einen Umgang mit pro­ble­ma­ti­schen För­de­rern wie Kühne zu fin­den, sieht er vor allem bei den Ver­la­gen und der Kulturpolitik.

Der Tenor die­ser Ant­wor­ten ist klar: In die­ser Gesell­schaft als Schriftsteller:in tätig zu sein bedeu­tet, in zahl­rei­che Wider­sprü­che ver­strickt und nicht weni­gen Zwän­gen unter­wor­fen zu sein. Solange die Kul­tur­för­de­rung maß­geb­lich über pri­vate Stif­tun­gen und Orga­ni­sa­tio­nen geleis­tet wird und die Autor:innen von deren Geld abhän­gig seien, müsse man letzt­lich damit leben, dass Gel­der im Kul­tur­be­trieb aus frag­wür­di­gen Quel­len stam­men Das zen­trale Pro­blem sehen die bei­den Autoren in der pri­va­ti­sier­ten Kul­tur­för­de­rung in einer post­fa­schis­ti­schen Gesell­schaft – und die Ver­ant­wor­tung auf Sei­ten der öffent­li­chen Hand.

… und Absagen

Sven Pfi­zen­maier, nomi­niert für Drau­ßen fei­ern die Leute, ist zu einem ande­ren Schluss für sei­nen indi­vi­du­el­len Umgang mit der Situa­tion gekom­men. Er hat seine Nomi­nie­rung zurück­ge­wie­sen und seine Teil­nahme am ›Debü­tan­ten­sa­lon‹ auf dem Har­bour Front Lite­ra­turfesti­val abge­sagt. In sei­ner am 29. August ver­öf­fent­lich­ten Erklä­rung schreibt er so knapp wie deut­lich: »Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dage­gen wehrt, die NS-Historie sei­nes Unter­neh­mens auf­zu­ar­bei­ten, möchte ich mei­nen Text nicht in einen Wett­be­werb um sein Geld und eine Aus­zeich­nung mit sei­nem Namen stellen.«

Andert­halb Wochen spä­ter, am 07.09., sagte auch Fran­ziska Gäns­ler, nomi­niert für Ewig Som­mer, ihre Teil­nahme am Har­bour Front Fes­ti­val ab. In ihrer Erklä­rung, die dies­mal durch die Fes­ti­val­lei­tung ver­öf­fent­licht wurde, führt sie die Nicht-Diskussion um die Absage Pfi­zen­mai­ers als Grund an:

»Mich hat der Rück­zug des mit­no­mi­nier­ten Autors Sven Pfi­zen­maier und die dar­auf fol­gende Reak­tion sehr beschäf­tigt. Ich denke, es hätte einen öffent­li­chen Dis­kurs gebraucht, der ein Ernst­neh­men sei­ner Kri­tik erkenn­bar macht und zeigt, dass es das Anlie­gen der Stif­tung ist, genau das zu för­dern – kri­ti­sche lite­ra­ri­sche Stim­men. Lei­der zeigt die Reak­tion für mich, dass dies nicht gege­ben scheint. Unter die­sen Umstän­den wei­ter auf die Aus­zeich­nung zu hof­fen erscheint mir, unab­hän­gig von der finan­zi­el­len Kom­po­nente, wie ein Weg­se­hen, das ich nicht gut mit mir und mei­nem Schrei­ben ver­ein­ba­ren kann.«

Pfi­zen­maier und Gäns­ler haben damit dras­ti­sche Schritte gewählt. Pfi­zen­maier betont in sei­ner Erklä­rung aber auch, dass er seine Ent­schei­dung »expli­zit nicht als Vor­wurf« gegen die Mit­no­mi­nier­ten und Mit­ar­bei­ten­den des Fes­ti­vals ver­stan­den wis­sen wolle: »Das Ver­hält­nis zwi­schen Geldgeber:innen und Kul­tur­schaf­fen­den in Deutsch­land ist ein der­ma­ßen kom­ple­xes Feld, dass es unzäh­lige Wege gibt, einen ange­mes­se­nen Umgang damit zu fin­den. Die­ser hier ist meiner.«

Dras­tisch sind diese Ent­schei­dun­gen nicht nur, weil beide damit auf die Mög­lich­keit ver­zich­tet, das statt­li­che Preis­geld von 10.000 Euro zu gewin­nen, son­dern auch und vor allem, weil der Debü­tan­ten­sa­lon und der Klaus-Michael Kühne-Preis in den letz­ten Jah­ren zu einem wich­ti­gen Sprung­brett für junge Autor:innen gewor­den sind. Bei Ver­la­gen, Buchhändler:innen und Autor:innen genießt der Preis ebenso hohes Anse­hen wie bei Kri­tik und Leser:innenschaft. Autor:innen, deren Debüt eine Nomi­nie­rung erhal­ten oder den Preis gar gewon­nen hat, stei­gern nicht nur die Ver­käufe ihres Romans, son­dern haben gute Aus­sich­ten, sich fest zu eta­blie­ren. Zu den bis­he­ri­gen Preisträger:innen zäh­len etwa Olga Grjas­nowa, Per Leo, Dmit­rij Kapi­tel­man, Fatma Ayd­emir und Chris­tian Baron.

