Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg
Die deutsche Geschichte ist für radikal rechte Parteien ein zentrales Agitationsfeld. Auch die Hamburger AfD verbreitet einerseits immer wieder klassisch revisionistische Thesen, die vor allem den Holocaust und die Kolonialgeschichte umdeuten. Vor allem aber vertritt sie einen nostalgischen Nationalismus, der für die eigene politische Agenda durch gezieltes Auswählen und Verschweigen Mythen über die deutsche Vergangenheit entwirft.
Das Verhältnis zur deutschen Vergangenheit ist die zentrale Eintrittskarte in den politischen Diskurs der BRD. Offene Holocaustleugnung oder ‑relativierung sind nicht nur strafbar, sondern auch politisch äußerst schädlich. Bei der populistischen, als Verteidigerin der Demokratie auftretenden AfD spielen sie daher auch in Hamburg nur eine untergeordnete Rolle. Dennoch wird immer wieder erkennbar, dass es sich hier um strategische Zurückhaltung handelt.
Offener Revisionismus
Bekannt sind etwa NS-Relativierungen des Hamburger AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Baumann, frühere revisionistische Kommentare des derzeitigen Hamburger AfD-Pressesprechers Robert Offermann und der Verdacht auf antisemitische Aussagen eines Mitarbeiters der Bürgerschaftsfraktion. Am meisten Aufsehen erregte wohl der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD in der Bürgerschaft, Alexander Wolf. 2017 wurde bekannt, dass er 1994 eine Sammlung von NS-Liedern unter dem Titel „Schlachtruf“ herausgab, in deren Vorbemerkungen er mit Blick auf die Kapitulation Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg zu einem „entschlossenen ‚Nie wieder!’“ aufrief.
Überhaupt, Alexander Wolf: Er ist in der Bürgerschaftsfraktion der Mann für die provokanten historischen Thesen. So behauptete er etwa im März 2023 in der Bürgerschaft, die Nazis hätten sich „keineswegs als rechts, sondern bewusst als Sozialisten“ verstanden. Die DDR und den NS-Staat parallelisierte er als „Diktaturen“, um sogleich zu seinem eigentlichen Anliegen zu kommen, nämlich der Lüge, auch der heutige Kampf gegen Rechts sei wieder ähnlich eine ähnliche „Freiheitseinschränkung“ und „Ausgrenzung“.
„Vogelschiss“ als Programm: der nostalgische Nationalismus
Diese offenen Relativierungen sind aber die Ausnahme. Die wirkliche geschichtspolitische Strategie der Hamburger AfD besteht darin, die Gaulandsche Rede vom „Vogelschiss“ in die Praxis umzusetzen. In den Beiträgen der AfD-Abgeordneten findet sich kaum eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oder mit der Kolonialgeschichte. Und wenn diese Themen berührt werden, dann geht es stets darum, für die radikal rechte Politik nostalgisch-nationalistische, positive Ankerpunkte in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu finden.
Historische Würdigung fordert die AfD etwa für folgende Gruppen: die Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg („Höhepunkt des deutschen Widerstands“), die Opfer der alliierten Bombardierung Hamburgs im Juli 1943 („Kriegsverbrechen“), die Aufständigen vom 17. Juni 1953 in der DDR („identitätsstiftendes Datum“) sowie für die an der Grenzen zwischen DDR und BRD Ermordeten und den Mauerbau 1961 („Schicksalsdatum der deutschen Nation“).
Und die im Jahr 2020 aufgekommenen Rufe nach einem Denkmal für die Leistungen der sogenannten türkischen „Gastarbeiter“ konterte Wolf im November 2021 mit der Forderung, stattdessen ein Denkmal für „Trümmerfrauen“ zu schaffen.
Das Kaiserreich soll rechtsradikale Herzen wärmen
Neben den deutschen Opfern alliierter Bomben und kommunistischer SED-Herrschaft sowie patriotischen konservativen Generälen steht vor allem das Deutsche Kaiserreich im Zentrum der AfD-Geschichtspolitik. Eine Folge des Podcasts „(Un-)Erhört!“ der Hamburger AfD-Fraktion vom Januar 2021 zum 150. Jahrestag der Reichsgründung 1871 illustriert das.
