Der Stachel sitzt: Das Bremer ›Arisierungs‹-Mahnmal ist da
In Bremen wird diesen Sonntag, 10.09., ein lang erkämpftes Mahnmal für den Raub jüdischen Eigentums im Nationalsozialismus eingeweiht. Untiefen veröffentlicht den Mitschnitt der Diskussionsveranstaltung mit dem Initiator Henning Bleyl vom letzten Jahr und erinnert an die offenen Aufgaben für Hamburg.
In Bremen kommt diesen Sonntag, den 10. September, eine lange Auseinandersetzung zu ihrem – vorläufigen – Ende. Zwischen den Weser-Arkaden und der Wilhelm-Kaisen-Brücke, in Sichtweite der Deutschlandzentrale des Logistikkonzerns Kühne + Nagel, wird ein Mahnmal zur Erinnerung an den Raub jüdischen Eigentums während des Nationalsozialismus eingeweiht. Die Nähe zu Kühne + Nagel ist gewollt: Der 1890 in Bremen gegründete, heute weltweit drittgrößte Logistikonzern hat von den hansestädtischen Transportunternehmen mit Abstand am meisten vom Raubs jüdischen Vermögens in der NS-Zeit profitiert. Mit ihrem faktischen Monopol für den Abtransport geraubten jüdischen Eigentums aus Frankreich und den Benelux-Ländern konnte Kühne + Nagel im Rahmen der sogenannten „M‑Aktion“ (M für „Möbel“) des NS-Staates große Profite machen und ihr Firmennetzwerk internationalisieren. Der Anteilseigner Adolf Maas, der den Hamburger Firmenstandort aufbaute – ein Jude – wurde 1933 aus der Firma gedrängt und später in Auschwitz ermordet.
Trotz dieser bekannten Zusammenhänge weigert sich Kühne + Nagel, vor allem in Person des Patriarchen und Firmenerben Klaus-Michael Kühne (86) bis heute beharrlich, die eigene Mittäterschaft aufzuarbeiten. Das nun fertiggestellte Mahnmal widerspricht mit der Nähe zur K+N‑Zentrale dieser speziellen Vertuschung. Es thematisiert aber zugleich die gesamtgesellschaftlichen Verdrängung des Ausmaßes der „Arisierung“ jüdische Eigentums im Nationalsozialismus. Der Entwurf von Künstler*in Evin Oettingshausen zeigt in einem leeren Raum nur Schatten geraubter Möbel – von diesem Verbrechen ist, ganz wörtlich, fast nichts zu sehen. Der Initiator der Mahnmals-Kampagne, der Bremer Journalist Henning Bleyl, schildert gegenüber Untiefen, was die Kampagne für das Mahnmal politisch erreicht hat:
„Das Mahnmal-Projekt zeigt, dass man den Anspruch auf historische Wahrheit auch gegenüber einem hofierten Investor durchsetzen kann. Es war ein langer Weg – aber jetzt führt dieser Weg zur Einweihung eines unter breiter Bremer und internationaler Beteiligung entstandenen Mahnmals an der Weser, vor Kühnes Haustür. Und das eigentliche Thema, Bremens Rolle als Hafen- und Logistikstadt bei der europaweiten ‚Verwertung‘ jüdischen Eigentums, hatte im Lauf dieses Prozesses viele Gelegenheiten, in der Gesellschaft anzukommen.“
Klaus-Michael Kühne ist natürlich auch in Hamburg kein Unbekannter. Als Sponsor und Mäzen stützt er den HSV, finanziert aber über seine Kühne-Stiftung auch das Philharmonische Staatsorchester, fördert den Betrieb der Elbphilharmonie und hob das das Harbourfront Literaturfestival aus der Traufe. Dort finanzierte er bis 2022 den jährlich vergebenen Klaus-Michael Kühne-Preis für das beste Romandebüt. Bis letztes Jahr – nach einem Anschreiben der Untiefen-Redaktion – zwei der für den Preis nominierten Autor:innen ihre Teilnahme zurückzogen. Grund war Kritik an der verweigerten Aufarbeitung der NS-Geschichte des Unternehmens Kühne + Nagel. Diese Rücktritte sorgten für einen Eklat, der einige öffentliche Kritik an Kühne nach sich zog, während er und seine Stiftung keinerlei Verständnis zeigten. Mit dem anschließenden Rückzug der Kühne-Stiftung aus der Finanzierung des Festivals und der Umbenennung des Preises wurde die Debatte nach wenigen Wochen vorläufig beendet.
Im November 2022 luden wir daher Henning Bleyl ins Gängeviertel ein, um über Kühne + Nagel und die Bremer Kampagne für ein ‚Arisierungs‘-Mahnmal zu sprechen. Wer möchte kann Henning Bleyls Vortrag und das anschließende Diskussion nun hier auf Youtube nachhören.
Die zentralen Fragen für Hamburg bleiben indes auch nach der Mahnmal-Einweihung in Bremen unbeantwortet: Warum gibt es in Hamburg keinen kritischen Umgang mit der NS-Geschichte von Kühne + Nagel? Wie könnten Erinnerung, Aufklärung und Konsequenzen aussehen? Wie kann mit Klaus-Michael Kühne als Kultursponsor umgegangen werden? Welche Probleme der privatisierten Kulturförderung stehen dahinter?
Es bleibt spannend, ob auch an der Elbe ein eindeutiges Eintreten der Stadtgesellschaft für historische Redlichkeit erreichbar ist
Die neue, 15. Ausgabe des Harbour-Front-Literaturfestivals wird am 14. September eröffnet. Bleibt bis auf den Sponsorenwechsel und die Umbenennung in Sachen Kühne + Nagel in Hamburg also alles beim schlechten Alten? Henning Bleyl äußerte gegnüber Untiefen die Erwartung, dass auch hier etwas passiert: „Es bleibt spannend, ob auch an der Elbe ein eindeutiges Eintreten der Stadtgesellschaft für historische Redlichkeit erreichbar ist – trotz des von Kühne aufgewendeten enormen kulturellen und gesellschaftlichen Kapitals. Denn das Eigentum der jüdischen Familien, das Kühne + Nagel im Rahmen der ‚Aktion M‘ aus den besetzten Ländern abtransportierte, wurde natürlich auch in Hamburg sehr bereitwillig von großen Teilen der Bevölkerung ‚übernommen‘. Die Stadt profitierte in großem Stil von der Flucht jüdischer Menschen, deren Eigentum im Hafen zurückblieb, statt verladen zu werden. Ich bin gespannt, welchen Umgang Hamburg mit diesem Erbe findet.“
Wie die Bremer Initiative erfolgreich wurde, lässt sich in dem Mitschnitt von Bleyls Vortrag nachhören. Die Einweihung des Bremer Mahnmals findet am Sonntag, 10.09., um 11 Uhr direkt vor Ort statt. Ab 18 Uhr folgt ein öffentliches Vortrags- und Diskussionsprogramm in der Bremischen Bürgerschaft.
Der Investor des Holstenareals ist finanziell stark angeschlagen und steht zudem unter Betrugsverdacht. Jetzt hat die Stadt den Planungsstopp verkündet. Für die Entwicklung des Quartiers auf dem ehemaligen Brauerei-Gelände in Altona-Nord ist das eine unverhoffte Chance. Sie muss unbedingt ergriffen werden.
»Ist das Kind in den Brunnen gefallen?«, wurde Theo Bruns, Teil der Initiative Knallt am dollsten, Anfang Februar im Hamburg1-Gespräch gefragt. Bruns weigerte sich, diese Frage mit ›Ja‹ zu beantworten, und bekundete, weiter für die Kommunalisierung des Holstenareals zu kämpfen. Doch blickte man damals, vor vier Monaten, auf die Faktenlage, schien dieser Kampf nahezu aussichtslos zu sein. Im April oder Mai, so der damalige Stand, wollte der Bezirk den städtebaulichen Vertrag mit dem Investor, der zur Adler Group gehörigen Consus Real Estate, unterzeichnen; Einwendungen gegen den Vertrag wurden pauschal zurückgewiesen; und dass der Bezirk Altona es als Erfolg verkaufte, für 100 der ca. 1200 geplanten Wohnungen »preisgedämpfte« Nettokaltmieten in Höhe von 12,90 bzw. 14,90 Euro pro m² ausgehandelt zu haben, offenbarte den Unwillen und die Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen, gegenüber dem Investor ernsthaft Stellung zu beziehen.
Immobilienspekulant in Schieflage
Doch nun scheint sich die Hartnäckigkeit des Protests von Initiativen wie Knallt am dollsten bezahlt zu machen. Der Mai liegt hinter uns und der städtebauliche Vertrag ist immer noch nicht unterzeichnet. Und dazu wird es wohl so bald auch nicht kommen, denn der Bezirk Altona hat erklärt, alle Planungen auf Eis zu legen. Grund dafür: Die wirtschaftliche Lage des in der Presse gerne als »umstritten« bezeichneten Investors, der ca. 30.000 Wohnungen besitzt, ist so undurchsichtig, dass er die für eine Unterzeichnung geforderte Finanzierungszusage einer Bank für das riesige Projekt nicht vorlegen konnte. Der Konzern ist schon länger unter Druck, vor allem nachdem der Investor Fraser Perring, der bereits den systematischen Betrug bei Wirecard aufdeckte, im vergangenen Herbst ähnliche Vorwürfe gegen die Adler Group erhob.
Weiter zugespitzt hat sich die Situation, nachdem die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG Ende April ein entlastendes Testat für den Jahresabschluss des Konzerns verweigerte, woraufhin die Adler-Aktie abstürzte und mehrere Mitglieder des Managements zurücktraten. Das Handelsblatt berichtete Ende Mai zudem von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Frankfurt und davon, dass der Finanzaufsichts-Chef Mark Branson den Finanzausschuss des Bundestags am 18. Mai eigens in streng geheimer Sitzung über die Vorwürfe gegen Adler informierte.
Wenn nun neues Leben in die Angelegenheit Holstenquartier kommt, ist das also keineswegs das Verdienst der Politik. Der Bezirk Altona nämlich hat lange immer noch auf Consus/Adler gesetzt und auf der einmal getroffenen Entscheidung beharrt – trotz der immer größeren Vorwürfe gegen den Investor. Anstatt das Scheitern des bisherigen Plans einzubekennen, erklärte die Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg noch vor zwei Wochen gegenüber dem Hamburger Abendblatt, die Verhandlungen lägen »auf Eis«, bis eine Finanzierungszusage vorliege: »Wir haben dazu auch keine Frist gesetzt, sondern warten ab.«
Dass nicht alle in der Stadtpolitik so geduldig sind, zeigte sich aber Anfang Mai, als der Landesbetrieb Immobilienmanagement und Grundvermögen (LIG) die Consus angeschrieben und um Verkaufsverhandlungen bat. Allerdings drängt sich der Eindruck auf, dass es sich hier um bloße Symbolpolitik handelt. Die Nachricht führte zu markigen Schlagzeilen wie »Hamburg macht Ernst: Stadt will Holsten-Quartier kaufen« (Abendblatt). Im ›Kleingedruckten‹ erfuhr man dann aber: Die Stadt würde die Fläche nur »zu einem angemessenen Preis« erwerben und nur dann, wenn der Investor überhaupt verkaufen will. Noch am 1. Juni, also nach dem offiziellen Planungsstopp, verkündete Stefanie von Berg: Wenn die Adler Group das Grundstück nicht zum Verkauf anbiete, »kann auch die Stadt nichts machen«.1Das Hamburger Abendblatt schreibt trotzdem und entgegen aller Fakten von einem »harten Kurs« der Stadt »gegen die Adler Group«.
Kurz: Die Krise bei Adler/Consus hat die Chance eröffnet, doch noch eine ökologische und soziale Entwicklung des Quartiers zu ermöglichen, – aber die Hamburger Politik macht den Eindruck, damit so gar nicht glücklich zu sein. Davon könnte man überrascht sein, hätte man die Slogans von Grünen (»Für Mieten ohne Wahnsinn«) und SPD (»Wachstum ja, aber nicht bei den Mieten«) zu den Bürgerschaftswahlen 2020 für bare Münze genommen. Blickt man allerdings auf das Vorgehen des SPD-geführten Senats und des unter grünem Vorsitz stehenden Bezirks Altona in Sachen Holstenareal, wird deutlich: Hier wurde von Beginn an alles unterlassen, was diesen Slogans auch nur ein klein wenig Substanz verliehen hätte.
Hamburger Investorenmonopoly
Das begann schon 2015. Damals entschied die Holsten-Brauerei, ihren bisherigen Standort an der Holstenstraße aufzugeben. Der Senat unter dem damaligen Bürgermeister Olaf Scholz hätte sein Vorkaufsrecht nutzen und das Gelände für ca. 55 Millionen Euro kaufen können – doch er hat es unterlassen (was inzwischen selbst die CDU anprangert). Stattdessen wurde das Gelände höchstbietend verkauft, womit ein kaum fassbares Investorenmonopoly in Gang gesetzt wurde. 150 Millionen Euro betrug der anfängliche Kaufpreis der Düsseldorfer Gerch-Gruppe. Seither wurde das Grundstück viermal in sogenannten share deals mit Gewinn weiterverkauft – bis Consus es schließlich 2019 für 320 Millionen Euro übernahm.
Angesichts dieses horrenden Kaufpreises war klar: Um die von einem börsennotierten Immobilienkonzern erwarteten Profite zu erwirtschaften, müsste hier extrem dicht bebaut und extrem teuer verkauft bzw. vermietet werden. Zur Verdeutlichung: Nicht-profitorientierte Genossenschaften hatten der Kampagne »So geht Stadt« zufolge für den Erwerb des Grundstücks maximal 50 Millionen Euro geboten, weil sie bei einem höheren Preis keine sozialverträglichen Mietpreise mehr möglich sahen. Dementsprechend hoch fallen die nun erwarteten Mieten – sowohl für Gewerbe als auch für Wohnen – aus: Für die frei vermieteten zwei Drittel der Wohnungen sei mit einer Nettokaltmiete von 23 Euro pro m² zu rechnen, schätzte die Initiative Knallt am dollsten im Dezember 2021.