Der Eklat

Pfi­zen­mai­ers und Gäns­lers Ent­schei­dung ist bis­her prä­ze­denz­los. Obwohl viele der frü­he­ren Nomi­nier­ten und Preisträger:innen als enga­gierte Stim­men in der öffent­li­chen Debatte bekannt (gewor­den) sind, hatte bis­her noch kein:e Autor:in öffent­lich Kri­tik an Kühne geübt – geschweige denn die Nomi­nie­rung oder den Preis zurückgewiesen.

Dem­entspre­chend über­for­dert und rat­los wirkt der Umgang des Har­bour Front-Fes­ti­vals mit der Situa­tion. Man glaubte dort offen­bar, Pfi­zen­mai­ers Absage ein­fach unter den Tep­pich keh­ren zu kön­nen. Am 24. August wurde in einer Pres­se­nach­richt und auf Twit­ter lapi­dar ein »Pro­gramm­up­date« ver­kün­det: Nach Sven Pfi­zen­mai­ers Absage trete Prze­mek Zybow­ski durch ein Nach­rück­ver­fah­ren an seine Stelle. Bis zur Absage Gäns­lers ging das Fes­ti­val weder auf die Gründe für Pfi­zen­mai­ers Absage ein, noch drückte es sein Bedau­ern dar­über aus. Auf der Home­page des Fes­ti­vals wurde Pfi­zen­maier still­schwei­gend ersetzt. Nach Gäns­lers Absage lässt das Fes­ti­val auf der Web­site knapp verlautbaren: 

»Wir fin­den diese Absa­gen sehr bedau­er­lich. Für die Beweg­gründe der Betref­fen­den haben wir Ver­ständ­nis – auch wir sehen Dis­kus­si­ons­be­darf in die­ser Angelegenheit.«

Vorher-Nachher Screen­shot: das Har­bour Front-Festival ersetzt auf sei­ner Home­page Pfi­zen­maier durch Zybow­ski und hofft, dass es keine:r merkt. Foto: Screen­shot https://harbourfront-hamburg.com/.

Die Reak­tion der Kühne-Stiftung aber über­trifft das anfäng­li­che Schwei­gen des Fes­ti­valsum Län­gen. Wäh­rend sie der Mopo noch kei­nen Kom­men­tar geben wollte und wohl auch hoffte, das Pro­blem löse sich von selbst auf, ging sie gegen­über der taz in die Offen­sive: Man habe »mit Vor­gän­gen, die ca. 80 Jahre zurück­lie­gen, nichts zu tun«. Und weil sich die Stif­tung »in höchs­tem Maße« unge­recht behan­delt fühlte, setzte man dort zum Gegen­an­griff gegen die undank­ba­ren Kul­tur­schaf­fen­den und ‑liebhaber:innen an: Man werde »die tra­di­tio­nelle Ver­lei­hung des Klaus-Michael Kühne-Preises jetzt über­den­ken« ließ die Kühne-Stiftung auf Anfrage der taz ver­lau­ten. Wer Kri­tik übt, erhält kein Geld – das ist die Bot­schaft, die die Kühne-Stiftung vermittelt.

Kulturförderung entprivatisieren

Die Reak­tion der Kühne-Stiftung zeigt: Man scheint sich dort sehr bewusst dar­über zu sein, wer hier am län­ge­ren Hebel sitzt. Der Kul­tur­be­trieb ist in hohem Grad abhän­gig von sei­nen (pri­va­ten) Gön­nern. Sie kön­nen den von ihnen geför­der­ten Ein­rich­tun­gen und Ver­an­stal­tun­gen ihre Bedin­gun­gen dik­tie­ren – und bei Kri­tik oder Nicht­be­fol­gen die För­de­rung been­den oder zumin­dest damit dro­hen. Die Kühne-Stiftung zeigt mit ihrem Ver­hal­ten gegen­über den Kul­tur­schaf­fen­den über­deut­lich auf, wo die Grenze(n) der Auto­no­mie der Kunst lie­gen: Don’t bite the hand that feeds you.

Die ers­ten Leid­tra­gen­den eines Rück­zugs wären die Schriftsteller:innen und Künstler:innen, also aus­ge­rech­net die schwächs­ten Glie­der in der Kette. Tat­säch­lich sind die ande­ren Nomi­nier­ten nicht zu benei­den. Durch Pfi­zen­mai­ers und Gäns­lers Absage ste­hen sie unter Druck, sich zu beken­nen, womög­lich gar, ihrem Bei­spiel zu fol­gen. Vie­les hängt davon ab, dass die Debatte soli­da­risch geführt wird, und das heißt: nicht indi­vi­dua­li­sie­rend und mora­li­sie­rend, son­dern im Bewusst­sein der Wider­sprü­che und des struk­tu­rel­len Cha­rak­ters des Problems.