Zum eingangs gespielten „Heil dir im Siegerkranz“ spricht Wolf von einem „der glücklichsten Momente der deutschen Geschichte“. Heutige Politiker:innen würden sich jedoch der Erinnerung daran verweigern, sie hätten ein „gestörtes Verhältnis zur „eigenen Geschichte“. So hätte die „über tausendjährige Geschichte Deutschlands“ zwar „problematische Seiten“, doch sei sie eben auch „mehr“. Ab dort verschwindet der Nationalsozialismus aus dieser Erzählung und das heutige Deutschland wird schlicht in Kontinuität zum Kaiserreich gesetzt. Das ist eine ganz bewusste Konstruktion einer Tradition, die nur über Auslassung funktioniert. An die „positiven Momente der Geschichte“ soll erinnert werden, so Wolf weiter, „weil das unsere Identität prägt. Eine Nation lebt nicht nur von der Ratio und von der Verfassung, sondern auch von einem positiven Gemeinschaftsgefühl.“ Nur daraus könnten „Solidarität und Miteinander erwachsen.“
Gereinigt werden soll die deutsche Geschichte also nicht, indem der Holocaust geleugnet wird. Der „Schuldkult“-Vorwurf wird hier subtiler formuliert: Der bedingten Anerkennung der Verbrechen in den 12 Jahren NS-Herrschaft wird eine saubere Version der vermeintlich anderen 988 Jahre deutscher Geschichte und deutschen Glanzes entgegengestellt.
Mit Bismarck gegen die Wahrheit
Diese Strategie zeigt sich auch an der Position der AfD zur Debatte um das Otto von Bismarck-Denkmal auf St. Pauli. In einer Folge des besagten Podcasts vom Juli 2021 zeichnet Wolf den ersten Reichskanzler als eine positive Figur der deutschen Geschichte. Die geforderte Neu-Kontextualisierung des Denkmals sei selbst Geschichtsrevisionismus, schließlich würde Bismarck dabei „aus dem Blickwinkel eines Antifanten und einer Feministin“ gesehen. Die sogenannte Westafrika-Konferenz 1884/85 in Berlin, zu der Bismarck einlud und bei der die europäischen Großmächte den afrikanischen Kontinent als Kolonialbesitz unter sich aufteilten, verschweigt Wolf dabei nicht. Aber er stellt sie als rein friedensstiftende Maßnahme zur Sicherung der innereuropäischen Ordnung dar. Das funktioniert wiederum nur durch Ausblenden der Folgen für die kolonisierten Bevölkerungen außerhalb Europas. Aber mehr noch: Kolonialismus ist für Wolf „nicht per se von vornherein schlecht“. Denn es sei „viel Positives geleistet worden, Infrastruktur, Gesundheit etc.“ Es dürfe eben nicht „einseitig die negative Brille“ aufgesetzt werden, wie es bei der Black Lives Matter-Bewegung geschehen sei. So hält Wolf dann auch die gängige Forschungsposition, dass die Deutschen 1904/5 in Südwestfrika einen Völkermord begangen haben, für „absurd“, ja „Quatsch“. Man sieht: Obwohl nostalgischer Nationalismus die Kernstrategie der AfD Hamburg ausmacht, ist der zu offenem Revisionismus schnell gemacht.
Am 19.01. eröffnete im Hamburger Rathaus eine Sonderausstellung über »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute«. Unter den Macher:innen sind auch Betroffene und Angehörige von Opfern rechter Gewalt. Die Ausstellung bietet einen sehr guten Einstieg in die lokale Geschichte rechtsextremer Gewalt, ringt aber mit einigen Schwierigkeiten.
Im großen Festsaal des Rathauses wurde gestern, am 19.01.2024, die neue Sonderausstellung »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute« eröffnet. Wie schon seit über 20 Jahren präsentiert die Bürgerschaft wieder anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar eine neue temporäre historische Ausstellung. Ungewöhnlich ist dieses Mal die große Aktualität. Denn die neue Ausstellung beleuchtet rechte Gewalt nach dem Zweiten Weltkrieg – bis heute. Verantwortet wird sie dabei wie immer von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Die Ausstellung eröffnet mit den persönlichen Geschichten von fünf Todesopfern rechter Gewalt in Hamburg:
Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân (1980; Nazi-Brandanschlag auf Flüchtlingsunterkunft in der Halskestraße), Mehmet Kaymakçı (1985; erschlagen von Skinheads im Kiwittsmoorpark), Ramazan Avcı (1985; erschlagen von Skinheads an der S‑Bahn-Station »Landwehr«) und Süleyman Taşköprü (2001; erschossen in der Schützenstraße von Terroristen des »NSU«).