Adler: Immobilienspekulation als Geschäftsmodell
Das Holstenareal ist bei weitem nicht das einzige Projekt der Adler Group. Insgesamt 47 sogenannte ›Entwicklungsprojekte‹, fünf davon in Hamburg, hat der Investor aktuell am Laufen – oder eben nicht. Denn bei der Mehrzahl der Projekte gibt es aktuell keine Baufortschritte. Wie beim Holstenareal, wo kürzlich zumindest langsam mit den Abrissarbeiten begonnen wurde, eigentlich aber schon längst hätte gebaut werden sollen, sieht es auch woanders aus. In Berlin etwa tut sich beim Hochhaus Steglitzer Kreisel schon seit Monaten nichts – der Rohbau wirkt wie eine sizilianische Bauruine (und gibt so einen Vorgeschmack davon, was mit dem Elbtower passieren könnte). Das brachliegende Neuländer Quarree in Harburg hatte Adler letztes Jahr an eine dubiose Fondsgesellschaft mit Sitz auf Guernsey verkauft – und nun vor wenigen Wochen wieder zurückgekauft. Der Verdacht, dass es sich hierbei um einen Scheinverkauf handelte, um die Bilanzen aufzubessern, liegt nahe.
Daran, die erworbenen Grundstücke tatsächlich zu bebauen, zeigt der Investor jedenfalls gar kein Interesse. Und warum auch: Die Grundstücke steigen angesichts der immer noch wachsenden Immobilienblase sukzessive im Wert, und die zuletzt stark gestiegenen Baukosten machen das Bauen weniger rentabel. Es überrascht nicht, dass auch Vonovia, Deutschlands größter Wohn-Immobilienkonzern und Enteignungskandidat Nummer eins, mit mehr als 20% an der Adler Group beteiligt ist, und dass ihr Verwaltungsratsvorsitzende Stefan Kirsten vorher CFO bei Vonovia war.
Viele offene Fragen
Doch wie kann es nun weitergehen? Die Initiative Knallt am dollsten fordert die Kommunalisierung des Areals, denn sie wäre die Grundvoraussetzung dafür, dass dort ein soziales, inklusives, ökologisches Quartier entstehen kann. Damit das möglich ist, müsste die Stadt nun eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme nach § 165 Baugesetzbuch für das Holstenareal beschließen. »Sie ist das wichtigste Instrument, mit dem effektiver Druck auf den Investor ausgeübt werden kann. Als ultima ratio schließt sie sogar eine Enteignung nicht aus«, erklärte Theo Bruns gegenüber Untiefen. Nur so könnte verhindert werden, dass das Areal einfach an den nächsten Investor verkauft wird.
Dass das gangbar ist, zeigen andere Beispiele: In Düsseldorf etwa hat die regierende Mehrheit aus CDU und Grünen einen Antrag auf Einleitung einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme beschlossen – mit Zustimmung der Linkspartei und selbst der FDP. In Harburg sind vorbereitende Untersuchungen für die beiden Adler/Consus-Projekte (neben dem Neuländer Quarree noch die New York-Hamburger Gummiwaarenfabrik) eingeleitet worden. Der Bezirk Altona lehnt dasselbe mit der abstrusen Begründung ab, es handele sich beim Holstenareal nicht um einen »Stadtteil mit herausgehobener Bedeutung«. Theo Bruns vermutet andere Gründe: Neben dem fehlenden politischen Interesse und der Weigerung, Fehler einzugestehen, vor allem »Mangel an Courage und Gestaltungswillen«. Eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme wäre für die Bezirksverwaltung nämlich eine äußerst zeit- und arbeitsaufwendige Angelegenheit. Aber selbst wenn die in Bezirk und Stadt maßgeblichen rot-grünen Mehrheiten sich trotzdem (und d.h. vor allem wegen des öffentlichen Drucks) für solch ein Vorgehen entschieden, blieben noch einige offene Fragen.
Die größte wäre natürlich der Preis: Das Grundstück steht mittlerweile mit einem Wert von 364 Millionen Euro in den Bilanzen der Adler Group – ein völlig unrealistischer, durch Spekulation in die Höhe getriebener Preis. Knallt am dollsten fordert dagegen, die Kalkulation umzudrehen und einen »sozial verträglichen Verkehrswert« für den Rückkauf anzulegen. Das heißt, nicht der Grundstückspreis soll die Mieten bestimmen, sondern umgekehrt: Ausgehend von einer angestrebten (Maximal-)Miete soll der Grundstückspreis berechnet werden.
Aber auch die Frage, wie viel Zeit für all das noch bleibt, ist ungeklärt. Adler hat eine Insolvenz der Consus Real Estate zwar noch Mitte Mai offiziell ausgeschlossen, aber es erscheint nicht unwahrscheinlich, dass bald ein Insolvenzverfahren eröffnet wird. Für eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme wäre es dann wohl zu spät – als Teil der Insolvenzmasse müsste das Holstenareal höchstbietend weiterverkauft werden.
Für einen radikalen Neuanfang
Derweil hat Knallt am dollsten gemeinsam mit anderen Initiativen aber schon demonstrativ einen Neustart eingeläutet. Am 25. Mai versammelten sich dutzende Teilnehmer:innen vor dem Altonaer Rathaus zu einer »Bezirksversammlung von unten«. »Adler ist Geschichte, darüber muss man jetzt nicht mehr reden. Wir können jetzt einen Schritt weiter gehen«, sagte Theo Bruns in einem Redebeitrag. Es gehe jetzt darum, das Quartier neu zu denken und die Bürger:innen an der Planung zu beteiligen, so wie das im Falle der Esso-Häuser in St. Pauli mit der Planbude praktiziert wurde und wird.2Freilich sind die Esso-Häuser alles andere als ein gutes Beispiel für einen gelungenen Planungsprozess. An ›zu viel Bürger:innenbeteiligung‹ liegt das aber nicht – und es ist eine interessierte Falschbehauptung, wenn die Welt das in einem jüngst erschienenen Artikel so darstellt. Zu den Forderungen, die am offenen Mikrofon und an den aufgestellten Pinnwänden gesammelt wurden, zählen: geringere Verdichtung und Versiegelung, bezahlbare Mieten, mehr barrierefreie Wohnungen (die aktuelle Planung sieht sechs (!) rollstuhlgerechte Wohnungen im gesamten Holstenquartier vor), Raum für neue Wohnformen und die Verwendung ökologischer Baumaterialien.
Während die ›Bezirksversammlung von unten‹ vor dem Altonaer Rathaus Druck auf die Entscheider:innen aufbaute und Ideen für ein lebenswertes Quartier entwickelte, unternahm die zeitgleich stattfindende Bezirksversammlung im Rathaus – nichts. Da sich die Situation nicht verändert habe, gebe es auch nichts zu entscheiden. Man scheint dort auf weitere Winke des ›Schicksals‹ (d.h. des Marktes) zu warten. Dabei gälte es, jetzt umgehend zu handeln: den »Chaosinvestor« Adler/Consus enteignen, das Holstenareal vergesellschaften und es anschließend von gemeinwohlorientierten Genossenschaften und Baugemeinschaften bebauen lassen. Die Bewohner:innen Altonas hätten dafür jedenfalls schon einige Ideen.
Lukas Betzler
Der Autor ist Teil der Untiefen-Redaktion und schrieb hier bereits über das als Stadtmagazin firmierende Anzeigenblatt SZENE Hamburg.
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Das Hamburger Abendblatt schreibt trotzdem und entgegen aller Fakten von einem »harten Kurs« der Stadt »gegen die Adler Group«.
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Freilich sind die Esso-Häuser alles andere als ein gutes Beispiel für einen gelungenen Planungsprozess. An ›zu viel Bürger:innenbeteiligung‹ liegt das aber nicht – und es ist eine interessierte Falschbehauptung, wenn die Welt das in einem jüngst erschienenen Artikel so darstellt.
Die Bornplatzsynagoge im Grindelviertel soll wieder aufgebaut werden. Das beschloss die Bürgerschaft im Januar 2020. Über die genaue Umsetzung allerdings wird seither heftig gestritten. Das für Mitte des Jahres angekündigten Ergebnis einer Machbarkeitsstudie wird die nächste Runde der Debatte einläuten. Aber was steht hier eigentlich zur Diskussion?
Die Bornplatzsynagoge im Hamburger Grindelviertel wurde 1906 vom orthodoxen Synagogenverband in einer Zeit zunehmender politischer und juristischer Partizipation von Jüdinnen und Juden als Hauptsynagoge eröffnet. 1939, als die systematische Vertreibung der deutschen Juden einsetzte, erzwangen die Nazis ihren Abriss. Seit bald drei Jahren wird nun über die Form, den Ort und mögliche Folgen eines Wiederaufbaus diskutiert. Dabei geht es um weit mehr als Architektur: Zur Debatte steht die deutsche Shoa-Erinnerungskultur, die Repräsentation heterogener, jüdischer Gemeinden und letztlich die gesellschaftliche Teilhabe des deutschen Judentums am Hamburger Stadtbild.
Bürokratische Zerstörung…
1938 versuchten Hamburger Nazis die Bornplatzsynagoge während der Novemberpogrome durch einen Brandanschlag zu zerstören, was ihnen zunächst nicht gelang. Ihr momentanes Überleben verdankte die Synagoge aber nicht etwa Skrupeln oder Rücksichtnahme, sondern dem Willen, nicht-jüdische Kulturgüter zu retten, die unweit von ihr in Holzscheunen aufbewahrt wurden. Dieser Aufschub lenkte die Zerstörung in bürokratische Bahnen: Im Frühjahr 1939 ließen die Nazis die beschädigte Synagoge auf Kosten des jüdischen Religionsverbands Hamburg abreißen. Im April 1940 vermerkte das Amtsgericht Hamburg die Auflassung des Synagogengrundstücks, das Gelände ging in den Besitz der Stadt über. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde an dem nun leeren Platz ein Hochbunker errichtet.
1949 erhob die neu gegründete Jüdische Gemeinde in Hamburg (JGHH) Anspruch auf Rückgabe des Grundstücks. Allerdings führte faktisch die Jewish Trust Corporation (JTC) die jahrelangen Verhandlungen. Denn bei der Hamburger Gemeinde handelte es sich zu dieser Zeit um eine sogenannte »Liquidierungsgemeinde«. Ihr Ziel war nicht der Wiederaufbau jüdischer Kulturstätten in Deutschland, sondern die Koordination der Ausreise deutsch-jüdischer Personen. Für die JTC stand daher im Fokus, rückerstattetes Vermögen für den Aufbau des jüdischen Staates zu organisieren. Aufseiten der Hamburger Liegenschaftsabteilung verhandelte unter anderen Hans-Joachim Richter. Er war in seiner Position bereits vor dem Krieg für den Zwangsverkauf von Grundstücken der hamburgischen jüdischen Gemeinden verantwortlich gewesen.
… und bürokratische Restituierung
Auf diese personelle Kontinuität und die Tatsache, dass die Stadt das Gelände nicht direkt an die jüdische Gemeinde zurückgab, sondern mit einer ausländischen Organisation verhandelte, wird in der aktuellen Debatte wieder referiert. Der heutige Vorsitzende der JGHH, Philipp Stricharz, betrachtet das damalige Entschädigungsverfahren als eine zweite Enteignung. Miriam Rürup, Direktorin des Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrums und ehemalige Leiterin des Hamburger Instituts für die Geschichte der deutschen Juden (IGDJ), sieht das anders. Sie betont das damalige Motiv der JTC, für die Enteignung des Geländes zügig, wenn auch unzureichend, entschädigt zu werden.
In der Debatte um einen Synagogenbau am heutigen Joseph-Carlebach-Platz nehmen Stricharz und Rürup oft entgegengesetzte Positionen ein. Stricharz vertritt dabei die Interessen der JGHH und fordert mehr Sichtbarkeit für das jüdische Leben, besonders im Grindelviertel. Rürup teilt den Wunsch nach mehr Sichtbarkeit, spricht aber als Historikerin, Mitglied des Vereins Tempelforum e.V. und Teil der deutlich kleineren Liberalen Jüdischen Gemeinde Hamburgs (LJGH).
Deutsches Geschichtsbewusstsein: Bis in die 1980er Jahre hinein wurde der Platz der ehemaligen Synagoge als Parkplatz genutzt, Foto: Denkmäler und Baudenkmale der Jüdischen Gemeinde in Hamburg – Kulturbehörde, Denkmalschutzamt1Die Rechteinhaber:innen konnten trotz intensiver Nachforschung nicht ermittelt werden. Diese haben die Möglichkeit, sich an uns zu wenden.
Die Verhandlungen zwischen dem Hamburger Senat und der JTC um das Grundstück mündeten 1953 in eines von mehreren sogenannten »Pauschalabkommen«. Neben dem Bornplatz betraf es elf weitere Hamburger Grundstücke. Die Vergleichssummen der gut gelegenen Immobilien lagen weit unter ihrem Wert. In den 1960er Jahren wurde das gesamte Areal am Grindelhof von der Universität genutzt. Der Bornplatz war bis in die 1980er Jahre ein schlammiger Parkplatz. Planungsrechtlich war das Gelände noch bis 1985 für eine Erweiterung der Universität vorgesehen. Parallel wurde es seit Ende der 70er auch als möglicher Ort für eine erinnerungskulturelle Nutzung entdeckt. Die Universität entschied sich schlussendlich gegen eine Erweiterung auf dem Bornplatz. Die Finanzierungsmittel konnten nicht aufgebracht werden, hieß es in einer entsprechenden Eingabe der Kultursenatorin Anfang der 1980er Jahre.
