Dokumente der Barbarei

Hermann Wilhelm Leopold Ludwig Wissmann, seit 1890 von Wissmann (* 4. September 1853 in Frankfurt (Oder); † 15. Juni 1905 in Weißenbach bei Liezen, Steiermark) war ein deutscher Abenteurer, Afrikaforscher, Offizier und Kolonialbeamter. Ursprünglicher Standort Dares Salam Tansania, später Universität Hamburg

Dokumente der Barbarei

Der Foto­graf Mar­kus Dorf­mül­ler erhielt 2022 für seine Arbeit zu den Spu­ren des Kolo­nia­lis­mus in Ham­burg den Georg-Koppmann-Preis. Gerade sind die Fotos im Museum der Arbeit zu sehen. Wir doku­men­tie­ren in unse­rer Foto­stre­cke eine Aus­wahl der Bilder.

Das Denk­mal von Her­mann Wiss­mann (1853–1905) wurde 1968 gestürzt. Foto (Aus­schnitt): M. Dorfmüller

»Es ist nie­mals ein Doku­ment der Kul­tur, ohne zugleich ein sol­ches der Bar­ba­rei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Bar­ba­rei, so ist es auch der Pro­zess der Über­lie­fe­rung nicht, in der es von dem einen an den ande­ren gefal­len ist.« Diese Sätze ste­hen in der sieb­ten der berühm­ten The­sen Über den Begriff der Geschichte, die Wal­ter Ben­ja­min 1940 nie­der­schrieb. Sie geben das Prin­zip der Arbei­ten Mar­kus Dorf­mül­lers vor, die aktu­ell in der Aus­stel­lung Eyes on Ham­burg im Museum der Arbeit zu sehen ist.

Unter Ben­ja­mins historisch-materialistischem Blick offen­ba­ren sich die ›Kul­tur­gü­ter‹ als Beute, die die Sie­ger der Geschichte in ihrem Tri­umph­zug mit­füh­ren. Die­sen ebenso prä­zi­sen wie kri­ti­schen Blick hat sich Dorf­mül­ler zu eigen gemacht. Seine Foto­gra­fien doku­men­tie­ren die Spu­ren des Kolo­nia­lis­mus ebenso wie sein Fort­wir­ken in der post­ko­lo­nia­len Gegen­wart Ham­burgs. Damit ste­hen sie quer zum auf­trump­fen­den Titel der Ausstellung.

Nicht immer sind die Spu­ren des Kolo­nia­lis­mus, dem sich der Reich­tum der Han­dels­stadt Ham­burg ver­dankt, über­haupt noch sicht­bar. Auch aus die­sem Grund sind die Fotos mit Bild­un­ter­schrif­ten ver­se­hen. Sie stel­len die ein­zel­nen Bil­der in ihren gesell­schaft­li­chen Zusam­men­hang, infor­mie­ren über his­to­ri­sche Kon­texte und benen­nen Täter und Pro­fi­teure kolo­nia­ler Gewalt und Aus­beu­tung. In der Aus­stel­lung wird die­ses Kennt­lich­ma­chen von Zusam­men­hän­gen und Struk­tu­ren noch unter­stützt durch die kon­stel­lie­rende Hängung. 

Gegenwärtige Vergangenheit

Man­che der abge­bil­de­ten Orte und ihre kolo­niale Geschichte sind weit­ge­hend bekannt – etwa das Bis­marck­denk­mal oder das Afri­ka­haus (siehe dazu auch unsere eigene Bil­der­stre­cke über kolo­niale Spu­ren in Ham­burg). Viele Gegen­stände und Zusam­men­hänge hin­ge­gen wer­den den meis­ten Besucher:innen neu sein: etwa dass die Pri­vat­bank Don­ner & Reuschel ihr Ver­mö­gen maß­geb­lich kolo­nia­ler Aus­beu­tung ver­dankt; oder dass die Vor­stands­kon­fe­ren­zen der Uni­le­ver bis zu ihrem Umzug in die Hafen­city 2009 vor einer Intar­si­en­wand mit kolo­nia­ler Bild­spra­che statt­fan­den. Andere Foto­gra­fien wie­derum doku­men­tie­ren Spu­ren, die man leicht über­sieht, etwa die Grab­stät­ten und Gedenk­steine für Gene­räle deut­scher Kolo­ni­al­trup­pen oder für Palmölfabrikanten.