Auch das letzte Wort haben die Betroffenen. In einer Videostation werden Ausschnitte aus Interviews mit Überlebenden rechter Gewalt und Angehörigen von Opfern gezeigt, die unter anderem von dem jahrzehntelangen Desinteresse von Staat und Gesellschaft und sogar Gedenkinitiativen an ihren Erfahrungen und Perspektiven berichten. Aber nicht nur in der Ausstellung kommen die Betroffenen zu Wort, auch in der Entstehung waren sie beteiligt. Im Gespräch mit Untiefen sagt Lennart Onken (KZ-Gedenkstätte Neuengamme), einer der Kurator:innen: »Insbesondere für die ersten fünf Tafeln haben wir eng mit Initiativen und Angehörigen zusammengearbeitet, haben Texte und Bildauswahl intensiv besprochen. Das war ein sehr spannender Prozess, bei dem auch wir sehr viel gelernt haben.«
İbrahim Arslan: »Ich führe das zurück auf unseren Widerstand und unsere Kämpfe«
Einer der Mitgestalter, der Aktivist İbrahim Arslan (Überlebender des rassistischen Brandanschlags 1992 in Mölln) betont gegenüber Untiefen: »Wir haben die gesamte Ausstellung gemeinsam konzipiert, haben die Vernetzung der Betroffenen und das Empowerment gemacht und unsere Expertise eingebracht.« Er findet die Ausstellung gelungen, denn: »Die Betroffenen sind zufrieden. Ihre Wünsche und Bedürfnisse stehen im Vordergrund. Das ist relativ neu, dass Antifaschist:innen und Antiras und Institutionen uns einbeziehen. Ich führe das zurück auf unseren Widerstand und unsere Kämpfe. Wir machen hervorragende Arbeit und langsam werden unsere Interventionen auch staatlich anerkannt.«
Die Ausstellung präsentiert auf über dreißig Tafeln die jeweils wichtigsten und prägnantesten Fälle rechter Gewalt für die Nachkriegsjahrzehnte, aber auch Widerstandsbewegungen finden Erwähnung. So bietet sie einen sehr guten Überblick über die Wellen rechter Gewalt – und eignet sich gut auch für jüngere Antifaschist:innen, die vielleicht das Gefühl haben, diese Geschichte Hamburgs bislang nur bruchstückhaft zu kennen. Aber auch für schon länger Interessierte gibt es neue Abgründe und bislang unbekannte Opfer zu entdecken, selbst für den Historiker Onken von der KZ-Gedenkstätte: »Besonders krass finde ich den Fall des Zeitungsboten Rudi M., der 1988 in Eimsbüttel von einem Skinhead erstochen wurde, weil er ihm angeblich homosexuelle Avancen gemacht hat. Ich hatte noch nie vorher von Rudi M. gehört. Sein Fall ist total unbekannt.«
Nicht viel bekannter dürfte das Schicksal des thailändischen Ingenieurs Prayong Rungjangs sein, der 1977 an den Folgen eines Neonazi-Übergriffs in der Talstraße starb. Hier hält lediglich sein Sohn, der Video- und Objektkünstler Arin Rungjang, die Erinnerung wach.
Was tun mit den Tätern?