Aufbereitung der Lücke
Ende der 1970er Jahre sollte eine archäologische Grabung am Bornplatz die Grundlage für eine Erinnerungsstätte ergeben. Durchgeführt wurde sie vom Fachbereich Archäologie der Uni Hamburg, der noch heute im Hochbunker angesiedelt ist. Die Grabung offenbarte, dass das Fundament der Bornplatzsynagoge größtenteils erhalten ist. Allerdings bat die Jüdische Gemeinde aus Rücksichtnahme auf jüdisches Recht darum, es nicht offenzulegen. Stattdessen beauftragte die Kulturbehörde 1983 die Hamburger Künstlerin Margrit Kahl, Visualisierungsvorschläge für die Aufbereitung der Lücke anzufertigen. Über die Vorschläge stimmten auch Vertreter der Jüdischen Gemeinde ab. Das Synagogegenmonument sollte die Leerstelle sichtbar machen und damit der politischen Forderung nach Erinnerungskultur in der postfaschistischen BRD nachkommen. Am 50. Jahrestag der Novemberpogrome, dem 9. November 1988, wurde Kahls Mosaik auf dem heutigen Joseph-Carlebach-Platz eingeweiht. Es befindet sich dort bis heute.
Die Stadt verstand die Instandhaltung des Monuments bis 2019 nicht als ihre Aufgabe. Gedenkinitiativen nutzten den Ort, um sich an Jahrestagen dort zusammenzufinden, und Schulklassen kümmerten sich um die Denkmalpflege. Stadttouren halten hier, Menschen aus dem Viertel und der Universität passieren den Platz täglich. Manche betonen die bemerkenswerte Wirkung der subtilen Aufbereitung zu einem Raum, der sie zur Reflektion über die Shoa anhält. Die israelische Kunsthistorikerin Galit Noga-Banai bezeichnete das Synagogenmounument am Bornplatz auf einem Symposium im September 2021 als eines von drei Gegendenkmalen, die zukunftsweisend für die deutsche Gedenkkultur gewesen seien. Andere nehmen das Mosaik kaum wahr oder bezweifeln seine mahnende Wirkung.
»Nein zu Antisemitismus, ja zur Bornplatzsynagoge«
Am 9. Oktober 2019 verübte der rechte Terrorist Stephan B. einen Anschlag auf die Synagoge von Halle. Neben verharmlosenden Deutungen, demnach man es mit einem psychisch kranken Einzeltäter zu tun habe, folgten darauf auch politische Versprechungen, Antisemitismus stärker zu bekämpfen. In der Hamburger Bürgerschaft brachte ein fraktionsübergreifender Antrag die Unterstützung des Wiederaufbaus als eine mögliche politische Antwort auf den Anschlag ins Spiel. Der Kampf gegen Antisemitismus, so die im Antrag vorgebrachte Argumentation, müsse mit einer Sichtbarmachung der positiven Aspekte jüdischen Lebens kombiniert werden. Am 28. Januar 2020 beschloss die Hamburger Bürgerschaft einstimmig, das Bauvorhaben mit dem Antrag für eine Machbarkeitsstudie vom Bund zu unterstützen.2Siehe dazu auch: https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/wird-hamburgs-einst-groesste-synagoge-wieder-aufgebaut/
Der Wunsch, auf dem Joseph-Carlebach-Platz wieder eine Synagoge zu errichten, ist allerdings deutlich älter. Zuletzt wurde er 2010 von Ruben Herzberg, dem damaligen Vorsitzenden der JGHH, anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Synagoge Hohe Weide formuliert: »Die Einweihung der Synagoge Hohe Weide war ein weithin sichtbares klares Zeichen, dass jüdisches Leben nicht vernichtet werden konnte. Das Herz des jüdischen Hamburg aber schlägt im Grindelviertel, dort neben der Talmud-Tora-Schule, unserem heutigen Gemeindezentrum mit der Joseph-Carlebach-Schule […]. Wir wünschen uns die Rückkehr an unseren alten Ort, denn der leere Platz ist eine Wunde in unserem Leben.« Dieser Wunsch fand damals keine politische Unterstützung.
Zehn Jahre später, nach dem Terroranschlag von Halle, finanziert der Bund nun die Machbarkeitsstudie für den Wiederaufbau mit 600.000€. Zuvor startete unter dem Slogan »Nein zu Antisemitismus. Ja zur Bornplatzsynagoge« eine medienwirksame Unterstützungskampagne für den Bau einer neuen Synagoge am alten Platz. Unter den circa 107.000 Unterzeichner:innen finden sich namhafte Persönlichkeiten vor allem aus Hamburg, aber auch aus der Bundespolitik und aus Israel. Neben lokalen Unternehmer:innen, Wissenschaftler:innen und Künstler:innen warb etwa auch Olaf Scholz per Videobotschaft für das Vorhaben.
Kritik am historisierenden Wiederaufbau
Bereits zu Beginn dieser Kampagne wurden öffentlich Stimmen hörbar, die befürchteten, dass das Bodenmosaik der Realisierung weichen müsse. Resümierendsagte Miriam Rürup im März 2021, das Synagogenmonument »war eine Avantgarde-Bewegung von Juden und Nichtjuden. Darauf sollte man sehr stolz sein. […] Dürfen wir uns davon schon abwenden?« Mit dem Mosaik würde ein wichtiger Ort der Erinnerungskultur in Hamburg verschwinden. Das Gegenargument lautet: Das Bodenmosaik habe seinen Zweck erfüllt, denn für wen und auf wessen Kosten solle die schmerzhafte Lücke beibehalten werden? Sie sei besetzt worden, bis wieder eine Synagoge auf den Platz zurückkehren könne. Philipp Stricharz drückte es schon im November 2019 gegenüber der taz so aus: »Jeden Tag, an dem ich da vorbeikomme, empfinde ich eine große und weiter bestehende historische Ungerechtigkeit. […] Da steht einerseits ein Platz leer – da sollte aber eine Synagoge stehen. Stattdessen steht da dieser sogenannte Hochbunker«. Das Areal »wieder jüdisch zu machen, das mag pathetisch klingen, wäre ein später Sieg«.
Als das Areal am Grindelhof noch jüdisch war: Blick auf das Ensemble von Talmud-Tora-Schule und Synagoge, 1914. Quelle: Hamburg und seine Bauten, Band 1. Dölling und Galitz, Hamburg 1914.
Gegen eben dieses Pathos verwehren sich Rürup und andere Hamburger:innen. Das dokumentierte etwa eine Veranstaltung der Körber Stiftung vom Februar 2021. Zu Beginn der Debatte schürte besonders die Rede von »Wiederaufbau« und »Rekonstruktion« die Sorge, der Bau könne zu historischem Revisionismus führen. Rürup warnte im Rahmen einer von der Patriotischen Gesellschaft organisierten Diskussionsveranstaltung: »Wenn wir historisierend bauen, fantasieren wir uns in eine gute alte Zeit«. Sie fragte, welche ungewollte Wirkung der Wiederaufbau noch haben könnte und befürchtete eine »moralische Elbphilharmonie«.
Ein Prestigeprojekt wie die Elbphilharmonie?
In Analogie zur Elbphilharmonie waren die ersten Debattenbeiträge von der Kritik geprägt, Hamburg verfolge nun auch im Kampf gegen den Antisemitismus ein Prestigeprojekt. Mit dem Slogan »Nein zu Antisemitismus. Ja zur Bornplatzsynagoge« würde jede Kritik am Bauvorhaben als antisemitisch diskreditiert. Dabei gäbe es gute Gründe, kritisch nachzufragen, weshalb die neu gewonnene Unterstützung der Öffentlichkeit und Politik sich so auf den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge konzentriere. Der Unmut über die Missachtung anderer jüdischer Kulturstätten in Hamburg überschattete die Freude über die politische Unterstützung des Synagogenbauprojekts.
So hatte die Initiative Tempel Poolstraße bereits vor dem antisemitischen Anschlag in Halle für das Jahr 2019 eine Kampagne zur Rettung und kulturellen Aufbereitung der Tempelruine in der Hamburger Neustadt geplant. Nach dem Anschlag fand sich der dafür gegründete Verein Tempelforum e.V. in der ungewollten Lage, dass sein Anliegen in Konkurrenz zu den Forderungen nach einer neuen Bornplatzsynagoge gesehen wurde. Als Mitglied des Vereins sprach Miriam Rürup sich in der ersten Runde der Debatte im Dezember 2019 für eine Öffnung der geplanten Machbarkeitsstudie aus. Das Ziel sei, viele verschiedene Orte in die Wideraufbaupläne einzubeziehen. Harald Schmid von der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten äußerte auf einem Symposium im September 2021 rückblickend, dass die frühzeitige Festlegung der politischen Förderung auf den rekonstruierenden Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge für die Kontroverse mitverantwortlich gewesen sein könnte.
»Für einen breiten, offenen Diskurs«
Im Dezember 2020 wurde über die Patriotische Gesellschaft eine öffentliche Stellungnahme mit dem Titel »Für einen breiten, offenen Diskurs über den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge« veröffentlicht. Zu den Erstunterzeichnenden zählten neben Miriam Rürup der Historiker und ehemalige Direktor des Richard-Koebner-Zentrums für deutsche Geschichte an der Universität Jerusalem Moshe Zimmermann sowie Ingrid Nümann-Seidewinkel, ehemalige Eimsbütteler Bezirksamtsleiterin.
Das von Margrit Kahl gestaltete Bodenmosaik liegt im Schatten des Hochbunkers, Foto: Privat.
Die mit der Stellungnahme als ein auch internationaler Standpunkt in der Debatte etablierte Kritik richtete sich gegen die Idee eines historisierenden Wiederaufbaus. Die Stellungnahme kritisierte die Rekonstruktion kriegerisch zerstörter Bauten im Allgemeinen und die der Bornplatzsynagoge im Besonderen. Der Vorwurf lautete, mit dieser Idee würde – wenn auch nicht intendiert – ein historischer Revisionismus der antisemitischen Zerstörung im Stadtbild betrieben. Zugleich werde mit dem Synagogenmonument von Margrit Kahl ein zentraler Erinnerungsort und Teil des kulturellen Erbes der Stadt zerstört. Die Unterzeichnenden forderten stattdessen »eine breite Diskussion darüber, wie jüdisches Leben im Grindelviertel neu gedacht und in zeitgemäßer, zukunftsgerichteter Form gestaltet werden kann unter Einbeziehung der vorhandenen Gegebenheiten«. Denn Städtebau sei »das Ergebnis der Integration vieler gesellschaftlicher Interessen und Sichtweisen«.
Zynismus deutscher Erinnerungspolitik
Der Ton spitzte sich zu, als Nümann-Seidewinkel die Ansicht äußerte, ein historisierender Wiederaufbau »hätte für mich etwas von Disneyland«.3Der entsprechende NDR-Artikel ist nur noch in einer archivierten Fassung erreichbar. Sie war in ihrer Zeit als Leiterin des Bezirksamts Eimsbüttel an der Umsetzung des Synagogenmonuments beteiligt und sah nun die lokale Erinnerungspolitik in Gefahr. Für die Verfechter:innen einer Rekonstruktion wies Stricharz diese Kritik als akademisiert zurück. Er betonte, dass sie zwar bereit seien »sich einiges anzuschauen«, wenn es um die architektonischen Umsetzungsmöglichkeiten geht. Den Wunsch jedoch, den Platz komplett leer zu belassen, lehnte er ab.
Schon 2019 hatte der World Jewish Congress 2019 entsprechende Ideen als »zynisch« kritisiert: »Stimmen, die fordern, dass der Bornplatz leer bleiben müsse, um zu zeigen, was der Jüdischen Gemeinde angetan wurde, erteilen wir eine klare Absage. Unrecht gegen die Jüdische Gemeinde zu perpetuieren, nur um zu zeigen, dass es stattfand, würde die Hamburger Jüdische Gemeinde ein weiteres Mal zum Objekt äußerer Interessen machen«.
Die Rede von ›äußeren Interessen‹ knüpft an den Vorwurf an, die kritischen Stimmen kämen in erster Linie von nicht-jüdischen Akteur:innen. Dieser Ansicht wurde und wird unter anderen von Miriam Rürup vehement widersprochen. Philipp Stricharz hob jedoch hervor, dass die Gestaltung des Platzes in letzter Konsequenz die Entscheidung der jüdischen Gemeinde sei. Den Wunsch der Gemeinde nach einem historisierenden Synagogenbau begründete er auf dem AIT-ArchitekturSalon im Mai 2021 folgendermaßen: »Wir leben jetzt in einer Zeit, in der Juden wirklich Bedenken haben, sich öffentlich auf der Straße zu zeigen. Öffentliche Verkehrsmittel, ein Fußweg von nach kann problematisch sein und in dieser Zeit sehnt man sich ein bisschen nach einem Gebäude, das nicht nur ausdrückt: Wir sind da und ihr müsst es akzeptieren. Sondern: Wir sind auf eine ganz imposante Art und Weise da und wir sind hier nicht irgendwer und wir sind hier nicht gerade erst mit dem Ufo gelandet«.
Integration durch Homogenisierung?
Ob ein originalgetreuer Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge diesen Effekt für alle jüdischen Konfessionsgruppen in Hamburg haben kann, zweifelt Miriam Rürup allerdings an. Was in der Debatte fehle, ist ihr zufolge die Anerkennung eines heterogenen Judentums und seiner kulturellen Erzeugnisse in Hamburg. Sie kritisierte Anfang des Jahres, dass durch die gedachte Trennung zwischen »Hamburger Stadtgesellschaft« und »jüdischer Einheitsgemeinde« das Jüdischsein an die Gemeindemitgliedschaft gekoppelt wird. Diese Aufteilung werde weder den Positionen in der Debatte, noch dem jüdischen Kulturerbe in Hamburg gerecht.