Klar ist: Solange die Kul­tur den Markt­ge­set­zen unter­liegt und die För­de­rung der Kul­tur­schaf­fen­den nicht durch öffent­li­che Hand getra­gen wird, ist sie auf pri­vate Förder:innen ange­wie­sen. Denn wenn nicht allein die Markt­gän­gig­keit von Kunst, Musik oder Lite­ra­tur zäh­len soll, son­dern auch die inhä­ren­ten Maß­stäbe der Kunst, braucht es Kul­tur­spon­so­ring. An Bei­spie­len wie Kühne zeigt sich aber, zu wel­chen Pro­ble­men es füh­ren kann, wenn dies pri­vat orga­ni­siert und zwangs­läu­fig von beson­ders ver­mö­gen­den Unter­neh­men und Ein­zel­per­so­nen mit eige­nen Inter­es­sen über­nom­men wird. Des­halb muss im Sinne einer demo­kra­ti­schen Kul­tur­för­de­rung zumin­dest eine Reduk­tion des Anteils pri­va­ten Spon­so­rings durch die (Wieder-)Einführung öffent­li­cher För­de­rung durch­ge­setzt wer­den. Die Leid­tra­gen­den des pri­va­ten Kul­tur­spon­so­rings sind letzt­lich auch die Autor:innen selbst, denen in die­sem Sys­tem mit­un­ter nur eine Wahl bleibt zwi­schen Ver­zicht auf das, was ihren Unter­halt finan­ziert, oder der Annahme frag­wür­di­ger För­der­gel­der – eine infame Verantwortungsverschiebung.

In Bezug auf den aktu­el­len Eklat heißt das: Der Kühne-Preis muss umbe­nannt und öffent­lich finan­ziert wer­den. Wie wäre es etwa mit einem von der Stadt Ham­burg finan­zier­ten Peter-Rühmkorf-Preis? Wenn man sich anschaut, wie schnell die Stadt im Cum-Ex-Skandal bereit war, auf 47 Mil­lio­nen Euro an Steu­ern zuguns­ten der Warburg-Bank zu ver­zich­ten, soll­ten 10.000 Euro Preis­geld sicher­lich kein Pro­blem dar­stel­len. Und Küh­nes Geld könnte auch in einer unab­hän­gi­gen, wis­sen­schaft­li­chen Auf­ar­bei­tung der eige­nen Fir­men­ge­schichte sehr gute Ver­wen­dung finden.

Redak­tion Untie­fen, 7. Sep­tem­ber 2022

Das H steht für Herrschaft

Das H steht für Herrschaft

Wäh­rend sich Frauen immer mehr Raum erkämpft haben und geschlecht­li­che Ungleich­hei­ten ange­gan­gen wur­den, blieb die Her­bert­straße an der Ree­per­bahn für sie bis heute tabu – für einen Teil der Frauen zumin­dest. Wie kommt das und was hat das mit dem Patri­ar­chat und männ­li­chen Herr­schafts­an­sprü­chen zu tun?

Offen für alle? Blick in die Her­bert­straße bei geöff­ne­tem Tor. Foto: Hinnerk11, CC BY-SA 4.0, Wiki­pe­dia.

Ham­burg steht mit der Ree­per­bahn, der Her­bert­straße und den Bur­les­que Shows immer wie­der im Zen­trum der media­len Auf­merk­sam­keit, zum Bei­spiel durch ›kul­tige‹ Kiez-Reportagen, und geriert sich als Inbe­griff der sexu­el­len Offen­heit. Der ›ero­ti­sche‹ Humor und feucht­fröh­li­che Life­style, der durch aller­hand kul­tu­relle Prak­ti­ken rund um die »sün­digste Meile der Welt«1Diese Phrase, die mit der Umwer­tung christlich-konservativer Moral­vor­stel­lun­gen koket­tiert, ist inzwi­schen zum Marketing-Slogan geron­nen und wird auch auf der offi­zi­el­len Tourismus-Webseite der Stadt Ham­burg ver­wen­det. prä­sen­tiert wird, zieht Tourist:innen an und lässt viele Femi­nis­tin­nen auf­at­men, die sich immer wie­der um die Moral von Sex­ar­beit bezie­hungs­weise Pro­sti­tu­tion strei­ten. Die Ree­per­bahn scheint zu zei­gen: Alles ganz ent­spannt und frei – es geht um Spaß und lockere Sexua­li­tät, die kaum irgendwo sonst so frei aus­ge­lebt wer­den könne wie hier. Doch wie jede Kul­tur­in­dus­trie ist auch diese nicht frei von Ideo­lo­gie und Insze­nie­rung: Sie ver­schlei­ert den Blick für ihre sta­bi­li­sie­rende Funk­tion im Sinne der (durch den Femi­nis­mus infrage gestell­ten) männ­li­chen Herrschaftsansprüche.