Auch auf der Täter:innenseite liefert die Ausstellung einen Überblick über die Organisationen und zentralen Personen. Nazi-Haufen wie die »Hamburger Bruderschaft«, »Aktionsfront Nationaler Sozialisten«, die »Wehrwolf-Gruppe«, die »Deutschen Aktionsgruppen« und natürlich der »NSU« werden vorgestellt. Dabei verzichten die Kurator:innen auf persönliche Anekdoten und letztlich auch auf Thesen dazu, warum bestimmte Milieus und Personen erstens für rechtsextreme Ideologie empfänglich sind und zweitens den Schritt zur Gewalt gehen. Lediglich für die unmittelbare Gegenwart verweist die Ausstellung darauf, dass die Zustimmungswerte der AfD mit Beginn des Krieges gegen die Ukraine und der zunehmenden Inflation gestiegen seien. Die theoretische Zurückhaltung ist vor dem Hintergrund der Fokussierung auf die Opfer und aus Platzgründen zwar verständlich, erschwert es aber, Schlussfolgerungen für die Gegenwart zu ziehen. Das Video-Interview am Ende der Ausstellung schließt mit Worten Thời Trọng Ngũs, Überlebender des Anschlags in der Halskestraße von 1980 und Aktiver der »Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân«: »Wie kann man weitere Taten vermeiden? Das ist die Frage.« Die Ausstellung antwortet auf ihren letzten Tafeln: durch antifaschistischen und migrantischen Widerstand sowie durch breites gesellschaftliches Engagement und staatliche Maßnahmen gegen Rechts. Das ist natürlich unerlässlich. Aber bleibt der antifaschistische Widerstand nicht im Modus des ewigen Reagierens, wenn er über kein Konzept der gesellschaftlichen Hintergründe rechter Gewalt verfügt? Wenn er nicht nach der psychischen und ökonomischen Funktionalität von Ressentiment und Gewalt fragt?
İbrahim Arslan hebt im Gespräch auch hier die Bedeutung der Betroffenenfokussierung hervor: »Migrantisch situiertes Wissen hat schon in den 1980ern rassistisch motivierte Taten vorhergesagt.« Seiner Wahrnehmung nach konnte man sich auch bei dieser Ausstellung nicht von »einer gewissen Täterfokussierung« befreien. Das Interesse an den Täter:innen und den Tathintergründen sei zwar verständlich, grade jetzt angesichts der ans Licht gekommenen Deportations-Pläne im Umfeld der AfD. Aber das führe eben immer wieder zu der Vorstellung, man habe es nun mit etwas Neuem zu tun. Stattdessen sei klar: »Die AfD wird von Neonazis getragen. Diese Pläne gibt es schon seit der Gründung der AfD.« Und würde man Betroffenen zuhören, so Arslan weiter, wüsste man, dass sie auch darauf schon lange hinweisen.
Was ist »rechte Gewalt«?
Eine konzeptuelle Unklarheit der Ausstellung ist derweil deutlich spürbar. »Rechtsextremes Denken« wird zunächst breit gefasst, im Sinne einer allgemeinen, gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit: »Grundlegend ist die Auffassung von einer generellen Ungleichwertigkeit der Menschen.« Laut Lennart Onken hat das Ausstellungsteam in dieser Perspektive allein durch eigene Recherchen eine Liste von 500 dokumentierten Fällen zusammengestellt, die von Beleidigungen bis zum Mord reichen. Ein parallel laufendes Forschungsprojekt der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg (FZH), der KZ-Gedenkstätte sowie der Landeszentrale für politische Bildung unter dem Titel »HAMREA – Hamburg rechtsaußen« hat laut Onken für Hamburg und das Umland seit 1945 schon »über 1000 Fälle« zusammengetragen – mit einer vermutlich deutlich höheren Dunkelziffer. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts werden fortlaufend sehr anschaulich auf der neuen Website veröffentlicht: https://rechtegewalt-hamburg.de/ Selbstverständlich können aber 1000 oder auch nur 500 Fälle nicht in einer Ausstellung präsentiert werden. Angesichts der Fülle rechter Taten fokussieren die Kurator:innen notwendig auf bestimmte Opfer- und Tätergruppen. Laut Onken haben die Kurator:innen versucht, für jedes Nachkriegsjahrzehnt die zentralen Fälle darzustellen: »Wir haben uns gefragt: Was ist jeweils das bestimmende Thema, das bestimmende Feindbild der extremen Rechten gewesen?« Nur die sieben dokumentierten Todesopfer rechter Gewalt wurden ohne solche Gewichtung aufgenommen. Darunter ist auch der Fall des Bauingenieurs Neşet Danış, der 1977 in Norderstedt bei einem Überfall von türkischen Rechten aus dem Umfeld der »Grauen Wölfe« lebensgefährlich verletzt wurde und später seinen Verletzungen erlag. Das wirft die Frage auf: Zählen solche nicht-deutschen extremistischen Gewalttaten zu »rechter Gewalt«? Und wie ist es mit islamistischer oder israelfeindlicher Gewalt, die ja auch antisemitisch motiviert ist? In der Ausstellung tauchen etwa von den späten 1970ern bis in die 2020er keine antisemitischen Gewalttaten auf.