Dass jüdische Gebets- und Kulturstätten erst nach einem Terroranschlag politische Unterstützung erhalten und dass diese Unterstützung zu Streit zwischen heterogenen jüdischen Traditionen um Teilhabe am Stadtbild führt, zeigt: Den jüdischen Gemeinden wird heute die Rolle zugewiesen, sich in eine als nicht-jüdisch verstandene Stadtgesellschaft zu integrieren. Das ist schon für sich genommen problematisch. Dazu kommt, dass viele nicht-jüdische Hamburger:innen sowie Mitglieder der Bürgerschaft nur die jüdische Einheitsgemeinde kennen. Dabei ist Hamburg international auch als die Wiege des liberalen Judentums bekannt.
In dieser Situation lässt sich die Kritik am Fokus auf den Wiederaufbau einer imposanten Synagoge, die für ein orthodoxes Judentum stand4Vgl. Ina Lorenz/Jörg Berkemann, Die Hamburger Juden im NS-Staat 1933 bis 1938/39. Band 1 – Monografie, Göttingen 2016, S. 136. Online unter: http://www.igdj-hh.de/files/IGDJ/pdf/hamburger-beitraege/lorenz-berkemann_hamburger-juden-im-ns-staat‑1.pdf, auch als die Sorge verstehen, dass Hamburg sich zum Zweck der Integration eine homogene jüdische Lokalgeschichte und ‑kultur imaginiert. Während die gewonnene politische Unterstützung zu begrüßen ist, darf sie die Vernachlässigung jüdischen Kulturerbes in Hamburg nicht vergessen machen. Die Befürchtung, dass eine zu heterogen auftretende jüdische Interessensvertretung dem gemeinsamen Wunsch nach urbaner Teilhabe schaden könnte, zeugt von einem besorgniserregenden deutschen Selbstverständnis.
Abkehr von der Idee eines originalgetreuen Wiederaufbaus
Spätestens 2021 änderte sich der Ton, als unter anderem Daniel Sheffer, Initiator der Kampagne »Nein zu Antisemitismus. Ja zur Bornplatzsynagoge«, die Idee eines originalgetreuen Wiederaufbaus relativierte. Mittlerweile bestreitet er gar, dass es sie in der Form jemals gab. Für Philipp Stricharz bleibt nichtsdestoweniger die Frage offen, weshalb eine Vollrekonstruktion nur im Falle eines Synagogenwiederaufbaus von vornherein ausgeschlossen sein soll. Er zieht eine historische Linie von der Shoa bis dahin, dass jüdische Bauten von der Tendenz, urbane Architektur originalgetreu zu rekonstruieren, bislang ausgeschlossen wurden. In Hamburg erhielten der Michel oder auch das Haus der Patriotischen Gesellschaft in den 1950er Jahren städtische Unterstützung für ihren Wiederaufbau. Für die Bornplatzsynagoge hingegen gab es, wie oben beschrieben, lediglich ein Pauschalabkommen ohne Einbeziehung der Hamburger Gemeinde.
Für Stricharz perpetuiert sich darin das Unrecht der Nazis: »Hätte man sich damals den Juden gegenüber genauso verhalten wie man sich der sonstigen Gesellschaft gegenüber verhalten hat, hätte man die Synagoge [bereits in den 50er Jahren] wieder aufgebaut«, sagte er im Rahmen des AIT-ArchitekturSalons. Es sei verkürzt, sich jüdische Rekonstruktion als eine schlichte Kopie vorzustellen oder sie gar mit Disneyland zu assoziieren: »Meine Meinung ist, dass ein nicht-historisierender Aufbau undenkbar ist.« Ein gelungener Entwurf für die Synagoge müsse dem Anspruch der jüdischen Gemeinde Rechnung tragen, zu »zeigen, wo man herkommt«. Und er müsse sich auf die Sicht der jüdischen Gemeinde als jenen, »die außen vor gelassen wurden bei diesem Wiederaufbau«, einlassen. Stricharz betonte aber auch: Eine einfache Replikation sei aufgrund praktischer Sicherheitsanforderungen gar nicht möglich. Außerdem würde die alte Raumaufteilung im Inneren der Synagoge den gegenwärtigen Bedürfnissen der »jüdischen Gemeinden Hamburgs« nicht mehr entsprechen. Der von Stricharz hier verwendete Plural deutet darauf hin, dass die jüdischen Gemeinden den Neubau nun als Möglichkeit sehen, sich urbanen Raum gemeinsam neu anzueignen.
Zeichen der Annäherung
Sheffer bezeichnete es Anfang des Jahres entsprechend als kleinsten gemeinsamen Nenner, »einen Ort lebendigen jüdischen Lebens zu schaffen, der Raum gibt für dessen Vielfalt, also Gebetsräume für das liberale und orthodoxe Judentum gleichberechtigter Weise«. Dieser Vision konnte Rürup sich anschließen, forderte allerdings eine Reflexion über die Schwerpunktsetzung innerhalb dieser Vielfalt: Welches jüdische Erbe würde der Neubau aktualisieren, welche Identifikationsmöglichkeiten würde er ausklammern?
Neben dem Bodenmosaik und der Tempelruine in der Poolstraße nennt Rürup den Tempelbau in der Oberstraße, der von den Nazis enteignet wurde und bis heute ein NDR-Studio beherbergt: »Wenn wir nun den Joseph-Carlebach-Platz zum zentralen Ort für jüdisches Leben auswählen, müssen wir anerkennen, was es bereits gibt und auch direkt an dem Ort existiert«. Bliebe dies aus, ließen sich die vernachlässigten architektonischen Zeugnisse jüdischer Vergangenheit nicht mit dem hegemonialen Judentum der Gegenwart in Verbindung bringen. Sie als Jüdin fühle sich dann durch die gewonnene Repräsentanz nicht adressiert. Ein starkes Signal für das Judentum müsse dessen Vielfalt berücksichtigen.
Ein weiteres Anzeichen der Annäherung der unterschiedlichen Positionen ist die Tatsache, dass die JGHH das Architekturbüro Wandel Lorch Götze Wach mit der Erstellung der Machbarkeitsstudie beauftragt hat. Das spricht gegen eine ungebrochene Rekonstruktion, denn das Büro hat sowohl Erfahrungen mit modernem Synagogenbau (Neue Synagoge Dresden, Jüdisches Zentrum München) als auch mit Restaurationsprojekten (Bayreuther Synagoge), die eine Symbiose historisierender Bauart und zukunftsgewandter Gestaltung versuchen. Mit einer Veröffentlichung der Ergebnisse der Machbarkeitsstudie ist Mitte des Jahres zu rechnen.
Von den Täter:innen keine Rede: Der am Hochbunker angebrachten Gedenktafel zufolge wurde die Synagoge nicht von Hamburger Nazis, sondern »durch einen Willkürakt« zerstört, Foto: privat.
Erinnerungskultur im Wandel
Die Debatte der letzten drei Jahre zeugt somit von weitreichenden Aushandlungen: In den Bezügen auf das Synagogenmonument wird nicht nur die genaue Form des Wiederaufbaus verhandelt, sondern auch die Frage, an wen sich die deutsche Erinnerungskultur eigentlich richtet und wer an die Shoa erinnern soll bzw. muss. Ebenso stehen ihre Strategien der Erinnerung auf dem Prüfstand. Damit sind sogenannte authentische Orte des Grauens, wie KZ-Gedenkstätten, aber eben auch Orte der zerstörten Repräsentationen gemeint.
Die Debatte um den Bau einer Synagoge am Joseph-Carlebach-Platz stellt in dieser Hinsicht und durch seine Reichweite ein Novum dar: Wie geht eine Stadtgesellschaft damit um, wenn sich die Strategien der Erinnerung mit den Wünschen jüdischer Repräsentanz um ein- und denselben Platz streiten? Für Philipp Stricharz kann das Synagogenmonument, wenn die deutsche Erinnerungskultur die Verdrängung jüdischer Repräsentanz nicht perpetuieren wolle, nur als Platzhalter verstanden werden. Denn sonst blockiere das Bedürfnis der Hamburger Stadtgesellschaft, sich noch einmal zur deutschen Schuld zu bekennen, den einmal antisemitisch enteigneten Ort ein weiteres Mal – wenn auch mit guten Absichten: »Das ist dann sozusagen mein innerer Impuls: Ja dann macht das doch, aber doch nicht auf unserem Grund und Boden. Und das ist glaube ich auch eine Erklärung für diese Aufgebrachtheit die vielleicht in der Diskussion ein Stück weit vorhanden war. Von allen Seiten wollte man sozusagen das Richtige, aber es fühlt sich halt wirklich anders an«.
Die gesellschaftliche Debatte führte neben solchen Erkenntnissen auch zu Blüten, die noch eine ganz andere Art des historischen Revisionismus fürchten lassen. So präsentierten Architekturabsolvent:innen der BTU Cottbus-Senftenberg im Juni 2021 Entwürfe für mögliche Synagogenbauten am Joseph-Carlebach-Platz. Darunter fand sich auch der Vorschlag, die Synagoge auf den Hochbunker zu platzieren, um die bisherige Entwicklung des Areals in den Neubau zu integrieren. Der Entwurf imaginiert den Hochbunker, gebaut zum Schutz »arischer« Bürger:innen, versöhnlich als Fundament aktueller jüdischer Repräsentanz. Stattdessen sollte die Reflexion historischer Bezüge auf lokale Täterbauten erweitert werden. Darin treffen sich die sonst widerstreitenden Positionen innerhalb der Debatte: Würde der Bunker weichen, wäre mehr Platz. Den bislang wenig beachteten, denkmalgeschützten Hochbunker in Frage zu stellen, könnte die Debatte zwischen Erinnern und neuer jüdischer Repräsentanz um eine wesentliche Perspektive erweitern. Ein Abriss des Bunkers würde den Handlungsspielraum vergrößern und einen neuen Fokus darauf schaffen, woran erinnert und angeknüpft werden soll.
Grace Vierling, März 2022
Die Autorin verfolgt die Debatte beruflich und aus politischem Interesse. Dabei gilt ihre Aufmerksamkeit vor allem den deutschen Zuständen und denen, die unter ihnen zu leiden haben.
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Die Rechteinhaber:innen konnten trotz intensiver Nachforschung nicht ermittelt werden. Diese haben die Möglichkeit, sich an uns zu wenden.
Vgl. Ina Lorenz/Jörg Berkemann, Die Hamburger Juden im NS-Staat 1933 bis 1938/39. Band 1 – Monografie, Göttingen 2016, S. 136. Online unter: http://www.igdj-hh.de/files/IGDJ/pdf/hamburger-beitraege/lorenz-berkemann_hamburger-juden-im-ns-staat‑1.pdf
Paulihaus, Schilleroper und Sternbrücke sind Hamburgs umstrittenste Abriss- und Bauvorhaben. In der Tat sind sie nicht zu befürworten. Trotzdem überzeugt der Protest dagegen nicht. Denn: Was spricht gegen den Abriss maroder Bauten? Ein kleiner Spaziergang wirft die große Frage auf: Wo sind die stadtplanerischen Utopien der Moderne geblieben? (Teil I)
Antiabrisstische Aktion. Im Hintergrund: die Überreste der Schilleroper. Foto: privat
Am Neuen Pferdemarkt, Ecke Neuer Kamp, stand im Sommer noch ein backsteinerner Flachbau – die ehemalige Kantine der Rindermarkthalle. Das Gebäude beherbergte zuletzt ein indisches Restaurant und eine Autowerkstatt. Der Ende Juni erfolgte Abriss soll Platz schaffen für ein mehrstöckiges Bürogebäude: das sogenannte Paulihaus. Würde es schon stehen, so ließen sich von den oberen Stockwerken aus die kläglichen Überreste der Schilleroper erblicken. Sie liegt nur einige Gehminuten entfernt. Im Gegensatz zur Kantine steht ihr stählernes Gerüst unter Denkmalschutz. Nach Vorstellung der Investorin soll hier ein dreiteiliger Gebäudekomplex entstehen. Wer nun von der Schilleroper aus der Stresemannstraße gen Altona folgt, findet sich bald an der Sternbrücke wieder. Eine in die Jahre gekommene Stahlkonstruktion, die ein Hauch von Bronx in Hamburg umweht und unter der eine Reihe von Clubs beherbergt sind. Sie soll, man ahnt es, in ihrer bisherigen Form abgerissen werden und einer neuen, überdimensionierten Brücke weichen.
Die nur wenige Gehminuten voneinander entfernt liegenden Gebäude weisen noch eine weitere Gemeinsamkeit auf: Sie bilden die Hauptachse städtebaulichen Protests in der Hansestadt. Um alle Bauten haben sich Initiativen gegründet, die für ihren Erhalt einstehen, oder – im Falle der Rindermarktkantine – Einspruch gegen die Neubaupläne erheben. Im Fokus der Kritik steht, aller Unterschiede zum Trotz, der Abriss alter Bausubstanz und ein Plädoyer für den Erhalt gewachsener Strukturen. So heißt es in einer 2020 verfassten Pressemitteilung der Initiative St. Pauli Code JETZT!: Die Inhaberin des vom Abriss bedrohten Restaurants an der Rindermarkthalle kämpfe »für die Erhaltung des Ortes, der so wichtig für den Stadtteil St. Pauli ist«. Im selben Jahr schrieb die Anwohner-Initiative Schiller-Oper: »Kämpft mit uns weiter für den Erhalt dieses wichtigen Stück [sic] St. Pauli! Was wäre unser Viertel ohne solche prägenden Gebäude?« Die Initiative Sternbrücke schreibt, dass die Neubauplanung der Eisenbahnbrücke das »kulturelle Herz der Schanze« zerstören würde – vorbei wäre es dann mit der »lebendigen, kleinen und historisch gewachsenen Kreuzung im Herzen von Altona Nord«.