Die Her­bert­straße exis­tiert in ihrer Funk­tion als Hort sexu­el­ler Dienste von Frauen für Män­ner etwa seit der Wei­ma­rer Repu­blik. Seit den 1930er Jah­ren ste­hen an bei­den Enden der nur etwa 60 Meter lan­gen Straße Sicht­schutz­wände, im Jahr der Fußball-WM 1974 wur­den Schil­der mit der Beschrif­tung »Jugend­li­che unter 18 und Frauen ver­bo­ten« auf Deutsch und Eng­lisch ange­bracht. Zwar kann nie­man­dem der Zutritt zu einer öffent­li­chen Straße, wie es die Her­bert­straße ist, recht­lich ver­bo­ten wer­den, schon gar nicht auf­grund des Geschlechts. Den­noch wird das Ver­bot für Frauen, die Straße ohne Absicht sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen anzu­bie­ten, zu betre­ten, auch von öffent­li­cher Seite repro­du­ziert. Was (angeb­lich) pas­siert, wenn man das Ver­bot miss­ach­tet, erfährt man woan­ders: Einem pri­va­ten Touristik-Anbieter zufolge ist dann »mit Beschimp­fun­gen und einem Angriff durch Was­ser­bom­ben« zu rech­nen, die SHZ warnt vor »def­tigs­ten Schimpf­wor­ten, fau­len Eiern und manch­mal auch hand­fes­ten Argumenten«.

Frauen verboten‹ – zum Schutz der Prostituierten?

Frauen von außen wer­den als stö­rende Ein­dring­linge dar­ge­stellt, die nicht nur die Män­ner am Kauf von sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen behin­dern. Das Ver­bot von sich nicht pro­sti­tu­ie­ren­den Frauen soll der Wunsch der Pro­sti­tu­ier­ten selbst sein, es soll sie vor den ande­ren Frauen schüt­zen, die als »Schau­lus­tige« die Straße besuch­ten. Ob das der tat­säch­li­che Grund für das Ver­bot ist, bleibt unklar und Thema für Spe­ku­la­tio­nen. Gleich­wohl schützt es frag­los die Geschäfts­in­ter­es­sen, wenn die Män­ner nicht durch Ehe­frauen, Freun­din­nen, Schwes­tern gestört wer­den.2Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 ver­merkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhäl­ter der Herbertstraßen-Prostituierten hät­ten sich einer Öff­nung für Frauen wider­setzt. Weib­li­che Tou­ris­ten in der No-go-Area, so das Kal­kül, könn­ten das Geschäft vermasseln.«

Akti­vis­tin­nen der kon­tro­ver­sen femi­nis­ti­schen Gruppe Femen bau­ten am 8. März 2019 die Sicht­schutz­wand am Zugang zur Her­bert­straße unter dem Slo­gan ab, die »Mauer zwi­schen Frauen« zu demon­tie­ren. Gegen die Akti­vis­tin­nen wurde damals wegen Sach­be­schä­di­gung Straf­an­zeige erho­ben. Wenn­gleich die Gruppe und vor­an­ge­gan­gene Aktio­nen durch­aus kri­tisch betrach­tet wer­den kön­nen, wer­den Femi­nis­tin­nen im gesell­schaft­li­chen Dis­kurs so zu Antagonist:innen der Pro­sti­tu­ier­ten stilisiert.

Femen über­win­det die »Mau­ern zwi­schen Frauen«. Pro­test am 8. März 2019. Screen­shot: You­tube.

Frauen in der Pro­sti­tu­tion sind einem weit­aus grö­ße­ren Risiko als andere Frauen aus­ge­setzt, Gewalt zu erfah­ren oder gar ermor­det zu wer­den. Für ihren Schutz zu sor­gen, ist daher drin­gend nötig. Aber warum sol­len sie gerade vor ande­ren Frauen geschützt wer­den? Die Aus­üben­den der Gewalt gegen­über Pro­sti­tu­ier­ten sind über­wie­gend Män­ner, die in ver­schie­de­nen Bezie­hun­gen zu den Frauen ste­hen – ins­be­son­dere durch Freier.3BMFSFJ: Lebens­si­tua­tion, Sicher­heit und Gesund­heit von Frauen in Deutsch­land. Ergeb­nisse der reprä­sen­ta­ti­ven Unter­su­chung zu Gewalt gegen Frauen in Deutsch­land, S. 26–27. Online unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf. Allein in den 20 Jah­ren seit der Ent­kri­mi­na­li­sie­rung sind in Deutsch­land mehr als hun­dert Frauen aus der Pro­sti­tu­tion ermor­det wor­den, wie die Initia­tive Sex Indus­trie Kills doku­men­tiert hat. Die Libe­ra­li­sie­rung schützt die Frauen nicht, son­dern macht Men­schen­han­del lukra­ti­ver. Es ist kaum vor­stell­bar, dass ein Anstieg des Men­schen­han­dels zu weni­ger Gewalt gegen Frauen führt. Zuletzt wurde am 14. Mai eine Frau in Hamburg-Harburg tot auf­ge­fun­den, die gele­gent­lich der Pro­sti­tu­tion nach­ging und von einem ihrer Freier erwürgt wurde. Auf­grund des mas­si­ven Dun­kel­fel­des kann jedoch von einer höhe­ren Zahl aus­ge­gan­gen wer­den. Wen oder was schüt­zen die Wände an der Her­ber­straße also eigentlich?

