Klima der Judenfeindschaft

Klima der Judenfeindschaft

Der Über­fall der radikal-islamischen Hamas auf Israel am 7. Okto­ber 2023 und das fol­gende Mas­sa­ker mit über 1.200 Todes­op­fern sind eine Zäsur, selbst in der an grau­en­vol­len Ereig­nis­sen kei­nes­wegs armen Geschichte des Anti­se­mi­tis­mus. Ihre glo­ba­len Nach­wir­kun­gen – keine Äch­tung anti-humanistischer Ideo­lo­gien und Poli­tik, son­dern im Gegen­teil eine Ent­hem­mung der aggres­si­ven Dämo­ni­sie­rung des Juden­staats und der Bedro­hung von Jüdin­nen und Juden – sind auch in Ham­burg zu spüren.

Nichts Abwei­chen­des mag noch ertra­gen wer­den: Pla­kate, die an die von der Hamas fest­ge­hal­te­nen Gei­seln erin­nern, wer­den auch in Ham­burg abge­ris­sen. Foto: privat

Schon der Blick auf die Zah­len ist erschre­ckend: Bun­des­weit ist die Zahl anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle nach dem 7. Okto­ber dra­ma­tisch gestie­gen, das­selbe gilt für Ham­burg. Hier machte Anti­se­mi­tis­mus 2023 24% aller erfass­ten Fälle von Hass­kri­mi­na­li­tät aus – wobei weni­ger als 0,2% der Hamburger:innen jüdi­schen Glau­bens sind. Im vier­ten Quar­tal hat sich die Fall­zahl gegen­über dem Vor­jah­res­zeit­raum ver­fünf­facht, auf 67 gegen­über 12 Fäl­len (siehe die Klei­nen Anfra­gen der Links­frak­tion zur Hass­kri­mi­na­li­tät in Ham­burg in 2022 und 2023). Im Rah­men einer im Som­mer 2024 erschie­ne­nen Stu­die unter ande­rem der Hoch­schule der Aka­de­mie der Poli­zei Ham­burg gaben mehr als drei Vier­tel der befrag­ten Ham­bur­ger Jüdin­nen und Juden an, inner­halb der letz­ten zwölf Monate Anti­se­mi­tis­mus erfah­ren zu haben.

Nach allen Erkennt­nis­sen bleibt ein gro­ßer Teil der dahin­ter lie­gen­den Fälle anti­se­mi­ti­scher Dis­kri­mi­nie­rung und Gewalt außer­halb der Wahr­neh­mung von Öffent­lich­keit und Behör­den – die erwähnte Stu­die schätzt den Anteil auf 80%. Zivil­ge­sell­schaft­lich gesam­melte Daten, die die­ses große Dun­kel­feld erfah­rungs­ge­mäß erhel­len könn­ten, stan­den für Ham­burg allzu lange nicht zur Ver­fü­gung: Die 2021 gegrün­dete, öffent­lich geför­derte digi­tale Hinweis- und Mel­de­stelle memo ver­öf­fent­licht im Gegen­satz zu den Recherche- und Infor­ma­ti­ons­stel­len Anti­se­mi­tis­mus (RIAS) in ande­ren Bun­des­län­dern keine Fälle oder (aus­sa­ge­kräf­tige) Zah­len. Ein nun vom Trä­ger der Mel­de­stelle, der Bera­tungs­stelle für Betrof­fene ras­sis­ti­scher, anti­se­mi­ti­scher und rech­ter Gewalt Empower, vor­ge­leg­ter Bericht gibt 282 Fälle von Anti­se­mi­tis­mus in Ham­burg für 2023 an – mehr als ein Drit­tel der inge­samt dort bekannt gewor­de­nen men­schen­feind­li­chen Taten; im Zeit­raum nach dem 7. Okto­ber ver­dop­pel­ten sich auch hier die Fälle.

Plakativer Judenhass

Die Wände und die Öffent­lich­keit der Stadt erlau­ben uns einen wei­te­ren Ein­blick in die Rea­li­tät des Anti­se­mi­tis­mus. Wenige Tage nach dem 7. Okto­ber begin­nend, wer­den auf Haus­wän­den und Later­nen fort­lau­fend soge­nannte pro-palästinensische Slo­gans, Auf­kle­ber etc. ange­bracht. Neben die seit Jahr­zehn­ten obli­ga­to­ri­schen natio­na­lis­ti­schen Paro­len wie »Free Pal­es­tine« tre­ten immer wie­der auch Israel dämo­ni­sie­rende, mani­fest anti­se­mi­ti­sche Bil­der: So wurde laut Bericht eines Anwoh­ners auf St. Pauli z.B. nach dem 7. Okto­ber ein Graf­fito mit blut­ro­ten Hand­ab­drü­cken plat­ziert – eine Chif­fre, die sich zustim­mend auf den Lynch­mord an zwei israe­li­schen Sol­da­ten zu Beginn der Zwei­ten Inti­fada ab 2000 bezieht; aus Eims­büt­tel mel­de­ten Anwohner:innen der Insta­gram­seite Civil-Watch against Anti-Semitism Anfang Juli 2024 Auf­kle­ber mit dem roten Drei­eck (der Ziel­mar­kie­rung der Hamas-Propaganda) und dem Slo­gan »Bring Them Back to Europe – Deco­lo­nize Pal­es­tine«. Isra­els­o­li­da­ri­sche oder auch nur anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Bot­schaf­ten, sogar Pla­kate, die an die von der Hamas fest­ge­hal­te­nen Gei­seln erin­nern, wer­den abge­ris­sen, beschä­digt oder über­malt.

Jeg­li­che isra­els­o­li­da­ri­sche Kund­ge­bung und anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Ver­an­stal­tung hat mit Stö­run­gen und mit min­des­tens ver­ba­len Bedro­hun­gen zu rechnen

Jeg­li­che isra­els­o­li­da­ri­sche Kund­ge­bung und anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Ver­an­stal­tung hat mit Stö­run­gen und mit min­des­tens ver­ba­len Bedro­hun­gen zu rech­nen: Im Anschluss an eine Soli­da­ri­täts­kund­ge­bung mit Israel Mitte Okto­ber 2023 etwa wur­den zwei Organisator:innen beschimpft und phy­sisch ange­grif­fen, eine israe­li­sche Fahne wurde gewalt­sam ent­wen­det; auf einer Podi­ums­dis­kus­sion in den Bücher­hal­len Ende Januar 2024 wur­den die jüdi­schen Podi­ums­teil­neh­me­rin­nen als »Nazis« und »KZ-Wächter« beschimpft und phy­sisch bedroht.

Boykotte und alltäglicher Antisemitismus

Kon­krete Posi­tio­nie­run­gen sind dabei zuneh­mend irrele­vant: So war z.B. das Punk­fes­ti­val Booze Cruise mas­si­ven Anfein­dun­gen im Netz und inter­na­tio­nal einem fak­ti­schen Boy­kott aus­ge­setzt, weil der Ver­an­stal­ter als »Zio­nist« und »Gen0cide-Supporter« [sic!] mar­kiert wurde. Seit Anfang Mai 2024 konnte nach US-amerikanischem Vor­bild von palästinensisch-nationalistischen Grup­pen und Aktivist:innen ein »Protest-Camp« am Rande der Uni­ver­si­tät Ham­burg eta­bliert wer­den. Aus des­sen Umfeld kam es am 8. Mai im Anschluss an eine anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Vor­trags­ver­an­stal­tung in der Uni­ver­si­tät zu einer wohl spon­ta­nen, aber geziel­ten ver­ba­len und phy­si­schen Atta­cke auf ein Vor­stands­mit­glied der Deutsch-Israelischen Gesell­schaft, wenige Tage spä­ter zu einer als Angriff zu ver­ste­hen­den kurz­zei­ti­gen Beset­zung der Roten Flora.

Nach einer kur­zen Phase media­ler Dis­kus­sion direkt nach dem 7. Okto­ber sind die Ham­bur­ger Schu­len aus dem Fokus der Öffent­lich­keit ver­schwun­den. Die Zahl von Anfra­gen für Antisemitismus-Workshops an Akteure der poli­ti­schen Bil­dung ist jedoch seit­her wei­ter gestie­gen und zumin­dest an eini­gen Schu­len ist das Niveau der Vor­fälle hoch. Wie Lehrer:innen von Har­bur­ger Schu­len gegen­über Untie­fen berich­te­ten rei­chen diese Vor­fälle bis hin zu demons­tra­ti­ver Ver­herr­li­chung des anti­se­mi­ti­schen Mas­sen­mords und der Bedro­hung enga­gier­ter Lehr­kräfte. Nur Weni­ges über­schrei­tet die Schwelle der öffent­li­chen Wahr­neh­mung: In der Ant­wort des Senats auf eine Kleine Anfrage in der Bür­ger­schaft vom Novem­ber 2023 wer­den vier Bom­ben­dro­hun­gen gegen Schu­len »im Zusam­men­hang mit dem Nah­ost­kon­flikt« erwähnt, die von der Poli­zei jedoch als »keine Gefähr­dungs­lage« ein­ge­stuft wor­den seien.

Wie sich deut­lich zeigt, eröff­net die Dyna­mik der Ereig­nisse – von den Mor­den, Ver­ge­wal­ti­gun­gen und Ent­füh­run­gen am 7. Okto­ber in Israel bis hin zum grau­sa­men Kriegs­ge­sche­hen in Gaza und des­sen media­ler Dau­er­prä­senz – auch in Ham­burg Mög­lich­keits­räume und Gele­gen­heits­struk­tu­ren für juden­feind­li­che Aggres­sio­nen und Affekte. Gefüllt und genutzt wer­den diese Räume ebenso im per­sön­li­chen Umgang und Umfeld – off­line oder online – wie von öffent­li­chen Akteur:innen.

In der Sache geeint: IslamistInnen und autoritäre Linke

Anti­se­mi­tis­mus bezeich­net Juden­hass – eine auf Jüdin­nen und Juden bezo­gene Pra­xis der Gewalt in Wort und Tat und deren gleich­zei­tige Recht­fer­ti­gung, und tritt in allen gesell­schaft­li­chen Schich­ten und poli­ti­schen Spek­tren auf. Der Aus­sage, Israel mache im Prin­zip mit den Paläs­ti­nen­sern das­selbe wie die Nazis mit den Juden, stimmte zuletzt 2022 43% der deut­schen Wohn­be­völ­ke­rung zu. Gleich­wohl sind es bestimmte Milieus, die gegen­wär­tig eine her­vor­ge­ho­bene Rolle spie­len. Nament­lich sind dies isla­mis­ti­sche Milieus, Teile der auto­ri­tä­ren Lin­ken sowie akti­vis­ti­sche, selbst­er­klärt »pro-palästinensische« Kreise. Die Chif­fre »Paläs­tina« sowie Isra­el­hass und Anti­se­mi­tis­mus die­nen hier – in jeweils unter­schied­li­cher Weise – als Agi­ta­ti­ons­mit­tel, die einen gro­ßen emo­tio­na­len Rück­hall in post­mi­gran­ti­schen und/oder akti­vis­ti­schen Milieus ver­spre­chen, vor allem unter Jugend­li­chen und bis in die bürgerlich-liberale Mitte hinein.

Vor­feld­or­ga­ni­sa­tio­nen der isla­mis­ti­schen Hizb ut-Tahrir hat­ten bereits kurz nach dem 7. Okto­ber in St. Georg eine »spon­tane« anti-israelische Kund­ge­bung orga­ni­siert. 2024 folg­ten zwei wei­tere, ange­mel­dete Demons­tra­tio­nen, die bun­des­weit breit the­ma­ti­siert wur­den. Über Social Media als Bil­der der Stärke insze­niert, sol­len dar­über Anhän­ger mobi­li­siert und Sym­pa­thi­san­ten für eine miso­gyne, juden- und min­der­hei­ten­feind­li­che, ins­ge­samt isla­mis­ti­sche, demo­kra­tie­feind­li­che Agenda gewon­nen wer­den. Autoritär-linke, »rote« oder »kom­mu­nis­ti­sche« Grup­pen ver­öf­fent­lich­ten zügig Israel dämo­ni­sie­rende State­ments (»Der Ter­ro­rist heißt Israel» u.ä.) und agi­tie­ren ent­spre­chend. Die Bünd­nis­demo die­ses Spek­trums zum 1. Mai 2024 wurde weit­ge­hend von palästinensisch-nationalistischen Paro­len und Sym­bo­len domi­niert. Neben der Mobi­li­sie­rung dient diese Posi­tio­nie­rung als Instru­ment, um anti-autoritäre Linke im Kampf um Ein­fluss, Deu­tun­gen (v.a. von Anti­se­mi­tis­mus) und Kon­trolle von Räu­men unter Druck zu setzen.

Gegen­über den isla­mis­ti­schen und autoritär-linken Grup­pen ist das als akti­vis­tisch umschrie­bene Milieu deut­lich hete­ro­ge­ner in Zusam­men­set­zung und Aus­rich­tung. Anders als diese kann man eine Wir­kung in die wei­tere poli­ti­sche Öffent­lich­keit hin­ein ent­fal­ten. Dies gilt auch für orga­ni­sierte Grup­pen der »Palästina-Solidarität« wie Thawra, deren Grund­struk­tu­ren bereits län­ger eta­bliert sind und die min­des­tens ideo­lo­gisch auch Über­schnei­dun­gen mit den zuvor beschrie­be­nen Grup­pen auf­wei­sen. Sie betrei­ben Kam­pa­gnen­po­li­tik und radi­ka­li­sie­ren sich in wider­spruchs­freien Echo­kam­mern wie dem »Protest-Camp«. Wie bereits skiz­ziert, wer­den ent­ge­gen der Selbst­be­schrei­bung als sich der gan­zen Macht von Staat und Gesell­schaft ent­ge­gen­stel­len­den Widerstandskämpfer:innen, vor allem »wei­che«, nicht-staatliche und in die­sem Sinn unge­schützte Ziele aus Sub­kul­tur und Bil­dungs­sek­tor gewählt: Man ver­sucht jed­we­den lin­ken Pro­test und jede Struk­tur ver­ein­nah­mend zu kapern und bedroht ein besetz­tes auto­no­mes Zen­trum; man demons­triert regel­mä­ßig gegen eine uni­ver­si­täre Vor­le­sungs­reihe zu Juden­feind­schaft und stört diese mehr oder weni­ger orga­ni­siert. (Alles prak­ti­scher­weise meist nur einen kur­zen Fuß­weg oder eine S‑Bahnstation vom »Protest-Camp« entfernt.)

Von jeder Wand muss es her­un­ter­schreien: Anti-Israelische Raum­nahme durch Graf­fiti. Foto: privat

Israelhass als kultureller Code

Eine wesent­li­che Ziel­gruppe die­ser natio­na­lis­ti­schen Kam­pa­gnen­pra­xis ist ein wei­te­res, eher dif­fu­ses, for­mal unor­ga­ni­sier­tes, aktivistisch-künstlerisches Milieu von Per­so­nen an oder im Umfeld von Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen oder Hoch­schu­len, die sich mehr­heit­lich als links oder links­li­be­ral ver­ste­hen wür­den. Im Fokus stan­den in jeweils ande­rer Weise die Hoch­schule für bil­dende Künste Ham­burg (HfBK), das Kul­tur­zen­trum Kamp­na­gel und seit dem Früh­jahr 2024 zuneh­mend die Uni­ver­si­tät Hamburg.

Der Kam­pa­gnen­po­li­tik im Sinne eines undif­fe­ren­zier­ten, kom­pro­miss­lo­sen paläs­ti­nen­si­schen Natio­na­lis­mus wird im wei­te­ren künstlerisch-aktivistischen Milieu von einer Hal­tung Raum gege­ben, in der das Res­sen­ti­ment gegen Israel (als Schlag­wort: »die Isra­el­kri­tik«) affek­tiv ver­an­kert ist. Durch­aus auch auf­grund die­ser jahr­zehn­te­al­ten natio­na­lis­ti­schen Kam­pa­gnen wie des ent­spre­chen­den Erbes der Neuen Lin­ken nach 1968, fun­gie­ren die »Isra­el­kri­tik«, der »Anti-Zionismus«, die Dämo­ni­sie­rung Isra­els als ein kul­tu­rel­ler Code, wie dies die His­to­ri­ke­rin Shul­a­mit Vol­kov benannt hat (2000: 84ff.), d.h. als »Erken­nungs­zei­chen der Zuge­hö­rig­keit zu einem bestimm­ten, sub­kul­tu­rel­len Milieu« und einer emo­tio­na­li­sier­ten moralisch-politischen Hal­tung: Im Mit­tel­punkt, so Vol­kovs Ana­lyse, ste­hen nicht die tat­säch­li­chen Fra­gen, son­dern »der sym­bo­li­sche Wert, ihnen gegen­über einen Stand­punkt zu bezie­hen.« Und heute gilt umso deut­li­cher was Vol­kov bereits in den 1980er Jah­ren fest­ge­hal­ten hatte, dass glo­bal anschei­nend »die Juden oft zum Sym­bol für all das gewor­den [sind][…], was man am Wes­ten geh­aßt und ver­ab­scheut hat«: nament­lich Kolo­nia­lis­mus, Natio­na­lis­mus und Ras­sis­mus, Aus­beu­tung, Aus­gren­zung und Unter­drü­ckung.[1]

Dämo­ni­sie­ren­der Isra­el­hass muss nicht selbst pro­pa­giert wer­den, son­dern des­sen Nor­ma­li­sie­rung als ein kul­tu­rel­ler Ori­en­tie­rungs­punkt ist das ent­schei­dende Moment, wie es Lukas Betz­ler an die­ser Stelle anhand des Kli­ma­fes­ti­vals im Januar auf Kamp­na­gel exem­pla­risch beschrie­ben hat. In die­sem kul­tu­rel­len Klima aus offe­ner Aggres­sion und bes­ten­falls ver­un­si­cher­ter Derea­li­sie­rung ange­sichts eines »kon­tro­ver­sen The­mas« – Anti­se­mi­tis­mus und ein poli­tisch kom­ple­xer, his­to­risch auf­ge­la­de­ner Kon­flikt – bil­den sich die Mög­lich­keits­räume und Gele­gen­heits­struk­tu­ren, die ein Medium von Juden­hass in der Gegen­wart darstellen.

»Berechtigter« Antisemitismus?

Auf­rufe zu Gewalt gegen Jüdin­nen und Juden, Israe­lis, »Zio­nis­ten« – auf Social Media oder zumin­dest eini­gen Ham­bur­ger Schul­hö­fen immer weni­ger codiert zu hören –, sind dabei ein Moment. Ent­schei­den­der sind die Derea­li­sie­rung und Kon­se­quenz­lo­sig­keit der für sich spre­chen­den Taten und Tat­sa­chen, die Ver­schie­bung der Debatte auf den »Anti­se­mi­tis­mus­vor­wurf« statt den Anti­se­mi­tis­mus, und die Ver­wei­ge­rung von Empa­thie gegen­über den Erfah­run­gen von Jüdin­nen und Juden. Ent­schei­den­der ist das Miss­trauen, das der­art ent­steht. Die immer hem­mungs­lo­sere Aggres­sion zieht ihre Ziele – Jüdin­nen und Juden; Akteure, die sich gegen Anti­se­mi­tis­mus und Isra­el­hass posi­tio­nie­ren; belie­bige Fes­ti­val­ver­an­stal­ter, die ein unter­wer­fen­des Bekennt­nis ver­wei­gern – mit in Ver­dacht. In die­sem kul­tu­rel­len Klima prägt sich Anti­se­mi­tis­mus als soge­nann­ter sekun­dä­rer aus, als Entlastungs- oder Schuld­ab­wehr­an­ti­se­mi­tis­mus: Die Opfer wer­den für Gewalt, Hass und Ver­fol­gung, die auf sie gerich­tet wer­den, ver­ant­wort­lich gemacht. Oder wie der Sozio­loge Det­lev Claus­sen in Gren­zen der Auf­klä­rung sar­kas­tisch for­mu­lierte (2005, XIV): »Unter Anti­se­mi­tis­mus wird eine unbe­rech­tigte Aggres­sion gegen Juden ver­stan­den; aber berech­tigte Angriffe sind denk- und arti­ku­lier­bar geworden.«

Die Wände und Räume der Stadt sind ein pas­sen­des Bild für das, was heute Anti­se­mi­tis­mus heißt, die aktu­ellste Recht­fer­ti­gung von anti­jü­di­scher Aggres­sion in Wort und Tat: Von jeder Wand muss es her­un­ter schreien. Jeder Raum soll mit der abso­lu­ten Gewiss­heit besetzt wer­den. Nichts Abwei­chen­des mag noch ertra­gen wer­den. Der sich ste­tig selbst radi­ka­li­sie­rende, kom­pro­miss­un­fä­hige, hoch emo­tio­na­li­sierte Modus der anti-israelischen Camps, Graf­fi­tis, Kam­pa­gnen und Bekennt­nisse ent­hält das Res­sen­ti­ment gegen Geist, Dia­log und Refle­xion und zwingt die unüber­sicht­li­che Welt in sein ein­deu­ti­ges Schema von Gut und Böse. Und von sol­cher in wider­spruchs­lo­sen Räu­men ver­stärk­ten (Selbst-)Gewissheit ist es nur noch ein kur­zer Weg dahin, den von den eige­nen mar­tia­li­schen Paro­len erzeug­ten Mythos als Rechts- und Macht­an­spruch in die (Gewalt-)Tat umset­zen zu dür­fen, ja gera­dezu: umset­zen zu müssen.

Man wäge genau ab, wo man hin­gehe, berich­tet eine aus der Ukraine geflüch­tete Ham­bur­ger Jüdin der taz: »Ich frage mich: Wann werde ich ange­grif­fen?« Die all­ge­gen­wär­tige, Israel dämo­ni­sie­rende Pro­pa­ganda, die Ver­ein­nah­mung des Raums der Stadt, das kul­tu­relle Klima erzeu­gen für Jüdin­nen und Juden eine Atmo­sphäre der Bedro­hung und des Aus­schlus­ses von Orten ihres All­tags. Gegen die allzu breit akzep­tierte, fal­sche Wahr­neh­mung zweier glei­cher­ma­ßen kompromiss- und dia­log­un­fä­hi­ger »Geg­ner« ist fest­zu­hal­ten: Wäh­rend die anti-israelischen Aktivist:innen selbst­er­klärt für ein poli­ti­sches Anlie­gen ein­tre­ten und die Frei­heit rekla­mie­ren, Men­schen mit abwei­chen­den Hal­tun­gen zu bedro­hen, wol­len Jüdin­nen und Juden ein­fach in Frei­heit von sol­cher Dro­hung in ihrer Stadt leben.

– Die­ser Arti­kel erschien in einer frü­he­ren Ver­sion auf vernetztgegenrechts.hamburg –

Flo­rian Hes­sel, August 2024

Der Autor lebt in Ham­burg und hat allzu oft keine Wahl als über diese Gesell­schaft und ihren Anti­se­mi­tis­mus zu leh­ren und zu schrei­ben.

Der Autor dankt Janne Misie­wicz und Olaf Kis­ten­ma­cher sowie der Redak­tion Untiefen.


[1] Ähn­li­ches gilt auch für einige post­mi­gran­ti­sche, stär­ker türkisch- oder arabisch-nationalistisch geprägte Milieus. Hier ver­bin­det sich ähn­lich wie im Isla­mis­mus der eini­gende, dämo­ni­sie­rende Isra­el­hass mit Res­sen­ti­ments gegen Min­der­hei­ten wie Kurd:innen oder Yezid:innen – gerade wo diese ihre eigene Ver­fol­gungs­er­fah­rung im Mas­sa­ker vom 7. Okto­ber und des­sen Rela­ti­vie­rung reflek­tiert sehen.

Der neue Garten des Kapitalismus

Der neue Garten des Kapitalismus

Im Her­zen Ham­burgs wurde der ehe­ma­lige Flak­turm IV, der Bun­ker an der Feld­straße, auf­ge­stockt und begrünt. In die­sem Zuge sollte auch ein Dach­gar­ten als Park für die Öffent­lich­keit ent­ste­hen. Her­aus­ge­kom­men ist eine alles andere als ein­la­dende Dau­er­wer­be­flä­che. Sie ist auch ein Fens­ter auf die der­zei­tige Stadt­ent­wick­lung und ‑ver­wer­tung.

Der Bun­ker an der Feld­straße kurz nach der Eröff­nung des Dach­gar­ten­ho­tels. Foto: privat. 

„Ein Park soll zum Ver­wei­len ein­la­den“, hieß es in der im Mai 2015 erschie­ne­nen zwei­ten Aus­gabe des Ideen­jour­nals für eine Stadt­na­tur auf St. Pauli. Her­aus­ge­ge­ben hatte das Heft eine im Jahr 2014 gegrün­dete Initia­tive von Anwohner:innen, die sich für die Begrü­nung des ehe­ma­li­gen Flak­bun­kers an der Feld­straße ein­setzte – so zumin­dest die öffent­li­che Dar­stel­lung. Kri­tik an dem Pro­jekt gab es schon zu die­sem Zeit­punkt. Neben Zwei­feln an der Selbst­dar­stel­lung der Initia­tive warn­ten ansäs­sige urban-gardening-Grup­pen auch vor der Ver­ein­nah­mung stadteil­po­li­ti­scher Anlie­gen durch Inves­to­ren und Krea­tiv­agen­tu­ren. In einer gemein­sa­men Stel­lung­nahme aus dem Jahr 2014 ver­ur­teil­ten sie „die mar­ke­ting­tech­nisch gewitzte Prä­sen­ta­tion des Groß­vor­ha­bens“. Die „Bun­ker­groß­bau­stelle beschert uns eine grüne Aufwertungsspirale.“

Rund zehn Jahre spä­ter, im Juli 2024, fei­er­ten der Dach­gar­ten und mit ihm unter ande­rem ein Hotel in sei­nem Inne­ren ihre Eröff­nung. Die Kri­tik ist mitt­ler­weile fast ver­stummt. Die Lokal­presse über­nahm nicht nur den Marketing-Sprech vom „grü­nen Bun­ker“, sie beju­belt ihn nahezu durch­gän­gig als „neues Wahr­zei­chen Ham­burgs“. Doch ein Blick hin­ter die Fas­sade – oder bes­ser: ihr Gestrüpp – eröff­net ein ande­res Bild. Der Park, wenn er denn so genannt wer­den kann, lädt nicht gerade zum Ver­wei­len ein. Viel­mehr scheint der Dach­gar­ten vor allem ein geschick­tes Mar­ke­ting­tool zu sein, das nicht nur den Bun­ker auf­stockt, son­dern auch das fik­tive Kapi­tal von Immo­bi­li­en­port­fo­lios. Zeit also für eine Bestandsaufnahme. 