Man­che Fotos zei­gen Über­wun­de­nes – beson­ders ein­drück­lich die 1968 von Stu­die­ren­den gestürzte Wissmann-Statue, die nun lädiert, besprüht und mit einer Hals­krause ver­se­hen in einer Depot­kiste liegt. Die Fotos machen aber auch kennt­lich, wie unmit­tel­bar die kolo­niale Ver­gan­gen­heit bis­wei­len in die Gegen­wart hin­ein­reicht. Unver­hoh­len zeigt sich das in einer Skulp­tur auf der soge­nann­ten »Cof­fee Plaza« in der Hafen­city. Sie wurde dort 2009 von der Neu­mann Kaf­fee Gruppe, dem welt­größ­ten Kaf­fee­im­por­teur, errich­tet. Die Inschrift der sti­li­sier­ten Kaf­fee­bohne zeugt von einer Unbe­darft­heit, die sich auf Ver­ro­hung reimt: »Über 1 Mrd. Men­schen trin­ken täg­lich 3 Mrd. Tas­sen Kaf­fee, die 25 Mio. Fami­lien in 70 tro­pi­schen Län­dern ihre Exis­tenz bieten.«

Das Form­prin­zip von Dorf­mül­lers Foto­gra­fien ist so sach­lich wie effekt­voll. In ana­lo­gem 4x5-inch-Format foto­gra­fiert, kom­men sie ohne Gim­micks aus. Es gibt weder dra­ma­ti­sierte Kon­traste, noch Unschär­fen oder extreme Per­spek­ti­ven. Die Wir­kung ver­dankt sich viel­mehr ganz sub­ti­len Ver­fah­ren: Durch distan­zierte Tota­len etwa wird reprä­sen­ta­ti­ven Gebäu­den ihre impo­sante Wir­kung genom­men;1Dass Dorf­mül­ler haupt­be­ruf­lich Archi­tek­tur foto­gra­fiert, macht sich auf die­sen Bil­dern beson­ders bemerk­bar. Auf dem gemein­sam mit sei­ner Kol­le­gin Johanna Klier betrie­be­nen Instagram-Account fin­den sich viele ein­drück­li­che Archi­tek­tur­fo­to­gra­fien, die nicht zuletzt Gebäude vor ihrem (dro­hen­den) Abriss doku­men­tie­ren. und frag­men­tie­rende Bild­aus­schnitte kon­ter­ka­rie­ren die Wir­kungs­in­ten­tion von Denk­mä­lern, ver­mei­den die Repro­duk­tion ras­sis­ti­scher oder ste­reo­ty­per Darstellungen.

Der his­to­ri­sche Mate­ria­list, schreibt Ben­ja­min, »betrach­tet es als seine Auf­gabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürs­ten«. Mar­kus Dorf­mül­ler zeigt ein­drück­lich, wie man die­ser Auf­gabe mit den Mit­teln der Foto­gra­fie gerecht wer­den kann.

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Eine Bro­schüre mit Mar­kus Dorf­mül­lers Fotos und Tex­ten steht zum Ver­kauf in allen Muse­ums­shops der Stif­tung His­to­ri­sche Museen Ham­burg. Die Aus­stel­lung Eyes on Ham­burg ist noch bis zum 3. Okto­ber 2023 im Museum der Arbeit in Barm­bek zu sehen. Neben der Foto­se­rie von Mar­kus Dorf­mül­ler sind in ihr Arbei­ten von Axel Beyer, Robin Hinsch, Sabine Bungert/Stefan Dol­fen, Alex­an­dra Polina und Irina Rup­pert vertreten.

Wir dan­ken Mar­kus Dorf­mül­ler für die freund­li­che Geneh­mi­gung, hier eine Aus­wahl sei­ner Bil­der zei­gen zu dür­fen. Sämt­li­che Rechte an den Bil­dern sowie den Bild­un­ter­schrif­ten lie­gen bei ihm.2Die Bild­un­ter­schrif­ten las­sen sich in der Foto­stre­cke durch Kli­cken bzw. Tip­pen auf das jewei­lige Bild aus- und wie­der einblenden.