Homosozialer Raum und männliche Herrschaft

Der schwe­di­sche Sozio­loge Sven-Axel Måns­son beschrieb Pro­sti­tu­tion bereits in den acht­zi­ger Jah­ren als männ­li­che Pra­xis, sich der eige­nen Potenz zu ver­si­chern und Mas­ku­li­ni­tät zu kon­stru­ie­ren.4Vgl. Sven-Axel Måns­son: The man in sexual com­merce, Lund 1988, S. 39. Online unter: https://lucris.lub.lu.se/ws/portalfiles/portal/66114471/1988_2.pdf. Dies geschieht in homo­so­zia­len Räu­men, in denen Frauen ledig­lich Zutritt haben, wenn sie als Objekte der männ­li­chen Libido exis­tie­ren. Män­nern als sozia­ler Gruppe steht der weib­li­che Kör­per in die­sen Räu­men unein­ge­schränkt zur Befrie­di­gung ihrer Bedürf­nisse zur Ver­fü­gung, um die eigene Männ­lich­keit in Abgren­zung zum Weib­li­chen über die sexu­elle Domi­nanz zu bestätigen.

Es ver­wun­dert nicht, dass das expli­zite Ver­bot von Frauen in der Her­bert­straße erst in den sieb­zi­ger Jah­ren in Kraft trat. Mit der Zwei­ten Welle des Femi­nis­mus, die zu die­ser Zeit Fahrt auf­nahm, began­nen Frauen sich inten­siv mit ihren eige­nen sexu­el­len Bedürf­nis­sen aus­ein­an­der­zu­set­zen. Die Akzep­tanz der Frauen, sexu­ell von Män­nern beherrscht zu wer­den, sank rapide und stellte damit auch die Selbst­ver­ständ­lich­keit männ­li­cher Herr­schaft infrage. Pro­sti­tu­tion stellte dage­gen eine Art Zufluchts­ort für Män­ner dar und diente damit als ›Kon­ser­va­to­rium‹ von Männ­lich­keit sowie der hier­ar­chi­schen Geschlecht­er­ord­nung. Dass Pro­sti­tu­tion als ’not­wen­di­ges Übel‹  im Rah­men eines hier­ar­chi­schen Geschlech­ter­ver­hält­nis­ses gese­hen im Kon­ser­va­ti­ven fest ver­an­kert ist und nach wie vor repro­du­ziert wird, zeigt nicht zuletzt die neue Hymne der Jun­gen Union.

Fei­ert da etwa die Junge Union? Die Disco Bier­kö­nig auf Mal­lorca. Foto: O. Lipp, CC BY-SA 3.0, Wiki­pe­dia.

Die ›dop­pelte Moral‹ der Kon­ser­va­ti­ven zeigt sich darin, dass sie Frauen, die der Pro­sti­tu­tion nach­ge­hen als ›Huren‹ ent­wer­ten, wäh­rend sie andere Frauen zu ›Hei­li­gen‹ sti­li­sie­ren. Über die Ent­wer­tung der Frauen als ›Huren‹ im Gegen­satz zur ›hei­li­gen‹ Ehe­frau und Mut­ter wird die kör­per­li­che und sexu­elle Auto­no­mie der ent­wer­te­ten Frauen negiert. Gleich­zei­tig ermög­li­chen sie einen per­ma­nen­ten männ­li­chen Zugriff auf den Kör­per der Frau – häu­fig mit dem Argu­ment eines zu erfül­len­den männ­li­chen Trie­bes.5Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Kon­sum sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen, Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 2007. Solange eine patri­ar­chale Orga­ni­sa­tion der Gesell­schaft vor­herrscht, ermög­li­chen kon­ser­va­tive Kräfte in krea­ti­ven For­men, wie zum Bei­spiel mit der ›Zeit­ehe‹ im Iran, immer auch den Zugriff auf Frauenkörper.

Das Geschlech­ter­ver­hält­nis an sich ist so wie­der klar: Frauen als Die­ne­rin­nen der männ­li­chen Bedürf­nisse, der sexu­el­len wie auch der für­sorg­li­chen, die Män­ner als Her­ren. Frauen als eigen­stän­dige Sub­jekte, die Bedin­gun­gen und Gren­zen umset­zen (kön­nen), stö­ren diese Ord­nung. In der Her­bert­straße wird die homo­so­ziale Struk­tur zusätz­lich durch die Beschil­de­rung und den Sicht­schutz per­p­etu­iert. Auch nach außen wird damit die Grenze zu die­ser ande­ren Welt, in der noch nach den ›alten Regeln‹ gespielt wird, symbolisiert.