Das Versprechen des Parks

In der Moderne trug der Park ein Ver­spre­chen in sich. Im städ­ti­schen Raum gele­gen, sollte er offen für alle und frei zugäng­lich sein; Erho­lung, Sport, Spiel und Ent­span­nung vor allem jenen bie­ten, die – ein­ge­pfercht in Fabri­ken und beengte Wohn­ver­hält­nisse – kei­nen Zugang zur freien Natur hat­ten. Darin unter­schei­det er sich vom herr­schaft­li­chen Gar­ten, der zuvor­derst Macht und Reich­tum reprä­sen­tiert und mehrt. Der Stadt- sowie der Alto­naer Volks­park, die beide um die Jahr­hun­dert­wende erdacht und in der Folge gestal­tet wur­den, kön­nen als Bei­spiele öffent­li­cher Parks die­nen. Sollte nun die­ses Ver­spre­chen nicht in fal­scher Nost­al­gie als Folie der Kri­tik auf­ge­spannt wer­den, so lag es jedoch auch dem nun begrün­ten Bun­ker zugrunde. In der ers­ten Aus­gabe des oben erwähn­ten Ideen­jour­nals war etwa die Rede von einer „völ­lig neuen Stadt­na­tur“, von „Gar­ten­flä­chen, auf denen man sich zum Pick­nick trifft“, es sollte ein „Gar­ten vie­ler wer­den“ – gar ein „Pilot­pro­jekt“, das „nicht zuletzt für mehr Lebens­qua­li­tät in der wach­sen­den Stadt“ sor­gen sollte.

Wie die­ser Park zum Ver­wei­len oder Pick­ni­cken ein­la­den soll, wenn selbst ein But­ter­brot nicht erlaubt ist, bleibt unklar. Foto: privat

Die Rea­li­tät sieht anders aus. Gleich am Ein­gang, der mit mar­tia­li­schen Dreh­kreu­zen (Öff­nungs­zei­ten der­zeit 9 bis 21 Uhr, nicht wie ver­spro­chen 7 bis 23 Uhr) auf­war­tet, pran­gen vier große Ver­bots­schil­der: keine Hunde, keine mit­ge­brach­ten Spei­sen und Getränke, Rauch­ver­bot. Durch­ge­setzt wer­den diese Ver­bote von einem pri­va­ten Sicher­heits­dienst, der die Besucher:innen nicht nur auf Schritt und Tritt beäugt, son­dern am Ein­gang bis­wei­len auch strengs­tens durch­sucht. Der Zutritt zum Dach­gar­ten fühlt sich an wie ein Grenz­über­tritt. Wer es dann über die Grenze schafft, sollte jedoch kein grü­nes Para­dies erwar­ten. Denn wie die­ser Park zum Ver­wei­len oder Pick­ni­cken ein­la­den soll, wenn selbst ein But­ter­brot nicht erlaubt ist und Sitz­mög­lich­kei­ten – zumin­dest sol­che, für die nicht kon­su­miert wer­den muss – rar sind, bleibt unklar. Zumin­dest der­zeit scheint es, als hoffe man auf einen mög­lichst kur­zen Auf­ent­halt der Besucher:innen. Immer­hin ist der Zutritt zum Gar­ten auf 900 Per­so­nen begrenzt und es sol­len ja mög­lichst viele über den soge­nann­ten „Berg­pfad“ auf den Bun­ker stei­gen, um zumin­dest das Ver­spre­chen eines öffent­li­chen Parks gewahrt blei­ben zu las­sen. Bar­rie­re­frei ist der Dach­gar­ten indes nicht. Wer im Roll­stuhl sitzt oder nicht gut zu Fuß ist, kommt „nur auf spe­zi­elle Nach­frage und in Beglei­tung“ ganz nach oben.

Der Dach­gar­ten ist ein tro­ja­ni­sches Pferd aus Beton und Gestrüpp. Unter dem Schein der Gemein­nüt­zig­keit las­sen sich die innen­lie­gen­den Flä­chen nur umso bes­ser vermarkten.

Aber wofür dann der große Auf­wand und die in der Presse genannte Inves­ti­ti­ons­summe von 60 Mil­lio­nen Euro? In der offi­zi­el­len Erzäh­lung heißt es, dass die Ver­mie­tung der Räume im Inne­ren des auf­ge­stock­ten Bun­kers seine Begrü­nung finan­ziere und die lau­fen­den Kos­ten decke. Nun, nach der Eröff­nung, scheint doch ein­ge­trof­fen zu sein, was man­che schon vor eini­ger Zeit befürch­tet hat­ten. Der Dach­gar­ten ist ein tro­ja­ni­sches Pferd aus Beton und Gestrüpp. Unter dem Schein der Gemein­nüt­zig­keit las­sen sich die innen­lie­gen­den Flä­chen nur umso bes­ser ver­mark­ten. So geriert sich der grüne Bun­ker als Park für alle, fällt jedoch hin­ter sein Ver­spre­chen zurück. Ent­stan­den ist ein neu­ar­ti­ger herr­schaft­li­cher Gar­ten – nicht eines früh­neu­zeit­li­chen Mon­ar­chen, son­dern eines Unter­neh­mers im Zeit­al­ter des digi­ta­len Finanz­markt­ka­pi­ta­lis­mus. Der ver­meint­lich öffent­li­che Dach­gar­ten soll nicht Reich­tum zur Schau stel­len, son­dern ein pro­fi­ta­bles Invest­ment ermög­li­chen und gegen Kri­tik schützen.

Öko-Gentrifizierung: die New Yorker High Line als zweifelhaftes Vorbild

Sowohl in der Lokal­presse als auch von­sei­ten der Macher:innen des Bun­kers wird immer wie­der auf die New Yor­ker High Line als Vor­bild des städ­ti­schen Dach­gar­tens ver­wie­sen. Aus einer alten Bahn­trasse wurde in der US-Metropole ein über zwei Kilo­me­ter lan­ger, mitt­ler­weile welt­be­rühm­ter Park. Eine lokale Inter­es­sens­ge­mein­schaft hatte sich Ende der 1990er Jahre zusam­men­ge­fun­den, um die Bahn­trasse vor ihrem Abriss zu ret­ten und in einen Park umzu­ge­stal­ten. Nach des­sen Eröff­nung wurde die High Line schnell zum Tourist:innen-Magnet. Ins­be­son­dere die umlie­gen­den Gebäude erfuh­ren eine mas­sive Wert­stei­ge­rung. Mitt­ler­weile wird in Ver­bin­dung mit der High Line auch von Öko-Gentrifzierung gespro­chen. Nun war diese Ent­wick­lung kein genui­nes Anlie­gen der High Line-Interessensgemeinschaft; auch man­che ihrer Gründer:innen kri­ti­sie­ren die mas­sive Wert­stei­ge­rung im Umfeld des neu­ge­schaf­fe­nen Parks.

Der Bun­ker ohne Dach­gar­ten im Jahr 2018. Foto: privat.

In der Bericht­erstat­tung um den grü­nen Bun­ker sowie in der Selbst­dar­stel­lung sei­ner Macher:innen erfah­ren diese Fol­gen der High Line keine Erwäh­nung. Es ver­hält sich beim Bun­ker auch anders. Ist zwar zu ver­mu­ten, dass eine wei­tere Attrak­tion im Stadt­teil zu des­sen Auf­wer­tung bei­trägt, so stei­gert die Begrü­nung wohl vor allem den Wert des Bun­kers selbst. Und: anders als bei der High Line war diese Ent­wick­lung hier wohl von vorn­her­ein geplant. Bereits Jahre bevor die ers­ten Besucher:innen den Bun­ker erklim­men konn­ten und noch vor sei­ner tat­säch­li­chen Begrü­nung, wurde er über letz­tere schon vor­aus­ei­lend zur Marke gemacht. Der Instagram-Account unter den Namen „ham­burg­bun­ker“ setzte schon Ende 2021 sei­nen ers­ten Post ab. Nur durch die ver­meint­lich gemein­wohl­ori­en­tierte Begrü­nung erfuhr der Bun­ker ein gro­ßes Medi­en­echo. In den letz­ten Mona­ten berichte die Lokal­presse wöchent­lich, zuletzt gar täg­lich über ihn.

Der Account ver­linkt auf die offi­zi­elle Web­seite der RIMC Bun­ker Ham­burg Hotel­be­triebs­ge­sell­schaft bezie­hungs­weise der RIMC Inter­na­tio­nal Hotels & Resorts GmbH, die den Zuschlag für die Ver­mie­tung und Ver­mark­tung der Innen­flä­chen erhal­ten hatte. Dass die bekannte Hard Rock-Kette nach lan­gem Hin-und-Her ihre neue Hotel­marke unter dem Namen „Reverb“ im Bun­ker plat­zie­ren konnte, dürfte sich für sie aus­zah­len, um diese, wie es im Jar­gon heißt, Brand Exten­sion bekannt zu machen. Die Medi­en­be­richt­erstat­tung häm­merte den Leser:innen bei­läu­fig nicht nur den Namen der neuen Hotel­marke ein, son­dern auch einen offen­bar aus fir­men­ei­ge­nen Pres­se­mit­tei­lugen abge­schrie­ben Pas­sus. Die­ses Hotel sei das erste sei­ner Art in Europa und damit wie der Bun­ker eine Attrak­tion, ja ein „Erleb­nis“. Das anhal­tende Medi­en­echo dürfte sich in den kom­men­den Jah­ren für künf­tige Ver­mie­tun­gen aus­zah­len und ins­ge­samt den Wert des Gebäu­des steigern.

Der neue Geist des Kapitalismus und seine Gärten

„Aus grau wird bunt“, lau­tet das Motto des Bun­kers bezie­hungs­weise der Flä­che, die die Betrei­ber­ge­sell­schaft nun ver­mark­tet. Ihr Logo setzt sich ent­spre­chend aus ver­schie­den­far­bi­gen Buch­sta­ben zusam­men. „Sankt Pauli bleibt bunt“, for­dert ein, zu sei­nen Füßen gesprüh­tes Graf­fiti; unweit ent­fernt bekennt ein ande­res ein „Herz für St. Pauli“. Unter­schrie­ben ist die­ses Graf­fiti auch mit Viva con Agua, einer ansäs­si­gen Non-Profit-Organisation, die jedoch in jün­ge­rer Zeit in Kri­tik geriet – unter ande­rem wegen eines von ihr betrie­be­nen Hotels unweit des Ham­bur­ger Hauptbahnhofs.

Die Ver­mark­tung des Bun­kers funk­tio­niert also nicht nur über seine Begrü­nung, son­dern ebenso über den Ver­kauf eines Lebens­ge­fühls. Die­ses Lebens­ge­fühl gene­riert sich über den immer wie­der genann­ten Stadt­teil. Die­sen kenn­zeich­nete einst, gerade nicht ver­markt­bar, son­dern wider­stän­dig zu sein. Das aber ist voll­ends vom Mar­ke­ting auf­ge­so­gen wor­den. So lässt sich gar der im Inne­ren des Bun­kers befind­li­che, bis heute jedoch nicht fer­tig­ge­stellte Informations- und Erin­ne­rungs­ort an Krieg und Zwangs­ar­beit in die Kam­pa­gnen inte­grie­ren. Das neue Hotel bewirbt sei­nen Stand­ort nicht nur mit einem im nach­bar­li­chen Stadt­teil zu fin­den­den „diverse mix of cul­tures“ und dem „artis­tic flair“, son­dern beher­bergte als ers­ten Gast auch öffent­lich­keits­wirk­sam einen Zeit­zeu­gen. Die Web­seite der Betrei­ber­ge­sell­schaft lädt dazu ein, die „Magie die­ses geschichts­träch­ti­gen Ortes selbst zu erle­ben“. Dass die bewor­bene Immo­bi­lie ein Nazi-Bunker war, wird zum Uni­que Sel­ling Point.

Eine unge­heure Mar­ken­samm­lung, Schild am Ein­gang des Bun­kers. Foto: privat

Ohne die Begrü­nung, aber auch nicht ohne die ehren­amt­li­che Arbeit der nach wie vor täti­gen Anwohner:innen-Initiative sowie die Aneig­nung ursprüng­lich lin­ker (stadtteil-)politischer Anlie­gen hätte der Bun­ker wohl nie die ihm nun zukom­mende Auf­merk­sam­keit erfah­ren. Am Bun­ker lässt sich damit eine zwar nicht mehr neue, aber zuneh­mende Form der Stadt­ent­wick­lung und ‑kapi­ta­li­sie­rung erken­nen, die grö­ßere Auf­merk­sam­keit ver­dient. Denn die Ver­wer­tung der Stadt wird heute nicht mehr gegen ihre Kri­tik durch­ge­setzt, son­dern mit ihr und über sie. Die Natur und ihre Rena­tu­rie­rung, die feh­len­den Frei- und Krea­tiv­räume in der beeng­ten Stadt, gar erin­ne­rungs­po­li­ti­sche Arbeit und damit die Spu­ren natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Herr­schaft, die im Wie­der­auf­bau noch unter grauem Beton ver­schwan­den, wer­den heute zu Ele­men­ten begehr­ter Investitionsobjekte.

Wie konnte das pas­sie­ren? Einige Hin­weise gibt die Ana­lyse der Soziolog:innen Luc Bol­tan­ski und Ève Chia­pello, die in Anleh­nung an Max Weber von einem „neuen Geist des Kapi­ta­lis­mus“ spre­chen. Die­ser neue Geist, der im All­ge­mei­nen die jeweils hege­mo­niale Form kapi­ta­lis­ti­scher Ver­hält­nisse mit Sinn und Legi­ti­ma­tion aus­stat­tet, zeich­net sich gegen­über sei­nen älte­ren For­men dadurch aus, dass er die einst gegen ihn gewen­dete Kri­tik auf­nahm und pro­duk­tiv wen­dete. Zu Hoch­zei­ten der Indus­trie­mo­derne bezie­hungs­weise des For­dis­mus in den 1960er Jah­ren wurde eine Kri­tik laut, die den Ver­hält­nis­sen etwa Sinn­ver­lust und Ent­frem­dung und damit man­gelnde Mög­lich­kei­ten der Selbst­ver­wirk­li­chung vor­warf. Es waren nun diese und andere Ele­mente der Künst­ler­kri­tik, wie es Bol­tan­ski und Chia­pello aus­drü­cken, die sich der Kapi­ta­lis­mus in der Krise der 1970er mehr und mehr aneig­nete. Heute fin­den sie sich etwa in der Manage­ment­li­te­ra­tur und der Figur krea­ti­ven Unter­neh­mer­tums wie­der. Aber nicht nur Arbeit wurde sub­jek­ti­viert, son­dern auch der Kon­sum – Pro­dukte erzäh­len eine Geschichte, stif­ten Sinn und Selbstverwirklichung.

In Waren trans­for­miert, rückt der Kapi­ta­lis­mus die einst­mals gegen ihn gerich­tete Kri­tik ins Zen­trum der Ver­wer­tung. Foto: privat

Wie an ande­rer Stelle die­ses Blogs gezeigt, las­sen sich auch in der Stadt­ent­wick­lung die öko­no­mi­schen und kul­tu­rel­len Trans­for­ma­tio­nen der 1970er und fort­fol­gen­den Jahr­zehnte als Wen­dung vom All­ge­mei­nen der Moderne zum Beson­de­ren der Post­mo­derne beschrei­ben: Sin­gu­la­ri­sie­rung statt Stan­dar­di­sie­rung. Gefragt ist nicht mehr der Wohn­block indus­tri­el­len Bau­ens, son­dern die ver­schnör­kelte Alt­bau­villa, ähn­li­ches gilt für Super­märkte und Hotels. Wer etwas ver­kau­fen will, wirbt mit den Ele­men­ten der Künst­ler­kri­tik wie Authen­ti­zi­tät, Indi­vi­dua­li­tät, Krea­ti­vi­tät, Sinn und Selbst­ver­wirk­li­chung[1]. Die­ses einst abge­lehnte Beson­dere – beim Bun­ker etwa seine Geschichte und das ihn umge­bende Stadt­vier­tel – kann der Kapi­ta­lis­mus jedoch nur bedingt aus sich selbst her­aus erzeu­gen. Er muss es aus exter­ner Quelle aneig­nen. In Waren trans­for­miert, rückt er die einst­mals gegen ihn gerich­tete Kri­tik ins Zen­trum der Ver­wer­tung. Dass der einst ver­spro­chene Park nun als Dach­gar­ten die spe­zi­fi­schen Qua­li­tä­ten eines Parks, also sei­nen Gebrauchs­wert, ver­lo­ren hat, liegt auch daran, dass er als Mar­ke­ting­tool vor allem Tausch­wert ist. Zu hof­fen bleibt der­zeit nur, dass sich aus die­sem Wider­spruch – die Ver­wer­tung zehrt das Beson­dere als Abs­trak­tes auf und beraubt sich somit ihrer eige­nen Quelle – das bal­dige Ende die­ser Form der Stadt­ent­wick­lung ergibt. Gegen diese Hoff­nung spre­chen jedoch die zahl­rei­chen Apologet:innen der neo­li­be­ra­len Stadt.

Die versuchte Ehrenrettung der neoliberalen Stadt

Es wird kaum jeman­den über­ra­schen, dass die Ham­bur­ger Sozi­al­de­mo­kra­tie nicht als Ver­tei­di­ge­rin der Wohl­fahrts­staat­lich­keit gegen die pri­vat­wirt­schaft­li­che Aneig­nung der Stadt auf­tritt. Bereits im Jahr 1983 hatte der dama­lige Ham­bur­ger Bür­ger­meis­ter und Sozi­al­de­mo­krat Klaus von Dohn­anyi  das „Unter­neh­men Ham­burg“ aus­ge­ru­fen und die Stadt zur Marke gemacht, wie es Chris­toph Twi­ckel in sei­nem nach wie vor lesens­wer­ten Gen­tri­fi­dings­bums beschreibt (kauft mehr Nautilus-Bücher!). Gerade diese Poli­tik und damit die Pri­va­ti­sie­rung der Stadt(-entwicklung) als Ort der Kapi­tal­ak­ku­mu­la­tion geriet jedoch im Herbst 2023 in die Krise. Der Elb­tower ist – neben ande­ren inner­städ­ti­schen Brach­flä­chen – deren sicht­bars­tes Zei­chen. Die Pleite der von René Benko gegrün­de­ten Signa Hol­ding führte indes nicht nur zum Bau­stopp zuvor gerühm­ter Pres­ti­ge­bau­ten, son­dern auch zu Zwei­feln, ob Investor:innen für die Gestal­tung des öffent­li­chen Rau­mes ver­ant­wort­lich sein soll­ten. Letzt­lich geriet die gesamte Erzäh­lung, der neue Geist des Kapi­ta­lis­mus, ins Wan­ken: René Benko, einst zur Licht­ge­stalt krea­ti­ven Unter­neh­mer­tums hoch­ge­schrie­ben, ist ein Betrüger.

Das neue Ant­litz der neo­li­be­ra­len Stadt? Die­ses Signa-Projekt am Gän­se­markt liegt seit län­ge­rer Zeit brach. Foto: privat.

Das seit Wochen zu ver­neh­mende über­schwäng­li­che Lob des begrün­ten Bun­kers dient inso­fern auch zur Ehren­ret­tung der neo­li­be­ra­len Stadt und sei­ner Unternehmer:innen. Etwa war Andreas Dressel, Finanz­se­na­tor und Sozi­al­de­mo­krat, bei der Eröff­nungs­feier des grü­nen Bun­kers „geflasht“. Er „lobte den Bau­her­ren über­schwäng­lich, der das gesamte Pro­jekt“, wie die Ham­bur­ger Mor­gen­post schreibt, „ohne einen Euro öffent­li­chen Gel­des durch­zog.“ Geret­tet ist damit offen­sicht­lich die Idee der neo­li­be­ra­len Stadt; einen öffent­li­chen Park gab es dafür jedoch nicht. Vor allem die Anwohner:innen pro­fi­tie­ren nicht von den Früch­ten, die in den neuen Gär­ten des Kapi­ta­lis­mus wach­sen – sie dür­fen dort ja nicht ein­mal einen Apfel essen.

Johan­nes Rad­c­zinski, August 2024

Der Autor genoss beim Ver­fas­sen die­ses Arti­kels alle Annehm­lich­kei­ten eines öffent­li­chen Parks (u.a. Sitz­ge­le­gen­hei­ten, mit­ge­brachte Getränke, Ziga­ret­ten) in Sicht­weite des begrün­ten Bun­kers. Auf Untie­fen blickte er bereits auf andere, in Schief­lage befind­li­che Orte der Ham­bur­ger Stadt­ent­wick­lung wie das Bis­marck­denk­mal oder auch die Rindermarkthalle.

[1] Dass die soge­nannte Rin­der­markt­halle in Nach­bar­schaft des Bun­kers, die durch die Frei­le­gung ihrer Back­stein­fas­sade vor rund zehn Jah­ren zu einem beson­de­ren, da authen­ti­schen und geschichts­träch­ti­gem Ort ver­mark­tet wurde, nun mit dem grü­nen Bun­ker auf ihrer Web­seite wirbt, ist kein Zufall. 

Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg

Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg

Die deut­sche Geschichte ist für radi­kal rechte Par­teien ein zen­tra­les Agi­ta­ti­ons­feld. Auch die Ham­bur­ger AfD ver­brei­tet einer­seits immer wie­der klas­sisch revi­sio­nis­ti­sche The­sen, die vor allem den Holo­caust und die Kolo­ni­al­ge­schichte umdeu­ten. Vor allem aber ver­tritt sie einen nost­al­gi­schen Natio­na­lis­mus, der für die eigene poli­ti­sche Agenda durch geziel­tes Aus­wäh­len und Ver­schwei­gen Mythen über die deut­sche Ver­gan­gen­heit entwirft.

Eine Mauer mit Stacheldraht auf der "Bismak Sucks!" geschrieben steht. Im Hintergrund ist die Hamburger Bismarkstatue zu sehen.
Bezugs­punkt des rech­ten Revi­sio­nis­mus: Der erste Reichs­kanz­ler und Sozia­lis­ten­jä­ger Otto von Bis­marck. Das deutsch­land­weit größte Denk­mal für ihn steht auf St. Pauli. Foto: Marco Hosemann

Die­ser Arti­kel erscheint par­al­lel auf AfD Watch Ham­burg.


Das Ver­hält­nis zur deut­schen Ver­gan­gen­heit ist die zen­trale Ein­tritts­karte in den poli­ti­schen Dis­kurs der BRD. Offene Holo­caust­leug­nung oder ‑rela­ti­vie­rung sind nicht nur straf­bar, son­dern auch poli­tisch äußerst schäd­lich. Bei der popu­lis­ti­schen, als Ver­tei­di­ge­rin der Demo­kra­tie auf­tre­ten­den AfD spie­len sie daher auch in Ham­burg nur eine unter­ge­ord­nete Rolle. Den­noch wird immer wie­der erkenn­bar, dass es sich hier um stra­te­gi­sche Zurück­hal­tung handelt.

Offe­ner Revisionismus

Bekannt sind etwa NS-Relativierungen des Ham­bur­ger AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Bau­mann, frü­here revi­sio­nis­ti­sche Kom­men­tare des der­zei­ti­gen Ham­bur­ger AfD-Pressesprechers Robert Offer­mann und der Ver­dacht auf anti­se­mi­ti­sche Aus­sa­gen eines Mit­ar­bei­ters der Bür­ger­schafts­frak­tion. Am meis­ten Auf­se­hen erregte wohl der stell­ver­tre­tende Frak­ti­ons­vor­sit­zende der AfD in der Bür­ger­schaft, Alex­an­der Wolf. 2017 wurde bekannt, dass er 1994 eine Samm­lung von NS-Liedern unter dem Titel „Schlacht­ruf“ her­aus­gab, in deren Vor­be­mer­kun­gen er mit Blick auf die Kapi­tu­la­tion Nazi-Deutschlands im Zwei­ten Welt­krieg zu einem „ent­schlos­se­nen Nie wie­der!’“ auf­rief.

Alex­an­der Wolf, geschichts­po­li­ti­scher Scharfmacher

Über­haupt, Alex­an­der Wolf: Er ist in der Bür­ger­schafts­frak­tion der Mann für die pro­vo­kan­ten his­to­ri­schen The­sen. So behaup­tete er etwa im März 2023 in der Bür­ger­schaft, die Nazis hät­ten sich „kei­nes­wegs als rechts, son­dern bewusst als Sozia­lis­ten“ ver­stan­den. Die DDR und den NS-Staat par­al­le­li­sierte er als „Dik­ta­tu­ren“, um sogleich zu sei­nem eigent­li­chen Anlie­gen zu kom­men, näm­lich der Lüge, auch der heu­tige Kampf gegen Rechts sei wie­der ähn­lich eine ähn­li­che „Frei­heits­ein­schrän­kung“ und „Aus­gren­zung“.

„Vogel­schiss“ als Pro­gramm: der nost­al­gi­sche Nationalismus

Diese offe­nen Rela­ti­vie­run­gen sind aber die Aus­nahme. Die wirk­li­che geschichts­po­li­ti­sche Stra­te­gie der Ham­bur­ger AfD besteht darin, die Gau­land­sche Rede vom „Vogel­schiss“ in die Pra­xis umzu­set­zen. In den Bei­trä­gen der AfD-Abgeordneten fin­det sich kaum eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus oder mit der Kolo­ni­al­ge­schichte. Und wenn diese The­men berührt wer­den, dann geht es stets darum, für die radi­kal rechte Poli­tik nostalgisch-nationalistische, posi­tive Anker­punkte in der deut­schen Geschichte des 19. und 20. Jahr­hun­derts zu finden.

His­to­ri­sche Wür­di­gung for­dert die AfD etwa für fol­gende Grup­pen: die Ver­schwö­rer um Claus Schenk Graf von Stauf­fen­berg („Höhe­punkt des deut­schen Wider­stands“), die Opfer der alli­ier­ten Bom­bar­die­rung Ham­burgs im Juli 1943 („Kriegs­ver­bre­chen“), die Auf­stän­di­gen vom 17. Juni 1953 in der DDR („iden­ti­täts­stif­ten­des Datum“) sowie für die an der Gren­zen zwi­schen DDR und BRD Ermor­de­ten und den Mau­er­bau 1961 („Schick­sals­da­tum der deut­schen Nation“).