Redak­tion Untiefen

  • 1
    Dass Dorf­mül­ler haupt­be­ruf­lich Archi­tek­tur foto­gra­fiert, macht sich auf die­sen Bil­dern beson­ders bemerk­bar. Auf dem gemein­sam mit sei­ner Kol­le­gin Johanna Klier betrie­be­nen Instagram-Account fin­den sich viele ein­drück­li­che Archi­tek­tur­fo­to­gra­fien, die nicht zuletzt Gebäude vor ihrem (dro­hen­den) Abriss dokumentieren.
  • 2
    Die Bild­un­ter­schrif­ten las­sen sich in der Foto­stre­cke durch Kli­cken bzw. Tip­pen auf das jewei­lige Bild aus- und wie­der einblenden.

Ein Ohr für die Forschung

Ein Ohr für die Forschung

Für nur ein Wochen­ende im März war in Ham­burg eine Aus­stel­lung des Künst­lers Ger­rit Frohne-Brinkmann zu sehen. Seine Instal­la­tio­nen waren der Vacanti-Maus gewid­met. Hätte man die­sem skur­ri­len Hybrid­we­sen nur bes­ser gelauscht: Wäh­rend nur wenige Meter ent­fernt die Impfgegner:innen mar­schier­ten, ließ sich von den Mäu­sen etwas von fal­scher Wis­sen­schafts­feind­schaft erfahren.

Detail aus Ger­rit Frohne-Brinkmanns Aus­stel­lung »Ear­mouse«, März 2022. Foto: Hein­rich Holtgreve

1997 ver­öf­fent­lichte eine For­schungs­gruppe aus Mas­sa­chu­setts um den Medi­zi­ner Joseph P. Vacanti die Ergeb­nisse ihrer mehr­jäh­ri­gen For­schung. Dem Team war es gelun­gen, auf dem Rücken von Mäu­sen Knor­pel­ge­webe in Form einer mensch­li­chen Ohr­mu­schel zu züch­ten. Das war eine wis­sen­schaft­li­che, vor allem aber auch eine öffent­li­che Sen­sa­tion: Denn die Ear­mouse, auch unter dem Namen Vacanti-Maus bekannt (es war wohl eine ganze Schar sol­cher Mäuse von­nö­ten, des­halb hat die Maus kei­nen Eigen­na­men wie das Klon­schaf Dolly), bot einen bizar­ren, ja ver­stö­ren­den Anblick.

Unheim­lich und ver­stö­rend war diese Maus, weil da ein nor­mal gro­ßes mensch­li­ches Ohr auf dem Rücken einer klei­nen, nack­ten, rot­äu­gi­gen Maus ›wuchs‹. Die­ses Gewächs, über dem sich die dünne Mau­se­haut spannte, konnte nicht hören, war aber unver­kenn­bar eine hoch­ar­ti­fi­zi­ell geformte mensch­li­che Ohr­mu­schel. Die Maus fun­gierte als Bio­re­ak­tor für die­ses nicht­hö­rende Ohr – ein leben­des Medium, das ein ›Ersatz­teil‹ bis zu sei­ner Ent­nahme spa­zie­ren trägt. Die Ent­nahme des gezüch­te­ten Knor­pel­ge­we­bes ließe sich zwar auch ohne eine Tötung des Medi­ums durch­füh­ren, doch ging es der Vacanti-Maus wie allen ande­ren Labor­mäu­sen auch: Sie wurde ver­braucht bzw. »geop­fert«, wie es in einem Paper der For­schungs­gruppe hieß.[1]

Die Ear­mice und das an ihnen erst­mals erfolg­reich ange­wandte Ver­fah­ren bevöl­kern seit­dem das kol­lek­tive Ima­gi­näre auf der gan­zen Welt. So ließ etwa Stel­arc, ein zypriotisch-australischer Künst­ler, ab 2006 über zehn Jahre lang, von eini­gen Ope­ra­tio­nen beglei­tet, ein lin­kes mensch­li­ches Ohr auf sei­nem Arm wach­sen. Stel­arcs Absicht war es, das Ohr mit dem Inter­net zu ver­bin­den und es so welt­weit ›sen­den‹ zu las­sen, was es an dem Ort ›hört‹, an dem sich sein Medium – der Künst­ler Stel­arc – auf­hält. Auch die­ses knor­pe­lige künst­li­che Ohr konnte natür­lich nicht eigen­stän­dig hören, aber es war mit einem tech­ni­schen Auf­nah­me­ge­rät aus­ge­stat­tet. Das Ohr darum herum war ›nur‹ Kunst.