Zwischen Normalisierung…

Wie jedes Herr­schafts­ver­hält­nis braucht auch das patri­ar­chale Geschlech­ter­ver­hält­nis die Illu­sion der Natür­lich­keit, um sich auf­recht­zu­er­hal­ten. Diverse Umfra­gen unter Frei­ern legen nahe, dass der durch­schnitt­li­che Freier von einer »männ­li­chen Natur« und bio­lo­gi­schen Zwän­gen über­zeugt ist und dar­über hin­aus ein im Ver­gleich zu Män­nern, die keine sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen in Anspruch neh­men, aggres­si­ve­res Sexu­al­ver­hal­ten auf­weist.6Vgl. Clau­dine Leg­ar­di­nier: Der ›Freier‹ im Brenn­punkt der Kri­tik, in: Femi­nis­ti­sches Bünd­nis Hei­del­berg (Hg.): Was kos­tet eine Frau? Eine Kri­tik der Pro­sti­tu­tion. Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2020, 69–86. Der Wunsch nach Sexua­li­tät ohne Ver­ant­wor­tung spielt dabei eben­falls eine Rolle. Bei sich pro­sti­tu­ie­ren­den Frauen, so die Prä­misse, müsse keine Rück­sicht genom­men wer­den, da man für die Dienst­leis­tung bezahlt. ›Der Kunde ist König‹ bleibt dabei nicht bloß ein Spruch aus der Dienst­leis­tungs­bran­che, son­dern steht sinn­bild­lich für das Geschlechterverhältnis.

Die Her­bert­straße hat sich wider­spre­chende und doch zusam­men­ge­hö­rende Nor­ma­li­sie­rungs­funk­tio­nen. Auf der einen Seite kon­sti­tu­iert sich mit ihr die Selbst­ver­ständ­lich­keit männ­li­cher Räume und der Erfül­lung männ­li­cher, ver­meint­lich natür­li­cher, Bedürf­nisse. Freier wol­len Frauen, die sexu­ell wil­lig sind, aber genau das­selbe wol­len wie sie selbst: all ihre sexu­el­len Wün­sche erfül­len, ohne Gegen­leis­tung. Pro­sti­tu­tion als ›Arbeit‹ anzu­er­ken­nen steht die­ser Illu­sion aller­dings ent­ge­gen, da es sich letzt­lich auch für die Frauen um eine Dienst­leis­tung bzw. um etwas han­delt, das sie nicht frei­wil­lig, nicht ohne eine Gegen­leis­tung bzw. Kom­pen­sa­tion tun wür­den. Um sich die­ser Ver­ant­wor­tung zu ent­zie­hen, reich­ten zwei Freier gar eine Ver­fas­sungs­be­schwerde gegen ein Gesetz ein, das die Inan­spruch­nahme von sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen bei Zwangs­pro­sti­tu­ier­ten unter Strafe stellt. Die Geschichte der sexu­ell befrei­ten, aber miss­ver­stan­de­nen Frau als ero­ti­sches Wesen, das den (unver­bind­li­chen, ein­sei­ti­gen) Sex mit frem­den Män­nern will, muss repro­du­ziert wer­den: Sie hat ›ihr Hobby zum Beruf gemacht‹.

… und Exotisierung

Zusätz­lich und ent­ge­gen der Nor­ma­li­sie­rung, braucht der Raum die Atmo­sphäre des Exo­ti­schen, des Ver­bo­te­nen und ›Sün­di­gen‹, damit sich Män­ner darin ihrer Viri­li­tät ver­si­chern kön­nen. Der ›Reiz des Ver­steck­ten‹ ist die Grund­lage die­ser männ­li­chen Fan­ta­sie, Gewalt gegen die als min­der­wer­tig mar­kier­ten ›Huren‹ ist ein Teil davon. Nicht erst die Erhe­bung Fritz Hon­kas, der in den sieb­zi­ger Jah­ren zahl­rei­che sich pro­sti­tu­ie­rende Frauen ermor­dete, zur Haupt­fi­gur in Heinz Strunks Roman Der gol­dene Hand­schuh und sei­ner Ver­fil­mung durch Fatih Akin oder die »Sex&Crime«-Rundgänge für Tourist:innen auf der Ree­per­bahn zeu­gen von der schau­ri­gen Fas­zi­na­tion, die das ›Rot­licht­mi­lieu‹ und Gewalt gegen Frauen durch Män­ner gene­rell in unse­rer Gesell­schaft ausüben.

Der Reiz des Gehei­men: Schumm­ri­ges Licht und schwere Vor­hänge. Foto: hds, CC BY 2.0, Wiki­pe­dia.