Und die im Jahr 2020 auf­ge­kom­me­nen Rufe nach einem Denk­mal für die Leis­tun­gen der soge­nann­ten tür­ki­schen „Gast­ar­bei­ter“ kon­terte Wolf im Novem­ber 2021 mit der For­de­rung, statt­des­sen ein Denk­mal für „Trüm­mer­frauen“ zu schaffen.

Das Kai­ser­reich soll rechts­ra­di­kale Her­zen wärmen

Neben den deut­schen Opfern alli­ier­ter Bom­ben und kom­mu­nis­ti­scher SED-Herrschaft sowie patrio­ti­schen kon­ser­va­ti­ven Gene­rä­len steht vor allem das Deut­sche Kai­ser­reich im Zen­trum der AfD-Geschichtspolitik. Eine Folge des Pod­casts „(Un-)Erhört!“ der Ham­bur­ger AfD-Fraktion vom Januar 2021 zum 150. Jah­res­tag der Reichs­grün­dung 1871 illus­triert das. 

Zum ein­gangs gespiel­ten „Heil dir im Sie­ger­kranz“ spricht Wolf von einem „der glück­lichs­ten Momente der deut­schen Geschichte“. Heu­tige Politiker:innen wür­den sich jedoch der Erin­ne­rung daran ver­wei­gern, sie hät­ten ein „gestör­tes Ver­hält­nis zur „eige­nen Geschichte“. So hätte die „über tau­send­jäh­rige Geschichte Deutsch­lands“ zwar „pro­ble­ma­ti­sche Sei­ten“, doch sei sie eben auch „mehr“. Ab dort ver­schwin­det der Natio­nal­so­zia­lis­mus aus die­ser Erzäh­lung und das heu­tige Deutsch­land wird schlicht in Kon­ti­nui­tät zum Kai­ser­reich gesetzt. Das ist eine ganz bewusste Kon­struk­tion einer Tra­di­tion, die nur über Aus­las­sung funk­tio­niert. An die „posi­ti­ven Momente der Geschichte“ soll erin­nert wer­den, so Wolf wei­ter, „weil das unsere Iden­ti­tät prägt. Eine Nation lebt nicht nur von der Ratio und von der Ver­fas­sung, son­dern auch von einem posi­ti­ven Gemein­schafts­ge­fühl.“ Nur dar­aus könn­ten „Soli­da­ri­tät und Mit­ein­an­der erwachsen.“

Gerei­nigt wer­den soll die deut­sche Geschichte also nicht, indem der Holo­caust geleug­net wird. Der „Schuldkult“-Vorwurf wird hier sub­ti­ler for­mu­liert: Der beding­ten Aner­ken­nung der Ver­bre­chen in den 12 Jah­ren NS-Herrschaft wird eine sau­bere Ver­sion der ver­meint­lich ande­ren 988 Jahre deut­scher Geschichte und deut­schen Glan­zes entgegengestellt.

Die Hamburger Bismarkstatue zwischen zwei Baumkronen.
Bis­marck, Begrün­der des deut­schen Kolo­ni­al­rei­ches, strahlt frisch reno­viert. Foto: Marco Hosemann

Mit Bis­marck gegen die Wahrheit

Diese Stra­te­gie zeigt sich auch an der Posi­tion der AfD zur Debatte um das Otto von Bismarck-Denkmal auf St. Pauli. In einer Folge des besag­ten Pod­casts vom Juli 2021 zeich­net Wolf den ers­ten Reichs­kanz­ler als eine posi­tive Figur der deut­schen Geschichte. Die gefor­derte Neu-Kontextualisierung des Denk­mals sei selbst Geschichts­re­vi­sio­nis­mus, schließ­lich würde Bis­marck dabei „aus dem Blick­win­kel eines Anti­fan­ten und einer Femi­nis­tin“ gese­hen. Die soge­nannte Westafrika-Konferenz 1884/85 in Ber­lin, zu der Bis­marck ein­lud und bei der die euro­päi­schen Groß­mächte den afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent als Kolo­ni­al­be­sitz unter sich auf­teil­ten, ver­schweigt Wolf dabei nicht. Aber er stellt sie als rein frie­dens­stif­tende Maß­nahme zur Siche­rung der inner­eu­ro­päi­schen Ord­nung dar. Das funk­tio­niert wie­derum nur durch Aus­blen­den der Fol­gen für die kolo­ni­sier­ten Bevöl­ke­run­gen außer­halb Euro­pas. Aber mehr noch: Kolo­nia­lis­mus ist für Wolf „nicht per se von vorn­her­ein schlecht“. Denn es sei „viel Posi­ti­ves geleis­tet wor­den, Infra­struk­tur, Gesund­heit etc.“ Es dürfe eben nicht „ein­sei­tig die nega­tive Brille“ auf­ge­setzt wer­den, wie es bei der Black Lives Matter-Bewegung gesche­hen sei. So hält Wolf dann auch die gän­gige For­schungs­po­si­tion, dass die Deut­schen 1904/5 in Süd­west­frika einen Völ­ker­mord began­gen haben, für „absurd“, ja „Quatsch“. Man sieht: Obwohl nost­al­gi­scher Natio­na­lis­mus die Kern­stra­te­gie der AfD Ham­burg aus­macht, ist der zu offe­nem Revi­sio­nis­mus schnell gemacht.

Redak­tion Untie­fen, März 2024

»Über 1000 Fälle«

»Über 1000 Fälle«

Am 19.01. eröff­nete im Ham­bur­ger Rat­haus eine Son­der­aus­stel­lung über »Rechte Gewalt in Ham­burg von 1945 bis heute«. Unter den Macher:innen sind auch Betrof­fene und Ange­hö­rige von Opfern rech­ter Gewalt. Die Aus­stel­lung bie­tet einen sehr guten Ein­stieg in die lokale Geschichte rechts­extre­mer Gewalt, ringt aber mit eini­gen Schwierigkeiten.

Aus­schnitt des Ausstellungs-Plakats. Bild: Stif­tung Ham­bur­ger Gedenk­stät­ten und Lernorte

Im gro­ßen Fest­saal des Rat­hau­ses wurde ges­tern, am 19.01.2024, die neue Son­der­aus­stel­lung »Rechte Gewalt in Ham­burg von 1945 bis heute« eröff­net. Wie schon seit über 20 Jah­ren prä­sen­tiert die Bür­ger­schaft wie­der anläss­lich des Gedenk­ta­ges für die Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus am 27. Januar eine neue tem­po­räre his­to­ri­sche Aus­stel­lung. Unge­wöhn­lich ist die­ses Mal die große Aktua­li­tät. Denn die neue Aus­stel­lung beleuch­tet rechte Gewalt nach dem Zwei­ten Welt­krieg – bis heute. Ver­ant­wor­tet wird sie dabei wie immer von der KZ-Gedenkstätte Neu­en­gamme.
Die Aus­stel­lung eröff­net mit den per­sön­li­chen Geschich­ten von fünf Todes­op­fern rech­ter Gewalt in  Hamburg:

Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân (1980; Nazi-Brandanschlag auf Flücht­lings­un­ter­kunft in der Hals­ke­straße), Meh­met Kay­makçı (1985; erschla­gen von Skin­heads im Kiwitts­moor­park), Rama­zan Avcı (1985; erschla­gen von Skin­heads an der S‑Bahn-Station »Land­wehr«) und Süley­man Taş­köprü (2001; erschos­sen in der Schüt­zen­straße von Ter­ro­ris­ten des »NSU«).

Auch das letzte Wort haben die Betrof­fe­nen. In einer Video­sta­tion wer­den Aus­schnitte aus Inter­views mit Über­le­ben­den rech­ter Gewalt und Ange­hö­ri­gen von Opfern gezeigt, die unter ande­rem von dem jahr­zehn­te­lan­gen Des­in­ter­esse von Staat und Gesell­schaft und sogar Geden­kinitia­ti­ven an ihren Erfah­run­gen und Per­spek­ti­ven berich­ten.
Aber nicht nur in der Aus­stel­lung kom­men die Betrof­fe­nen zu Wort, auch in der Ent­ste­hung waren sie betei­ligt. Im Gespräch mit Untie­fen sagt Lenn­art Onken (KZ-Gedenkstätte Neu­en­gamme), einer der Kurator:innen: »Ins­be­son­dere für die ers­ten fünf Tafeln haben wir eng mit Initia­ti­ven und Ange­hö­ri­gen zusam­men­ge­ar­bei­tet, haben Texte und Bild­aus­wahl inten­siv bespro­chen. Das war ein sehr span­nen­der Pro­zess, bei dem auch wir sehr viel gelernt haben.«

İbrahim Ars­lan: »Ich führe das zurück auf unse­ren Wider­stand und unsere Kämpfe«

Einer der Mit­ge­stal­ter, der Akti­vist İbrahim Ars­lan (Über­le­ben­der des ras­sis­ti­schen Brand­an­schlags 1992 in Mölln) betont gegen­über Untie­fen: »Wir haben die gesamte Aus­stel­lung gemein­sam kon­zi­piert, haben die Ver­net­zung der Betrof­fe­nen und das Empower­ment gemacht und unsere Exper­tise ein­ge­bracht.« Er fin­det die Aus­stel­lung gelun­gen, denn: »Die Betrof­fe­nen sind zufrie­den. Ihre Wün­sche und Bedürf­nisse ste­hen im Vor­der­grund. Das ist rela­tiv neu, dass Antifaschist:innen und Anti­ras und Insti­tu­tio­nen uns ein­be­zie­hen. Ich führe das zurück auf unse­ren Wider­stand und unsere Kämpfe. Wir machen her­vor­ra­gende Arbeit und lang­sam wer­den unsere Inter­ven­tio­nen auch staat­lich anerkannt.«

Die Aus­stel­lung prä­sen­tiert auf über drei­ßig Tafeln die jeweils wich­tigs­ten und prä­gnan­tes­ten Fälle rech­ter Gewalt für die Nach­kriegs­jahr­zehnte, aber auch Wider­stands­be­we­gun­gen fin­den Erwäh­nung. So bie­tet sie einen sehr guten Über­blick über die Wel­len rech­ter Gewalt – und eig­net sich gut auch für jün­gere Antifaschist:innen, die viel­leicht das Gefühl haben, diese Geschichte Ham­burgs bis­lang nur bruch­stück­haft zu ken­nen. Aber auch für schon län­ger Inter­es­sierte gibt es neue Abgründe und bis­lang unbe­kannte Opfer zu ent­de­cken, selbst für den His­to­ri­ker Onken von der KZ-Gedenkstätte: »Beson­ders krass finde ich den Fall des Zei­tungs­bo­ten Rudi M., der 1988 in Eims­büt­tel von einem Skin­head ersto­chen wurde, weil er ihm angeb­lich homo­se­xu­elle Avan­cen gemacht hat. Ich hatte noch nie vor­her von Rudi M. gehört. Sein Fall ist total unbekannt.«

Nicht viel bekann­ter dürfte das Schick­sal des thai­län­di­schen Inge­nieurs Pray­ong Rung­jangs sein, der 1977 an den Fol­gen eines Neonazi-Übergriffs in der Tal­straße starb. Hier hält ledig­lich sein Sohn, der Video- und Objekt­künst­ler Arin Rung­jang, die Erin­ne­rung wach.

Der Gedenk­stein für Süley­man Tas­köprü in der Schüt­zen­straße in Bah­ren­feld. Foto: Kati Jurischka, Stif­tung Ham­bur­ger Gedenk­stät­ten und Lernorte

Was tun mit den Tätern?

Auch auf der Täter:innenseite lie­fert die Aus­stel­lung einen Über­blick über die Orga­ni­sa­tio­nen  und zen­tra­len Per­so­nen. Nazi-Haufen wie die »Ham­bur­ger Bru­der­schaft«, »Akti­ons­front Natio­na­ler Sozia­lis­ten«, die »Wehrwolf-Gruppe«, die »Deut­schen Akti­ons­grup­pen« und natür­lich der »NSU« wer­den vor­ge­stellt. Dabei ver­zich­ten die Kurator:innen auf per­sön­li­che Anek­do­ten und letzt­lich auch auf The­sen dazu, warum bestimmte Milieus und Per­so­nen ers­tens für rechts­extreme Ideo­lo­gie emp­fäng­lich sind und zwei­tens den Schritt zur Gewalt gehen. Ledig­lich für die unmit­tel­bare Gegen­wart ver­weist die Aus­stel­lung dar­auf, dass die Zustim­mungs­werte der AfD mit Beginn des Krie­ges gegen die Ukraine und der zuneh­men­den Infla­tion gestie­gen seien. Die theo­re­ti­sche Zurück­hal­tung ist vor dem Hin­ter­grund der Fokus­sie­rung auf die Opfer und aus Platz­grün­den zwar ver­ständ­lich, erschwert es aber, Schluss­fol­ge­run­gen für die Gegen­wart zu zie­hen. Das Video-Interview am Ende der Aus­stel­lung schließt mit Wor­ten Thời Trọng Ngũs, Über­le­ben­der des Anschlags in der Hals­ke­straße von 1980 und Akti­ver der »Initia­tive für ein Geden­ken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân«: »Wie kann man wei­tere Taten ver­mei­den? Das ist die Frage.« Die Aus­stel­lung ant­wor­tet auf ihren letz­ten Tafeln: durch anti­fa­schis­ti­schen und migran­ti­schen Wider­stand sowie durch brei­tes gesell­schaft­li­ches Enga­ge­ment und staat­li­che Maß­nah­men gegen Rechts. Das ist natür­lich uner­läss­lich. Aber bleibt der anti­fa­schis­ti­sche Wider­stand nicht im Modus des ewi­gen Reagie­rens, wenn er über kein Kon­zept der gesell­schaft­li­chen Hin­ter­gründe rech­ter Gewalt ver­fügt? Wenn er nicht nach der psy­chi­schen und öko­no­mi­schen Funk­tio­na­li­tät von Res­sen­ti­ment und Gewalt fragt?

İbrahim Ars­lan hebt im Gespräch auch hier die Bedeu­tung der Betrof­fe­nen­fo­kus­sie­rung her­vor: »Migran­tisch situ­ier­tes Wis­sen hat schon in den 1980ern ras­sis­tisch moti­vierte Taten vor­her­ge­sagt.« Sei­ner Wahr­neh­mung nach konnte man sich auch bei die­ser Aus­stel­lung nicht von »einer gewis­sen Täter­fo­kus­sie­rung« befreien. Das Inter­esse an den Täter:innen und den Tat­hin­ter­grün­den sei zwar ver­ständ­lich, grade jetzt ange­sichts der ans Licht gekom­me­nen Deportations-Pläne im Umfeld der AfD. Aber das führe eben immer wie­der zu der Vor­stel­lung, man habe es nun mit etwas Neuem zu tun. Statt­des­sen sei klar: »Die AfD wird von Neo­na­zis getra­gen. Diese Pläne gibt es schon seit der Grün­dung der AfD.« Und würde man Betrof­fe­nen zuhö­ren, so Ars­lan wei­ter, wüsste man, dass sie auch dar­auf schon lange hinweisen.

Was ist »rechte Gewalt«?

Eine kon­zep­tu­elle Unklar­heit der Aus­stel­lung ist der­weil deut­lich spür­bar. »Rechts­extre­mes Den­ken« wird zunächst breit gefasst, im Sinne einer all­ge­mei­nen, grup­pen­be­zo­ge­nen Men­schen­feind­lich­keit: »Grund­le­gend ist die Auf­fas­sung von einer gene­rel­len Ungleich­wer­tig­keit der Men­schen.« Laut Lenn­art Onken hat das Aus­stel­lungs­team in die­ser Per­spek­tive allein durch eigene Recher­chen eine Liste von 500 doku­men­tier­ten Fäl­len zusam­men­ge­stellt, die von Belei­di­gun­gen bis zum Mord rei­chen. Ein par­al­lel lau­fen­des For­schungs­pro­jekt der For­schungs­stelle für Zeit­ge­schichte Ham­burg (FZH), der KZ-Gedenkstätte sowie der Lan­des­zen­trale für poli­ti­sche Bil­dung unter dem Titel »HAMREA – Ham­burg rechts­au­ßen« hat laut Onken für Ham­burg und das Umland seit 1945 schon »über 1000 Fälle« zusam­men­ge­tra­gen – mit einer ver­mut­lich deut­lich höhe­ren Dun­kel­zif­fer. Die Ergeb­nisse die­ses For­schungs­pro­jekts wer­den fort­lau­fend sehr anschau­lich auf der neuen Web­site ver­öf­fent­licht: https://rechtegewalt-hamburg.de/
Selbst­ver­ständ­lich kön­nen aber 1000 oder auch nur 500 Fälle nicht in einer Aus­stel­lung prä­sen­tiert wer­den. Ange­sichts der Fülle rech­ter Taten fokus­sie­ren die Kurator:innen not­wen­dig auf bestimmte Opfer- und Täter­grup­pen. Laut Onken haben die Kurator:innen ver­sucht, für jedes Nach­kriegs­jahr­zehnt die zen­tra­len Fälle dar­zu­stel­len: »Wir haben uns gefragt: Was ist jeweils das bestim­mende Thema, das bestim­mende Feind­bild der extre­men Rech­ten gewe­sen?« Nur die sie­ben doku­men­tier­ten Todes­op­fer rech­ter Gewalt wur­den ohne sol­che Gewich­tung auf­ge­nom­men. Dar­un­ter ist auch der Fall des Bau­in­ge­nieurs Neşet Danış, der 1977 in Nor­der­stedt bei einem Über­fall von tür­ki­schen Rech­ten aus dem Umfeld der »Grauen Wölfe« lebens­ge­fähr­lich ver­letzt wurde und spä­ter sei­nen Ver­let­zun­gen erlag. Das wirft die Frage auf: Zäh­len sol­che nicht-deutschen extre­mis­ti­schen Gewalt­ta­ten zu »rech­ter Gewalt«? Und wie ist es mit isla­mis­ti­scher oder isra­el­feind­li­cher Gewalt, die ja auch anti­se­mi­tisch moti­viert ist? In der Aus­stel­lung tau­chen etwa von den spä­ten 1970ern bis in die 2020er keine anti­se­mi­ti­schen Gewalt­ta­ten auf.

Onken erläu­tert den Umgang des Kurator:innen-Teams so: »Wir haben recht früh gesagt, dass wir uns auf die bio­deut­sche extrem rechte Szene fokus­sie­ren.« Und für die wäre der Anti­se­mi­tis­mus zwar in den Nach­kriegs­jah­ren sehr wich­tig gewe­sen, in den 1980ern habe sich das Feind­bild aller­dings deut­lich auf Migrant:innen ver­la­gert. »Beim Anti­se­mi­tis­mus kommt noch hinzu, dass es kein Allein­stel­lungs­merk­mal der extre­men Rech­ten ist, son­dern da unter­schied­li­che Gruppe zur Tat schrei­ten.« Bei der Fokus­sie­rung habe auch die Sorge eine Rolle gespielt, sich durch wei­tere The­men in Dis­kus­sio­nen zu ver­stri­cken, die von der Kon­ti­nui­tät deut­scher extrem rech­ter Gewalt ablen­ken könn­ten. Onken ergänzt aller­dings: »Grade im Nach­gang des 7. Okto­ber 2023 ist frag­lich, ob das so auch in Zukunft wei­ter klug und mach­bar ist. Mit Blick auf den Isla­mis­mus würde es aus mei­ner Sicht Sinn machen, die extreme Rechte und den Isla­mis­mus enger zusam­men zu den­ken. Denn beide tei­len die Moder­ni­täts­feind­schaft und den viru­len­ten Antisemitismus.«

Die Fokus­sie­rung schafft es aber, zumin­dest für die deut­sche extrem rechte Gewalt, einen guten Über­blick über Opfer, Täter und Kon­ti­nui­tä­ten zu geben. Viel­leicht kann sie den Wunsch der Mehr­heits­ge­sell­schaft unter­lau­fen, in den kom­men­den rech­ten Mobi­li­sie­run­gen und den staat­li­chen Reak­tio­nen wie­der eigent­lich doch längst Über­wun­de­nes, Ewig­gest­ri­ges aus einer ganz ande­ren Zeit zu sehen. Gülü­stan Avcı, die Witwe des 1983 ermor­de­ten Rama­zan Avcı, beklagte bei der Eröff­nung der Aus­stel­lung am Frei­tag unter ande­rem, dass in Ham­burg bis heute kein Unter­su­chungs­aus­schuss zum Mord des „NSU“ an Süley­man Taş­köprü ein­ge­rich­tet wurde. Auch das kann man im Gedächt­nis behal­ten, wenn man die­ser Tage mit der »Mitte« und den regie­ren­den Par­teien gegen Rechts demonstriert.

Felix Jacob


Die Aus­stel­lung »Rechte Gewalt in Ham­burg von 1945 bis heute« ist vom 19.01.2024 bis zum 18.02.2024 kos­ten­los in der Rat­haus­diele zu sehen. Öffnungszeiten:

Mon­tag bis Frei­tag 7.00 –19.00 Uhr
Sams­tag 10.00 –18.00 Uhr
Sonn­tag 10.00 –17.00 Uhr

Die Web­site des For­schungs­pro­jek­tes »Ham­burg rechts­au­ßen. Rechts­extreme Gewalt- und Akti­ons­for­men in, mit und gegen die städ­ti­sche Gesell­schaft« ist unter https://rechtegewalt-hamburg.de/ zu erreichen.

45 Jahre Frauenhäuser in Hamburg

45 Jahre Frauenhäuser in Hamburg

Im August 1977 eröff­nete das erste der auto­no­men Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser. Seit­dem sind sie uner­läss­lich für den Schutz vor Gewalt. Doch die Plätze sind rar und die Finan­zie­rung von poli­ti­schem Wohl­wol­len abhän­gig. Aus einer femi­nis­ti­schen Pra­xis sind pre­käre Insti­tu­tio­nen gewor­den. Anläss­lich des Inter­na­tio­nen Tags gegen Gewalt an Frauen fragt unsere Autorin eine Mit­ar­bei­te­rin: Wie geht es den Ham­bur­ger Frau­en­häu­sern heute?

Die For­de­rung bleibt bestehen. Trans­pa­rent auf einer »One Billion-Rising«-Aktion gegen Gewalt an Frauen 2014 in Ham­burg. Foto: www.sommer-in-hamburg.de Lizenz: CC BY-SA 2.0

Für die Frau­en­be­we­gung der 1970er-Jahre war die Orga­ni­sie­rung gegen Gewalt gegen Frauen zen­tra­ler Bestand­teil der poli­ti­schen Arbeit. Gewalt in der Bezie­hung galt zuvor lange als »Ein­zel­schick­sal«. Die Frauen der zwei­ten Welle des Femi­nis­mus the­ma­ti­sier­ten diese männ­li­che Gewalt durch Selbst­er­fah­rungs­grup­pen und Orga­ni­sie­rung als struk­tu­rel­les Pro­blem von Frauen im Patri­ar­chat. Auch in Ham­burg orga­ni­sier­ten sich im Jahr 1976 Frauen, um gegen geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt zu kämp­fen. Sie grün­de­ten den Ver­ein Frauen hel­fen Frauen e.V. und erschu­fen inner­halb eines Jah­res das erste auto­nome Ham­bur­ger Frau­en­haus. Das Selbst­ver­ständ­nis damals: Das Frau­en­haus ist ein Teil der Frau­en­be­we­gung und soll unab­hän­gig sein – alle Frauen ent­schei­den gemein­sam, was pas­sie­ren soll.

Da die Finan­zie­rung noch nicht staat­lich abge­si­chert war, muss­ten die Frauen zunächst alles selbst machen – reno­vie­ren, Möbel orga­ni­sie­ren, Spen­den sam­meln, das Haus schüt­zen. So erin­nert sich auch eine Zeit­zeu­gin in der fil­mi­schen Doku­men­ta­tion »Juli 76 – Das Pri­vate ist Poli­tisch« an die ers­ten Jahre des Hau­ses: »Selbst­or­ga­ni­sa­tion. Selbst­be­stim­mung. Das ist auch eine Uto­pie gewe­sen.« Das Frau­en­haus selbst war femi­nis­ti­sche Praxis.

Selbstorganisation und Professionalisierung

Die Selbst­or­ga­ni­sa­tion stieß jedoch auch an zeit­li­che, finan­zi­elle und emo­tio­nale Gren­zen, wie die ehe­ma­lige Redak­teu­rin der Ham­bur­ger Frau­en­zei­tung Dr. Andrea Lass­alle in einer Chro­nik der Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser im digi­ta­len deut­schen Frau­en­ar­chiv nach­zeich­net. Inner­halb der Frau­en­be­we­gung wur­den daher Debat­ten um die Orga­ni­sie­rung und Struk­tur der Frau­en­häu­ser geführt, die eng ver­zahnt waren mit den dama­li­gen poli­ti­schen und theo­re­ti­schen Ana­ly­sen um (unbe­zahlte) Sor­ge­ar­beit, Hier­ar­chie­frei­heit und Unabhängigkeit.

Mitt­ler­weile wur­den Frau­en­häu­ser durch bezahlte Mit­ar­bei­te­rin­nen aus der Sozia­len Arbeit pro­fes­sio­na­li­siert. Dadurch ent­stand ein Wider­spruch zwi­schen Selbst­wirk­sam­keit und Pro­fes­sio­na­li­tät, der im All­tag der Mit­ar­bei­te­rin­nen und Bewoh­ne­rin­nen bis heute eine Rolle spielt. Im Gespräch mit Untie­fen berich­tet eine Mit­ar­bei­te­rin eines Frau­en­hau­ses in der Metro­pol­re­gion Ham­burg, die Pro­fes­sio­na­li­sie­rung sei grund­sätz­lich der anspruchs­vol­len Arbeit mit Frauen und Kin­dern aus aku­ten Gewalt­si­tua­tio­nen ange­mes­sen. In vie­len auto­no­men Frau­en­häu­sern über­neh­men aller­dings auch die Bewoh­ne­rin­nen selbst noch Teile der täg­li­chen Arbeit, bei­spiels­weise die nächt­li­che Aufnahme.