Der Künst­ler Stel­arc 2011 mit sei­nem künst­li­chen ›drit­ten Ohr‹. Foto: Alt­Sylt Lizenz: CC BY-SA 2.0

Ohrmäuse aus Keramik

25 Jahre nach­dem die Vacanti-Maus zur welt­wei­ten Sen­sa­tion wurde, wid­mete der Ham­bur­ger Künst­ler Ger­rit Frohne-Brinkmann ihr nun eine Aus­stel­lung im Pro­jekt­raum ABC. Benannt nach der gleich­na­mi­gen Straße in der Neu­stadt, ist der Ort ABC – wie so viele Pro­jekt­räume – eine Zwi­schen­raum­nut­zung. Das Gebäude, ein Com­merz­bank-Investment-Piece aus den Neun­zi­gern, passt zeit­lich gut zur Vacanti-Maus. Am 12. und 13. März tum­melte sich dort eine große Fami­lie kera­mi­scher Mäuse auf dem Fuß­bo­den. Sie sind haar­los und rosa wie die nack­ten Vacanti-Mäuse. Und wie die Vacanti-Mäuse tra­gen sie alle ein mensch­li­ches Ohr auf dem Kör­per. Es scheint sie nicht zu stören.

Drei der Mäuse sit­zen in über­gro­ßen Muscheln, kera­mi­schen Fan­ta­sien von Mee­res­schne­cken­ge­häu­sen, an der Wand. Von dort tönt ein wei­ßes Rau­schen. Es sind jedoch nicht die Muscheln, die hier rau­schen, son­dern die Mäuse, bes­ser wohl: die mensch­li­chen Ohr­mu­scheln auf ihren Rücken. Die Mäuse sind ver­ka­belt, so dass sie ent­ge­gen ihrer übli­chen Auf­gabe – und in ent­ge­gen­ge­setz­ter Rich­tung zum ›Ohr‹ auf Stel­arcs Arm – Schall sen­den. Sie emp­fan­gen nichts. Mit der­lei Gangart- und Rich­tungs­wech­seln ist bei Aus­stel­lun­gen des 1990 gebo­re­nen Frohne-Brinkmann, der an der HFBK stu­dierte, stets zu rechnen.

Kera­mi­sche For­men, die stark unter­schnit­tig sind, also nega­tiv, kon­kav nach innen gewölbt, las­sen sich nur mit gro­ßem Geschick model­lie­ren. Das mensch­li­che Ohr ist eine maxi­mal kom­pli­zierte Form, sei es als Skulp­tur oder als gezüch­te­tes Ersatz­ohr (Ohren wer­den, weil sie so kom­pli­ziert zu model­lie­ren sind, mitt­ler­weile tat­säch­lich wie bei Stel­arc an unauf­fäl­li­ger Stelle am Kör­per der Patient:innen nach­wach­sen gelas­sen, nach­dem sie zuvor im Labor initial ange­züch­tet wurden).

Genauso wie das nach­ge­züch­tete gehör­lose Ohr ist auch die Form einer Mee­res­schne­cke nur mühe­voll zu model­lie­ren, eben wegen ihrer Unter­schnit­tig­kei­ten. Als kera­mi­scher Hohl­kör­per erzeugt die Form dann aber zwei­fel­los auch ohne Ver­ka­be­lung und künst­li­che Schall­quelle das bekannte ›Mee­res­rau­schen‹, das man hört, wenn man ein Mee­res­schne­cken­ge­häuse oder eine Muschel an sein Ohr legt. Die­ses Rau­schen ist aller­dings weder die ein­ge­fan­gene Auf­nahme eines Süd­see­ur­laubs noch das akus­tisch ver­stärkte Fließ­ge­räusch des eige­nen Bluts, wie häu­fig ange­nom­men wird. Viel­mehr ent­steht es, weil die Muschel die Umge­bungs­ge­räu­sche auf­nimmt, ver­stärkt und als undif­fe­ren­zier­tes Rau­schen wie­der nach drau­ßen sen­det (also wie­der in umge­kehr­ter Rich­tung zur mensch­li­chen Ohr­mu­schel, die den Schall auf­nimmt und ihn, wenn sie denn hören kann, über das Trom­mel­fell nach innen ans Gehirn weitergibt).