Konservieren als Widerstand?
In der Tat: Alle geplanten Neubauten an besagten Orten trügen sicher kaum zur Lebensqualität der Bewohner:innen der betroffenen Stadtviertel bei. Sie dienten vor allem den wenigen Profiteur:innen einer Stadtplanung, die Hamburg seit über 20 Jahren als Marke begreift und Kapitalinteressen allzu gern den Vorzug lässt. Insbesondere den Neubauplänen an Rindermarkthalle und Schilleroper gilt es entschiedenen Widerstand entgegenzusetzen. Nicht zuletzt, weil die an Astroturfing – die Simulation einer Bürger:innenbewegung – grenzenden Kampagnen der Investor:innen, etwa der Schilleroper Objekt GmbH, nur allzu gut zeigen, was es bedeuten könnte, in einer vollends zur Ware gewordenen Stadt zu leben. Wohnraum ist darin nicht mehr primär ein zu befriedigendes Grundbedürfnis, sondern ein für viele unbezahlbares Lifestyleobjekt.
Die Frage ist nur: Ist das Bewahren des Alten die richtige Form des Widerstands? Ist das »historisch Gewachsene« dem rational Geplanten immer vorzuziehen? Warum sollte, um bei diesem Gebäude zu bleiben, das, was von der Schilleroper übriggeblieben ist, nicht abgerissen werden und Neuem – etwa bezahlbarem Wohnraum – weichen? Die Anwohner-Ini verweist auf die »einzigartige Stahlkonstruktion« und damit den historischen Wert des »letzten festen Zirkusbau[s] aus dem 19. Jahrhundert in Deutschland«. Die Schilleroper sei ein »für den Stadtteil prägendes« und »identitätsstiftendes Gebäude«, »ein einmaliges Stück St. Pauli«. Sie sei Teil des »kulturellen Erbes der Stadt« und müsse daher erhalten werden. Etwas anders verhält es sich mit der Kantine an der Rindermarkthalle: In jüngster Zeit richtete sich der Appell des Erhaltens, nachdem die Kantine nun abgerissen wurde, auf die mittlerweile ebenfalls gefällten 21 Bäume auf dem Gelände des projektierten Bürogebäudes. Aber könnte nicht auch hier etwas Neues entstehen, das dem Stadtteil dienlicher ist als alte Flachbauten oder ein Bürogebäude – und für das ein paar gefällte Bäume womöglich kein zu großer Preis wären?
Ist also eine Kritik, die darin aufgeht, nicht abzureißen, und dadurch von der Argumentation des Denkmalvereins nicht mehr zu unterscheiden ist, die richtige Antwort auf die bestehenden Verhältnisse? Und wieso konzentrieren sich linke stadtpolitische Bewegungen derart auf das Erhalten alter Bausubstanz? Eine Antwort lässt sich womöglich finden, wenn die lokalen Hamburger Protestherde verlassen werden und ein Blick in die Geschichte des 20. Jahrhunderts geworfen wird: In den 1970er Jahren rückte die Linke nach und nach ab von modernen Visionen großangelegter Stadtplanung und besetzte dem Verfall preisgegebene innerstädtische Bauten. Instandbesetzen und Bewahren wurden zur widerständigen Praxis. Aus der Rückschau ist dies ein Kipppunkt, der genauere Betrachtung verdient. Er kann womöglich nicht nur den heutigen Hang zum Konservieren erklären, sondern auch, warum die einstigen verkommenen Stadtviertel mittlerweile im Zentrum der Kapitalverwertung stehen.
Könnte hier nicht etwas gänzlich Neues entstehen? Foto: privat
Als die Linke in den Altbau zog
Die 1970er Jahre gelten in den Geschichts- und Sozialwissenschaften mittlerweile aus vielerlei Hinsicht als Kulminationspunkt einer Entwicklung, die nach wie vor prägend für die Gegenwart ist. Sie waren eine Übergangsphase von der klassischen Moderne zur sogenannten Post- oder auch Spätmoderne. Sie zeichnen sich durch ökonomische und kulturelle Transformationen aus, die sich in wenigen skizzenhaften Strichen mit den Schlagwörtern Deindustrialisierung, strauchelnde Wohlfahrtsstaaten und neoliberale Wende sowie ökologische Krise beschreiben lassen. Die Moderne wurde, so hat es der Soziologe Ulrich Beck formuliert, reflexiv: Nicht mehr ungebrochener Fortschritt, sondern Erkenntnis und Bewältigung der negativen Folgen des Modernisierungsprozesses selbst rückten in den Vordergrund. In der Linken zeigte sich bisweilen Skepsis an den einst gehegten revolutionären Hoffnungen und eine Hinwendung zur Innerlichkeit – so manche Mitglieder ehemaliger K‑Gruppen fanden ihren inneren Frieden bald in einer Bhagwan-Kommune.
Aus städtebaulicher Sicht drückt sich dieser Bruch im 20. Jahrhundert auch im Phänomen der Hausbesetzungen aus, die insbesondere ab den 1970er und 1980er Jahren in vielen westeuropäischen Ländern auszumachen sind. Denn während sich der Wohnungsbau auf große Siedlungen am Stadtrand konzentrierte, verfielen Altbauwohnungen in den Innenstädten und sollten oftmals Neubauplänen weichen. Die moderne, geschichtsvergessene Planungseuphorie schuf jenen Raum, innerhalb dessen sich das Bewahren alter Bausubstanz als widerständige Praxis gegen eine Baupolitik nach den Maßgaben von Staat und Kapital formierte.
Diese Baupolitik war auch verkümmertes Produkt jener in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts progressiven Idee, den beengten innerstädtischen Wohnverhältnissen proletarischer Viertel qualitativ hochwertigen und erschwinglichen Wohnraum entgegenzusetzen. Die planerischen Visionen und Utopien der Moderne waren auch eine Antwort auf jene Verwerfungen, die die Industrialisierung und der Siegeszug der neuen Produktionsweise insbesondere in den Städten hinterließen. Die Antwort bestand in der rational entworfenen Stadt, die der noch zu begründenden egalitären Massengesellschaft Raum geben sollte. In den Bauten der Nachkriegsmoderne, für die der Architekturhistoriker Heinrich Klotz den Begriff des »Bauwirtschaftsfunktionalismus« prägte, war davon nicht mehr allzu viel übrig. Zu uniform erschienen die Wohnsilos wie die Großwohnsiedlung im Hamburger Stadtteil Steilshoop oder das Neue Zentrum Kreuzberg in Berlin, die in den 1970er Jahren entstanden. Zudem lagen die meisten dieser Bauten – entgegen den ursprünglichen Intentionen moderner Stadtplanung – an den Stadtgrenzen. Hausbesetzungen waren insofern immer auch mehr als nur pragmatische Politik, um günstigen innerstädtischen Wohnraum zu erhalten. Sie waren ein Labor alternativer Lebensformen, die sich der Normierung und Regulation durch Staat und Kapital widersetzten.
Das Allgemeine und das Besondere
Die ökonomischen und kulturellen Transformationen der 1970er Jahre hat der Soziologe Andreas Reckwitz jüngst als Wendung vom Allgemeinen zum Besonderen beschrieben. Die sich ab dem 18. Jahrhundert formierende klassische Moderne sei geprägt durch eine soziale Logik des Allgemeinen: Formalisierung, Generalisierung und Standardisierung. Die Spätmoderne hingegen folge einer entgegengesetzten Logik des Besonderen: Singularisierung. Diese Analyse ist nicht nur eine weitere Erklärung für jene Prozesse der 1970er Jahre und damit auch für die Praxis des Besetzens und Bewahrens. Sie vermag auch zu zeigen, warum die einst widerständige Praxis heute Gefahr läuft, sich in ihr Gegenteil zu verkehren.
Denn was einst auch als Protest gegen die Logik des Allgemeinen begann, steht heute längst im Zentrum der Verwertung. Um wieder auf den lokalen Protest um die Schilleroper zu kommen: Sowohl die Investor:innen als auch der sich gegen deren Pläne formierende Protest operieren, aller Unterschiede in der Zielsetzung zum Trotz, im selben strategischen Feld. Die Schilleroper Objekt GmbH spricht von der »besondere[n] Bedeutung im Quartier des Stadtteils St. Pauli« und von einem »traditionelle[n] Areal«. Die GmbH imitiert hier nicht nur den Sound der Anwohner:innen-Ini: Vielmehr stehen das Singuläre und Einzigartige des Ortes im Zentrum von dessen Vermarktung und Verkauf. Und auf der anderen Seite unterscheidet sich der vom Architekten Dirk Anders gemeinsam mit der Schilleroper-Ini vorgelegte Alternativentwurf kaum von ähnlichen städtebaulichen Strategien, historische Bausubstanz als dekoratives Element zu bewahren, um dem Neuen ein »historisches Flair« zu verschaffen. Ein flüchtiger Blick in die Exposés von Immobilienfirmen reicht aus: Das »andere Leben«, die »gewachsenen Viertel«, Subkultur und alternative Urbanität sind offenbar gute Argumente, um überteuerte Eigentumswohnungen zu verkaufen.
Auch das Paulihaus – oder besser: das Areal, auf dem es gebaut werden soll – weist in diese Richtung. Bis zum Jahr 2010 beherbergte die heutige Rindermarkthalle noch die Filiale einer großen Supermarktkette. Das Backsteingebäude war weitgehend mit weißem Trapezblech verkleidet. Es hätte in dieser Form auch an jeder anderen Ecke dieser oder in einer beliebigen Stadt stehen können. Es war, wie sein Inhalt, austauschbar. Nach dem Auszug des Supermarktes entstand eine Debatte um die Nutzung der Fläche. Gegen die Abrisspläne der Stadt – es sollte eine Konzerthallte entstehen – entstand so großer Widerstand, dass man sie schließlich verwarf. Das Trapezblech wurde entfernt, das Backsteingebäude saniert, die alten Reliefs wiederhergestellt. Nun war es nicht mehr irgendein beliebiges Gebäude, sondern es hatte Wiedererkennungswert. Die Rindermarkthalle St. Pauli ist nun ›einzigartig‹, mit ›Tradition‹ und ›Geschichte‹. So werden sie und die sich in ihr mittlerweile zu findenden Geschäfte auch vermarktet. Die »ganze Vielfalt St. Paulis auf einem Fleck«, heißt es auf der Webseite. Gemeint sind Einkaufsmöglichkeiten.
Bis 2011 mit Trapezblech verhüllt: die historische Fassade der Rindermarkthalle. Foto: GeorgDerReisende / Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY 4.0
Das Besondere, das Erhalten des historisch Gewachsenen, die Betonung von Identität, sind zu den Koordinaten eines kulturellen Systems geworden, das nicht mehr das Andere kapitalistischer Verwertung sucht, sondern mittlerweile in ihrem Zentrum steht. Jene Räume, in denen auch eine widerständige, sich nicht fügen wollende Subkultur entstand, verlieren nach und nach jegliches Moment von Nichtidentität und werden sowohl zur Bühne als auch zum konsumierbaren Beifang des Erwerbs von Eigentumswohnungen – oder handgemachter Backwaren. Und nun? Zurück zu Trapezblech und Beton?
Womöglich wäre es ein Weg, einen Teil der nichteingelösten Versprechen der Moderne, auch in Stadtplanung und Architektur, freizulegen und sie auf den Trümmern abgerissener Stahlkonstruktionen und Flachbauten entstehen zu lassen. -Fortsetzung folgt-
Johannes Radczinski, Januar 2022
Der Autor plädierte auf Untiefen bereits für den Abriss (oder zumindest die Umgestaltung) des Bismarckdenkmals und dafür, das Heiligengeistfeld ganzjährig als Freifläche den Bewohner:innen dieser Stadt zur Verfügung zu stellen.
In der HafenCity entsteht momentan das dritthöchste Gebäude Deutschlands. An dem Prestigeprojekt »Elbtower« offenbart sich die enge Verflechtung von Wirtschaft und Politik in Hamburg – und die besondere Rolle, die der ehemalige Bürgermeister Olaf Scholz dabei spielt.
Auf der Baustelle direkt neben der S‑Bahn-Haltestelle Elbbrücken ist schon Betrieb. (Foto: privat).
Hamburg wäre nicht Hamburg, wenn nicht alle paar Jahre irgendein neues, großartiges Bauprojekt um die Ecke gebogen käme. Aber wo so viel Licht ist, wie bei den Lobpreisungen des Elbtowers, gibt es auch Schatten. Die stadtpolitische Durchsetzung solcher Projekte erweckt den Eindruck, als wäre der alte Hamburger Filznoch immer in bester Verfassung.
Der Elbtower sieht, den Stararchitekt:innen von David Chipperfield zum Dank, so aus, als hätte ein Märchenriese seinen zu großen Stiefel in Hamburg stehen gelassen. Im Schatten dieser »Ouvertüre« derHafenCity stehen Aktiengesellschaften, ihre Stiftungen, der heutige Finanzminister Olaf Scholz und – nicht zu vergessen – die Bewohner:innen von Rothenburgsort.
Prestigeprojekt durchgewunken
Diesmal scheint alles perfekt zu sein. Hamburg hat Europas größtes Bauprojekt angeleiert. Top Lage in der Hafencity, direkt an der neuen S‑Bahn-Station Elbbrücken, und das Megaprojekt soll sogar nachhaltig sein – was auch immer das bei einem Projekt dieser Größenordnung heißen mag: Platinstandard des HafenCity-Umweltzeichens.1Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Jörg Hamann (CDU) vom 07.09.18 und Antwort des Senats. Drucksache 21/14277, 14.09.2018. [online]. Das dritthöchste Gebäude Deutschlands kann »endlich« gebaut werden.