In Ham­burg ist dafür seit 2016 die 24/7, die zen­trale Not­auf­nahme für die Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser, zustän­dig. Die Mit­ar­bei­te­rin­nen neh­men die akut betrof­fe­nen Frauen auf und ver­mit­teln sie dann an Häu­ser wei­ter. Dies ent­laste die Bewoh­ne­rin­nen von den nächt­li­chen und wöchent­li­chen Not­diens­ten, so die Mit­ar­bei­te­rin. Gleich­wohl könne es den Bewoh­ne­rin­nen auch Stärke zurück­ge­ben, einen Teil bei­zu­tra­gen und andere Frauen zu unter­stüt­zen. Aller­dings über­neh­men die Bewoh­ne­rin­nen diese Auf­ga­ben nicht in ers­ter Linie auf­grund die­ser ermäch­ti­gen­den Wir­kung, son­dern schlicht­weg, weil das Per­so­nal fehle.

Kein Frau­en­haus, son­dern der Sitz von Frauen hel­fen Frauen e.V., der ande­ren Trä­ger­ver­eine der auto­no­men Frau­en­häu­ser sowie der Koor­di­na­ti­ons­stelle der 24/7 in der Aman­da­straße.
Foto: Dirtsc Lizenz: CC BY-SA 3.0

Die befürch­tete Hier­ar­chie zwi­schen pro­fes­sio­na­li­sier­ten und ehren­amt­lich arbei­ten­den Frauen in den Häu­sern konnte trotz basis­de­mo­kra­ti­scher Struk­tur nicht ver­mie­den wer­den. Da die Frau­en­häu­ser mitt­ler­weile öffent­lich finan­ziert und tarif­lich gebun­den sind, wer­den auch die Anfor­de­run­gen an die Qua­li­fi­ka­tio­nen der Mit­ar­bei­te­rin­nen höher – und schlie­ßen damit viele Frauen, auch ehe­ma­lige Bewoh­ne­rin­nen, aus. Doch gerade diese Frauen brin­gen oft sowohl eigene Erfah­rung mit part­ner­schaft­li­cher Gewalt und dem Leben im Frau­en­haus mit als auch Sprach­kennt­nisse, die dem Leben im Haus zuträg­lich sein könn­ten. Die geringe Aner­ken­nung aus­län­di­scher Abschlüsse in der Sozia­len Arbeit und die struk­tu­relle Ungleich­heit im Bil­dungs­sys­tem in Deutsch­land tra­gen dazu bei, dass die Mit­ar­beit im Frau­en­haus nicht allen glei­cher­ma­ßen zugäng­lich ist – und die Teams ihrem Anspruch an Diver­si­tät nicht immer gerecht wer­den können.

Feministische Debatten in der Frauenhauspraxis

Mit dem Auf­tre­ten anti­ras­sis­ti­scher Dis­kurse an den Uni­ver­si­tä­ten und in der femi­nis­ti­schen Szene ent­brann­ten auch inner­halb der Frau­en­häu­ser Debat­ten über Ras­sis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung, im Zuge derer mit Quo­tie­run­gen in den Teams und bei den Auf­nah­men expe­ri­men­tiert wurde. Weni­ger dis­ku­tiert wurde hin­ge­gen jah­re­lang das hot topic der aktu­el­len femi­nis­ti­schen Debat­ten: Was ist eine Frau? Bis vor weni­gen Jah­ren, so eine Mit­ar­bei­te­rin, war die Dis­kus­sion darum, was Geschlecht eigent­lich ist, in Frau­en­häu­ser nicht anschluss­fä­hig. Dies ändert sich jedoch der­zeit, ins­be­son­dere durch jün­gere Kolleginnen.

Die etwa in der Debatte um das »Selbst­be­stim­mungs­ge­setz« geäu­ßerte Befürch­tung eini­ger Femi­nis­tin­nen, Frau­en­schutz­räume könn­ten unter­lau­fen wer­den, wenn Geschlecht an eine emp­fun­dene Iden­ti­tät statt an kör­per­li­che Merk­male geknüpft ist, erscheint ange­sichts des von der Mit­ar­bei­te­rin beschrie­be­nen Frau­en­haus­all­tags weni­ger eine prak­ti­sche als viel­mehr eine theo­re­ti­sche Frage zu sein: »Die Frau kommt – die kann mir auch irgend­was erzäh­len, wer sie ist – sie muss mir auch nicht ihren Perso zei­gen. So arbei­ten wir nicht. Die Frau erzählt, und wenn sie von häus­li­cher Gewalt betrof­fen ist, dann wird sie auf­ge­nom­men.« Der recht­li­che Per­so­nen­stand spielt in der Pra­xis keine Rolle. Jede Auf­nahme ist außer­dem eine Ein­zel­fall­ent­schei­dung und berück­sich­tigt die Erfah­run­gen der Bewoh­ne­rin­nen. Und: nicht jede sei für diese Art des Zusam­men­woh­nens geeig­net, auch das spielt bei den Auf­nah­me­ge­sprä­chen eine Rolle.

In Ham­burg wurde zudem vor zwei Jah­ren das 6. Frau­en­haus gegrün­det, das sich expli­zit als Schutz­raum für trans Frauen posi­tio­niert und die seit Jah­ren gän­gige Pra­xis unter­mau­ert.  Viel wich­ti­ger als die theo­re­ti­sche Defi­ni­tion von Geschlecht erscheint jedoch die Frage, ob in den Häu­sern über­haupt genug Plätze vor­han­den sind. Zu Beginn der Pan­de­mie fehl­ten in Ham­burg rund 200 Frau­en­haus­plätze.

Zu wenige Plätze, zu wenig Geld, zu wenig Personal

Obwohl aktu­elle inner­fe­mi­nis­ti­sche Debat­ten durch­aus zum Thema wer­den, nimmt das all­täg­li­che Rotie­ren, auch auf­grund feh­len­den Per­so­nals, in den Häu­sern einen Groß­teil der Zeit ein. Die Art und Weise der öffent­li­chen Finan­zie­rung unter­schei­det sich je nach Bun­des­land und Gemeinde. Wäh­rend in Ham­burg, Schleswig-Holstein und Ber­lin die auto­no­men Frau­en­häu­ser durch eine Pau­schale pro Platz im Haus finan­ziert wer­den, ist die Finan­zie­rung in ande­ren Bun­des­län­dern direkt an die betrof­fene Frau gekop­pelt. Da sie in eini­gen Län­dern über das Sozi­al­hil­fe­ge­setz abge­wi­ckelt wird, sind Frauen mit eige­nem Ein­kom­men, Stu­den­tin­nen und Frauen mit unsi­che­rem Auf­ent­halts­sta­tus davon aus­ge­schlos­sen. Diese Frauen wer­den, wenn mög­lich, in Län­dern mit Pau­schal­fi­nan­zie­rung unter­ge­bracht, da sie die Plätze sonst selbst zah­len müss­ten – vor­aus­ge­setzt, Auf­ent­halts­be­stim­mun­gen oder der Job las­sen einen Umzug zu und es sind freie Plätze vor­han­den. Die Zen­trale Infor­ma­ti­ons­stelle der auto­no­men Frau­en­häu­sern (ZIF) for­dert dem­entspre­chend eine bun­des­weite ein­zel­fall­un­ab­hän­gige Finan­zie­rung der Frauenhäuser.

Doch auch die pau­schale Finan­zie­rung bringt Schwie­rig­kei­ten mit sich. Der Erhalt sowie die Aus­wei­tung der Plätze sind vom Wohl­wol­len der jewei­li­gen Lan­des­re­gie­run­gen abhän­gig. Um einer dro­hen­den Schlie­ßung zu ent­ge­hen, wur­den im Jahr 2006 das 1. und das 3. Auto­nome Frau­en­haus zusam­men­ge­legt. Der CDU-geführte Senat hatte Kür­zun­gen beschlos­sen, da die Ver­sor­gungs­lage in Ham­burg bes­ser sei als in ande­ren Großstädten.

Femi­nis­ti­sche Per­fo­mance »Der Ver­ge­wal­ti­ger bist du« des Kol­lek­tivs Las Tesis aus Argen­ti­nien, die mitt­ler­weile auch in Ham­burg regel­mä­ßig zum 25. Novem­ber im Rah­men von Demons­tra­tio­nen auf­ge­führt wird. Foto: Paulo Sla­chevsky Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

Männergewalt und Femizide

Laut behörd­li­cher Aus­künfte wur­den in Ham­burg im lau­fen­den Jahr ins­ge­samt 16 Frauen getö­tet, sechs davon von ihrem (Ex-)Partner, bei den zehn ande­ren ist die Ein­ord­nung unklar. Die Zahl der Femi­zide, also der Tötung von Frauen und Mäd­chen auf­grund ihres Geschlechts, ist in jedem Fall alar­mie­rend. Aller­dings ist Femi­zid im deut­schen Recht kein eige­ner Tat­be­stand, er wird unter Part­ner­schafts­ge­walt sub­su­miert. Stu­dien und genaue Fall­zah­len zu Femi­zi­den feh­len ent­spre­chend im deutsch­spra­chi­gen Raum weit­ge­hend. Die frau­en­po­li­ti­sche Spre­che­rin der Links­frak­tion in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft Cansu Özd­emir kri­ti­sierte daher jüngst den Senat für seine Wei­ge­rung, eine Unter­su­chung zu Femi­zi­den in Ham­burg als »nötige wis­sen­schaft­li­che Basis für ein ziel­ge­rich­te­tes und wir­kungs­vol­les Prä­ven­ti­ons­kon­zept« in Auf­trag zu geben.

Bewoh­ne­rin­nen und ehe­ma­li­gen Bewoh­ne­rin­nen von Frau­en­häu­sern steht die Gefahr, Opfer eines Femi­zids zu wer­den, beson­ders deut­lich vor Augen. 2018 wurde die 42-Jährige Juliet H. von ihrem Expart­ner ermor­det. Nach­dem sie in einem Ham­bur­ger Frau­en­haus Schutz gesucht hatte, zog sie mit ihren Kin­dern in eine eigene Woh­nung, wo sie von ihrem Exmann getö­tet wurde. Doch nicht nur für die Bewoh­ne­rin­nen sind sol­che Fälle alar­mie­rend. Es setzt auch die Mit­ar­bei­te­rin­nen enorm unter Druck, die mit knap­pen Res­sour­cen und staat­li­chen Hür­den kämp­fen, um den Frauen Schutz und eine Per­spek­tive zu bieten.

Väter­rechte ste­hen über dem Schutz von Frauen und ihren Kin­dern. Die Ver­än­de­run­gen im Fami­li­en­recht der letz­ten Jahre machen die Situa­tion von Frauen aus Gewalt­be­zie­hun­gen gefähr­li­cher. Die Zeit unmit­tel­bar nach der Tren­nung vom gewalt­tä­ti­gen Part­ner birgt das höchste Risiko, Opfer eines (ver­such­ten) Femi­zids zu wer­den. Umso wich­ti­ger ist dann ein unkom­pli­zier­ter Zugang zu einem Frau­en­haus. Die­ser Schutz wird aller­dings durch das fami­li­en­recht­lich ange­strebte Wech­sel­mo­dell untergraben.

Das von der jet­zi­gen Bun­des­re­gie­rung in den Mit­tel­punkt von Sorge- und Umgangs­recht gestellte Wech­sel­mo­dell soll eigent­lich zu einer gleich­be­rech­tig­ten Auf­tei­lung der Erzie­hung und Ver­ant­wor­tung für gemein­same Kin­der füh­ren. Es bedarf jedoch einer Kom­mu­ni­ka­tion auf Augen­höhe, um die nöti­gen Abspra­chen für die­ses Arran­ge­ment zu tref­fen. Übt der Vater Gewalt über die Mut­ter aus, ist diese Augen­höhe offen­sicht­lich nicht gege­ben. Aus der Pra­xis berich­tet die Mit­ar­bei­te­rin, dass dem Vater durch das Umgangs­recht in die­sen Fäl­len ermög­licht wird, wei­ter­hin Kon­trolle und Gewalt aus­zu­üben. Das Wech­sel­mo­dell steht des­halb bei Femi­nis­tin­nen und Initia­ti­ven für Allein­er­zie­hende Müt­ter in der Kri­tik.

Gerichte ord­nen sogar bei Müt­tern, die im Frau­en­haus leben, das Wech­sel­mo­dell an. Die Mit­ar­bei­te­rin des Frau­en­hau­ses beschreibt: »Wenn die [Frau] Kin­der hat, geht’s sofort los mit Kon­takt zu Jugend­amt, Kon­takt zu Anwäl­ten, dann wird irgend­wer ver­su­chen sofort das Auf­ent­halts­be­stim­mungs­recht zu bean­tra­gen, es wer­den Sofort­um­gänge in die Wege gelei­tet mit den gewalt­tä­ti­gen Vätern – und das ist krass.«

Die Gerichte gin­gen ohne wei­te­res davon aus, dass die Gewalt durch den Aus­zug der Mut­ter auf­ge­hört habe und also bei Ver­fah­ren zum Sorge- und Umgangs­recht nicht berück­sich­tigt zu wer­den brau­che. Die Müt­ter müss­ten daher irgend­wie Vor­keh­run­gen tref­fen, um dem gewalt­tä­ti­gen Mann die Kin­der zu über­ge­ben, ohne sich selbst in Gefahr zu brin­gen. Durch Per­so­nal­man­gel ist es den Mit­ar­bei­te­rin­nen in den Frau­en­häu­sern oft nicht mög­lich, Frauen zu die­sen Über­ga­ben zu begleiten.

Nach 45 Jah­ren sind auto­nome Frau­en­häu­ser also zwar aner­kannte Insti­tu­tio­nen zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Aber ihre Exis­tenz bleibt pre­kär und die Situa­tion der Frauen selbst wird kom­ple­xer. Die Mit­ar­bei­te­rin und ihre Kol­le­gin­nen erwar­ten vom Senat und der Bun­des­re­gie­rung eine Erhö­hung der Anzahl der Plätze und eine bun­des­weite pau­schale Finan­zie­rung. Im Sorge- und Umgangs­recht müsse das Per­so­nal geschult wer­den, um den Gewalt­schutz kon­se­quen­ter berück­sich­ti­gen. Nicht die Frauen soll­ten im Haus Schutz suchen und dann um ihre Kin­der kämp­fen müs­sen, son­dern die Män­ner soll­ten bewei­sen, dass sie nicht gefähr­lich sind, schließt die Mitarbeiterin.

Lea Rem­mers

Die Autorin schrieb für Untie­fen bereits über die Her­bert­straße als Sym­bol männ­li­cher Herrschaft.

Kühne-Preis: Kulturförderung als Schweigegeld?

Kühne-Preis: Kulturförderung als Schweigegeld?

Am 18. Sep­tem­ber wird im Rah­men des Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­vals in Ham­burg der renom­mierte Klaus-Michael Kühne-Preis ver­lie­hen. Nun haben zwei Schriftsteller:innen ihre Nomi­nie­run­gen zurück­ge­zo­gen – weil der Geld- und Namens­ge­ber die NS-Historie sei­nes Fami­li­en­un­ter­neh­mens nicht auf­ar­beite. Wir hat­ten zuvor sie und die übri­gen Nomi­nier­ten kon­tak­tiert, um über die finan­zi­elle Abhän­gig­keit des Kul­tur­be­trie­bes von pri­va­ter För­de­rung und die Image­po­li­tik pro­ble­ma­ti­scher Mäzene zu spre­chen.

Weiß wie die Unschuld: In Küh­nes Luxus­ho­tel „The Fon­tenay“ an der Als­ter soll der Klaus-Michael Kühne-Preis am 18.09. ver­lie­hen wer­den. Foto: travelswiss1 Lizenz: CC BY-NC 2.0

Im Kunst- und Kul­tur­be­trieb rumort es: Das Lon­do­ner Bri­tish Museum benennt alle nach einem Groß­spen­der benann­ten Räume um, die Video­künst­le­rin Hito Stey­erl zieht eines ihrer Werke aus einer ange­se­he­nen Samm­lung zurück, die Salz­bur­ger Fest­spiele been­den in Reak­tion auf einen offe­nen Brief des Autors Lukas Bär­fuss und der Regis­seu­rin Yana Ross die Zusam­men­ar­beit mit einem Spon­sor. All diese Aus­ein­an­der­set­zun­gen ereig­ne­ten sich in den letz­ten Mona­ten. Und bei allen ging es um ganz ähn­li­che Fra­gen: Wer finan­ziert eigent­lich Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen und Kul­tur­schaf­fende? Aus wel­chen Quel­len stam­men die Mil­li­ar­den an pri­va­ten Mit­teln, mit denen Museen, Kon­zert­häu­ser, Preise und Fes­ti­vals geför­dert wer­den? Und wie kann oder soll man sich gegen­über ›schmut­zi­gen‹ För­der­gel­dern ver­hal­ten, die aus frag­wür­di­gen Quel­len stam­men und von den Geldgeber:innen zum Rein­wa­schen des eige­nen Namens bzw. dem Ver­de­cken von Schand­ta­ten genutzt werden?

Auf die Frage nach dem prak­ti­schen Umgang haben Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen und Künstler:innen in den genann­ten drei Fäl­len klare Ant­wor­ten gefun­den. Sie zogen Kon­se­quen­zen dar­aus, dass die Mil­li­ar­därs­fa­mi­lie Sack­ler mit ihrem Unter­neh­men Pur­due Pharma maß­geb­lich für die Opio­id­krise in den USA ver­ant­wort­lich war; dar­aus, dass die Unter­neh­me­rin und Kunst­samm­le­rin Julia Sto­schek ihr Mil­li­ar­den­ver­mö­gen ihrem Nazi-Urgroßvater ver­dankt, der den Auto­mo­bil­zu­lie­fe­rer Brose grün­dete, den NS-Staat belie­ferte und als treues NSDAP-Mitglied zum Wehr­wirt­schafts­füh­rer auf­stieg; und dar­aus, dass das Berg­bau­un­ter­neh­men Sol­way nicht nur mas­sive Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und Umwelt­zer­stö­rung ver­ant­wor­tet, son­dern zudem enge Ver­bin­dun­gen zum Kreml unter­hal­ten soll.

Die Kühne-Stiftung

Eine in Ham­burg beson­ders aktive und eben­falls frag­wür­dige Kul­tur­spon­so­rin ist die Kühne-Stiftung: Bei der Elb­phil­har­mo­nie, dem Phil­har­mo­ni­schen Staats­or­ches­ter und dem Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­val tritt die Stif­tung als Haupt­för­de­rin auf. Gegrün­det wurde sie 1976 vom Unter­neh­mer Alfred Kühne, sei­ner Frau Mer­ce­des und ihrem gemein­sa­mem Sohn Klaus-Michael Kühne. Das Stif­tungs­ka­pi­tal stammt aus den Erträ­gen der Kühne Hol­ding, also vor­ran­gig aus jenen des Unter­neh­mens Kühne + Nagel (K+N), eines der welt­weit größ­ten Transport- und Logistikunternehmen.

Damit aber ver­dankt sich das Kapi­tal zum einen dem Umstand, dass Alfred Kühne und sein Bru­der Wer­ner 1933 ihren jüdi­schen Teil­ha­ber Adolf Maass aus dem Unter­neh­men dräng­ten, und zum ande­ren der maß­geb­li­chen Betei­li­gung von K+N an der ›Ari­sie­rung‹ jüdi­schen Eigen­tums in den von Deutsch­land besetz­ten Län­dern wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs. Hinzu kommt: Klaus-Michael Kühne, der das Unter­neh­men von 1966 bis 1998 lei­tete und bis heute sowohl die Mehr­heit der Akti­en­an­teile als auch die Fäden in der Hand hält, zeigt kei­ner­lei Ver­ständ­nis dafür, dass die NS-Vergangenheit sei­nes Unter­neh­mens »immer wie­der hoch­ge­kocht wird«, und wehrt jeg­li­che Auf­ar­bei­tung die­ser – sei­ner – Familien- und Unter­neh­mens­ge­schichte vehe­ment ab.

Kulturförderung als Schweigegeld

Bis­lang scheint Klaus-Michael Küh­nes Stra­te­gie des Rela­ti­vie­rens und Ver­schwei­gens auf­zu­ge­hen. Zwar haben ins­be­son­dere aus Anlass des 125-jährigen Fir­men­ju­bi­lä­ums im Jahr 2015 viele Medien kri­tisch über die Unter­neh­mens­ge­schichte berich­tet, über die man dank der Recher­chen des ehe­ma­li­gen taz-Redak­teurs Hen­ning Bleyl und von His­to­ri­kern wie Wolf­gang Dre­ßen, Frank Bajohr und Johan­nes Beermann-Schön immer­hin eini­ges weiß. Doch einer brei­ten Öffent­lich­keit sind Klaus-Michael Kühne und sein Unter­neh­men nach wie vor nicht als NS-Profiteure bekannt. Das öffent­li­che Bild von Kühne bestimmt viel­mehr sein Enga­ge­ment als Inves­tor und Kul­tur­för­de­rer. Die Ham­bur­ger Mor­gen­post etwa ver­öf­fent­lichte in den letz­ten zwei Jah­ren 50 Arti­kel über Kühne; nur ein ein­zi­ger von ihnen behan­delt die Geschichte des Unter­neh­mens im Natio­nal­so­zia­lis­mus und seine Nach­ge­schichte. Statt­des­sen pro­du­ziert Kühne (über­wie­gend) posi­tive Schlag­zei­len mit sei­nem Enga­ge­ment beim HSV (dem er die Benen­nung des Sta­di­ons nach Uwe See­ler finan­zie­ren will), mit Inves­ti­tio­nen (er hat seine Anteile an der Luft­hansa und an der Immo­bi­li­en­ge­sell­schaft Signa Prime erhöht und Anteile am Elb­tower erwor­ben) und eben mit sei­nen Akti­vi­tä­ten in der Kulturförderung.

Es steht daher außer Frage: Klaus-Michael Küh­nes Mäze­na­ten­tum dient effek­tiv der Image­pflege des Fami­li­en­na­mens, dem Ver­schwei­gen bzw. Rein­wa­schen. ›Tue Gutes und sprich dar­über‹, sagt man; im Fall von Kühne ließe sich ergän­zen: ›damit über das Schlechte nicht gespro­chen wird‹. Dass er den von ihm gestif­te­ten Preis für das beste Roman­de­büt des Jah­res ganz unbe­schei­den nach sich selbst benannt hat, ist davon der wohl kras­seste Aus­druck. Es hat zur Folge, dass der Klaus-Michael-Kühne-Preis nicht nur eine Aus­zeich­nung für die Autor:innen dar­stellt, die ihn erhal­ten. Viel­mehr ver­schaf­fen die Preisträger:innen auch dem Mäzen, in des­sen an der Außen­als­ter gele­ge­nen Luxus­ho­tel The Fon­tenay die Preis­ver­lei­hung statt­fin­den wird, Anse­hen und Aner­ken­nung. Und sie drän­gen damit wider Wil­len die Betei­li­gung des Unter­neh­mens an der Ent­eig­nung von Jüdin­nen und Juden im NS aus dem Blick der Öffent­lich­keit. Wenn etwa, wie im Jahr 2014 mit Per Leos Roman Flut und Boden, die lite­ra­ri­sche Auf­ar­bei­tung einer deut­schen Fami­li­en­ge­schichte und Abrech­nung mit der NS-Täter:innengeneration den Klaus-Michael Kühne-Preis erhält, ohne dass die­ser zyni­sche Wider­spruch zur Spra­che kommt, dient der Preis ganz offen­kun­dig als Feigenblatt.

Suche nach dem angemessenen Umgang

Natür­lich haben fast alle deut­schen Groß­un­ter­neh­men, die vor 1945 gegrün­det wur­den, eine Ver­bre­chens­ge­schichte. Der nie­der­län­di­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler David de Jong hat das in sei­nem Buch Brau­nes Erbe kürz­lich noch ein­mal ein­drück­lich dar­ge­legt. Doch das Aus­maß der Kol­la­bo­ra­tion der Gebrü­der Alfred und Wer­ner Kühne mit dem NS-Staat, die anhal­tende Wei­ge­rung ihres Erben Klaus-Michael Kühne, diese Geschichte auf­zu­ar­bei­ten und Kon­se­quen­zen dar­aus zu zie­hen, sowie die Benen­nung des Prei­ses nach Kühne selbst machen den Klaus-Michael Kühne-Preis zu einem beson­ders her­vor­ste­chen­den Fall.