Die Maus als Schnittstelle zwischen Mensch und Natur

Die kera­mi­schen Ohr­mäuse, die in den Mee­res­schne­cken sit­zen und das weiße Rau­schen ver­sen­den, sind über ihre sehr lan­gen Schwänze an die Kabel­age hin­ter der Fuß­leiste ange­schlos­sen. Auch die ande­ren Mäuse haben einen Kabel-Schwanz, bei ihnen ist er aller­dings in nor­ma­ler Mäu­se­länge abge­schnit­ten. Damit erin­nern die Mäuse an eine der wohl wich­tigs­ten Schnitt­stel­len zwi­schen Mensch und Maschine seit der Erfin­dung des Per­so­nal Com­pu­ter: die Com­pu­ter­maus. Zu Earmouse-Zeiten hatte sich die heute auf bei­nahe jedem Schreib­tisch zu fin­dende Funk­tech­no­lo­gie noch nicht durch­ge­setzt. Die meiste Zeit seit ihrer Erfin­dung in den 1960er Jah­ren hat­ten alle Mäuse einen ›Kabel­schwanz‹, und so haben schon die Erfinder:innen der »X‑Y-Positionsanzeige für ein Anzei­ge­sys­tem« (so die Bezeich­nung der Patent­an­mel­dung 1963) sie »Maus« getauft. Wäre sie damals bereits durch eine Funk­ver­bin­dung ohne Schwanz aus­ge­kom­men, hätte man sie ver­mut­lich Hams­ter genannt.

Wäh­rend die Com­pu­ter­maus als Schnitt­stelle zwi­schen Mensch und Maschine dient, bewe­gen sich medi­zi­ni­sche For­schun­gen mit Labor­tie­ren an einer Schnitt­stelle zwi­schen Mensch und Tier. Seit Jahr­zehn­ten forscht die Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin an den Mög­lich­kei­ten, wie Tiere zu Bio­re­ak­to­ren für funk­tio­nie­rende Organe wer­den kön­nen, also wie sie mehr sein kön­nen als Trä­ger tau­ber Ohren aus Knor­pel­zel­len. So tra­gen inzwi­schen spe­zi­elle, gene­tisch mani­pu­lierte Schweine trans­plan­tier­bare Her­zen spa­zie­ren – mit dem im Ver­gleich zur Ohr­maus ent­schei­den­den Unter­schied, dass die­ses Herz zuerst für das Schwein arbei­tet und nicht irgendwo auf sei­nem Rücken als Extra­pos­ten wächst.

Die mit gro­ßer öffent­li­cher Auf­merk­sam­keit ver­folgte Trans­plan­ta­tion eines Schwei­ne­her­zens in einen mensch­li­chen Pati­en­ten am 7. Januar 2022 schien zuerst geglückt zu sein. Zwei Monate nach dem Ein­griff jedoch starb der Mann, der das Implan­tat erhal­ten hatte. Vor­erst ist das Expe­ri­ment also geschei­tert. Den­noch wer­fen der­ar­tige Xeno­trans­plan­ta­tio­nen für die For­schen­den und für die Patient:innen schon jetzt die irrs­ten Fra­gen auf. Nicht zuletzt: Was bedeu­tet es, den Tod eines Säu­ge­tiers zu bil­li­gen, um selbst wei­ter­le­ben zu kön­nen? Anders als bei Men­schen, die einen Organ­spen­de­aus­weis besit­zen, sich im Fall ihres Todes also bereit­erklä­ren Organe abzu­ge­ben, wer­den diese Schweine dezi­diert als Organ­spen­der gezüch­tet. Die an mensch­li­chen Zwe­cken aus­ge­rich­tete Schwei­ne­züch­tung ist dabei kein Skan­dal, sie dient seit Jahr­hun­der­ten der Kotelett- und Wurst­pro­duk­tion. Bemer­kens­wert ist aber der Trans­fer leben­di­ger Organe vom Tier zum Men­schen – nicht als Nah­rung, son­dern als funk­tio­nale Inkor­po­ra­tion eines lebens­wich­ti­gen Organs. In Vor­be­rei­tung der Xeno­trans­plan­ta­tion vom Januar 2022 wur­den etli­che Gesprä­che mit reli­giö­sen Ober­häup­tern diver­ser Kon­fes­sio­nen geführt. Sie alle stell­ten das geret­tete Men­schen­le­ben über das Tierwohl.