Die Auslobung des Elbtowers fand Mitte 2017 statt. Anfang 2021 ist der Bebauungsplan schließlich durchgewunken worden. Der Tower wird 245 Meter hoch und damit noch zwölf Meter höher als ursprünglich geplant. Oder wie die geneigten User:innen von ScyscraperCity-Foren es sagen: »[D]a kann man Hamburg nur neidvoll gratulieren! 😊«.
Im Gegensatz zur Fangemeinde phallusartiger Denkmäler und Weltwunder des Kapitalismus werden die Rothenburgsorter:innen im wortwörtlichen Schatten des Elbtowersleben. Die Anzahl der Einwände und Beschwerden, die bei der Kommission für Stadtentwicklung vorgebracht wurden, fiel mit überschaubaren 26 dabei ziemlich niedrig aus. Rothenburgsort weist einen hohen Anteil von Migrant:innen, Sozialhilfeempfänger:innen und Alleinerziehenden auf. Dass die Kritik am Elbtower so schmal ausfällt, könnte damit zusammenhängen, dass die subalternen Klassen in Hamburg nicht gehört werden.
Wackelige Finanzierung
Den Zuschlag für den Bau des Gebäudes bekam die Signa Prime Selection AG. So wurden weder die Bestbietenden ausgewählt, noch bekam ein Gebäudeentwurf den Zuschlag, der voll auf Klimaneutralität setzte. Die Aktiengesellschafterhielt vielmehr den Zuschlag, weil sie der verlässlichste Geschäftspartner sei. Das sagt zumindest René Benko, der österreichische Gründer von Signa Prime. Und auch Olaf Scholz begründete die Vergabe seinerzeit damit, dass die Signa sehr finanzstark sei und ein A+ Rating innehat.
Es geht schließlich um (nach aktueller Planung) 700 Millionen Euro für den Bau. Die Signa möchte den Turm komplett aus eigener Tasche finanzieren – mit Büromieten um die 28 Euro pro Quadratmeter. Mindestens fünf Jahre soll das Unternehmen für die Instandhaltung des Gebäudes aufkommen. Für die Stadt Hamburg gebe es »kein Risiko«, behauptet Jürgen Bruns-Berentelg, Vorsitzender der Geschäftsführung der stadteigenen HafenCity Hamburg GmbH.2Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Protokoll/Wortprotokoll der öffentlichen/nichtöffentlichen Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses, 22. Oktober 2018, S. 15 [online]. Das ist allerdings gar nicht so einfach nachzuvollziehen. Denn große Teile des Kaufvertrags sind, wie Heike Sudman von der Linksfraktion festgestellt hat, geschwärzt und somit für die Bürger:Innen Hamburgs nicht einsehbar. Was passiert, wenn dem Unternehmen das Geld ausgeht, wird noch diskutiert. Allerdings wäre es aus Sicht der Stadt wohl unsinnig, das Projekt nicht fortzuführen, wenn etwa ein 120 Meter hoher, nicht fertiggestellter Turm dasteht. Ganz abwegig ist es nicht, dass es zu finanziellen Problemen kommen wird. Das Mutterunternehmen Signa Holding ist auch Eigentümerin von Karstadt – und die gehen bekanntlich gerade insolvent. Des Weiteren macht das Unternehmen es fast unmöglich, einzusehen, woher es welche Gelder für welche Projekte bezieht.
Noch der Anblick dieser Baustellen-Ödnis ist erfreulicher als der vom Investor angepriesene bzw. angedrohte »neue Blick […] auf die Belange der Welt«, den der Elbtower eröffnen werde. (Foto: privat)
Hamburger Filz
Bei der Vergabe des Bauprojekts hatten alle Bürgermeister der letzten Jahre einen Auftritt. Christoph Ahlhaus, der in seiner kurzen Amtszeit kein Großprojekt durchsetzen konnte, hatte sich mit seinem eigenen Immobilienunternehmen beworben. Zu mehr hat es dann aber auch nicht gereicht. Ole von Beust – hauptverantwortlich für den Bau der Elbphilharmonie – hat inzwischen ein Beratungsunternehmen, welches einen Beraterauftrag von der Signa innehat. Von Beust trat, selbstbekennend, als Lobbyist für die Signa im Zuge des Elbtower-Projekts auf.
Unter den Beratern der Signa finden sich neben Ole von Beust dann auch (alte) Genossen von Olaf Scholz: Alfred Gusenbauer (SPÖ) war von 2008 bis 2009 österreichischer Bundeskanzler und tut sich seit seinem Rücktritt als umtriebiger Lobbyist hervor, etwa für den kasachischen Diktator Nursultan Nasarbajew. Zu Scholz steht er in guten Beziehungen. Das schreibt Olaf Scholz zumindest in seinem Buch Hoffnungsland.
Gusenbauer (Team Benko) und Scholz (Team Hamburg) waren im gleichen Zeitraum in der International Union of Socialist Youth (IUSY) aktiv, einem internationalen Zusammenschluss verschiedener sozialdemokratischer und sozialistischer Jugendorganisationen, dem auch die Jusos und die Falken angehören. Gusenbauer war bis 1989 einige Jahre Vizepräsident der IUSY, genau wie Scholz. Von seinem Netzwerk aus dieser Zeit profitiert Scholz heute noch, worüber er jedoch ungern redet.
Wirtschaft und Politik
Die Verflechtungen von Politik und Unternehmen werden besonders an politischen Stiftungen deutlich. Sie dienen der Machtakkumulation auf beiden Seiten: Die Stiftungsunternehmen erhalten eine starke Interessensvertretung. Den Mitgliedern der Stiftungen, die in der Politik aktiv sein können, winken dagegen gut bezahlte Aufsichtsratsposten und Rückendeckung bei Entscheidungen von den Stiftungsunternehmen.3vgl. Marc Eulerich/Martin K. Welge, Die Einflussnahme von Stiftungen auf die unternehmerische Tätigkeit deutscher Großunternehmen, Düsseldorf 2011, S.73ff. [online].
So ist auch Olaf Scholz seit 2018 geborenes Mitglied des Kuratoriums der RAG-Stiftung. Sie ist Teilhaberin am KaDeWe, einem Tochterunternehmen der Signa Holding. Weitere fünf Prozent hält die Stiftung seit 2017 an der weiteren Tochter Signa Prime, die den Elbtower baut. Die Anteile an den Unternehmen, haben der RAG-Stiftung dieses Jahr bereits einen kleinen »Geldregen« beschert, was noch einmal aufzeigt, dass die RAGdavon profitiert, wenn es der Signa gut geht. Und Prestigeobjekte wie der Elbtower sind meistens gut für das Geschäft.
Wenn die RAG-Stiftung durch ihre Beteiligungen an Unternehmen wie der Signa Prime also Dividenden einkassiert, im Fall der Signa in Höhe von vier Prozent, ist das nicht nur für die Stiftung und die Stiftungsunternehmen gut. Vielmehr kann die RAG mithilfe dieses Geldes ihre Marktmacht steigern, sich an mehr Unternehmen beteiligen und mehr Unternehmen als Stiftungsunternehmen aufnehmen. By the way: Armin Laschet, Peter Altmaier, Norbert Lammert und Heiko Maas sind ebenso Mitglieder des RAG-Kuratoriums.
Das bedeutet für die Stiftungsmitglieder im Kuratorium ein wachsendes Netzwerk von Unternehmen, mit denen sie zusammenarbeiten können. Die RAG und die in ihr organisierten Unternehmenerhöhen so ihre Einflussmöglichkeiten auf die Politik. Die Stiftung sieht ihren Aufgabenbereich hauptsächlich im Bereich des Steinkohlebergbaus in NRW – dahin fließt also ein Teil des Gewinns aus den Dividenden der fünf Prozent Anteile an der Signa, die einen klimafreundlichen Turm in Hamburg bauen möchte: in den Kohlebergbau.
Chefsache
Der Tower wird nicht nur Höhepunkt der Hafencity, sondern gleich das mit Abstand höchste Gebäude der Stadt. Dementsprechend motiviert und emotional soll Scholz schon bei der Präsentation des Gebäudes gewesen sein. »Hervorragend«, »elegant«, »raffiniert«, waren die Begriffe, die Scholz zur Beschreibung des Projekts wählte. Als Scholz noch in Hamburg weilte, nahm er sich des Projekts daher auch persönlich an; machte es zur »Chefsache«, wie die lokale Presse schrieb, und verdonnerte den Oberbaudirektor und die Stadtentwicklungssenatorin auf die billigen Plätze.
Parteigenossen von Scholz haben der MoPo zufolge gefrotzelt: »Kleiner Mann, großer Turm.« Aber lassen wir uns vom Napoleon-Komplex nicht beirren. Es war nicht Olaf Scholz’ Körpergröße, die zu der zwielichtigen Vergabe des Bauauftrags führte. Aber mit dem Baubeginn 2021 wird Scholz ein Denkmal gesetzt. Das offenbart eher einen »Cheops-Komplex«, der sich an die ägyptischen Pyramiden zum Zweck der Machtdemonstration anlehnt. Immerhin wird die Elbphilharmonie dann nicht mehr der unangefochtene Höhepunkt der Stadt sein.
Scholz setzte das Projekt mit viel Krafteinsatz durch und tat dies »mit einem guten Gewissen«, denn, so seine bestechende Argumentation, das Ergebnis werde sehr gut sein. Falls das Ergebnis nicht »sehr gut« wird, sollten wir ihn besser an sein Engagement erinnern. Immerhin ist seit seinem Einsatz für die Warburg Bank in Hamburg hinlänglich bekannt, dass der Herr Finanzminister Probleme mit der Erinnerung hat, wenn es um größere Geldsummen geht.
Joe Chip
Der Autor hat zwölf Jahre im Hafen gearbeitet, der Arbeit den Rücken gekehrt und Soziologie studiert. Als Gewerkschafter bleibt er mit den besitzenden Klassen in Verbindung. Seine Erfahrungen verarbeitet er in Kurzgeschichten und Polemik.
1
Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Jörg Hamann (CDU) vom 07.09.18 und Antwort des Senats. Drucksache 21/14277, 14.09.2018. [online].
2
Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Protokoll/Wortprotokoll der öffentlichen/nichtöffentlichen Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses, 22. Oktober 2018, S. 15 [online].
3
vgl. Marc Eulerich/Martin K. Welge, Die Einflussnahme von Stiftungen auf die unternehmerische Tätigkeit deutscher Großunternehmen, Düsseldorf 2011, S.73ff. [online].
Die deutsche Phase direkter Kolonialherrschaft war im europäischen Vergleich kurz, dafür nicht minder gewalttätig. Ihre Spuren hat sie insbesondere in Hamburg, einem zentralen Ort des deutschen Kolonialismus, hinterlassen – sie sind bis heute sichtbar. Diese Fotoreihe führt ins Zentrum der Stadt. Erstaunlich ist vor allem der Kontrast zwischen den bisweilen an den Gebäuden angebrachten »Blauen Tafeln« des Denkmalschutzamtes und der hier erzählten Geschichte.
In Hamburg steht seit 1906 das weltweit größte Bismarck-Denkmal. Dass es von der Stadt nun teuer saniert wurde, hat eine Debatte um die Umgestaltung des Denkmals und Hamburgs Umgang mit seiner Kolonialgeschichte ausgelöst.
Ein erster Vorschlag zur Umgestaltung: Tafel vor der Baustelle des Bismarckdenkmals. Foto: privat (Januar 2021).
Das Bismarck-Denkmal im Hamburger Elbpark ist in Schieflage geraten. Zunächst einmal ganz materiell: Erbaut zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter anderem von Hamburger Kolonialkaufleuten unter Beifall völkischer Verbände, wurden die Gewölbe unterhalb des Denkmals im Zweiten Weltkrieg mit mehreren tausend Tonnen Beton verstärkt und zu einem Luftschutzbunker umfunktioniert. Der Beton war für die Statik zu viel. Risse entstanden, Wasser drang ein, die Statue neigte sich und galt bisweilen als einsturzgefährdet. Der Zugang zum Bunker, den allerlei nationalsozialistische Wandmalerei ziert, etwa ein Sonnenrad mit Hakenkreuz und ein markiger Spruch über die »germanische Rasse«, wurde in den fünziger Jahren für die Öffentlichkeit gesperrt. In den sechziger Jahren erfolgte der Denkmalschutz und bewahrte die Statue vor einem angedachten Abriss. In den folgenden Jahren blickte das weltweit größte Denkmal seiner Art – mal mehr, mal weniger beachtet von alten und neuen Nazis; mal mehr, mal weniger kritisiert – gen Westen über den Hamburger Hafen. Zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts kam erneut Bewegung in die Sache: Unter anderem Johannes Kahrs, Burschenschafter und ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordneter, setzte sich für eine Sanierung der Statue ein. Seit 2020 wird das Denkmal für fast neun Millionen Euro saniert. Zunächst wurde die Bismarckstatue rund zwei Monate lang vom Schmutz und Dreck, der sich in den letzten Jahrzehnten abgelagert hatte, gereinigt. Nach der nun erfolgenden baulichen Instandsetzung soll unter anderem der Bunker unter dem Denkmal wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und »über die Geschichte und Bedeutung des Denkmals informiert« werden, so ein Aushang an der Baustelle.
Bis hierhin liest sich dies geradezu als Allegorie deutscher Geschichte und des deutschen Umgangs mit selbiger. Das Ansehen Bismarcks und des Kaiserreichs hat Risse bekommen, da war mal was mit Nazis; in der frühen Bundesrepublik folgte dann notdürftiges Abdichten, Verdrängen und Verschließen, später ein wenig Kritik und schließlich: Öffnen, Ausstellen, Auseinandersetzen. Aber letzteres auch nur mit den NS-Hinterlassenschaften im Keller, während oben darüber das Kaiserreich gekärchert wird: Kultursponsoring im »Niederdruck-Partikelstrahlverfahren« made in Germany – und bereits erprobt am Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Porta Westfalica. Reinigungsrituale, die sich einreihen lassen in den neuerlichen Hype um die ›heile Welt‹ des Wilhelminismus, den damit verbundenen Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses und das im Jahr 2021 begangene 150jährige Jubiläum des Kaiserreichs.