Was aber wäre ein ange­mes­se­ner Umgang mit dem pro­ble­ma­ti­schen Geld­ge­ber? Diese Frage stell­ten wir, die Redak­tion von Untie­fen, uns im Vor­feld der dies­jäh­ri­gen Ver­lei­hung des Kühne-Preises, ohne zu einer befrie­di­gen­den Ant­wort zu kom­men. Wir ver­such­ten daher im Juli, mit den acht Nomi­nier­ten des Prei­ses selbst ins Gespräch dar­über zu kom­men. In einer E‑Mail an die Autor:innen schil­der­ten wir aus­führ­lich die Ver­stri­ckung von K+N in die NS-Verbrechen und hoben vor allem die Wei­ge­rung Klaus-Michael Küh­nes her­vor, das Fir­men­ar­chiv zu öff­nen und die Unter­neh­mens­ge­schichte von unab­hän­gi­gen Historiker:innen unter­su­chen zu las­sen. In unse­rem Schrei­ben an die Nomi­nier­ten hoben wir auch die Kom­ple­xi­tät der Situa­tion her­vor und frag­ten die Autor:innen nach einem mög­li­chen Umgang:

»Klar ist einer­seits: Diese Umstände kön­nen und dür­fen nicht (wei­ter) beschwie­gen wer­den. Klar ist ande­rer­seits aber auch: Ein Lite­ra­tur­preis ist für eine Debü­tan­tin / einen Debü­tan­ten wie Sie auch über das hohe Preis­geld hin­aus von beträcht­li­cher Bedeu­tung. Hinzu kommt, dass Küh­nes eigene Ansich­ten bei der Ent­schei­dung der Jury gewiss keine Rolle spie­len wer­den. Die For­de­rung, den Preis oder gar schon die Nomi­nie­rung zurück­zu­wei­sen, wäre daher wohl­feil. Doch wir fra­gen uns – und Sie: Wenn die öffent­li­che Ableh­nung des Prei­ses keine sinn­volle Option ist, was könn­ten dann alter­na­tive Wege sein, mit dem pro­ble­ma­ti­schen Hin­ter­grund des Prei­ses und sei­nes Stif­ters den­noch einen Umgang zu fin­den? Diese Frage, auf die wir selbst bis­lang keine befrie­di­gende Ant­wort gefun­den haben, weist auch über den kon­kre­ten Fall hin­aus und zieht wei­tere, grund­sätz­li­che Fra­gen nach sich: Wie kann man sich zum Wider­spruch der Neu­tra­li­sie­rung von Kri­tik durch ihre Ver­ein­nah­mung, der auch nur die Zuspit­zung eines gene­rel­len Wider­spruchs im ›wie­der­gut­ge­wor­de­nen‹ Deutsch­land ist, ins Ver­hält­nis set­zen? Ist das Pathos etwa eines Tho­mas Brasch bei der Ver­lei­hung des Baye­ri­schen Film­prei­ses 1981 (noch) ange­mes­sen? Stellt die Lite­ra­tur selbst Mit­tel bereit, sich der Ver­ein­nah­mung zu wider­set­zen, oder ist sie ohn­mäch­tig ange­sichts der Macht­ver­hält­nisse eines Betriebs, in dem man es sich mit sei­nen Geld­ge­bern nicht ›ver­scher­zen‹ darf?«

Die Antworten der Nominierten: Zwischen Realismus…

Auf unsere Fra­gen und unsere Bitte um Aus­tausch erhiel­ten wir in den fol­gen­den Wochen von immer­hin drei der acht Autor:innen Rück­mel­dung. Dome­nico Mül­len­sie­fen, der für sei­nen Roman Aus unse­ren Feu­ern nomi­niert wurde, schreibt: »Ich denke, dass es ein gro­ßes Pro­blem ist, dass die öffent­li­che Kul­tur­för­de­rung in Deutsch­land stark ein­ge­schränkt ist.« Denn in die Lücke, die die öffent­li­che För­de­rung lässt, stie­ßen pri­vate För­de­rer. Was es bräuchte, so Mül­len­sie­fen, sei eine »breite und preis­un­ab­hän­gige För­de­rung von AutorIn­nen«. Bis dahin bleibe er auch beim Klaus-Michael Kühne-Preis „Rea­list“, denn: »Die Jury ist hoch­ka­rä­tig besetzt und frei in Ihrem Han­deln. Die nomi­nier­ten Schrift­stel­le­rIn­nen gefal­len mir sehr gut. Der Umgang mit den AutorIn­nen ist erst­klas­sig. […] Und ganz ehr­lich, wäre es mir eine sehr große Freude, mal eine Nacht in die­sem schi­cken Hotel von Herrn Kühne zu über­nach­ten.« In einem spä­te­ren State­ment gegen­über der ZEIT fügt er hinzu: »Deut­scher Reich­tum ist in vie­len, wenn nicht sogar in den meis­ten Fäl­len auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit ent­stan­den. So zu tun, als wäre alles in Ord­nung, wenn Herr Kühne die NS-Vergangenheit auf­ar­bei­ten ließe, wäre auch falsch. Wir haben ein struk­tu­rel­les Gesell­schafts­pro­blem, zu dem wir AutorIn­nen uns indi­vi­du­ell ver­hal­ten sol­len.« Und: »Und wäre es nicht an der Zeit, dass wir, und da darf DIE ZEIT gern vor­ne­weg gehen, ernst­haft über eine Umver­tei­lung der Ver­mö­gen in Deutsch­land sprechen?«

Ähn­lich ant­wor­tete Daniel Schulz, taz-Redak­teur und Autor des Romans Wir waren wie Brü­der. Er betont wie Mül­len­sie­fen: „Die Unab­hän­gig­keit und Fach­kom­pe­tenz der Jury ste­hen außer Zwei­fel. Klaus-Michael Kühne hat auf ihre Ent­schei­dun­gen kei­nen Ein­fluss“. Vor allem hält er die Autor:innen für die fal­schen Ansprechpartner:innen für die Frage nach dem Umgang mit dem NS-Erbe von Kühne + Nagel. Schließ­lich seien sie in der abhän­gigs­ten und pre­kärs­ten Lage von allen und „auf die weni­gen För­de­run­gen ange­wie­sen […], die es noch gibt“. Die Res­sour­cen und die Ver­ant­wor­tung dafür, einen Umgang mit pro­ble­ma­ti­schen För­de­rern wie Kühne zu fin­den, sieht er vor allem bei den Ver­la­gen und der Kulturpolitik.

Der Tenor die­ser Ant­wor­ten ist klar: In die­ser Gesell­schaft als Schriftsteller:in tätig zu sein bedeu­tet, in zahl­rei­che Wider­sprü­che ver­strickt und nicht weni­gen Zwän­gen unter­wor­fen zu sein. Solange die Kul­tur­för­de­rung maß­geb­lich über pri­vate Stif­tun­gen und Orga­ni­sa­tio­nen geleis­tet wird und die Autor:innen von deren Geld abhän­gig seien, müsse man letzt­lich damit leben, dass Gel­der im Kul­tur­be­trieb aus frag­wür­di­gen Quel­len stam­men Das zen­trale Pro­blem sehen die bei­den Autoren in der pri­va­ti­sier­ten Kul­tur­för­de­rung in einer post­fa­schis­ti­schen Gesell­schaft – und die Ver­ant­wor­tung auf Sei­ten der öffent­li­chen Hand.

… und Absagen

Sven Pfi­zen­maier, nomi­niert für Drau­ßen fei­ern die Leute, ist zu einem ande­ren Schluss für sei­nen indi­vi­du­el­len Umgang mit der Situa­tion gekom­men. Er hat seine Nomi­nie­rung zurück­ge­wie­sen und seine Teil­nahme am ›Debü­tan­ten­sa­lon‹ auf dem Har­bour Front Lite­ra­turfesti­val abge­sagt. In sei­ner am 29. August ver­öf­fent­lich­ten Erklä­rung schreibt er so knapp wie deut­lich: »Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dage­gen wehrt, die NS-Historie sei­nes Unter­neh­mens auf­zu­ar­bei­ten, möchte ich mei­nen Text nicht in einen Wett­be­werb um sein Geld und eine Aus­zeich­nung mit sei­nem Namen stellen.«

Andert­halb Wochen spä­ter, am 07.09., sagte auch Fran­ziska Gäns­ler, nomi­niert für Ewig Som­mer, ihre Teil­nahme am Har­bour Front Fes­ti­val ab. In ihrer Erklä­rung, die dies­mal durch die Fes­ti­val­lei­tung ver­öf­fent­licht wurde, führt sie die Nicht-Diskussion um die Absage Pfi­zen­mai­ers als Grund an:

»Mich hat der Rück­zug des mit­no­mi­nier­ten Autors Sven Pfi­zen­maier und die dar­auf fol­gende Reak­tion sehr beschäf­tigt. Ich denke, es hätte einen öffent­li­chen Dis­kurs gebraucht, der ein Ernst­neh­men sei­ner Kri­tik erkenn­bar macht und zeigt, dass es das Anlie­gen der Stif­tung ist, genau das zu för­dern – kri­ti­sche lite­ra­ri­sche Stim­men. Lei­der zeigt die Reak­tion für mich, dass dies nicht gege­ben scheint. Unter die­sen Umstän­den wei­ter auf die Aus­zeich­nung zu hof­fen erscheint mir, unab­hän­gig von der finan­zi­el­len Kom­po­nente, wie ein Weg­se­hen, das ich nicht gut mit mir und mei­nem Schrei­ben ver­ein­ba­ren kann.«

Pfi­zen­maier und Gäns­ler haben damit dras­ti­sche Schritte gewählt. Pfi­zen­maier betont in sei­ner Erklä­rung aber auch, dass er seine Ent­schei­dung »expli­zit nicht als Vor­wurf« gegen die Mit­no­mi­nier­ten und Mit­ar­bei­ten­den des Fes­ti­vals ver­stan­den wis­sen wolle: »Das Ver­hält­nis zwi­schen Geldgeber:innen und Kul­tur­schaf­fen­den in Deutsch­land ist ein der­ma­ßen kom­ple­xes Feld, dass es unzäh­lige Wege gibt, einen ange­mes­se­nen Umgang damit zu fin­den. Die­ser hier ist meiner.«

Dras­tisch sind diese Ent­schei­dun­gen nicht nur, weil beide damit auf die Mög­lich­keit ver­zich­tet, das statt­li­che Preis­geld von 10.000 Euro zu gewin­nen, son­dern auch und vor allem, weil der Debü­tan­ten­sa­lon und der Klaus-Michael Kühne-Preis in den letz­ten Jah­ren zu einem wich­ti­gen Sprung­brett für junge Autor:innen gewor­den sind. Bei Ver­la­gen, Buchhändler:innen und Autor:innen genießt der Preis ebenso hohes Anse­hen wie bei Kri­tik und Leser:innenschaft. Autor:innen, deren Debüt eine Nomi­nie­rung erhal­ten oder den Preis gar gewon­nen hat, stei­gern nicht nur die Ver­käufe ihres Romans, son­dern haben gute Aus­sich­ten, sich fest zu eta­blie­ren. Zu den bis­he­ri­gen Preisträger:innen zäh­len etwa Olga Grjas­nowa, Per Leo, Dmit­rij Kapi­tel­man, Fatma Ayd­emir und Chris­tian Baron.

Der Eklat

Pfi­zen­mai­ers und Gäns­lers Ent­schei­dung ist bis­her prä­ze­denz­los. Obwohl viele der frü­he­ren Nomi­nier­ten und Preisträger:innen als enga­gierte Stim­men in der öffent­li­chen Debatte bekannt (gewor­den) sind, hatte bis­her noch kein:e Autor:in öffent­lich Kri­tik an Kühne geübt – geschweige denn die Nomi­nie­rung oder den Preis zurückgewiesen.

Dem­entspre­chend über­for­dert und rat­los wirkt der Umgang des Har­bour Front-Fes­ti­vals mit der Situa­tion. Man glaubte dort offen­bar, Pfi­zen­mai­ers Absage ein­fach unter den Tep­pich keh­ren zu kön­nen. Am 24. August wurde in einer Pres­se­nach­richt und auf Twit­ter lapi­dar ein »Pro­gramm­up­date« ver­kün­det: Nach Sven Pfi­zen­mai­ers Absage trete Prze­mek Zybow­ski durch ein Nach­rück­ver­fah­ren an seine Stelle. Bis zur Absage Gäns­lers ging das Fes­ti­val weder auf die Gründe für Pfi­zen­mai­ers Absage ein, noch drückte es sein Bedau­ern dar­über aus. Auf der Home­page des Fes­ti­vals wurde Pfi­zen­maier still­schwei­gend ersetzt. Nach Gäns­lers Absage lässt das Fes­ti­val auf der Web­site knapp verlautbaren: 

»Wir fin­den diese Absa­gen sehr bedau­er­lich. Für die Beweg­gründe der Betref­fen­den haben wir Ver­ständ­nis – auch wir sehen Dis­kus­si­ons­be­darf in die­ser Angelegenheit.«

Vorher-Nachher Screen­shot: das Har­bour Front-Festival ersetzt auf sei­ner Home­page Pfi­zen­maier durch Zybow­ski und hofft, dass es keine:r merkt. Foto: Screen­shot https://harbourfront-hamburg.com/.

Die Reak­tion der Kühne-Stiftung aber über­trifft das anfäng­li­che Schwei­gen des Fes­ti­valsum Län­gen. Wäh­rend sie der Mopo noch kei­nen Kom­men­tar geben wollte und wohl auch hoffte, das Pro­blem löse sich von selbst auf, ging sie gegen­über der taz in die Offen­sive: Man habe »mit Vor­gän­gen, die ca. 80 Jahre zurück­lie­gen, nichts zu tun«. Und weil sich die Stif­tung »in höchs­tem Maße« unge­recht behan­delt fühlte, setzte man dort zum Gegen­an­griff gegen die undank­ba­ren Kul­tur­schaf­fen­den und ‑liebhaber:innen an: Man werde »die tra­di­tio­nelle Ver­lei­hung des Klaus-Michael Kühne-Preises jetzt über­den­ken« ließ die Kühne-Stiftung auf Anfrage der taz ver­lau­ten. Wer Kri­tik übt, erhält kein Geld – das ist die Bot­schaft, die die Kühne-Stiftung vermittelt.

Kulturförderung entprivatisieren

Die Reak­tion der Kühne-Stiftung zeigt: Man scheint sich dort sehr bewusst dar­über zu sein, wer hier am län­ge­ren Hebel sitzt. Der Kul­tur­be­trieb ist in hohem Grad abhän­gig von sei­nen (pri­va­ten) Gön­nern. Sie kön­nen den von ihnen geför­der­ten Ein­rich­tun­gen und Ver­an­stal­tun­gen ihre Bedin­gun­gen dik­tie­ren – und bei Kri­tik oder Nicht­be­fol­gen die För­de­rung been­den oder zumin­dest damit dro­hen. Die Kühne-Stiftung zeigt mit ihrem Ver­hal­ten gegen­über den Kul­tur­schaf­fen­den über­deut­lich auf, wo die Grenze(n) der Auto­no­mie der Kunst lie­gen: Don’t bite the hand that feeds you.

Die ers­ten Leid­tra­gen­den eines Rück­zugs wären die Schriftsteller:innen und Künstler:innen, also aus­ge­rech­net die schwächs­ten Glie­der in der Kette. Tat­säch­lich sind die ande­ren Nomi­nier­ten nicht zu benei­den. Durch Pfi­zen­mai­ers und Gäns­lers Absage ste­hen sie unter Druck, sich zu beken­nen, womög­lich gar, ihrem Bei­spiel zu fol­gen. Vie­les hängt davon ab, dass die Debatte soli­da­risch geführt wird, und das heißt: nicht indi­vi­dua­li­sie­rend und mora­li­sie­rend, son­dern im Bewusst­sein der Wider­sprü­che und des struk­tu­rel­len Cha­rak­ters des Problems.

Klar ist: Solange die Kul­tur den Markt­ge­set­zen unter­liegt und die För­de­rung der Kul­tur­schaf­fen­den nicht durch öffent­li­che Hand getra­gen wird, ist sie auf pri­vate Förder:innen ange­wie­sen. Denn wenn nicht allein die Markt­gän­gig­keit von Kunst, Musik oder Lite­ra­tur zäh­len soll, son­dern auch die inhä­ren­ten Maß­stäbe der Kunst, braucht es Kul­tur­spon­so­ring. An Bei­spie­len wie Kühne zeigt sich aber, zu wel­chen Pro­ble­men es füh­ren kann, wenn dies pri­vat orga­ni­siert und zwangs­läu­fig von beson­ders ver­mö­gen­den Unter­neh­men und Ein­zel­per­so­nen mit eige­nen Inter­es­sen über­nom­men wird. Des­halb muss im Sinne einer demo­kra­ti­schen Kul­tur­för­de­rung zumin­dest eine Reduk­tion des Anteils pri­va­ten Spon­so­rings durch die (Wieder-)Einführung öffent­li­cher För­de­rung durch­ge­setzt wer­den. Die Leid­tra­gen­den des pri­va­ten Kul­tur­spon­so­rings sind letzt­lich auch die Autor:innen selbst, denen in die­sem Sys­tem mit­un­ter nur eine Wahl bleibt zwi­schen Ver­zicht auf das, was ihren Unter­halt finan­ziert, oder der Annahme frag­wür­di­ger För­der­gel­der – eine infame Verantwortungsverschiebung.

In Bezug auf den aktu­el­len Eklat heißt das: Der Kühne-Preis muss umbe­nannt und öffent­lich finan­ziert wer­den. Wie wäre es etwa mit einem von der Stadt Ham­burg finan­zier­ten Peter-Rühmkorf-Preis? Wenn man sich anschaut, wie schnell die Stadt im Cum-Ex-Skandal bereit war, auf 47 Mil­lio­nen Euro an Steu­ern zuguns­ten der Warburg-Bank zu ver­zich­ten, soll­ten 10.000 Euro Preis­geld sicher­lich kein Pro­blem dar­stel­len. Und Küh­nes Geld könnte auch in einer unab­hän­gi­gen, wis­sen­schaft­li­chen Auf­ar­bei­tung der eige­nen Fir­men­ge­schichte sehr gute Ver­wen­dung finden.

Redak­tion Untie­fen, 7. Sep­tem­ber 2022

Kühne + Nagel, Logistiker des NS-Staats

Kühne+Nagel: Logistiker des NS-Staats

Kühne + Nagel ist eines der größ­ten Logis­tik­un­ter­neh­men der Welt. Die ent­schei­dende Grund­lage dafür schuf die Betei­li­gung des Unter­neh­mens an NS-Verbrechen – und seine ›Ari­sie­rung‹ im Jahr 1933. Wäh­rend in Bre­men nun ein Mahn­mal ent­steht, gibt es in Ham­burg bis­lang keine Pra­xis des Erinnerns.

Kühne + Nagel sorgte für volle Lager­hal­len: Möbel aus jüdi­schem Besitz, 1943 aus den besetz­ten Län­dern West­eu­ro­pas nach Deutsch­land abtrans­por­tiert. Quelle: Stadt­ar­chiv Oberhausen.

Bre­men erhält einen neuen Gedenk­ort: ein Mahn­mal zur Erin­ne­rung an die sys­te­ma­ti­sche Aus­plün­de­rung der euro­päi­schen Jüdin­nen und Juden im Natio­nal­so­zia­lis­mus – und an die maß­geb­li­che Betei­li­gung von Bre­mer Logis­tik­un­ter­neh­men an die­sem Ver­bre­chen. Initi­iert wurde das Mahn­mal vom ehe­ma­li­gen taz-Redak­teur und heu­ti­gen Geschäfts­füh­rer der Heinrich-Böll-Stiftung Bre­men, Hen­ning Bleyl. Als 2015 auf dem Bre­mer Markt­platz mit viel Pomp das 125-jährige Bestehen des Logis­tik­un­ter­neh­mens Kühne + Nagel (K+N) gefei­ert wurde, begann er, zur NS-Geschichte des Unter­neh­mens zu recher­chie­ren und zu publi­zie­ren.1Alle seit 2015 von Bleyl und ande­ren Autor:innen in der taz erschie­ne­nen Bei­träge sind in einem umfas­sen­den Dos­sier ver­sam­melt, das einen her­vor­ra­gen­den Über­blick über die Causa Kühne + Nagel verschafft.

Bleyl und seine Mitstreiter:innen for­der­ten ein Mahn­mal für die Ver­bre­chen, an denen K+N betei­ligt war, und erzwan­gen so eine Aus­ein­an­der­set­zung der Poli­tik und der Öffent­lich­keit mit dem lange Zeit beschwie­ge­nen Thema. Nun, sie­ben Jahre spä­ter, gegen viele Wider­stände und nach lang­wie­ri­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen vor allem um den Stand­ort, mate­ria­li­sie­ren sich diese Bemü­hun­gen: An den Weser-Arkaden in Sicht­weite der 2020 neu errich­te­ten Deutschland-Zentrale von K+N soll in Kürze mit dem Bau des Mahn­mals nach einem Ent­wurf von Evin Oet­tings­hau­sen begon­nen wer­den. Spä­tes­tens 2023 soll das Mahn­mal ein­ge­weiht werden.

Es wird eine Lücke schlie­ßen: das Bre­mer ›Arisierungs‹-Mahnmal (Ent­wurf). © Evin Oettingshausen

Willige Vollstrecker und Profiteure der ›Arisierung

Dort, wo jetzt der Neu­bau steht, befand sich seit 1909 die Zen­trale des 1890 in Bre­men gegrün­de­ten Unter­neh­mens Kühne + Nagel. Inner­halb kur­zer Zeit war das Unter­neh­men zu einem bedeu­ten­den Transport- und Logis­tik­kon­zern auf­ge­stie­gen und hatte Nie­der­las­sun­gen in zahl­rei­chen deut­schen Städ­ten gegrün­det, dar­un­ter auch in Ham­burg. 1932 starb der Fir­men­grün­der August Kühne; seine bei­den Söhne Alfred und Wer­ner über­nah­men das Geschäft. Unter ihrer Lei­tung war das Unter­neh­men dann an NS-Verbrechen betei­ligt, ins­be­son­dere an ›Ari­sie­run­gen‹. Die von den Nazis so bezeich­ne­ten Ver­bre­chen umfass­ten nicht nur die Ver­drän­gung von Jüdin­nen und Juden aus ihren Unter­neh­men, Beru­fen und Woh­nun­gen, son­dern auch den sys­te­ma­ti­schen Raub jüdi­schen Eigen­tums in ganz Europa.

K+N war an die­sem Raub ins­be­son­dere in Frank­reich, Bel­gien und den Nie­der­lan­den in beträcht­li­chem Aus­maß betei­ligt. Das Unter­neh­men trans­por­tierte im Rah­men der soge­nann­ten ›M‑Aktion‹ der ›Dienst­stelle Wes­ten‹ Raub­gut (vor allem Möbel) aus den Woh­nun­gen depor­tier­ter oder geflo­he­ner Jüdin­nen und Juden nach Deutsch­land. In die­sem wahr­schein­lich größ­ten Raub­zug der jün­ge­ren Geschichte wur­den zwi­schen 1942 bis 1944 etwa 70.000 Woh­nun­gen geplün­dert, davon wohl etwa die Hälfte mit Hilfe von K+N. In Deutsch­land wur­den die Möbel güns­tig an ›Volks­ge­nos­sen‹ wei­ter­ver­kauft oder ver­stei­gert. »Zwi­schen 1941 und 1945 ver­ging in Ham­burg kaum ein Tag, an dem nicht Besitz von Juden öffent­lich ver­stei­gert wurde«, schrie­ben Linde Apel und Frank Bajohr 2004.

So pro­fi­tier­ten unzäh­lige ›ganz nor­male Deut­sche‹ von den sys­te­ma­ti­schen Plün­de­run­gen, die ihnen güns­tig Haus­rat ver­schaff­ten. Ganz beson­ders pro­fi­tier­ten aber der NS-Staat, der mit den Erlö­sen zur Finan­zie­rung von Krieg und Juden­ver­nich­tung bei­trug, und das Unter­neh­men K+N, das für seine Dienst­leis­tun­gen gut bezahlt wurde. K+N ver­diente somit unmit­tel­bar an der Ent­rech­tung, Ver­fol­gung und Ermor­dung der euro­päi­schen Jüdin­nen und Juden.2Auch an der erzwun­ge­nen Flucht selbst ver­diente K+N als Trans­port­dienst­leis­ter für das Hab und Gut der Aus­rei­sen­den. Davon zeugt u.a. ein Pla­kat von 1935 im Bestand des Deut­schen His­to­ri­schen Muse­ums.

Möbel für ›Volks­ge­nos­sen‹: Anzeige für eine Ver­stei­ge­rung, Bre­men 1942. Quelle DSM Bre­mer­ha­ven.

Wie der His­to­ri­ker Johan­nes Beermann-Schön betont, waren die deut­schen Logis­tik­un­ter­neh­men, unter denen K+N sich wäh­rend des NS eine Quasi-Monopolstellung erkämpfte, dabei nicht bloße Hand­lan­ger, son­dern wil­lige Voll­stre­cker. Ihr Vor­ge­hen sorgte für eine Ver­schär­fung und Beschleu­ni­gung der Ent­rech­tung und der Aus­plün­de­rung Depor­tier­ter, urteilte er in einem 2020 erschie­ne­nen Bei­trag.3Vgl. Johan­nes Beermann-Schön: Taking Advan­tage: Ger­man Freight For­war­ders and Pro­perty Theft, 1933–1945, in: Chris­toph Kreutz­mül­ler, Jona­than R. Zat­lin (Hg.): Dis­pos­ses­sion. Plun­de­ring Ger­man Jewry, 1933–1953, Ann Arbor/Michigan 2020, 127–147, 142. Ein sol­ches Enga­ge­ment wurde vom NS-Staat nicht nur gut bezahlt, son­dern auch sym­bo­lisch hono­riert: K+N erhielt 1937 und von 1939 bis zum Kriegs­ende ein »Gau­di­plom« als »Natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Musterbetrieb«.

Entrechtet, enteignet, ermordet:
Adolf und Käthe Maass

Dass Alfred und Wer­ner Kühne deut­lich mehr waren als oppor­tu­nis­ti­sche Pro­fi­teure, zeigt nicht nur ihre Kol­la­bo­ra­tion mit dem NS-Staat im Rah­men der ›M‑Aktion‹. Ihr Vater, der Unter­neh­mens­grün­der August Kühne, hatte 1902 sei­nen vor­ma­li­gen Lehr­ling Adolf Maass mit dem Auf­bau einer Ham­bur­ger Nie­der­las­sung betraut und ihn auf­grund sei­nes gro­ßen Erfolgs bei die­ser Auf­gabe schon 1910 zum Teil­ha­ber des Unter­neh­mens gemacht. Ab 1928 hielt Maass 45 Pro­zent der Anteile am Ham­bur­ger Zweig von K+N. Nach August Küh­nes Tod und der Über­nahme des Geschäfts durch seine Söhne war für den jüdi­schen Teil­ha­ber aber kein Platz mehr bei K+N. Im April 1933 wurde er von den Kühne-Brüdern mit­tels eines Kne­bel­ver­trags aus dem Unter­neh­men gedrängt. Wenige Tage nach die­ser ›Ari­sie­rung‹, am 1. Mai 1933, tra­ten Alfred und Wer­ner Kühne in die NSDAP ein.

Der vor­ma­lige Teil­ha­ber Maass blieb in Deutsch­land und wurde Gesell­schaf­ter eines Import­un­ter­neh­mens. Doch die sich ver­schär­fende anti­se­mi­ti­sche Gesetz­ge­bung drängte ihn auch hier aus dem Unter­neh­men und raubte ihm zudem einen beträcht­li­chen Teil sei­nes Ver­mö­gens. Nach­dem Maass im Gefolge der Pogrom­nacht vom 9. Novem­ber 1938 für meh­rere Wochen im KZ Sach­sen­hau­sen inter­niert wor­den war, plan­ten er und seine Frau Käthe die Emi­gra­tion. Doch der Beginn des Kriegs ver­ei­telte diese Pläne. 1942 wur­den Adolf und Käthe Maass nach The­re­si­en­stadt depor­tiert. Von dort wur­den sie 1944 nach Ausch­witz ver­bracht, wo sie ver­mut­lich Anfang 1945 ermor­det wur­den. In der Blu­men­straße in Hamburg-Winterhude, in der die bei­den wohn­ten, bis sie ihr Haus 1941 weit unter Wert ver­kau­fen muss­ten, erin­nern seit 2006 zwei Stol­per­steine an sie. In der Ham­bur­ger Öffent­lich­keit sind ihre Namen jedoch weit­ge­hend vergessen.