Die Atmo­sphäre des Exo­ti­schen, Sün­di­gen wird durch die Sicht­wände unter­stützt und sug­ge­riert Sub­ver­sion. Pro­sti­tu­tion ist in Deutsch­land aller­dings sowohl für die sexu­elle Hand­lun­gen anbie­ten­den Frauen als auch für die Freier seit Jahr­zehn­ten legal, die Her­bert­straße eine öffent­li­che Straße, die grund­sätz­lich jede:r betre­ten dürfte. Auch die soge­nannte »Sit­ten­wid­rig­keit«, durch die Pro­sti­tu­tion trotz Lega­li­tät mora­lisch abge­wer­tet und dis­zi­pli­niert wurde, wurde 2002 abge­schafft. Es ist mitt­ler­weile keine Sel­ten­heit, dass Verfechter:innen und Sexarbeiter:innen in Talk­shows, Pod­casts und Arti­keln über die Wich­tig­keit von Pro­sti­tu­tion und Por­no­gra­fie sprechen.

Der Wider­spruch zwi­schen der ›ver­bo­te­nen‹, ’sün­di­gen‹ und ver­meint­lich von Moral­vor­stel­lun­gen freien Sexua­li­tät und dem staat­lich geför­der­ten, gewerb­lich orga­ni­sier­ten und ver­mark­te­ten Pro­sti­tu­ti­ons­be­trieb ist offen­sicht­lich. Der Mythos, im Natio­nal­so­zia­lis­mus sei Pro­sti­tu­tion grund­sätz­lich ille­gal gewe­sen, wird auch nach wie vor im Kon­text der Her­bert­straße repro­du­ziert. Die Natio­nal­so­zia­lis­ten hät­ten die Wand auf­ge­stellt, um die Pro­sti­tu­tion aus dem »Sicht­feld der Öffent­lich­keit zu ver­ban­nen«, so eine Kiez-Seite. Es stimmt, dass Frauen für Pro­sti­tu­tion ver­folgt wur­den, doch ging es prak­tisch in ers­ter Linie um staat­li­che Kon­trolle über die Pro­sti­tu­tion und (unver­hei­ra­tete) Frauen. Frauen, die sich regel­mä­ßig unter­su­chen lie­ßen und sich staat­lich orga­ni­siert pro­sti­tu­ier­ten, ent­gin­gen der Ver­fol­gung, wenn­gleich die­ses Arran­ge­ment kein siche­res für die Frauen war.7Vgl. Robert Som­mer: Das KZ-Bordell. Sexu­elle Zwangs­ar­beit in natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, Lei­den: Brill & Schö­ningh, 2009. Die Dar­stel­lung der Pro­sti­tu­tion als sub­ver­sive, quasi eman­zi­pa­to­ri­sche Pra­xis wird durch die wie­der­holte und ver­kürzte mediale Gegen­über­stel­lung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus unter­stützt. Der Freier und die Pro­sti­tu­ierte wer­den so ideo­lo­gisch als Vor­rei­te­rin­nen gegen eine über­kom­mene Sexu­al­mo­ral und für eine befreite Sexua­li­tät verklärt.

Hamburg, die »Puffmama«

Im Juni 2021, einen Tag vor der Abschaf­fung des pan­de­mie­be­ding­ten Ver­bots kör­per­na­her Dienst­leis­tun­gen und damit auch von Pro­sti­tu­tion, demons­trier­ten Frauen aus der Her­bert­straße für die Wieder-Erlaubnis von sexu­el­len Diens­ten unter dem Namen Sexy Auf­stand Ree­per­bahn. Unter ande­rem mit Pla­ka­ten mit der Auf­schrift »Der Staat fickt uns und zahlt nicht« wie­sen die Frauen auf ihre pre­käre Situa­tion, aber auch noch auf etwas ande­res hin: Der Staat bezie­hungs­weise die Stadt Ham­burg nutzt die Frauen für den eige­nen Vor­teil – hat aber letzt­lich die Kon­trolle über sie. Ein paar Monate fand in der Her­bert­straße eine Kunst­aus­stel­lung statt, die an den »Auf­stand« erin­nern sollte. Mit der Aktion wollte man sich u.a. beim Bezirks­amt Ham­burg St. Pauli bedan­ken, das – laut Organisator:innen der Aktion – die Gewerbe in der Her­bert­straße und auf der Ree­per­bahn im Sinne der Wie­der­eröff­nung unter­stützt habe.

Der (Sex-)Tourismus in Ham­burg lebt vom Reiz, den die Her­bert­straße und die Ree­per­bahn aus­üben. Par­al­lel zu den Schrit­ten der Ent­kri­mi­na­li­sie­rung der Pro­sti­tu­tion in Deutsch­land stie­gen die Tourismus-Zahlen in Ham­burg rasant. Wäh­rend die Zahl der Tourist:innen in den neun­zi­ger Jah­ren sta­gnierte, stieg sie seit 2002 um meh­rere Mil­lio­nen an. Ham­burg pro­fi­tiert maß­geb­lich vom Sex­tou­ris­mus als wich­ti­ger öko­no­mi­scher Ein­nah­me­quelle. Der ›kul­tige‹ Kiez und das Ver­spre­chen lust­vol­ler Fri­vo­li­tät und sexu­el­ler Ver­füg­bar­keit von Frauen zie­hen Besucher:innen an. Selbst die­je­ni­gen, die ’nur‹ der Atmo­sphäre der Ree­per­bahn, des Kiezes und des Milieus nach­spü­ren wol­len, brin­gen durch ihre Besu­che Geld in die städ­ti­schen Taschen.