Aufklärungsfeindschaft gestern und heute 

Die Ear­mouse des Jah­res 1997 brachte viele erbit­terte Wissenschaftsgegner:innen auf den Plan, die »Got­tes Schöp­fung« in Gefahr sahen. Eine große Anzeige des Tur­ning Point Pro­ject, eines Zusam­men­schlus­ses von mehr als 60 NGOs, warnte mit einem Foto der Ear­mouse vor (roter) Gen­tech­nik und titelte: »Who plays God in the 21st Cen­tury?« Sie sug­ge­rierte fälsch­li­cher­weise, dass die abge­bil­dete Maus gene­tisch modi­fi­ziert sei, und setzte ganz auf den scho­ckie­ren­den Effekt ihres Frankenstein-haften Aus­se­hens. In einem mensch­li­chen Ohr auf dem Rücken einer Maus meinte man den Inbe­griff der zom­bi­fi­ca­tion, der mons­trö­sen Selbst­über­schät­zung der Medi­zin erken­nen zu kön­nen. Auch ohne groß­for­ma­tige Anzei­gen ver­brei­tete sich das Bild der Ear­mouse daher wahn­sin­nig schnell – dank ihrer ver­ka­bel­ten Ver­wand­ten, der Com­pu­ter­maus. Internetnutzer:innen ver­schick­ten das Bild mas­sen­haft und häu­fig gänz­lich dekon­tex­tua­li­siert per E‑Mail.

Eine ver­zerrte Spie­ge­lung durch die Jahr­zehnte zeigt uns eben diese Men­schen heute als soge­nannte »Impfgegner:innen«. Ihnen erscheint das (weiße) Rau­schen des Inter­nets als Rau­schen ihres Bluts, ihres eige­nen, hei­li­gen, gesun­den Kör­pers. Diese Über­zeu­gung ver­sen­den sie, mit einer mitt­ler­weile kabel­lo­sen Com­pu­ter­maus im WWW her­um­kli­ckend, gerne nach außen – nur noch sel­ten via E‑Mail, umso öfter aber in den Echo­kam­mern von Tele­gram-Grup­pen und You­tube-Kanä­len. Sie tun das im Glau­ben, es sei ihr eige­ner Gedanke, der da tönt, dabei sind sie nur eine die Außen­ge­räu­sche ver­stär­kende Hohl­form – leere Muscheln (oder ein­fach Hohlköpfe).

Die Imp­fung wird von die­sen Men­schen abge­lehnt, weil sie in die ein­zel­nen Kör­per ein­dringt. In die­ser Hin­sicht gleicht die Impf­geg­ner­schaft der Ableh­nung von Xeno­trans­plan­ta­tio­nen oder eben der Trans­plan­ta­tion eines auf dem Rücken einer Maus gezüch­te­ten Ohrs. Dabei lässt sich beob­ach­ten, dass der Wider­stand gegen der­ar­tige Ope­ra­tio­nen nicht aus ethi­schen Über­le­gun­gen, aus Sorge um das Tier­wohl erwächst, son­dern aus Angst um die Inte­gri­tät des eige­nen Kör­pers; im Fall der Imp­fun­gen oben­drein abge­mischt mit Sor­gen um Selbst­be­stim­mung, Miss­trauen gegen­über Behör­den und der Sehn­sucht nach einer soli­den Volks‑, also Infek­ti­ons­ge­mein­schaft, die, so die Wunsch­vor­stel­lung, als Herde ins­ge­samt immun wer­den möge. Wir hal­ten uns da lie­ber an die Mäuse: Sie sind zwar durch­aus gesel­lig, aber Her­den­tiere sind sie nicht – ob mit oder ohne Ohr auf dem Rücken. 

Nora Sdun, April 2022

Die Autorin grün­dete vor 18 Jah­ren zusam­men mit Gus­tav Mechlen­burg den Tex­tem Ver­lag. Im Dezem­ber 2016 erschien dort der Band All in, der eine Aus­wahl per­for­ma­ti­ver Arbei­ten Ger­rit Frohne-Brinkmanns dokumentiert.


[1] In Nowo­si­birsk wurde 2013 ein Denk­mal ent­hüllt, das den Labor­mäu­sen und ‑rat­ten, die­sen so unsicht­ba­ren wie uner­müd­li­chen Streiter:innen für Auf­klä­rung und wis­sen­schaft­li­chen Fort­schritt, gewid­met ist.