Der ›wundersame‹ Wiederaufstieg von
Kühne + Nagel

Alles andere als ver­ges­sen ist hin­ge­gen der Name Kühne: Dass er gerade in Ham­burg so prä­sent ist, ver­dankt sich vor allem dem öffent­li­chen Auf­tre­ten des Mul­ti­mil­li­ar­därs und heu­ti­gen K+N‑Eigentümers Klaus-Michael Kühne, dem Sohn und Allein­er­ben Alfred Küh­nes. Kühne, gebo­ren 1937 in Ham­burg, ist der Zeit­schrift For­bes zufolge die zweit­reichste Ein­zel­per­son in Deutsch­land und ver­fügt über ein Ver­mö­gen von geschätz­ten 32 Mil­li­ar­den Dollar. 

K+N, an dem Kühne die Mehr­heit der Anteile hält, ist einer der zehn umsatz­stärks­ten Logis­tik­kon­zerne der Welt. Über die Kühne Hol­ding AG hält Kühne außer­dem große Anteile an Trans­port­un­ter­neh­men wie Luft­hansa und Hapag-Lloyd sowie an Immo­bi­li­en­pro­jek­ten wie dem in Ham­burg im Bau befind­li­chen Elb­tower. Als Spon­sor der Elb­phil­har­mo­nie, der Staats­oper und des Har­bourfront Lite­ra­tur­fes­ti­vals, als lang­jäh­ri­ger Groß­in­ves­tor des HSV und als Grün­der der pri­va­ten Kühne Logi­stics Uni­ver­sity (KLU) hat er immensen Ein­fluss auf die Ham­bur­ger Poli­tik und Gesell­schaft. Seit 2010 ver­leiht außer­dem der von Kühne gestif­tete und, gewohnt unbe­schei­den, nach ihm selbst benannte Lite­ra­tur­preis für das beste deutsch­spra­chige Roman­de­büt sei­nem Namen Glanz.

Doch wie kam Kühne zu der­ar­ti­gem Ver­mö­gen, Ein­fluss und Anse­hen? Um die­ser Frage nach­zu­ge­hen, muss man die Nach­kriegs­ge­schichte der BRD in den Blick neh­men. Klaus-Michael Küh­nes Vater Alfred Kühne galt nach dem Zwei­ten Welt­krieg zunächst als belas­tet, wurde dann aller­dings unter frag­wür­di­gen Bedin­gun­gen ent­na­zi­fi­ziert. Grund dafür war offen­bar, dass sein weit­ver­zweig­tes Unter­neh­men als Tarn­firma eine Rolle bei der Eta­blie­rung des BND spie­len sollte. Durch diese Ent­las­tung konnte Alfred Kühne an seine Tätig­keit als Logis­tik­un­ter­neh­mer wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus nahezu naht­los anknüp­fen. Durch die NS-Geschäfte hatte Kühne nicht nur ein beträcht­li­ches Ver­mö­gen erwirt­schaf­tet, son­dern war auch euro­pa­weit ver­netzt. Die­sen Wett­be­werbs­vor­teil konnte das Unter­neh­men sich zunutze machen, und so wuchs es rasant.

Anders als es der etwa von der FAZ bis heute fort­ge­schrie­bene Mythos will, bil­de­ten nicht »Fleiß, For­tune und eisen­harte Dis­zi­plin« der Küh­nes die Grund­lage für den wirt­schaft­li­chen Erfolg von K+N, son­dern zual­ler­erst der durch die Betei­li­gung an den NS-Verbrechen erwor­bene Akku­mu­la­ti­ons­vor­sprung. »Das Unter­neh­men ver­dankt sei­nem Enga­ge­ment in der NS-Zeit wesent­li­che, bis heute rele­vante Ent­wick­lungs­im­pulse«, resü­miert Hen­ning Bleyl. Der Wie­der­auf­stieg von K+N ist genauso wenig ›wun­der­sam‹ wie das bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche ›Wirt­schafts­wun­der‹, des­sen Grund­la­gen eben­falls in einer im Krieg u.a. durch Zwangs­ar­beit und ›Ari­sie­rung‹ expan­dier­ten und nur zu gerin­gen Tei­len zer­stör­ten Indus­trie lagen. Ange­sichts die­ser Par­al­lele ist es auch nicht ver­wun­der­lich, dass Alfred Kühne in der Bun­des­re­pu­blik hohe gesell­schaft­li­che Aner­ken­nung zuteil wurde: Er erhielt das Bre­mi­sche Han­sea­ten­kreuz, wurde 1955 zum Hono­rar­kon­sul der Repu­blik Chile in Bre­men ernannt und erhielt 1960 das Große Bun­des­ver­dienst­kreuz für seine »Ver­dienste um den Wiederaufbau«.

Sein Sohn Klaus-Michael Kühne über­nahm vom Vater im Alter von 29 Jah­ren die Füh­rung des Unter­neh­mens. Unter sei­ner Lei­tung ent­wi­ckelte sich K+N zu einem der welt­weit größ­ten Logis­tik­un­ter­neh­men der Welt – im Bereich See­fracht ist es heute sogar Welt­markt­füh­rer.4In den letz­ten Jah­ren pro­fi­tierte K+N zudem von den staat­li­chen Auf­trä­gen für den Impf­stoff­trans­port sowie von den durch die Lie­fer­ket­ten­pro­bleme her­vor­ge­ru­fe­nen enor­men Preis­stei­ge­run­gen für Fracht­trans­porte. K+N gehört damit zu den größ­ten Kri­sen­ge­winn­lern der letz­ten Jahre.

Und wie sein Vater erhält auch Klaus-Michael Kühne für diese Erfolge staat­li­che Ehrun­gen – ins­be­son­dere in sei­nen bei­den ›Hei­mat­städ­ten‹ Bre­men und Ham­burg: Im Rah­men der bereits erwähn­ten 125-Jahr-Feiern im Jahr 2015 mach­ten die dama­li­gen Ers­ten Bür­ger­meis­ter der bei­den Han­se­städte, Jens Böhrn­sen und Olaf Scholz, dem Unter­neh­men und sei­nem Patri­ar­chen die Auf­war­tung. Die Stadt Ham­burg hat Kühne eine Ehren­pro­fes­sur ver­lie­hen und ihm ihr Gol­de­nes Buch vor­ge­legt. Die BILD berich­tete 2017 gar von Bestre­bun­gen, Kühne zum Ham­bur­ger Ehren­bür­ger zu machen. Alfred und Klaus-Michael Kühne ver­leg­ten den Fir­men­sitz 1969 zwar in die Schweiz, um den unter der sozi­al­li­be­ra­len Regie­rung erlas­se­nen Mit­be­stim­mungs­ge­set­zen zu ent­ge­hen, doch Bre­men und Ham­burg sind als Deutschland- bzw. Euro­pa­zen­trale des Kon­zerns nach wie vor von gro­ßer Bedeutung.

Verweigerte und sabotierte Aufarbeitung

»Wir sind eine sehr offene Firma. Wir stel­len uns dar, wir wol­len nichts ver­ste­cken«, zitiert der Weser­ku­rier den Bre­mer Nie­der­las­sungs­lei­ter anläss­lich der Eröff­nung der neuen Deutsch­land­zen­trale im Jahr 2020. Schließ­lich böten die gro­ßen Fens­ter den Passant:innen einen trans­pa­ren­ten Ein­blick – in die Fir­men­kan­tine. Ein ande­res Bild bie­tet der Geschäfts­sitz von K+N in der Schweiz. Des­sen Fas­sade besteht rundum aus ver­spie­gel­tem Glas – und kann damit sinn­bild­lich für das Ver­hält­nis des Unter­neh­mens zur Auf­ar­bei­tung sei­ner Geschichte ste­hen. Klaus-Michael Kühne wei­gert sich näm­lich beharr­lich, die Geschichte des Unter­neh­mens auf­zu­ar­bei­ten und von Historiker:innen unter­su­chen zu lassen.

Trans­pa­renz à la Klaus-Michael Kühne: Die Zen­trale von K+N am Zürich­see. Foto: Roland zh, Wiki­pe­dia.

Erst 2015, als Reak­tion auf den durch Recher­chen der taz und des Baye­ri­schen Rund­funks erzeug­ten öffent­li­chen Druck, äußerte sich das Unter­neh­men erst­mals zu sei­ner NS-Geschichte: In einer Pres­se­er­klä­rung bekun­dete K+N sein Bedau­ern, »seine Tätig­keit zum Teil im Auf­trag des Nazi-Regimes aus­ge­übt« zu haben, attes­tierte sich selbst aber groß­zü­gig mil­dernde Umstände und rühmte sich, »in dunk­len und schwie­ri­gen Zei­ten seine Exis­tenz behaupte[t]« und »die Kriegs­wir­ren unter Auf­bie­tung aller sei­ner Kräfte über­stan­den« zu haben. Einen ähn­li­chen Ton schlägt eine fir­men­in­terne Jubi­lä­ums­schrift an, aus der bis­lang nur ein­zelne Zitate an die Öffent­lich­keit gelangt sind. Über das Aus­schei­den Adolf Maass’ im Jahr 1933 heißt es darin etwa: »Herr Maass hat von sich aus in freund­schaft­li­cher Abstim­mung mit uns die Kon­se­quen­zen getra­gen, indem er bei uns ausschied.«

Dass diese Aus­sa­gen mit der Wirk­lich­keit wenig gemein haben, ist offen­sicht­lich: Nichts spricht dafür, dass Maass das Unter­neh­men nach mehr als drei­ßig Jah­ren ›frei­wil­lig‹ und ohne Abfin­dung ver­las­sen habe. Um die Details des Vor­gangs in Erfah­rung zu brin­gen, bräuchte es jedoch den Zugang zum Unter­neh­mens­ar­chiv – und der wurde bis­her nie­man­dem gewährt. Klaus-Michael Kühne behaup­tet, die­ses Archiv sei im Krieg zer­stört wor­den – dabei konnte Hen­ning Bleyl für die taz nach­wei­sen, dass die Unter­la­gen aus Bre­men und Ham­burg wohl recht­zei­tig in Sicher­heit gebracht wor­den waren. Das Ver­zeich­nis »Deut­sche Wirt­schafts­ar­chive« jeden­falls weist ein Fir­men­ar­chiv von K+N in der Stadt Kon­stanz aus: mit Bestän­den ab 1902 und der Inhalts­an­gabe »Urkun­den, Akten, Pro­to­kolle, Geschäfts­be­richte, Druck­schrif­ten, Fotos etc. Benut­zung nur mit Geneh­mi­gung der Geschäftsleitung«.

»Milliardär mit eisenharter Disziplin«

Kühne ficht das nicht an. Er bleibt bei sei­ner unglaub­wür­di­gen Behaup­tung und geriert sich als Opfer einer Kam­pa­gne: Er habe kein Ver­ständ­nis dafür, dass die NS-Vergangenheit des Unter­neh­mens »immer wie­der hoch­ge­kocht wird«, sagte er 2019 gegen­über radio bre­men. Wäh­rend andere deut­sche Unter­neh­men zumin­dest in den letz­ten Jah­ren, da die Täter:innen längst unbe­schol­ten gestor­ben sind, Historiker:innen mit der Auf­ar­bei­tung ihrer Geschichte beauf­tragt haben, ver­hin­dert Kühne dies beharr­lich. Kein Wun­der ist es daher, dass er sich mas­siv dage­gen wehrte, als die Initia­tive um Hen­ning Bleyl die For­de­rung erhob, das ›Arisierungs‹-Mahnmal direkt vor der Fir­men­zen­trale auf­zu­stel­len. Auch jetzt, wo es ein wenig abseits ent­steht, betei­li­gen sich weder K+N noch ein ande­res der in den NS ver­strick­ten Bre­mer Trans­port­un­ter­neh­men an den Kos­ten des Mahnmals.

Kühne macht kei­nen Hehl dar­aus, dass er zur Unternehmens- und Fami­li­en­ge­schichte kei­ner­lei Distanz ein­nimmt. Häu­fig betont er die starke Prä­gung durch sei­nen Vater; im Fir­men­sitz hängt das Por­trät Alfred Küh­nes auto­ri­ta­tiv über der Tür des Bespre­chungs­zim­mers.5Chris­tian Rickens: Ganz oben. Wie Deutsch­lands Mil­lio­näre wirk­lich leben. Köln 2011, S. 177 Dass auch Küh­nes Geis­tes­hal­tung mehr Kon­ti­nui­tä­ten als Brü­che mit der sei­nes Vaters auf­weist, legt eine Äuße­rung von ihm im Jahr 2008 nahe. Mit Bezug auf seine Ableh­nung einer Über­nahme der Ree­de­rei Hapag-Lloyd durch aus­län­di­sche Unter­neh­men bekun­dete er damals: »Wir wol­len uns mög­lichst rein­ras­sig deutsch halten.«

Gleich­zei­tig insze­niert sich Klaus-Michael Kühne als kunst­sin­ni­ger Mäzen, visio­nä­rer Gestal­ter und sach­kun­di­ger Poli­tik­be­ra­ter. In den Medien wird er als »Mil­li­ar­där mit eisen­har­ter Dis­zi­plin« (FAZ) bzw. »Mil­li­ar­där, der Gedichte schreibt – und nicht auf­hö­ren kann zu arbei­ten« (SPIEGEL), hofiert. In Inter­views und Homes­to­ries darf sich Kühne über den ›sehr gro­ßen Sozi­al­neid‹ in Deutsch­land bekla­gen (NZZ), seine Ableh­nung der Über­ge­winn­steuer bekun­den oder seine Pläne für ein neues Opern­hau­ses für Ham­burg aus­brei­ten. Kri­ti­sche Nach­fra­gen zur NS-Geschichte von K+N blei­ben aus.

Klaus-Michael Kühne ›bringt Opfer‹ (FAZ) und er ›ver­langt Opfer‹ (Abend­blatt). Foto: Monster4711, Wiki­pe­dia.

Auch in Hamburg: NS-Verbrechen erinnern!

Kühne ist kein Ein­zel­fall. Zahl­rei­che Unter­neh­men in Ham­burg und dar­über hin­aus mach­ten ihr Ver­mö­gen im Natio­nal­so­zia­lis­mus.6Vgl. dazu etwa Frank Bajohrs Stu­dieAri­sie­rung‹ in Ham­burg und Felix Mat­heis‹ Bei­trag ›Ari­sie­ren‹ und Aus­beu­ten bei Untie­fen. Aber Kühne ist ein Extrem­fall inso­fern, als er nicht nur dank die­sem Ver­mö­gen heute einer der reichs­ten Men­schen der Welt ist, son­dern zudem jeg­li­che Auf­ar­bei­tung der Geschichte ver­hin­dert und sei­nen Namen durch Mäze­na­ten­tum und Kul­tur­spon­so­ring weiß­wäscht.

Das ist nun kein Geheim­nis. Vor allem Hen­ning Bleyl recher­chierte und publi­zierte seit 2015 ein­ge­hend zu dem Thema; hinzu kom­men Recher­chen von His­to­ri­kern wie Wolf­gang Dre­ßen, Götz Aly, Frank Bajohr und Johan­nes Beermann-Schön. Und auch viele Medien berich­te­ten in den letz­ten Jah­ren über die NS-Verstrickungen von K+N – sogar in der Ham­bur­ger Mor­gen­post und im HSV-Fanmagazin Bah­ren­fel­der Anzei­ger konnte man schon dar­über lesen. In Ham­burg hat diese Bericht­erstat­tung jedoch offen­bar kaum Konsequenzen.

Das muss sich ändern. Die NS-Geschichte der Ham­bur­ger Handels- und Trans­port­un­ter­neh­men muss in den Blick der erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Arbeit gera­ten. Am Bei­spiel Kühne offen­bart sich ein Skan­dal, der sich mit dem Selbst­bild des ›wie­der­gut­ge­wor­de­nen‹ Deutsch­land nicht ver­trägt und doch kon­sti­tu­tiv für die­ses Land ist: Die aktive Betei­li­gung an NS-Verbrechen zahlt sich für deut­sche Unter­neh­men bis zum heu­ti­gen Tag aus. Eine kri­ti­sche Stadt­öf­fent­lich­keit sollte es als ihre Auf­gabe begrei­fen, die­sen Skan­dal ins öffent­li­che Bewusst­sein zu rufen. Und sie sollte derer geden­ken, die – wie Adolf und Käthe Maass – die­sen Ver­bre­chen zum Opfer fie­len. Ein Mahn­mal wie in Bre­men wäre ein ers­ter Schritt.

Lukas Betz­ler

Der Autor schrieb für Untie­fen bereits über das Hols­ten­areal und das Stadt­ma­ga­zin SZENE Ham­burg. Eine Umfrage in sei­nem Freun­des­kreis hat erge­ben, dass eine Mehr­heit Klaus-Michael Kühne bis­lang für den Chef des gleich­na­mi­gen Ham­bur­ger Senf- und Essig­her­stel­lers hielt.

  • 1
    Alle seit 2015 von Bleyl und ande­ren Autor:innen in der taz erschie­ne­nen Bei­träge sind in einem umfas­sen­den Dos­sier ver­sam­melt, das einen her­vor­ra­gen­den Über­blick über die Causa Kühne + Nagel verschafft.
  • 2
    Auch an der erzwun­ge­nen Flucht selbst ver­diente K+N als Trans­port­dienst­leis­ter für das Hab und Gut der Aus­rei­sen­den. Davon zeugt u.a. ein Pla­kat von 1935 im Bestand des Deut­schen His­to­ri­schen Muse­ums.
  • 3
    Vgl. Johan­nes Beermann-Schön: Taking Advan­tage: Ger­man Freight For­war­ders and Pro­perty Theft, 1933–1945, in: Chris­toph Kreutz­mül­ler, Jona­than R. Zat­lin (Hg.): Dis­pos­ses­sion. Plun­de­ring Ger­man Jewry, 1933–1953, Ann Arbor/Michigan 2020, 127–147, 142.
  • 4
    In den letz­ten Jah­ren pro­fi­tierte K+N zudem von den staat­li­chen Auf­trä­gen für den Impf­stoff­trans­port sowie von den durch die Lie­fer­ket­ten­pro­bleme her­vor­ge­ru­fe­nen enor­men Preis­stei­ge­run­gen für Fracht­trans­porte. K+N gehört damit zu den größ­ten Kri­sen­ge­winn­lern der letz­ten Jahre.
  • 5
    Chris­tian Rickens: Ganz oben. Wie Deutsch­lands Mil­lio­näre wirk­lich leben. Köln 2011, S. 177
  • 6
    Vgl. dazu etwa Frank Bajohrs Stu­dieAri­sie­rung‹ in Ham­burg und Felix Mat­heis‹ Bei­trag ›Ari­sie­ren‹ und Aus­beu­ten bei Untie­fen.

Halskestraße 1980: rassistischer Terror

Halskestraße 1980: rassistischer Terror

Am 22. August jährt sich das neo­na­zis­ti­sche Atten­tat in der Ham­bur­ger Hals­ke­straße zum 42. Mal. Eine ange­mes­sene Gele­gen­heit, sei­ner Opfer zu geden­ken und sich die wider­sprüch­li­che gesell­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung um die­sen wohl ers­ten ras­sis­ti­schen Mord­an­schlag in der Bun­des­re­pu­blik in Erin­ne­rung zu rufen.

Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu. Foto: Initia­tive zum Geden­ken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân.

In der Nacht des 22. August 1980 schli­chen sich drei Gestal­ten an das Gebäude Hals­ke­straße 72 heran, die ein abge­le­ge­nes Gewer­be­ge­biet im Stadt­teil Bill­brook im Süd­os­ten Ham­burgs durch­zieht. Es han­delte sich um Ange­hö­rige der selbst­er­nann­ten »Deut­schen Akti­ons­grup­pen«. Sie schmier­ten die Parole »Aus­län­der raus!« an die Wand und schleu­der­ten bren­nende Molotow-Cocktails durch eine Scheibe im Erd­ge­schoss. Hin­ter dem Fens­ter schlie­fen Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân. Sie waren kurz zuvor als soge­nannte »boat peo­ple« aus Viet­nam geflo­hen und gemein­sam mit wei­te­ren Geflüch­te­ten in dem Wohn­heim unter­ge­kom­men. Die Brand­sätze explo­dier­ten und setz­ten das kleine Zim­mer sofort in Flam­men. Nguyễn Ngọc Châu starb wenige Stun­den spä­ter. Đỗ Anh Lân erlag neun Tage dar­auf sei­nen schwe­ren Ver­let­zun­gen in einem Ham­bur­ger Krankenhaus.

Der bru­tale Anschlag war ein rechts­extre­mer Ter­ror­akt. Er gilt heute als ers­ter doku­men­tier­ter ras­sis­ti­scher Mord in der Geschichte der Bun­des­re­pu­blik und stellt den Beginn einer gan­zen Reihe ähn­li­cher Mord­ta­ten Rechts­extre­mer wäh­rend der acht­zi­ger Jahre dar. Allein die »Deut­schen Akti­ons­grup­pen« hat­ten in den Wochen und Mona­ten zuvor zahl­rei­che ras­sis­ti­sche und anti­se­mi­ti­sche Anschläge ver­übt. Im April 1980 explo­dierte eine Bombe vor der Janusz-Korczak-Schule, der NS-Gedenkstätte »Bul­len­hu­ser Damm«, in Rothen­burg­sort unweit der Hals­ke­straße. Es folg­ten Atta­cken auf Geflüch­te­ten­wohn­heime in Bay­ern und Baden-Württemberg sowie auf eine wei­tere NS-Ausstellung. Die Ter­ror­bande war bei wei­tem nicht die ein­zige mili­tante Neonazi-Gruppe die­ser Zeit. Beim Okto­ber­festat­ten­tat vom 26. Sep­tem­ber 1980 tötete ein jun­ger Rechts­extre­mer mit Ver­bin­dun­gen zur »Wehr­sport­gruppe Hoff­mann« zwölf Men­schen und sich selbst. Der Ter­ror­an­schlag stellt das her­aus­ra­gendste Ereig­nis die­ser bis­lang kaum erforsch­ten bun­des­deut­schen Gewalt­ge­schichte dar.

Dabei war es kei­nes­wegs so, dass die zeit­ge­nös­si­sche Öffent­lich­keit das Thema igno­rierte, wie sich anhand einer klei­nen his­to­ri­schen Pro­be­boh­rung in Ham­burg zei­gen lässt. Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen um rechte Gewalt inten­si­vier­ten sich im Laufe der acht­zi­ger Jahre. Sie deu­ten exem­pla­risch auf die ras­sis­ti­sche Stim­mung in der Bun­des­re­pu­blik hin, die zu die­ser Zeit eine Kon­junk­tur erlebte. Die öffent­li­chen Reak­tio­nen sowohl im bür­ger­li­chen wie im lin­ken Spek­trum blie­ben indes wider­sprüch­lich und dreh­ten sich um eigene Befindlichkeiten.

Die egozentrische Empörung der Mehrheitsgesellschaft

Die ham­bur­gi­sche, aber auch die bun­des­deut­sche Öffent­lich­keit nahm den Anschlag in der Hals­ke­straße auf­merk­sam zur Kennt­nis. Das öffent­li­che Inter­esse in Ham­burg lässt sich exem­pla­risch an der Bericht­erstat­tung des Ham­bur­ger Abend­blatts nach­voll­zie­hen. Die bürgerlich-konservative Publi­ka­tion wid­mete dem Angriff und sei­nem Kon­text im August und Sep­tem­ber 1980 rund ein Dut­zend Arti­kel. Auch füh­rende Ver­tre­ter der han­se­städ­ti­schen Poli­tik nah­men öffent­lich Anteil. 

So doku­men­tierte das Ham­bur­ger Abend­blatt die Trau­er­feier für Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân auf dem Öjen­dor­fer Fried­hof, wo die bei­den am 4. Sep­tem­ber 1980 bestat­tet wur­den, sowie eine Rede, die der Erste Bür­ger­meis­ter Hans-Ulrich Klose (SPD) bei der Zere­mo­nie hielt. Dem­nach wohn­ten immer­hin 400 Per­so­nen der Ver­an­stal­tung bei, was eben­falls auf die große Anteil­nahme hin­weist. Die Dar­stel­lung der Zei­tung offen­bart dabei ein­drück­lich die dis­pa­ra­ten Sicht­wei­sen der deut­schen Mehr­heits­ge­sell­schaft. Sie beweg­ten sich zwi­schen Empö­rung über die Gewalt­tat und kul­tu­ra­lis­ti­schen Differenzkonstruktionen.

Der Repor­ter bemühte sich sehr, die ver­meint­li­che gegen­sei­tige Fremd­heit der Anwe­sen­den unmiss­ver­ständ­lich her­aus­zu­stel­len: »Der bedrü­ckende Anlaß der Trau­er­feier sollte ges­tern zugleich ein Zei­chen der Hoff­nung set­zen, sollte eine Brü­cke des Ver­ständ­nis­ses schla­gen hel­fen. Doch eher stau­nend und ver­ständ­nis­los als Seite an Seite mit den Viet­na­me­sen stan­den die Ein­hei­mi­schen unter den 400 Trau­er­gäs­ten.« Die bei­den Opfer seien ebenso wie die anschlie­ßende Gra­bespro­zes­sion »fremd und fremd­län­disch« geblie­ben. »Ver­ste­hen konnte der eine die ande­ren nicht«, so der Autor über die Gruppe von »Men­schen aus zwei Kul­tur­krei­sen«, zumal die Zere­mo­nie »die Ham­bur­ger […] mit der völ­lig frem­den Kul­tur jener Men­schen kon­fron­tierte, die als Opfer der Poli­tik plötz­lich zu Nach­barn und dann doch wie­der zu Opfern gewor­den sind«. Bloß die »Abscheu vor dem Ver­bre­chen« habe die Gäste verbunden.

Die Per­spek­ti­ven der Betrof­fe­nen blie­ben eine Rand­no­tiz. Nur knapp zitierte der Autor eine nicht nament­lich genannte Viet­na­me­sin: »Wir fra­gen die Mör­der, was sie wohl emp­fin­den mögen«. Das war zugleich der ein­zige Hin­weis auf die Täter und ihre hier unge­nannt blei­bende ras­sis­ti­sche Moti­va­tion. Zwar benannte der Teaser des Arti­kels die Tat als »Ter­ror­an­schlag«, doch die Über­be­to­nung der angeb­li­chen Dif­fe­renz zwi­schen »Ein­hei­mi­schen« und den Opfern bezie­hungs­weise der Gruppe, der sie ange­hör­ten, kon­ter­ka­riert selbst den Ver­such, »eine Brü­cke schla­gen« zu wol­len. Die Befind­lich­kei­ten eines mehr­heits­deut­schen Blicks stellte das Abend­blatt in den Vor­der­grund, echte Soli­da­ri­tät und Mit­ge­fühl mit den »Nach­barn« lie­ßen sich so nicht ausdrücken.