Bismarck und die koloniale Amnesie der Deutschen – noch mehr Verdrängtes kehrt wieder
Nun ist das Bismarck-Denkmal nicht nur materiell in Schieflage geraten: Im Zuge der von den USA ausgehenden, sich weltweit formierenden Black-Lives-Matter-Protesten im Jahr 2020 und den mit ihnen einhergehenden Denkmalstürzen – prominentester Fall: die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston im Bristoler Hafenbecken – gerieten auch der Hamburger Bismarck und seine Sanierung in den Blick der Bewegung. Initiativen wie Decolonize Bismarck riefen im Sommer 2020 zu einer Demonstration zu Füßen des Eisernen Kanzlers auf. Die postkoloniale Kritik am Denkmal, seiner Sanierung und weit über dieses hinaus zielt unter anderem auf die koloniale Amnesie in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die weißen Narrative in Schulbüchern, die Nichtbeteiligung von BIPoCs an der Debatte und im konkreten Bezug auf Bismarck: seine Verstrickung in den europäischen Kolonialismus. Nicht zuletzt war Bismarck treibende Kraft der sogenannten Kongo-Konferenz 1884/1885 und damit der Aufteilung des afrikanischen Kontinents unter europäischen Kolonialmächten. Neben den lange Zeit im Kellergewölbe verschlossenen Hinterlassenschaften nationalsozialistischer Herrschaft wurden auch die kolonialen Verstrickungen Deutschlands in die Tiefen des kollektiven Unbewussten verdrängt. Sie sollen nun aufgearbeitet werden.
Decolonize Hamburg! Graffito an der Bismarck-Baustelle Foto: privat (Januar 2021)
Diese Kritik und die damit einhergehenden Forderungen, die indes schon in der Debatte um das Berliner Stadtschloss und anderswo zu hören waren, sind mit Nachdruck zu unterstreichen und zu unterstützen. Und es ist das Verdienst dieser Kritik, dass die aberwitzig teure Sanierung des Denkmals überhaupt dermaßen in Verruf geraten ist. Fraglich ist nur der bisweilen in den Forderungen anmutende Anspruch auf Alleinvertretung einer postkolonialen Perspektive. Das Bismarck-Denkmal, so ist es einem Arbeitspapier der Initiative Decolonize Bismarck zu entnehmen, sei »auch ein Kolonialdenkmal« und entsprechend sollten an der Debatte um Neu- oder Umgestaltung des Denkmals die »Nachkommen der Kolonisierten, die diasporischen BIPoC-Communities ebenso maßgeblich beteiligt werden wie die Opferverbände aus den ehemaligen Kolonien und die zivilgesellschaftlichen Initiativen«. Jenes auch im zitierten Papier scheint im Hinblick auf die angeführte Begründung bald hinfällig: Das Denkmal erinnere nicht an Bismarck als Reichsgründer, sondern sei »als Dank der hiesigen Kaufmannselite für die Gründung von Kolonien« zu verstehen, es sei damals nicht um Patriotismus, sondern um Wirtschaftsförderung gegangen. »Erst mit einer solchen globalhistorisch verorteten Analyse lässt sich die Bedeutung des Monuments verstehen, debattieren und ein weiterer angemessener Umgang mit ihm begründen.«
Nicht in Stein gemeißelt, oder: Für eine emanzipatorische Geschichtspolitik
Worin liegt das Problem? Es ist zunächst einmal diese in einer ansonsten dekonstruktivistisch informierten Perspektive aufscheinende Eigentlichkeit. So als hätte ein Denkmal eine ihm eigentümliche, in Stein gemeißelte Bedeutung. Könnte ein Denkmal, und das hier betrachtete im Besonderen, nicht vielmehr als ein gleitender Signifikant begriffen werden, dessen Bedeutung immer prekär und instabil ist? Würde dies nicht erklären, warum es einerseits so attraktiv für alte und neue Nazis war und ist und warum andererseits der Umgang mit der Statue bisweilen von derartiger Unbekümmertheit gekennzeichnet ist? Bismarck und das ihm zu Ehre gebaute Denkmal waren eben immer auch Projektionsflächen für verschiedenste reaktionäre und nationalistische Sehnsüchte. Diese Rezeptionsgeschichte ist nicht ohne Weiteres vom Denkmal zu trennen und sollte auch Gegenstand der Kritik bilden. Denn mit dem Hinweis auf die ›eigentliche Bedeutung‹ des Denkmals verschiebt sich zudem die Diskussion hin zu der Frage nach dessen vermeintlich fixierbarem Signifikat und damit zur trügerischen Faktizität historischer Debatten, in denen tatsächlich aber normative Geschichtsbilder verhandelt werden. War Bismarck nun ein Rassist oder hält »die Identifizierung des Kolonialpolitikers Bismarck als Rassist einer genaueren Prüfung nicht stand«? Letzteres schreibt der Historiker und Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung Ulrich Lappenküper für die Konrad Adenauer Stiftung und fügt hinzu, dass es bei den Denkmälern auch weniger um den Kolonialpolitiker gehe, »denn um den Reichskanzler, der Deutschland Einheit und Freiheit gebracht hatte«.
Die Engführung des Denkmals auf die historische Figur Bismarck und seine Rolle als Kolonialpolitiker eröffnet erst den Raum für Kritik von konservativer sowie rechter Seite und ermöglicht die Bewertung Bismarcks als »ambivalente historische Figur«, wie Lappenküper schreibt, der im selben Atemzug vor Cancel Culture warnt – schließlich müsse der Reichskanzler auch aus seiner Zeit heraus bewertet werden. Nun ist es vor dem Hintergrund von einer Kanzlerkultur der sogenannten Sozialistengesetze und der Verfolgung von Sozialist:innen und Kommunist:innen verwunderlich, gerade mit Bismarck gegen eine vermeintliche Cancel Culture zu argumentieren. Verwiesen werden müsste auch auf die antipolnische Politik Bismarcks: etwa die ab 1885 in die Wege geleitete Ausweisung von über 30.000 Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, was zumeist Polen und Juden betraf; oder die 1886 erfolgte Begründung der sogenannten Ansiedlungskommission, die bisweilen als erste ethnisch motivierte bevölkerungspolitische Maßnahme innerhalb Europas gilt. Indes werden diese nach Osten gerichteten Politiken in jüngerer Zeit auch als Ausdruck eines kontinentalen, mit dem überseeischen verwobenen Kolonialismus verstanden. Von all dem will indes die Hamburger AfD nichts wissen und setzt sich mit einem pathetischen Video dafür ein, ein Bild Bismarcks als »Kanzler der Einheit« zu installieren.
Für ein Verständnis von Geschichtspolitik als normatives Narrativ
Aber geht es nun um Bismarck als historischen Akteur und darum, wie er denn nun eigentlich war und warum er handelte, wie er handelte? Und geht es darum, zu fragen, wer das Denkmal eigentlich aufstellte und wofür? Ginge es nicht vielmehr darum, sich zur Normativität geschichtspolitischer Debatten zu bekennen und diese aktiv zu gestalten? Darunter kann verstanden werden, nicht zu versuchen, die ›eigentliche‹ Rolle Bismarcks zu fixieren, ihn nicht ›aus seiner Zeit heraus‹ verstehen zu wollen, aber eben auch nicht die vermeintlich eigentliche Bedeutung des Denkmals in den Vordergrund zu rücken.
Es geht um die Installation eines Narrativs, eines notwendigerweise normativen, idealiter emanzipatorischen und auf Gegenwart wie Zukunft gerichteten Geschichtsbildes. Einerseits müsste genau darin die koloniale Amnesie der Deutschen und das Verdrängen kolonialer Gräueltaten sichtbar werden – dem stimmt allerdings auch Lappenküper zu (der blinde Fleck »in der deutschen Erinnerungskultur [muss] beseitigt werden«, bekennt er). Andererseits ginge es wohl auch darum, Sand in das Getriebe der deutschen Wiedergutmachungsmaschine zu streuen und etwa die Rezeption des Denkmals zwischen Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik zu kritisieren. Das (neue) Bismarck-Denkmal sollte keine Wohlfühloase deutscher Aufarbeitungsweltmeister:innen werden, sondern zu dem werden, was es immer schon war: ein Ort der Schlechtigkeit. Gerade als solcher kann aber das Denkmal in seiner Negation für vieles stehen, was emanzipatorische Politik verspricht. Ob das Denkmal dann am Ende abgerissen wird und etwas anderes an seiner Stelle entsteht, oder ob es in einer anderen Form gebrochen wird, ist dabei zunächst zweitrangig.
Johannes Radczinski, Mai 2021
Der Autor studiert Kulturwissenschaften in Lüneburg, lebt aber in Hamburg. Dort radelt er fast täglich am Bismarck-Denkmal vorbei und hofft (nicht nur deshalb!) auf dessen baldige Umgestaltung.
Die Elbphilharmonie ist nicht nur schnell zum Symbol für Hamburg geworden, zum Tourismusmagneten und zur Vorlage für Heimatkitsch. Sie ist auch der vorläufig krönende Abschluss einer Stadtentwicklung nach polit-ökonomischen Erfordernissen. Eine Entwicklung, in der die Herrschaft des Menschen über die Natur eine wesentliche Rolle spielt.
Anlässlich der Eröffnung der Elbphilharmonie Anfang 2017 stellte der belgische Künstler Peter Buggenhout eine 15 Meter hohe Skulptur mit dem Titel Babel Variationen in den Hamburger Deichtorhallen aus. Dieser Beitrag zur Ausstellung Elbphilharmonie Revisited, bestand aus großen Polyester- und Stahlteilen, die anmuteten, als habe der Künstler Sperrmüll gewagt in die Höhe gestapelt: ein fragiler Riese, der den Eindruck erweckte, jederzeit in sich zusammenzubrechen. Die raumgreifende Skulptur kontrastierte die glitzernde Ästhetik des soeben fertiggestellten, massiven Konzerthauses an der Elbe. Mit dem Titel Babel Variationen spielt Buggenhout auf die alttestamentarische Erzählung vom Turmbau zu Babel (Gen 11,1–9) an und bezieht sie auf die Hamburger Elbphilharmonie.
Romantisch verklärt statt bestraft
Im 21. Jahrhundert scheint die Erzählung vom Turmbau zu Babel obsolet: Die Kirchen in Deutschland sind wie leergefegt und Gottesfurcht taugt nicht mehr als Mittel der Politik. Auch für den Namensgeber des derzeit höchsten Gebäudes der Erde und gleichzeitige Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate, Scheich Chalifa bin Zayid Al Nahyan blieb eine göttliche Strafe bisher aus. Dem menschlichen Sprachwirrwar kann heute bequem per Handyapp begegnet werden. Weshalb also ein Konzerthaus am Fuße der Elbe zu einem neuen Turmbau zu Babel erklären?
In der Selbstbeschreibung der Elbphilharmonie heißt es wenig bescheiden, dass »dem traditionellen Backsteinsockel neues Leben« eingehaucht und dass »das Konzerthaus als funkelnde Krone oben drauf« gesetzt worden sei. Ein Affront, nicht gegen Gott, so doch aber gegen eine dem Menschen wie übermächtig gegenüberstehende Natur. In der architektonischen Entwicklung der Handels- und Hafenstadt spiegelt sich vielmehr das Verhältnis der Menschen zur Natur wider. Dass es sich dabei um ein durchweg polit-ökonomisches Herrschaftsverhältnis handelt, kann Epoche für Epoche nachgezeichnet werden:
In der Elbphilharmonie wird diese Entwicklung gewissermaßen an mehreren Jahresringen sichtbar. Der untere Teil des Konzerthauses besteht aus der backsteinernen Außenmauer des 1875 errichteten Kaispeicher A, der seinerzeit auch Kaiserspeicher genannt wurde. Mit Hilfe von Kränen konnten die Waren im damaligen Haupthafen Hamburgs direkt vom Schiff in das Speichergebäude gehievt werden. Das neugotische Speichergebäude wurde im 2. Weltkrieg zerstört und in den sechziger Jahren in schlichter Form wieder aufgebaut. Mit der globalen Umstellung des Seehandels von Stückgut auf den Containerfrachtverkehr fand der Schiffshandel zunehmend im rasant wachsenden Containerhafen statt, der der Stadt südwestlich vorgelagert wurde. In der Folge wurde der Lagerbetrieb im Kaispeicher in den neunziger Jahren vollständig eingestellt. Der trapezförmige Grundriss des ersten Kaispeichers blieb erhalten und die schlichte Kaimauer bildet den Sockel des von den Hamburger:innen mittlerweile Elphi genannten Baus. Im Ensemble mit der angrenzenden denkmalgeschützten Speicherstadt ist das Große Grasbrook genannte Gebiet, auf dem nun Elbphilharmonie und Hafencity stehen, eine romantisierende Reminiszenz an die Geschichte der Hansestadt Hamburg, die sich seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Tor zur Welt beschreibt und deren expansiver Seehandel eine große, reiche Oberschicht entstehen ließ.
Der Kampf gegen die erste Natur
Die Entwicklung Hamburgs zur Metropole der Seeschifffahrt war keineswegs vorgezeichnet, betrachtet man die geographische Lage und die natürlichen Ausgangsbedingungen der Region Hamburg: Die Stadt lag, salopp gesagt, im Matsch tief im Binnenland zwischen Nord- und Ostsee. Die Stadtgeschichte ist geprägt von dieser und weiteren für Landwirtschaft und Handel ungünstigen Umweltbedingungen, die bis heute massive Eingriffe durch den Menschen nach sich ziehen.