»Für mehr Frem­den­ver­kehr«: Dar­auf kön­nen sich in der Her­bert­straße alle eini­gen. Foto: S. McCann, flickr.

Mit dem boo­men­den (Sex-)Tourismus war Schluss, als vor zwei­ein­halb Jah­ren das Corona-Virus der Pro­sti­tu­tion und Beher­ber­gungs­bran­che für einige Monate den Gar­aus machte. Nicht ganz unei­gen­nüt­zig schei­nen da die Bemü­hun­gen der Stadt- und Bezirks­ver­wal­tung von Ham­burg Mitte, die Pro­sti­tu­ti­ons­ge­werbe wie­der ›in Betrieb‹ zu neh­men. Ein Grup­pen­foto mit Falko Droß­mann, dama­li­ger Bezirks­amts­lei­ter, das groß auf der Home­page der Gruppe Sexy Auf­stand Ree­per­bahn zu fin­den ist, weist auf die nicht unei­gen­nüt­zi­gen Motive des Bezirks hin. Die Brü­che, die staat­li­che sowie städ­ti­sche Poli­ti­ken in Bezug auf sich pro­sti­tu­ie­rende Frauen auf­wei­sen, sind geprägt vom Macht­ver­hält­nis zwi­schen patri­ar­chal orga­ni­sier­ten Kapi­tal­in­ter­es­sen und den in der Regel vul­ner­ablen Frauen, die sich für die Pro­sti­tu­tion ent­schei­den oder in diese hineinrutschen.

Uner­wünscht sind Frauen in der Her­bert­straße offen­sicht­lich nicht. Sie sind sowohl öko­no­mi­sche Grund­lage als auch kul­tu­rel­ler Bestand­teil der Tou­ris­ten­at­trak­tion und der Rituale einer sich selbst ihrer Herr­schaft ver­si­chern­den Männ­lich­keit. Dies gilt aller­dings nur für bestimmte Frauen. Wenn sie selbst als Anbie­te­rin­nen sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen und damit als durch Män­ner kon­su­mier­bare Ware auf­tre­ten, sind sie will­kom­men. Alle ande­ren müs­sen ›drau­ßen blei­ben‹ und sol­len nicht an den Wän­den der Män­ner­bün­de­lei, der kul­tu­rel­len Grund­lage patri­ar­cha­ler Gesell­schaf­ten, rütteln.

Lea Rem­mers

Die Autorin ist femi­nis­ti­sche Sozio­lo­gin und ver­misst in aktu­el­len Debat­ten um Pro­sti­tu­tion den Anspruch, das Bestehende als Aus­druck einer heterosexistisch-kapitalistisch orga­ni­sier­ten Gesell­schaft zu analysieren.

  • 1
    Diese Phrase, die mit der Umwer­tung christlich-konservativer Moral­vor­stel­lun­gen koket­tiert, ist inzwi­schen zum Marketing-Slogan geron­nen und wird auch auf der offi­zi­el­len Tourismus-Webseite der Stadt Ham­burg verwendet.
  • 2
    Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 ver­merkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhäl­ter der Herbertstraßen-Prostituierten hät­ten sich einer Öff­nung für Frauen wider­setzt. Weib­li­che Tou­ris­ten in der No-go-Area, so das Kal­kül, könn­ten das Geschäft vermasseln.«
  • 3
    BMFSFJ: Lebens­si­tua­tion, Sicher­heit und Gesund­heit von Frauen in Deutsch­land. Ergeb­nisse der reprä­sen­ta­ti­ven Unter­su­chung zu Gewalt gegen Frauen in Deutsch­land, S. 26–27. Online unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf.
  • 4
    Vgl. Sven-Axel Måns­son: The man in sexual com­merce, Lund 1988, S. 39. Online unter: https://lucris.lub.lu.se/ws/portalfiles/portal/66114471/1988_2.pdf.
  • 5
    Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Kon­sum sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen, Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 2007.
  • 6
    Vgl. Clau­dine Leg­ar­di­nier: Der ›Freier‹ im Brenn­punkt der Kri­tik, in: Femi­nis­ti­sches Bünd­nis Hei­del­berg (Hg.): Was kos­tet eine Frau? Eine Kri­tik der Pro­sti­tu­tion. Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2020, 69–86.
  • 7
    Vgl. Robert Som­mer: Das KZ-Bordell. Sexu­elle Zwangs­ar­beit in natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, Lei­den: Brill & Schö­ningh, 2009.