Der Ort des neo­na­zis­ti­schen Ter­rors – die Hals­ke­straße 72 im Jahr 2022. Foto: privat.

Dem Bür­ger­meis­ter gelang es in sei­ner Anspra­che hin­ge­gen bes­ser, empa­thi­sche Anteil­nahme ange­sichts des »bru­ta­len, heim­tü­cki­schen Anschlags« zum Aus­druck zu brin­gen. Den­noch zei­gen seine Äuße­run­gen eben­falls einen bemer­kens­wert deutsch-zentrierten Fokus. So bemühte Klose den Mythos von Ham­burg als libe­ra­ler und welt­of­fe­ner Stadt, der eine wich­tige Rolle im beschö­ni­gen­den his­to­ri­schen Selbst­bild der see­han­dels­ori­en­tier­ten Kauf­manns­me­tro­pole spielt: »Ich bin zutiefst betrof­fen, daß eine sol­che Tat in unse­rem Land gesche­hen konnte, in einer Stadt, die in ihrer Geschichte Zei­chen gesetzt hat für frei­heit­li­chen Geist und Tole­ranz. Mit die­ser Tat ist ein ande­res Zei­chen gesetzt wor­den, geprägt von Haß und Feind­se­lig­keit« Für ihn konnte es offen­bar kaum sein, dass aus­ge­rech­net in der Han­se­stadt ein – von ihm nicht als sol­cher bezeich­ne­ter – ras­sis­ti­scher Ter­ror­akt pas­sie­ren konnte. Er betonte, die Tat sei in ver­schie­de­ner Hin­sicht eine »Mah­nung«, Geflüch­tete zu unter­stüt­zen und »Kräf­ten der Into­le­ranz und des Has­ses gegen Min­der­hei­ten« entgegenzutreten.

Rechter Terror als Problem einer wiedergutgewordenen Nation

Auch in Klo­ses Rede wird deut­lich, wer die Adressat:innen der Rede waren: Ange­hö­rige des deut­schen Mehr­heits­kol­lek­tivs. Die Opfer des Brand­an­schlags bezie­hungs­weise »Min­der­hei­ten« blie­ben objek­ti­fi­zierte »Andere«, denen gegen­über sich die Deut­schen als vorbildlich-demokratisch, anstän­dig und hilfs­be­reit zu zei­gen hät­ten. Denn jene »Mah­nung«, die der Bür­ger­meis­ter aus­sprach, galt beson­ders ange­sichts der Geschichte des Natio­nal­so­zia­lis­mus, von der Klose fürch­tete, dass sie »uns«, das heißt das deut­sche natio­nale Kol­lek­tiv, »ein­holt«. Die Rede prä­sen­tierte hier den Topos von der »deut­schen his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung«, die im heu­ti­gen bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Dis­kurs zen­tral ist. »Gerade wir soll­ten wach und hell­hö­rig sein und blei­ben, wenn irgendwo bei uns Miß­trauen und Feind­se­lig­keit gegen­über Men­schen ande­rer Haut­farbe, Spra­che und Kul­tur auf­kei­men … Ver­ges­sen wir nie: Wir haben eine Schuld abzu­tra­gen – all jenen Men­schen gegen­über, die in deut­schem Namen ver­folgt, gede­mü­tigt, getö­tet wur­den. … Wir – gerade wir, sind zur Hilfe aufgerufen.«

Die Rede Klo­ses deu­tet dar­auf hin, dass 1980 die soge­nannte Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung im bun­des­deut­schen Dis­kurs bereits eta­bliert war. Im Vor­jahr hat­ten die Sen­der der ARD die US-amerikanische Serie »Holo­caust« aus­ge­strahlt. Sie hatte viele Zuschauer:innen gefun­den und gab der (west-)deutschen Gesell­schaft einen star­ken Anschub, sich gründ­li­cher mit der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­gan­gen­heit zu befas­sen. Diese wurde zuneh­mend in die natio­nale Basis­er­zäh­lung des nun­mehr demo­kra­ti­schen West­deutsch­land inte­griert. Ras­sis­tisch oder anti­se­mi­tisch moti­vierte Gewalt­ta­ten von Neo­na­zis konnte man vor die­sem Hin­ter­grund nicht ein­fach igno­rie­ren. Rhe­to­ri­sche Gegen­re­ak­tio­nen wie Klo­ses Rede kreis­ten jedoch vor allem um die Kon­struk­tion einer geläu­ter­ten Nation, deren mora­li­sche Wie­der­gut­wer­dung ange­sichts rechts­extre­men Ter­rors infrage gestellt schien.

Das »refugees welcome« der Konservativen…

Die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Dop­pel­mord in der Hals­ke­straße muss auch vor dem Hin­ter­grund der Dis­kus­sion um viet­na­me­si­sche »boat peo­ple« gese­hen wer­den, die um 1980 in Deutsch­land geführt wurde. In der Tat gab es seit 1979 in West­deutsch­land eine Welle der Sym­pa­thie für Men­schen, die teil­weise auf Boo­ten aus dem inzwi­schen voll­stän­dig »kom­mu­nis­tisch« regier­ten Viet­nam flo­hen. Die Bun­des­re­pu­blik nahm zahl­rei­che von ihnen auf, wobei die Unter­stüt­zung wesent­lich aus dem bür­ger­li­chen und kon­ser­va­ti­ven Spek­trum kam. Die Vietnames:innen flo­hen vor dem Kom­mu­nis­mus. Im Sinne der moder­ni­sier­ten Basis­er­zäh­lung gal­ten sie eini­gen über­dies als »Juden Asi­ens«, für die Deut­sche beson­ders ver­ant­wort­lich seien.

Denk­mal für die »boat peo­ple« auf dem Öjen­dor­fer Fried­hof. Foto: privat. 

Die kon­ser­va­tive Warm­her­zig­keit für »boat peo­ple« kühlte sich in den Fol­ge­jah­ren deut­lich ab und war ein Aspekt einer inten­si­ven und ras­sis­tisch auf­ge­la­de­nen Debatte um Migra­tion und Asyl. Diese unter­schied nicht bloß zwi­schen »Gast­ar­bei­tern« und »Asy­lan­ten«, son­dern bereits auch zwi­schen ver­meint­lich legi­ti­mer poli­ti­scher Flucht einer­seits, und soge­nann­ten »Wirt­schafts­asy­lan­ten« ande­rer­seits. Neben Vietnames:innen erreich­ten zu die­ser Zeit zahl­rei­che Men­schen Deutsch­land, die vor den Regi­men in Polen und der Tür­kei flo­hen, aber auch Flüch­tende etwa aus afri­ka­ni­schen Län­dern. Die angeb­li­che »Asyl­flut« und das gene­relle »Aus­län­der­pro­blem« waren nicht nur Rechtsterrorist:innen wie den »Deut­schen Akti­ons­grup­pen« ein Dorn im Auge. Dass die Täter:innen die Adresse in der Hals­ke­straße einem Bericht des Ham­bur­ger Abend­blatts ent­nom­men haben sol­len, ver­weist auf die Dop­pel­rolle vie­ler Medien, die einer­seits kri­tisch über Rechts­extreme berich­te­ten und ande­rer­seits die migra­ti­ons­feind­li­che Stim­mung mit anheizten.

…und die Leerstellen des linken Antifaschismus

Die Tat­sa­che, dass es sich bei der Hilfe für »boat peo­ple« um ein gleich­sam anti­kom­mu­nis­ti­sches Pro­jekt han­delte, führte dazu, dass viele bun­des­deut­sche Linke kei­nes­wegs eine empa­thi­sche Hal­tung gegen­über den zuzie­hen­den Vietnames:innen ein­nah­men. Zwar nicht alle, doch einige Links­ra­di­kale leug­ne­ten in dif­fa­mie­ren­der Weise, dass sie der Soli­da­ri­tät wür­dig seien: »Viele der Boat-People sind Schwarz­händ­ler, Zuhäl­ter und US-Kollaborateure, die sich gegen Geld Tickets für den Weg zu neuen Ufern kau­fen«, war etwa 1981 in kon­kret zu lesen. Flie­hende Vietnames:innen pass­ten kaum in die »anti­im­pe­ria­lis­ti­sche» Scha­blone zeit­ge­nös­si­scher Lin­ker, die noch wenige Jahre zuvor für eine Nie­der­lage der USA im Viet­nam­krieg gefie­bert hatten.

Das mag ein Grund dafür sein, dass die hier zugrun­de­lie­gen­den Recher­chen in lin­ken Bewe­gungs­ar­chi­ven Ham­burgs kaum Mate­rial zum Brand­an­schlag her­vor­brach­ten, obwohl Grup­pie­run­gen wie der in der Han­se­stadt gegrün­dete »Kom­mu­nis­ti­sche Bund« sich bereits seit den sieb­zi­ger Jah­ren inten­siv mit loka­len Neo­na­zis befass­ten. Über­haupt war die ver­meint­lich dro­hende »Faschi­sie­rung der BRD« zen­tral für die Gesell­schafts­kri­tik der Neuen Lin­ken. Die Frage, ob wei­tere Unter­su­chun­gen das Bild kor­ri­gie­ren oder ob die Quel­len­lage dem lin­ken Des­in­ter­esse an viet­na­me­si­schen Opfern ent­spricht, muss noch offen­blei­ben. Prin­zi­pi­ell wur­den Rechts­extre­mis­mus und Ras­sis­mus (zeit­ge­nös­sisch meist »Aus­län­der­feind­lich­keit« genannt) seit 1980 auch in Ham­burg immer stär­ker zum Thema lin­ker Mobi­li­sie­run­gen, zumal die Stadt Tat­ort wei­te­rer rechts­extre­mer Morde wer­den sollte. Auch selbst­be­wusste migran­ti­sche Orga­ni­sie­rung spielte in den Kämp­fen um Ras­sis­mus und Migra­tion eine zuneh­mende Rolle.

Die Behör­den zer­schlu­gen die »Deut­schen Akti­ons­grup­pen« im Sep­tem­ber 1980. Sie fass­ten die Täter:innen der Brand­at­ta­cke, zwei Män­ner und eine Frau, und ver­ur­teil­ten sie in Stuttgart-Stammheim zu Gefäng­nis­stra­fen. Trotz der zeit­ge­nös­si­schen Auf­merk­sam­keit für den Ham­bur­ger Ter­ror­an­schlag, schien er für Jahr­zehnte ver­ges­sen und erhält erst seit eini­gen Jah­ren wie­der Auf­merk­sam­keit. Es ist ein Fort­schritt, dass Über­le­bende und Zeit­zeu­gen 2014 in Ham­burg eine Initia­tive zum Geden­ken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân grün­de­ten. Sie rich­tet regel­mä­ßige Gedenk­ver­an­stal­tun­gen zu den Jah­res­ta­gen des Anschlags aus – in die­sem Jahr am 21. August – und for­dert, die Hals­ke­straße nach den bei­den Getö­te­ten umzu­be­nen­nen. Die Geschichte rechts­extre­mer Gewalt­ta­ten in der Bun­des­re­pu­blik steht noch am Anfang ihrer Erfor­schung und sollte auch von der anti­fa­schis­ti­schen Lin­ken stär­ker betrie­ben wer­den. Es begann nicht erst 1990 in Ost­deutsch­land: Ham­burg hat zahl­rei­che trau­rige Bei­spiele zu bieten.

Felix Mat­heis, August 2022.

Der Autor ist His­to­ri­ker in Ham­burg und arbei­tet der­zeit zu Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus in der Bun­des­re­pu­blik, his­to­risch und aktu­ell. Auf Untie­fen schrieb er bereits über die schuld­hafte Rolle Ham­bur­ger Kauf­leute im Natio­nal­so­zia­lis­mus.

Das H steht für Herrschaft

Das H steht für Herrschaft

Wäh­rend sich Frauen immer mehr Raum erkämpft haben und geschlecht­li­che Ungleich­hei­ten ange­gan­gen wur­den, blieb die Her­bert­straße an der Ree­per­bahn für sie bis heute tabu – für einen Teil der Frauen zumin­dest. Wie kommt das und was hat das mit dem Patri­ar­chat und männ­li­chen Herr­schafts­an­sprü­chen zu tun?

Offen für alle? Blick in die Her­bert­straße bei geöff­ne­tem Tor. Foto: Hinnerk11, CC BY-SA 4.0, Wiki­pe­dia.

Ham­burg steht mit der Ree­per­bahn, der Her­bert­straße und den Bur­les­que Shows immer wie­der im Zen­trum der media­len Auf­merk­sam­keit, zum Bei­spiel durch ›kul­tige‹ Kiez-Reportagen, und geriert sich als Inbe­griff der sexu­el­len Offen­heit. Der ›ero­ti­sche‹ Humor und feucht­fröh­li­che Life­style, der durch aller­hand kul­tu­relle Prak­ti­ken rund um die »sün­digste Meile der Welt«1Diese Phrase, die mit der Umwer­tung christlich-konservativer Moral­vor­stel­lun­gen koket­tiert, ist inzwi­schen zum Marketing-Slogan geron­nen und wird auch auf der offi­zi­el­len Tourismus-Webseite der Stadt Ham­burg ver­wen­det. prä­sen­tiert wird, zieht Tourist:innen an und lässt viele Femi­nis­tin­nen auf­at­men, die sich immer wie­der um die Moral von Sex­ar­beit bezie­hungs­weise Pro­sti­tu­tion strei­ten. Die Ree­per­bahn scheint zu zei­gen: Alles ganz ent­spannt und frei – es geht um Spaß und lockere Sexua­li­tät, die kaum irgendwo sonst so frei aus­ge­lebt wer­den könne wie hier. Doch wie jede Kul­tur­in­dus­trie ist auch diese nicht frei von Ideo­lo­gie und Insze­nie­rung: Sie ver­schlei­ert den Blick für ihre sta­bi­li­sie­rende Funk­tion im Sinne der (durch den Femi­nis­mus infrage gestell­ten) männ­li­chen Herrschaftsansprüche.

Die Her­bert­straße exis­tiert in ihrer Funk­tion als Hort sexu­el­ler Dienste von Frauen für Män­ner etwa seit der Wei­ma­rer Repu­blik. Seit den 1930er Jah­ren ste­hen an bei­den Enden der nur etwa 60 Meter lan­gen Straße Sicht­schutz­wände, im Jahr der Fußball-WM 1974 wur­den Schil­der mit der Beschrif­tung »Jugend­li­che unter 18 und Frauen ver­bo­ten« auf Deutsch und Eng­lisch ange­bracht. Zwar kann nie­man­dem der Zutritt zu einer öffent­li­chen Straße, wie es die Her­bert­straße ist, recht­lich ver­bo­ten wer­den, schon gar nicht auf­grund des Geschlechts. Den­noch wird das Ver­bot für Frauen, die Straße ohne Absicht sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen anzu­bie­ten, zu betre­ten, auch von öffent­li­cher Seite repro­du­ziert. Was (angeb­lich) pas­siert, wenn man das Ver­bot miss­ach­tet, erfährt man woan­ders: Einem pri­va­ten Touristik-Anbieter zufolge ist dann »mit Beschimp­fun­gen und einem Angriff durch Was­ser­bom­ben« zu rech­nen, die SHZ warnt vor »def­tigs­ten Schimpf­wor­ten, fau­len Eiern und manch­mal auch hand­fes­ten Argumenten«.

Frauen verboten‹ – zum Schutz der Prostituierten?

Frauen von außen wer­den als stö­rende Ein­dring­linge dar­ge­stellt, die nicht nur die Män­ner am Kauf von sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen behin­dern. Das Ver­bot von sich nicht pro­sti­tu­ie­ren­den Frauen soll der Wunsch der Pro­sti­tu­ier­ten selbst sein, es soll sie vor den ande­ren Frauen schüt­zen, die als »Schau­lus­tige« die Straße besuch­ten. Ob das der tat­säch­li­che Grund für das Ver­bot ist, bleibt unklar und Thema für Spe­ku­la­tio­nen. Gleich­wohl schützt es frag­los die Geschäfts­in­ter­es­sen, wenn die Män­ner nicht durch Ehe­frauen, Freun­din­nen, Schwes­tern gestört wer­den.2Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 ver­merkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhäl­ter der Herbertstraßen-Prostituierten hät­ten sich einer Öff­nung für Frauen wider­setzt. Weib­li­che Tou­ris­ten in der No-go-Area, so das Kal­kül, könn­ten das Geschäft vermasseln.«

Akti­vis­tin­nen der kon­tro­ver­sen femi­nis­ti­schen Gruppe Femen bau­ten am 8. März 2019 die Sicht­schutz­wand am Zugang zur Her­bert­straße unter dem Slo­gan ab, die »Mauer zwi­schen Frauen« zu demon­tie­ren. Gegen die Akti­vis­tin­nen wurde damals wegen Sach­be­schä­di­gung Straf­an­zeige erho­ben. Wenn­gleich die Gruppe und vor­an­ge­gan­gene Aktio­nen durch­aus kri­tisch betrach­tet wer­den kön­nen, wer­den Femi­nis­tin­nen im gesell­schaft­li­chen Dis­kurs so zu Antagonist:innen der Pro­sti­tu­ier­ten stilisiert.

Femen über­win­det die »Mau­ern zwi­schen Frauen«. Pro­test am 8. März 2019. Screen­shot: You­tube.

Frauen in der Pro­sti­tu­tion sind einem weit­aus grö­ße­ren Risiko als andere Frauen aus­ge­setzt, Gewalt zu erfah­ren oder gar ermor­det zu wer­den. Für ihren Schutz zu sor­gen, ist daher drin­gend nötig. Aber warum sol­len sie gerade vor ande­ren Frauen geschützt wer­den? Die Aus­üben­den der Gewalt gegen­über Pro­sti­tu­ier­ten sind über­wie­gend Män­ner, die in ver­schie­de­nen Bezie­hun­gen zu den Frauen ste­hen – ins­be­son­dere durch Freier.3BMFSFJ: Lebens­si­tua­tion, Sicher­heit und Gesund­heit von Frauen in Deutsch­land. Ergeb­nisse der reprä­sen­ta­ti­ven Unter­su­chung zu Gewalt gegen Frauen in Deutsch­land, S. 26–27. Online unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf. Allein in den 20 Jah­ren seit der Ent­kri­mi­na­li­sie­rung sind in Deutsch­land mehr als hun­dert Frauen aus der Pro­sti­tu­tion ermor­det wor­den, wie die Initia­tive Sex Indus­trie Kills doku­men­tiert hat. Die Libe­ra­li­sie­rung schützt die Frauen nicht, son­dern macht Men­schen­han­del lukra­ti­ver. Es ist kaum vor­stell­bar, dass ein Anstieg des Men­schen­han­dels zu weni­ger Gewalt gegen Frauen führt. Zuletzt wurde am 14. Mai eine Frau in Hamburg-Harburg tot auf­ge­fun­den, die gele­gent­lich der Pro­sti­tu­tion nach­ging und von einem ihrer Freier erwürgt wurde. Auf­grund des mas­si­ven Dun­kel­fel­des kann jedoch von einer höhe­ren Zahl aus­ge­gan­gen wer­den. Wen oder was schüt­zen die Wände an der Her­ber­straße also eigentlich?

Homosozialer Raum und männliche Herrschaft

Der schwe­di­sche Sozio­loge Sven-Axel Måns­son beschrieb Pro­sti­tu­tion bereits in den acht­zi­ger Jah­ren als männ­li­che Pra­xis, sich der eige­nen Potenz zu ver­si­chern und Mas­ku­li­ni­tät zu kon­stru­ie­ren.4Vgl. Sven-Axel Måns­son: The man in sexual com­merce, Lund 1988, S. 39. Online unter: https://lucris.lub.lu.se/ws/portalfiles/portal/66114471/1988_2.pdf. Dies geschieht in homo­so­zia­len Räu­men, in denen Frauen ledig­lich Zutritt haben, wenn sie als Objekte der männ­li­chen Libido exis­tie­ren. Män­nern als sozia­ler Gruppe steht der weib­li­che Kör­per in die­sen Räu­men unein­ge­schränkt zur Befrie­di­gung ihrer Bedürf­nisse zur Ver­fü­gung, um die eigene Männ­lich­keit in Abgren­zung zum Weib­li­chen über die sexu­elle Domi­nanz zu bestätigen.

Es ver­wun­dert nicht, dass das expli­zite Ver­bot von Frauen in der Her­bert­straße erst in den sieb­zi­ger Jah­ren in Kraft trat. Mit der Zwei­ten Welle des Femi­nis­mus, die zu die­ser Zeit Fahrt auf­nahm, began­nen Frauen sich inten­siv mit ihren eige­nen sexu­el­len Bedürf­nis­sen aus­ein­an­der­zu­set­zen. Die Akzep­tanz der Frauen, sexu­ell von Män­nern beherrscht zu wer­den, sank rapide und stellte damit auch die Selbst­ver­ständ­lich­keit männ­li­cher Herr­schaft infrage. Pro­sti­tu­tion stellte dage­gen eine Art Zufluchts­ort für Män­ner dar und diente damit als ›Kon­ser­va­to­rium‹ von Männ­lich­keit sowie der hier­ar­chi­schen Geschlecht­er­ord­nung. Dass Pro­sti­tu­tion als ’not­wen­di­ges Übel‹  im Rah­men eines hier­ar­chi­schen Geschlech­ter­ver­hält­nis­ses gese­hen im Kon­ser­va­ti­ven fest ver­an­kert ist und nach wie vor repro­du­ziert wird, zeigt nicht zuletzt die neue Hymne der Jun­gen Union.

Fei­ert da etwa die Junge Union? Die Disco Bier­kö­nig auf Mal­lorca. Foto: O. Lipp, CC BY-SA 3.0, Wiki­pe­dia.

Die ›dop­pelte Moral‹ der Kon­ser­va­ti­ven zeigt sich darin, dass sie Frauen, die der Pro­sti­tu­tion nach­ge­hen als ›Huren‹ ent­wer­ten, wäh­rend sie andere Frauen zu ›Hei­li­gen‹ sti­li­sie­ren. Über die Ent­wer­tung der Frauen als ›Huren‹ im Gegen­satz zur ›hei­li­gen‹ Ehe­frau und Mut­ter wird die kör­per­li­che und sexu­elle Auto­no­mie der ent­wer­te­ten Frauen negiert. Gleich­zei­tig ermög­li­chen sie einen per­ma­nen­ten männ­li­chen Zugriff auf den Kör­per der Frau – häu­fig mit dem Argu­ment eines zu erfül­len­den männ­li­chen Trie­bes.5Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Kon­sum sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen, Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 2007. Solange eine patri­ar­chale Orga­ni­sa­tion der Gesell­schaft vor­herrscht, ermög­li­chen kon­ser­va­tive Kräfte in krea­ti­ven For­men, wie zum Bei­spiel mit der ›Zeit­ehe‹ im Iran, immer auch den Zugriff auf Frauenkörper.

Das Geschlech­ter­ver­hält­nis an sich ist so wie­der klar: Frauen als Die­ne­rin­nen der männ­li­chen Bedürf­nisse, der sexu­el­len wie auch der für­sorg­li­chen, die Män­ner als Her­ren. Frauen als eigen­stän­dige Sub­jekte, die Bedin­gun­gen und Gren­zen umset­zen (kön­nen), stö­ren diese Ord­nung. In der Her­bert­straße wird die homo­so­ziale Struk­tur zusätz­lich durch die Beschil­de­rung und den Sicht­schutz per­p­etu­iert. Auch nach außen wird damit die Grenze zu die­ser ande­ren Welt, in der noch nach den ›alten Regeln‹ gespielt wird, symbolisiert.

Zwischen Normalisierung…

Wie jedes Herr­schafts­ver­hält­nis braucht auch das patri­ar­chale Geschlech­ter­ver­hält­nis die Illu­sion der Natür­lich­keit, um sich auf­recht­zu­er­hal­ten. Diverse Umfra­gen unter Frei­ern legen nahe, dass der durch­schnitt­li­che Freier von einer »männ­li­chen Natur« und bio­lo­gi­schen Zwän­gen über­zeugt ist und dar­über hin­aus ein im Ver­gleich zu Män­nern, die keine sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen in Anspruch neh­men, aggres­si­ve­res Sexu­al­ver­hal­ten auf­weist.6Vgl. Clau­dine Leg­ar­di­nier: Der ›Freier‹ im Brenn­punkt der Kri­tik, in: Femi­nis­ti­sches Bünd­nis Hei­del­berg (Hg.): Was kos­tet eine Frau? Eine Kri­tik der Pro­sti­tu­tion. Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2020, 69–86. Der Wunsch nach Sexua­li­tät ohne Ver­ant­wor­tung spielt dabei eben­falls eine Rolle. Bei sich pro­sti­tu­ie­ren­den Frauen, so die Prä­misse, müsse keine Rück­sicht genom­men wer­den, da man für die Dienst­leis­tung bezahlt. ›Der Kunde ist König‹ bleibt dabei nicht bloß ein Spruch aus der Dienst­leis­tungs­bran­che, son­dern steht sinn­bild­lich für das Geschlechterverhältnis.

Die Her­bert­straße hat sich wider­spre­chende und doch zusam­men­ge­hö­rende Nor­ma­li­sie­rungs­funk­tio­nen. Auf der einen Seite kon­sti­tu­iert sich mit ihr die Selbst­ver­ständ­lich­keit männ­li­cher Räume und der Erfül­lung männ­li­cher, ver­meint­lich natür­li­cher, Bedürf­nisse. Freier wol­len Frauen, die sexu­ell wil­lig sind, aber genau das­selbe wol­len wie sie selbst: all ihre sexu­el­len Wün­sche erfül­len, ohne Gegen­leis­tung. Pro­sti­tu­tion als ›Arbeit‹ anzu­er­ken­nen steht die­ser Illu­sion aller­dings ent­ge­gen, da es sich letzt­lich auch für die Frauen um eine Dienst­leis­tung bzw. um etwas han­delt, das sie nicht frei­wil­lig, nicht ohne eine Gegen­leis­tung bzw. Kom­pen­sa­tion tun wür­den. Um sich die­ser Ver­ant­wor­tung zu ent­zie­hen, reich­ten zwei Freier gar eine Ver­fas­sungs­be­schwerde gegen ein Gesetz ein, das die Inan­spruch­nahme von sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen bei Zwangs­pro­sti­tu­ier­ten unter Strafe stellt. Die Geschichte der sexu­ell befrei­ten, aber miss­ver­stan­de­nen Frau als ero­ti­sches Wesen, das den (unver­bind­li­chen, ein­sei­ti­gen) Sex mit frem­den Män­nern will, muss repro­du­ziert wer­den: Sie hat ›ihr Hobby zum Beruf gemacht‹.