Die Elbregion bestand ursprünglich aus fruchtbaren, aber dauerhaft nassen Böden, die für eine Bewirtschaftung nicht geeignet waren. Die vorneuzeitlichen Siedler:innen der Elblandschaft mussten sich gegen die Kräfte der Natur wehren: Im flachen, sandigen Flussbett der vielfach verzweigten Elbe, mit ihren Zuflüssen Alster und Bille, kämpften sie gegen hohe Grundwasserspiegel, täglich wechselnde Pegelstände und drohende Sturmfluten. Sie wirkten auf die Natur ein, blieben ihr aber lange Zeit weitestgehend ausgeliefert. Um die Region sicherer besiedeln und bewirtschaften zu können, entwickelten sie technische Hilfsmittel, zur Steuerung der Wassermassen: Im 12. Jahrhundert installierten Siedler:innen eine Unzahl von Entwässerungsgräben und ‑mühlen, legten künstliche Erdhügel an, auf denen sie ihre Höfe errichteten, und bauten Deiche, die sie vor den Fluten schützen sollten. Die heutigen Kanäle, ja sogar die Elbinseln und Flüsse wurden in Folge der massiven Umgestaltung durch den Menschen geschaffen – sie sind das Resultat jahrhundertelanger Umstrukturierungen. Zahllose Bauten wurden als Wehre zum Schutz vor dem Wasser der Elbe errichtet, und zwar solcherart, dass sich zugleich ein ökonomischer Nutzen aus der Nähe zum Wasser ziehen ließ. Damit wurde der Grundstein für das Wachstum der Hamburger Wirtschaft gelegt.
Wo ein Wille, da ein Wasserweg
Die Entwicklung Hamburgs zur Welthandelsstadt ist das Ergebnis eines Willensaktes basierend auf einer ökonomischen Entscheidung. Die Wasserstraße Elbe führt zwar in die Nordsee, dies jedoch erst nach vielen Flusskilometern. Gleichzeitig liegt Hamburg in räumlicher Nähe zur Ostsee. Nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Binnenlage konnte die Stadt im 13. Jahrhundert zum entscheidenden Bindeglied zwischen Nord- und Ostsee aufsteigen, indem die Elbe in Richtung Nordsee stetig ausgebaut und in Richtung Ostsee eine sichere Straßenverbindung geschaffen wurde. Die Hanse sicherte sich hierzu Wegerechte und das Recht, Handelsschiffe und Waren auf direktem Weg und zollfrei bis nach Hamburg zu transportieren – auch durch die Anwendung von Waffengewalt und rechtswidrigen Mitteln.
In dem Wirkgefüge zwischen Ackerbau, Handel und Militär wurde Natur als warenförmige Ressource bestmöglich genutzt und als Wirtschaftsgrundlage optimiert: Dies bezeugen z.B. die Veröffentlichungen des Hamburger Wasserbaudirektors Reinhart Woltman aus dem Jahr 1802. Er schreibt darin: »Insofern schiffbare Kanäle Kunstwerke hydraulischer Architektur sind, müssen ihre Dimensionen, und die Größen ihrer verschiedenen Theile, in gewisser Proportion zueinander stehen, bei welcher diese Kanäle die größte Zweckmäßigkeit, Dauerhaftigkeit und Nutzen erreichen.«1Woltmann, Reinhard (1802): Beyträge zur Baukunst schiffbarer Kanäle. Mit 6 Kupfertafeln. Göttingen, S.165 [online]
Der Kanal gerät in der Vorstellung Woltmans zu einem Leistungsträger, dessen messbare Parameter es im ökonomischen Sinne bestmöglich zu nutzen gilt. Die Doppeldeutigkeit des Begriffs ‘Kunstwerke’ ist bezeichnend: Es weist nicht nur auf die Künstlichkeit der Kanäle hin, sondern unterstreicht gleichzeitig die kreative und schöpferische Tätigkeit des Wasserbauers. Der Begriff ist Ausdruck eines Bestrebens, die Kräfte der Natur erkennen und beherrschen zu wollen. So wie die technokratische Umformung der Natur die Handelsstadt florieren ließ, so formte der vermehrte Handel die Architektur. Im weitläufigen Hafenbereich wurde die Nähe zum Wasser bewusst gesucht: Bauwerke für Handel und Gewerbe waren eng verzahnt mit einem dicht verästelten Kanalsystem. Den Anforderungen angepasst, wurden sie z.B. durch Pfahlgründungen, damit Mauern direkt im Wasser errichtet werden konnten. Andere Bauwerke wiederum sind eigens zur Beherrschung der Naturkräfte entstanden, etwa Schleusen und Hochwasser-Schutzanlagen.
Der Kampf gegen die innere Natur
Auch heute noch meint man sich in Hamburg der Natur erwehren zu müssen: gegen die äußere, den Menschen bedrohende, ebenso wie gegen die innere. Beide gehören jedoch zusammen und haben ihre Einheit im Menschen. Was sich an der inneren nicht beherrschen lässt, wird auf die äußere projiziert und mit den Mitteln der instrumentellen Vernunft und dem fortschreitendem technischen Entwicklungsstand immer effizienter den polit-ökonomischen Prämissen unterworfen. Die teilweise Autonomie des Menschen von der äußeren Natur führte bisher nicht zu einer Neugestaltung des Verhältnisses, sondern zu einer Fortschreibung unter ideologischen Vorzeichen.2Hierzu ausführlich, siehe: Dirk Lehmann, Die Verdinglichung der Natur. Über das Verhältnis von Vernunft und die Unmöglichkeit der Naturbeherrschung, in: Phase 2, 33 (Herbst 2009), online: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/die-verdinglichung-der-natur-255/?druck=1
Weil die Hafenstadt wachsen muss, so die Ideologie, müssen sich die Hamburger:innen gegen die Wassermassen stellen. Die Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert wurde der zufolge im frühen 17. Jahrhundert erweitert und durch eine massive sternförmige Festungsanlage ersetzt, durch die der Personen- wie Warenverkehr kontrolliert werden konnte. Der Hafen wurde mehrfach ausgebaut und dann in Richtung Containerterminal verlagert. Das Flussbett der Elbe wird seit dem 19. Jahrhundert fortwährend vertieft. All das musste geschehen, um den immer größer werdenden Schiffen gerecht zu werden – um wettbewerbsfähig zu bleiben. Nach dem großen Elbhochwasser von 1962 wurden die Deiche wiederholt erhöht. Mit diesen Deicherhöhungen »konnte eine hohe Sicherheit zum Schutz der Bevölkerung und der Sachwerte erreicht werden« schreibt der Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG) im Rahmen seiner Neuermittlung von 2012 des »Sturmflutbemessungswasserstandes«. Bevölkerung und Sachwerte fallen in dieser Beschreibung in eins – sind gleichermaßen Ressource. Der LSBG prognostiziert:
»Aufgrund des Klimawandels ist jedoch ein weiteres Ansteigen der Wasserstände absehbar. Daher müssen die Anstrengungen für den Küstenschutz weiter fortgesetzt werden, um drohenden Gefahren zu begegnen.«
Der Klimawandel wird als Grund benannt, dafür, dass Deiche erhöht, die Elbe vertieft und die Dove-Elbe als Ausweichfläche für den Tidenhub erschlossen werden müssen. In einer Studie der Internationalen Bauausstellung von 2009 mit dem bezeichnenden Titel Klimafolgenmanagement hingegen, wird kein Hehl daraus gemacht, dass die Ursachen nebst (menschengemachtem) Klimawandel in lokalen polit-ökonomischen Entscheidungen zu verorten sind:
Es sind »die Vertiefung von Elbe und Hafenbecken sowie die starre Sicherung der Ufer, [die] zur Folge [haben], dass die Wasserschicht auf einen engen Fließraum begrenzt bleibt und sich nicht in die Fläche, sondern nur in die Höhe ausdehnen kann. Tidenhub und Sedimentation werden auf diese Weise verstärkt, folglich nimmt auch der Aufwand für die Ausbaggerung zu.«
Die Folgen des Klimawandels könnten gemäß der Studie nur dann ausgeglichen werden, wenn die dynamische Schaffung von weiterem Schwemmland – wie die zurzeit diskutierte Anbindung der Dove-Elbe an das Tidengewässer –, eine technologische Regulierung der Wasserströme und der Bau immer massiverer Hochwasserschutzanlagen forciert würden. All diese Maßnahmen sind eine Reaktion auf steigende Pegelstände. Sie stellen nicht in Frage, weshalb die Elbe und Hafenbecken vertieft und weshalb Ufer starr gesichert werden müssen. Der Schutz vor der Naturgewalt Wasser erweist sich als gutes Argument bei der Expansion von Stadt und Hafen. Nicht die Produktionsweise des Menschen, sondern die ihm äußere Natur erscheint als jener Wirkungsbereich, den es technisch zu beherrschen gilt – qua Klimafolgenmanagement.
Triumph über die Natur?
Die Architektur der Elbphilharmonie bringt das Verhältnis von Herrschern und Beherrschtem mit den Mitteln moderner Baukunst überspitzt zum Ausdruck: Der Mensch schafft die stabilste und größte aller Wellen selbst, nicht weil er es muss, sondern weil er es kann. Vor diesem Hintergrund wird Buggenhouts Skulptur mit Verweis auf die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel nachvollziehbar. Ein technisch hoch komplexes Orchestergebäude bedarf keiner Kaimauer. Es wurde inmitten der Elbe erbaut, der Aussage folgend anything goes. »Denn nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem was sie sich vorgenommen haben zu tun«. Das klingt größenwahnsinnig, aber immerhin könne nun jede:r Besucher:in ein »bisschen Fürst« sein – schwärmt Christian Marquart in der Architekturzeitschrift Bauwelt. Die gigantischen Baukosten von 866 Millionen Euro rechtfertigt das nicht. Auch die Plaza, die man während der Öffnungszeiten der Elbphilharmonie gegen ein Eintrittsgeld von 2,00 Euro pro Besucher:in betreten darf, lässt sich schwerlich als öffentlich bezeichnen.
Marquart sieht in der wellenförmigen Krone ein Bildzitat aus dem berühmten Werk Die große Welle vor Kanagawa des japanischen Holzschneiders Hokusai. Hokusais Werk jedoch erweckt Ehrfurcht angesichts der gewaltigen Natur. Der 110 Meter hohe statische Wellenkamm der Elphi ist hingegen dermaßen gigantisch, dass er die realen Wasserwogen, die die Philharmonie umgeben, ihrer Lächerlichkeit preisgibt. Das Bauwerk zwingt dem es umgebenden Wasser ihren instrumentellen Begriff von Natur und Naturbeherrschung auf. Eine solche Verkehrung ist Ausdruck gesellschaftlicher, und speziell der Hamburger, Verhältnisse. Die Riesenwelle bringt diese, wenn auch unfreiwillig, so doch gelungen zum Ausdruck. Sie macht sich den Begriff des Wassers zu eigen und keinen Hehl daraus, wer hier über die Natur triumphiert. Sie ist eine Kampfansage an die Natur.
Erste Entwürfe der Elbphilharmonie entstanden 2003 mit dem Ziel, ein neues Wahrzeichen für die Stadt zu erschaffen. Zu jener Zeit war Gerhard Schröder Bundeskanzler, Ole von Beust Hamburgs Erster Bürgermeister und in der bundesdeutschen Öffentlichkeit wurde zaghaft begonnen, über den Klimawandel zu diskutieren. Das Bewusstsein darüber, dass es sich um eine ausgewachsene Klimakrise handelt, folgte allmählich. So ersetzte der Guardian z.B. den Begriff climate change durch drastischeres Vokabular.3The Guardian, vom 19.10.2019: »We will use language that recognises the severity of the crisis we’re in. In May 2019, the Guardian updated its style guide to introduce terms that more accurately describe the environmental crises facing the world, using ›climate emergency, crisis or breakdown‹ and ›global heating‹ instead of ›climate change‹ and ›global warming‹. We want to ensure that we are being scientifically precise, while also communicating clearly with readers on the urgency of this issue«. Damit schien sich ein neues Bewusstsein des Verhältnisses von Mensch und Natur zumindest anzudeuten, das die bisherige Naturbeherrschung irgendwann einmal ablösen könnte. Die Elbphilharmonie, das technisch perfekte, hochkulturelle Wahrzeichen der Stadt Hamburg, mit integriertem Parkhaus, Hotel und teuren Eigentumswohnungen wirkt dagegen wie eine Trutzburg der in diesem Beitrag nachgezeichneten Ära. Ihr Baustil kann damit als steingewordene Herrschaftsarchitektur bezeichnet werden, errichtet in einer Zeit, in der eine unbeherrschbare Flut noch nicht vorstellbar schien.
Norika Rehfeld, Mai 2021
Die Autorin ist Sozialwissenschaftlerin, arbeitet aus Überzeugung nicht im Wissenschaftsbetrieb und findet die Kapriolen, die in der Elbphilharmonie zur Optimierung der Akustik geschlagen wurden, tatsächlich super.
1
Woltmann, Reinhard (1802): Beyträge zur Baukunst schiffbarer Kanäle. Mit 6 Kupfertafeln. Göttingen, S.165 [online]
2
Hierzu ausführlich, siehe: Dirk Lehmann, Die Verdinglichung der Natur. Über das Verhältnis von Vernunft und die Unmöglichkeit der Naturbeherrschung, in: Phase 2, 33 (Herbst 2009), online: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/die-verdinglichung-der-natur-255/?druck=1
3
The Guardian, vom 19.10.2019: »We will use language that recognises the severity of the crisis we’re in. In May 2019, the Guardian updated its style guide to introduce terms that more accurately describe the environmental crises facing the world, using ›climate emergency, crisis or breakdown‹ and ›global heating‹ instead of ›climate change‹ and ›global warming‹. We want to ensure that we are being scientifically precise, while also communicating clearly with readers on the urgency of this issue«.