… und Exotisierung

Zusätz­lich und ent­ge­gen der Nor­ma­li­sie­rung, braucht der Raum die Atmo­sphäre des Exo­ti­schen, des Ver­bo­te­nen und ›Sün­di­gen‹, damit sich Män­ner darin ihrer Viri­li­tät ver­si­chern kön­nen. Der ›Reiz des Ver­steck­ten‹ ist die Grund­lage die­ser männ­li­chen Fan­ta­sie, Gewalt gegen die als min­der­wer­tig mar­kier­ten ›Huren‹ ist ein Teil davon. Nicht erst die Erhe­bung Fritz Hon­kas, der in den sieb­zi­ger Jah­ren zahl­rei­che sich pro­sti­tu­ie­rende Frauen ermor­dete, zur Haupt­fi­gur in Heinz Strunks Roman Der gol­dene Hand­schuh und sei­ner Ver­fil­mung durch Fatih Akin oder die »Sex&Crime«-Rundgänge für Tourist:innen auf der Ree­per­bahn zeu­gen von der schau­ri­gen Fas­zi­na­tion, die das ›Rot­licht­mi­lieu‹ und Gewalt gegen Frauen durch Män­ner gene­rell in unse­rer Gesell­schaft ausüben.

Der Reiz des Gehei­men: Schumm­ri­ges Licht und schwere Vor­hänge. Foto: hds, CC BY 2.0, Wiki­pe­dia.

Die Atmo­sphäre des Exo­ti­schen, Sün­di­gen wird durch die Sicht­wände unter­stützt und sug­ge­riert Sub­ver­sion. Pro­sti­tu­tion ist in Deutsch­land aller­dings sowohl für die sexu­elle Hand­lun­gen anbie­ten­den Frauen als auch für die Freier seit Jahr­zehn­ten legal, die Her­bert­straße eine öffent­li­che Straße, die grund­sätz­lich jede:r betre­ten dürfte. Auch die soge­nannte »Sit­ten­wid­rig­keit«, durch die Pro­sti­tu­tion trotz Lega­li­tät mora­lisch abge­wer­tet und dis­zi­pli­niert wurde, wurde 2002 abge­schafft. Es ist mitt­ler­weile keine Sel­ten­heit, dass Verfechter:innen und Sexarbeiter:innen in Talk­shows, Pod­casts und Arti­keln über die Wich­tig­keit von Pro­sti­tu­tion und Por­no­gra­fie sprechen.

Der Wider­spruch zwi­schen der ›ver­bo­te­nen‹, ’sün­di­gen‹ und ver­meint­lich von Moral­vor­stel­lun­gen freien Sexua­li­tät und dem staat­lich geför­der­ten, gewerb­lich orga­ni­sier­ten und ver­mark­te­ten Pro­sti­tu­ti­ons­be­trieb ist offen­sicht­lich. Der Mythos, im Natio­nal­so­zia­lis­mus sei Pro­sti­tu­tion grund­sätz­lich ille­gal gewe­sen, wird auch nach wie vor im Kon­text der Her­bert­straße repro­du­ziert. Die Natio­nal­so­zia­lis­ten hät­ten die Wand auf­ge­stellt, um die Pro­sti­tu­tion aus dem »Sicht­feld der Öffent­lich­keit zu ver­ban­nen«, so eine Kiez-Seite. Es stimmt, dass Frauen für Pro­sti­tu­tion ver­folgt wur­den, doch ging es prak­tisch in ers­ter Linie um staat­li­che Kon­trolle über die Pro­sti­tu­tion und (unver­hei­ra­tete) Frauen. Frauen, die sich regel­mä­ßig unter­su­chen lie­ßen und sich staat­lich orga­ni­siert pro­sti­tu­ier­ten, ent­gin­gen der Ver­fol­gung, wenn­gleich die­ses Arran­ge­ment kein siche­res für die Frauen war.7Vgl. Robert Som­mer: Das KZ-Bordell. Sexu­elle Zwangs­ar­beit in natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, Lei­den: Brill & Schö­ningh, 2009. Die Dar­stel­lung der Pro­sti­tu­tion als sub­ver­sive, quasi eman­zi­pa­to­ri­sche Pra­xis wird durch die wie­der­holte und ver­kürzte mediale Gegen­über­stel­lung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus unter­stützt. Der Freier und die Pro­sti­tu­ierte wer­den so ideo­lo­gisch als Vor­rei­te­rin­nen gegen eine über­kom­mene Sexu­al­mo­ral und für eine befreite Sexua­li­tät verklärt.

Hamburg, die »Puffmama«

Im Juni 2021, einen Tag vor der Abschaf­fung des pan­de­mie­be­ding­ten Ver­bots kör­per­na­her Dienst­leis­tun­gen und damit auch von Pro­sti­tu­tion, demons­trier­ten Frauen aus der Her­bert­straße für die Wieder-Erlaubnis von sexu­el­len Diens­ten unter dem Namen Sexy Auf­stand Ree­per­bahn. Unter ande­rem mit Pla­ka­ten mit der Auf­schrift »Der Staat fickt uns und zahlt nicht« wie­sen die Frauen auf ihre pre­käre Situa­tion, aber auch noch auf etwas ande­res hin: Der Staat bezie­hungs­weise die Stadt Ham­burg nutzt die Frauen für den eige­nen Vor­teil – hat aber letzt­lich die Kon­trolle über sie. Ein paar Monate fand in der Her­bert­straße eine Kunst­aus­stel­lung statt, die an den »Auf­stand« erin­nern sollte. Mit der Aktion wollte man sich u.a. beim Bezirks­amt Ham­burg St. Pauli bedan­ken, das – laut Organisator:innen der Aktion – die Gewerbe in der Her­bert­straße und auf der Ree­per­bahn im Sinne der Wie­der­eröff­nung unter­stützt habe.

Der (Sex-)Tourismus in Ham­burg lebt vom Reiz, den die Her­bert­straße und die Ree­per­bahn aus­üben. Par­al­lel zu den Schrit­ten der Ent­kri­mi­na­li­sie­rung der Pro­sti­tu­tion in Deutsch­land stie­gen die Tourismus-Zahlen in Ham­burg rasant. Wäh­rend die Zahl der Tourist:innen in den neun­zi­ger Jah­ren sta­gnierte, stieg sie seit 2002 um meh­rere Mil­lio­nen an. Ham­burg pro­fi­tiert maß­geb­lich vom Sex­tou­ris­mus als wich­ti­ger öko­no­mi­scher Ein­nah­me­quelle. Der ›kul­tige‹ Kiez und das Ver­spre­chen lust­vol­ler Fri­vo­li­tät und sexu­el­ler Ver­füg­bar­keit von Frauen zie­hen Besucher:innen an. Selbst die­je­ni­gen, die ’nur‹ der Atmo­sphäre der Ree­per­bahn, des Kiezes und des Milieus nach­spü­ren wol­len, brin­gen durch ihre Besu­che Geld in die städ­ti­schen Taschen.

»Für mehr Frem­den­ver­kehr«: Dar­auf kön­nen sich in der Her­bert­straße alle eini­gen. Foto: S. McCann, flickr.

Mit dem boo­men­den (Sex-)Tourismus war Schluss, als vor zwei­ein­halb Jah­ren das Corona-Virus der Pro­sti­tu­tion und Beher­ber­gungs­bran­che für einige Monate den Gar­aus machte. Nicht ganz unei­gen­nüt­zig schei­nen da die Bemü­hun­gen der Stadt- und Bezirks­ver­wal­tung von Ham­burg Mitte, die Pro­sti­tu­ti­ons­ge­werbe wie­der ›in Betrieb‹ zu neh­men. Ein Grup­pen­foto mit Falko Droß­mann, dama­li­ger Bezirks­amts­lei­ter, das groß auf der Home­page der Gruppe Sexy Auf­stand Ree­per­bahn zu fin­den ist, weist auf die nicht unei­gen­nüt­zi­gen Motive des Bezirks hin. Die Brü­che, die staat­li­che sowie städ­ti­sche Poli­ti­ken in Bezug auf sich pro­sti­tu­ie­rende Frauen auf­wei­sen, sind geprägt vom Macht­ver­hält­nis zwi­schen patri­ar­chal orga­ni­sier­ten Kapi­tal­in­ter­es­sen und den in der Regel vul­ner­ablen Frauen, die sich für die Pro­sti­tu­tion ent­schei­den oder in diese hineinrutschen.

Uner­wünscht sind Frauen in der Her­bert­straße offen­sicht­lich nicht. Sie sind sowohl öko­no­mi­sche Grund­lage als auch kul­tu­rel­ler Bestand­teil der Tou­ris­ten­at­trak­tion und der Rituale einer sich selbst ihrer Herr­schaft ver­si­chern­den Männ­lich­keit. Dies gilt aller­dings nur für bestimmte Frauen. Wenn sie selbst als Anbie­te­rin­nen sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen und damit als durch Män­ner kon­su­mier­bare Ware auf­tre­ten, sind sie will­kom­men. Alle ande­ren müs­sen ›drau­ßen blei­ben‹ und sol­len nicht an den Wän­den der Män­ner­bün­de­lei, der kul­tu­rel­len Grund­lage patri­ar­cha­ler Gesell­schaf­ten, rütteln.

Lea Rem­mers

Die Autorin ist femi­nis­ti­sche Sozio­lo­gin und ver­misst in aktu­el­len Debat­ten um Pro­sti­tu­tion den Anspruch, das Bestehende als Aus­druck einer heterosexistisch-kapitalistisch orga­ni­sier­ten Gesell­schaft zu analysieren.

  • 1
    Diese Phrase, die mit der Umwer­tung christlich-konservativer Moral­vor­stel­lun­gen koket­tiert, ist inzwi­schen zum Marketing-Slogan geron­nen und wird auch auf der offi­zi­el­len Tourismus-Webseite der Stadt Ham­burg verwendet.
  • 2
    Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 ver­merkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhäl­ter der Herbertstraßen-Prostituierten hät­ten sich einer Öff­nung für Frauen wider­setzt. Weib­li­che Tou­ris­ten in der No-go-Area, so das Kal­kül, könn­ten das Geschäft vermasseln.«
  • 3
    BMFSFJ: Lebens­si­tua­tion, Sicher­heit und Gesund­heit von Frauen in Deutsch­land. Ergeb­nisse der reprä­sen­ta­ti­ven Unter­su­chung zu Gewalt gegen Frauen in Deutsch­land, S. 26–27. Online unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf.
  • 4
    Vgl. Sven-Axel Måns­son: The man in sexual com­merce, Lund 1988, S. 39. Online unter: https://lucris.lub.lu.se/ws/portalfiles/portal/66114471/1988_2.pdf.
  • 5
    Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Kon­sum sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen, Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 2007.
  • 6
    Vgl. Clau­dine Leg­ar­di­nier: Der ›Freier‹ im Brenn­punkt der Kri­tik, in: Femi­nis­ti­sches Bünd­nis Hei­del­berg (Hg.): Was kos­tet eine Frau? Eine Kri­tik der Pro­sti­tu­tion. Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2020, 69–86.
  • 7
    Vgl. Robert Som­mer: Das KZ-Bordell. Sexu­elle Zwangs­ar­beit in natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, Lei­den: Brill & Schö­ningh, 2009.

Das hanseatische Gesicht des Bestehenden

Das hanseatische Gesicht des Bestehenden

Zwei neue Bücher über Olaf Scholz schrei­ben ihm han­sea­ti­sche Tugen­den zu und emp­feh­len ihn als Ver­wal­ter des neo­li­be­ra­len Sta­tus Quo. Was wirk­lich über Scholz zu sagen wäre, fällt in die­ser staats­jour­na­lis­ti­schen Image­pflege unter den Tisch.

„Frei von Empa­thie“ und „ohne jedes Cha­risma“: Olaf Scholz laut zwei Hof­be­richt­erstat­tern. Foto: privat.

In der reprä­sen­ta­ti­ven bür­ger­li­chen Demo­kra­tie erfül­len poli­ti­sche Eli­ten immer auch eine sym­bo­li­sche Funk­tion. Sie sol­len den Staat bezie­hungs­weise „das Volk“ reprä­sen­tie­ren, den Bürger:innen ein Bild ihres Gemein­we­sens ver­kör­pern. Im Gegen­satz zum könig­li­chen Kör­per, der im Ancien Régime qua Geburt und gött­li­cher Aus­er­wählt­heit unfrag­lich die Ein­heit des Staa­tes sym­bo­li­sierte, müs­sen die wech­seln­den demo­kra­ti­schen Repräsentant:innen sich dem anpas­sen, was die Bevöl­ke­rung sich wünscht und was sie zu akzep­tie­ren bereit ist. Sie müs­sen, zumal in der hoch­gra­dig media­li­sier­ten Demo­kra­tie der Gegen­wart, ihr Image her­stel­len als Pro­jek­ti­ons­flä­che für staats­tra­gende Tugenden.

Ange­sichts der zuneh­men­den Per­so­na­li­sie­rung von Par­tei­po­li­tik ist sol­che Image­pflege ein nicht zu ver­nach­läs­si­gen­der Bestand­teil der Her­stel­lung von poli­ti­scher Hege­mo­nie, also der Zustim­mung der Beherrsch­ten zu ihrer Beherr­schung. Jour­na­lis­ten staats­na­her Medien ver­su­chen von die­ser Not­wen­dig­keit zu pro­fi­tie­ren und über­neh­men dabei unauf­ge­for­dert diese Image­pflege, indem sie die ver­meint­lich bedeut­same „Per­sön­lich­keit“ füh­ren­der Politiker:innen in den Fokus rücken und ihre posi­ti­ven Qua­li­tä­ten beschrei­ben bzw. eben erfinden.

Eben so ist es im Fall Olaf Scholz. Zwar eig­net Scholz sich denk­bar schlecht für Image­pflege, ver­kör­pert er doch der all­ge­mei­nen Wahr­neh­mung nach vor allem Lan­ge­weile. Aber das hin­dert Journalist:innen nicht, die es ja gewohnt sind, aus wenig Mate­rial viel leicht ver­dau­li­chen Text zu machen. Und nun, da er Kanz­ler ist, lässt sich so etwas auch verkaufen.

Bei­spiele die­ser Art von kos­ten­lo­ser PR sind die bei­den bis­her über Olaf Scholz erschie­ne­nen Bücher: „Olaf Scholz: Der Weg zur Macht. Das Por­trät“ (Klar­text, Dezem­ber 2021) vom Chef­re­dak­teur des Ham­bur­ger Abend­blatts, Lars Hai­der, und „Olaf Scholz – Wer ist unser Kanz­ler?“ (S. Fischer, Februar 2022) von Mark Schie­r­itz, wirt­schafts­po­li­ti­scher Kor­re­spon­dent im Haupststadt-Büro der ZEIT.

Natür­lich kön­nen auch Hai­der und Schie­r­itz zu Scholz nichts wirk­lich Inter­es­san­tes berich­ten. Beide Bücher sind bür­ger­li­che bun­des­deut­sche Hof­be­richt­erstat­tung ohne jede Gesell­schafts­kri­tik. Neben Lan­ge­weile kön­nen sie höchs­tens schau­dern las­sen, etwa, wenn Hai­der anbie­dernd erzählt, wie oft er Scholz schon in Hin­ter­grund­ge­sprä­chen oder zu Inter­views getrof­fen habe. Kurz: Sie gehö­ren zu denen, die selbst in 7 lan­gen Leben kei­nen Platz auf der Lese­liste ver­dient hät­ten. Aber es ist inter­es­sant, wel­che Qua­li­tä­ten sie Scholz im Sinne der genann­ten staats­tra­gen­den Image­pflege anzu­dich­ten versuchen.

Bei Hai­der sind Scholz‘ han­sea­ti­sche Qua­li­tä­ten, ins Poli­ti­sche gewen­det, im Kern eine Affir­ma­tion des gegen­wär­ti­gen neo­li­be­ra­len Regimes. Was die Bürger:innen in Scholz sehen sol­len, ist „Kom­pe­tenz“, „Nüch­tern­heit“ und „Erfah­rung“ – also Poli­tik unter dem Dik­tat des tris­ten Rea­lis­mus, streng an den Sach­zwän­gen ori­en­tiert, ohne ver­derb­li­che Uto­pie, Visio­nen (Hel­mut Schmidt ist für Scholz nicht ohne Grund ein „Gigant“) oder auch nur ein erkenn­ba­res Pro­gramm. Sicher, hier darf es auch mal Zuge­ständ­nisse geben – aber was nötig und mög­lich ist und was nicht, das ent­schei­det das Kapi­tal. Er habe „das Geld zusam­men­ge­hal­ten“ und in Ham­burg „gut und solide“ regiert. Natür­lich ist er ein „Macht­mensch“ – denn anders geht es schließ­lich in den Kom­man­do­hö­hen des Staa­tes nicht. Hai­der stellt sich die Bezie­hung zu den Wähler:innen so vor: Sie bestel­len „Füh­rungs­leis­tung“ und Scholz lie­fert sie.

Solch mar­kige Management-Macherrhetorik soll beru­hi­gen, sug­ge­riert sie doch, dass der_die Ein­zelne noch etwas aus­rich­ten kann. Dabei ver­ne­belt sie natür­lich, dass das polit­öko­no­mi­sche Wohl oder Ver­der­ben in kapi­ta­lis­ti­schen Staa­ten kaum von ein­zel­nen Politiker:innen abhängt, selbst von Kanz­lern nicht. Bei Scholz wird nun diese Per­so­na­li­sie­rung der Poli­tik auf einen Kanz­ler gepresst, der sie man­gels nen­nens­wer­ter Per­sön­lich­keit bei­nahe schon ad absur­dum führt. Wer das schlu­cken kann, hofft wohl kaum noch, dass irgend­wer den Irr­sinn die­ser Gesell­schaft doch noch rich­ten könnte. Hai­der offen­bart genau den capi­ta­list rea­lism, den Mark Fisher beschrieb: Es ist nichts Ande­res vor­stell­bar als ein ewi­ges „wei­ter so“, also ist es doch bes­ser, jeman­dem die Sache zu über­las­sen, der genau das und auch nicht mehr will.

Die Per­son Scholz beschreibt Hai­der als „frei von Empa­thie“ und „ohne jedes Cha­risma“. Das ist nicht nega­tiv gemeint, son­dern soll wohl Sach­kennt­nis und Kom­pe­tenz noch ein­mal unter­strei­chen: Scholz hat keine Gefühle, er hat Ahnung. Über sein Leben gibt Scholz wenig preis, aber was man wis­sen kann, lässt ahnen: Er ist genauso lang­wei­lig und durch­schnitt­lich, wie er erscheint. Gebo­ren in Osna­brück in eine Mit­tel­schichts­fa­mi­lie, poli­ti­sche Sozia­li­sie­rung bei den Jusos, Jura­stu­dium, Selbst­stän­dig­keit als Anwalt für Arbeits­recht, SPD-Parteikarriere.

Hai­ders Scholz „arbei­tet hart“, ist „ehr­gei­zig“, man kann ihm ver­trauen, denn „er kann was“. Er ist hart im Neh­men – aber auch hart zu sich selbst. Er stu­diert tage­lang Akten, ohne zu ermü­den. Er ist von sich über­zeugt, aber auch zu Recht. Er hat zwar kein Cha­risma, aber denkt ana­ly­tisch und ist ein „Arbeits­tier“. Er ist höf­lich und nicht arrogant.

Schließ­lich auch noch ein Schuss Sozi­al­de­mo­kra­tie: Er ist ein „Auf­stei­ger, der an soziale Gerech­tig­keit glaubt“, ja, ein „Außen­sei­ter“. Hai­der wid­met gar sein Buch „allen Außen­sei­tern“. Was einen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Juris­ten mit jahr­zehn­te­lan­ger erfolg­rei­cher Polit­kar­riere zum Außen­sei­ter macht, bleibt frei­lich Hai­ders Geheim­nis. Viel­leicht die Kind­heit in Rahl­stedt? Ähn­lich dünn ist der Ver­such, Scholz als „Femi­nis­ten“ dazu­stel­len. Er hätte sich schon immer für Gleich­be­rech­ti­gung ein­ge­setzt, etwa in der Aus­wahl sei­ner Senator:innen und Minister:innen, und sei all­er­gisch, wenn in Inter­views die Berufs­tä­tig­keit sei­ner Frau in Frage gestellt wird. Fair enough – aber das ist genau die Art Staats­fe­mi­nis­mus, mit dem man heute wirk­lich nir­gendswo mehr Wider­spruch hervorruft.

Jetzt setzt’s aber Respekt: Olaf Scholz im Wahl­kampf 2021. Foto: Michael Lucan CC BY-SA 3.0

Schie­r­itz’ Buch ord­net anders als Hai­ders Mach­werk Scholz auch poli­tisch ein. Dass er schon unter Ger­hard Schrö­der als Gene­ral­se­kre­tär an der Neo­li­be­ra­li­sie­rung der SPD mit­ge­ar­bei­tet hat und die Agenda 2010 flei­ßig ver­tei­digte, wird hier zumin­dest nicht ver­schwie­gen. Ebenso, dass Scholz damals den Begriff „demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus“ aus dem Par­tei­pro­gramm der SPD strei­chen las­sen wollte.

Aber für Schie­r­itz begrün­det das kei­nen Vor­wurf, son­dern für ihn zeigt es, wie „geer­det“ Scholz heute im Ver­gleich zu sei­ner links­ra­di­ka­len Zeit in den 1970ern ist. Vor allem der Anwalts­be­ruf habe ihn zu einem „Mann der Mitte“ gemacht. Auch der von Scholz ver­ant­wor­tete Brech­mit­tel­ein­satz, der 2001 Ach­idi John das Leben kos­tete, kann die­sem Bild nichts anha­ben. Schie­r­itz ver­han­delt den Skan­dal unter fer­ner lie­fen, bei Hai­der taucht er erst gar nicht auf. Scholz ist für Schie­r­itz „den Her­aus­for­de­run­gen des 21. Jahr­hun­derts gewach­sen“, denn er ist kein Ideo­loge, son­dern „je nach den Umstän­den aus­ge­rich­tet“. Er ist ein Ver­hand­ler, „will alle Mei­nun­gen hören“, umgibt sich mit „Leu­ten die etwas bewe­gen wollen“.

Sogar ein biss­chen weni­ger Neo­li­be­ra­lis­mus will er neu­er­dings. Denn statt Leis­tungs­ge­rech­tig­keit wie in der Sozi­al­de­mo­kra­tie des Drit­ten Weges à la Blair und Schrö­der stellt Scholz die „Bei­trags­ge­rech­tig­keit“ in den Mit­tel­punkt. Der Ser­mon vom „Respekt“ ist wohl allen noch aus dem letz­ten Bun­des­tags­wahl­kampf im Ohr. „Respekt“ soll für not­wen­dige Lohn­hier­ar­chien ent­schä­di­gen. „Respekt“ soll es für Erwerbs­ar­beit jeder Art geben, egal ob hoch- oder nied­rig qua­li­fi­ziert. Das aber hat natür­lich nur wenig mit Gerech­tig­keit zu tun. Denn „Respekt“, man ahnt es, ist, was von der Sozi­al­de­mo­kra­tie übrig­bleibt, wenn sie nicht umver­tei­len will. Mit Scholz soll der neo­li­be­rale Wahn­sinn des Bestehen­den huma­ni­siert wer­den. Wie eng begrenzt diese rhe­to­ri­schen Zuge­ständ­nisse sind, zeigt schon jetzt, wie wenig wir uns davon ver­spre­chen dür­fen. Wer Scholz’ Weg in Ham­burg ver­folgt hat, weiß, dass er Ansprü­che auf mehr als „Respekt“ auch abzu­weh­ren weiß: die Law&Order-Rhetorik im Wahl­kampf gegen Schill, die Brech­mit­tel­ein­sätze, sein Ein­satz gegen die Rekom­mu­na­li­sie­rung der Ener­gie­netze und für Olym­pia, die Gefah­ren­ge­biete, seine absurde Ver­leug­nung poli­zei­li­cher Gewalt beim G20-Treffen und jüngst sein beun­ru­hi­gend schlech­tes Gedächt­nis bezüg­lich Kor­rup­tion mit der Warburg-Bank zei­gen, wozu ein ideo­lo­gisch fle­xi­bler Par­tei­sol­dat wie Scholz fähig ist. Scholz ist kein wirk­li­cher Böse­wicht, auto­ri­täre Res­sen­ti­ments und per­sön­li­che Berei­che­rung sind ihm sicher fremd. Aber er ist eben ein typi­scher Sozi­al­de­mo­krat des neo­li­be­ra­len Zeit­al­ters. James Jack­son hat das im Jaco­bin Maga­zin schön zusam­men­ge­fasst: Scholz ver­bin­det höhere Min­dest­löhne mit kapi­tal­freund­li­cher Kli­ma­po­li­tik, Law & Order-Maßnahmen mit dem Kampf gegen Rechts­po­pu­lis­mus. Er steht für „Sta­bi­li­tät statt Vision, Manage­ment statt Trans­for­ma­tion, und wahrt die Inter­es­sen der Mäch­ti­gen – wäh­rend er gerade genug refor­miert, um den Kohle-getriebenen Koloss deut­sche Indus­trie am Lau­fen zu hal­ten.“ Auf Bun­des­ebene setzt Scholz somit fort, was seine Poli­tik als Ers­ter Bür­ger­meis­ter Ham­burgs aus­zeich­nete – und was ihn popu­lär machte. Und wer weiß, viel­leicht räumt die ZEIT ihm nach der nächs­ten Bun­des­tags­wahl ja Hel­mut Schmidts altes Büro frei.

Felix Jacob

Der Autor schrieb auf Untie­fen zuletzt über den Ham­bur­ger Auf­stand 1921.