Onken erläutert den Umgang des Kurator:innen-Teams so: »Wir haben recht früh gesagt, dass wir uns auf die biodeutsche extrem rechte Szene fokussieren.« Und für die wäre der Antisemitismus zwar in den Nachkriegsjahren sehr wichtig gewesen, in den 1980ern habe sich das Feindbild allerdings deutlich auf Migrant:innen verlagert. »Beim Antisemitismus kommt noch hinzu, dass es kein Alleinstellungsmerkmal der extremen Rechten ist, sondern da unterschiedliche Gruppe zur Tat schreiten.« Bei der Fokussierung habe auch die Sorge eine Rolle gespielt, sich durch weitere Themen in Diskussionen zu verstricken, die von der Kontinuität deutscher extrem rechter Gewalt ablenken könnten. Onken ergänzt allerdings: »Grade im Nachgang des 7. Oktober 2023 ist fraglich, ob das so auch in Zukunft weiter klug und machbar ist. Mit Blick auf den Islamismus würde es aus meiner Sicht Sinn machen, die extreme Rechte und den Islamismus enger zusammen zu denken. Denn beide teilen die Modernitätsfeindschaft und den virulenten Antisemitismus.«
Die Fokussierung schafft es aber, zumindest für die deutsche extrem rechte Gewalt, einen guten Überblick über Opfer, Täter und Kontinuitäten zu geben. Vielleicht kann sie den Wunsch der Mehrheitsgesellschaft unterlaufen, in den kommenden rechten Mobilisierungen und den staatlichen Reaktionen wieder eigentlich doch längst Überwundenes, Ewiggestriges aus einer ganz anderen Zeit zu sehen. Gülüstan Avcı, die Witwe des 1983 ermordeten Ramazan Avcı, beklagte bei der Eröffnung der Ausstellung am Freitag unter anderem, dass in Hamburg bis heute kein Untersuchungsausschuss zum Mord des „NSU“ an Süleyman Taşköprü eingerichtet wurde. Auch das kann man im Gedächtnis behalten, wenn man dieser Tage mit der »Mitte« und den regierenden Parteien gegen Rechts demonstriert.
Felix Jacob
Die Ausstellung »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute« ist vom 19.01.2024 bis zum 18.02.2024 kostenlos in der Rathausdiele zu sehen. Öffnungszeiten:
Die Website des Forschungsprojektes »Hamburg rechtsaußen. Rechtsextreme Gewalt- und Aktionsformen in, mit und gegen die städtische Gesellschaft« ist unter https://rechtegewalt-hamburg.de/ zu erreichen.
Im August 1977 eröffnete das erste der autonomen Hamburger Frauenhäuser. Seitdem sind sie unerlässlich für den Schutz vor Gewalt. Doch die Plätze sind rar und die Finanzierung von politischem Wohlwollen abhängig. Aus einer feministischen Praxis sind prekäre Institutionen geworden. Anlässlich des Internationen Tags gegen Gewalt an Frauen fragt unsere Autorin eine Mitarbeiterin: Wie geht es den Hamburger Frauenhäusern heute?
Für die Frauenbewegung der 1970er-Jahre war die Organisierung gegen Gewalt gegen Frauen zentraler Bestandteil der politischen Arbeit. Gewalt in der Beziehung galt zuvor lange als »Einzelschicksal«. Die Frauen der zweiten Welle des Feminismus thematisierten diese männliche Gewalt durch Selbsterfahrungsgruppen und Organisierung als strukturelles Problem von Frauen im Patriarchat. Auch in Hamburg organisierten sich im Jahr 1976 Frauen, um gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu kämpfen. Sie gründeten den Verein Frauen helfen Frauen e.V. und erschufen innerhalb eines Jahres das erste autonome Hamburger Frauenhaus. Das Selbstverständnis damals: Das Frauenhaus ist ein Teil der Frauenbewegung und soll unabhängig sein – alle Frauen entscheiden gemeinsam, was passieren soll.
Da die Finanzierung noch nicht staatlich abgesichert war, mussten die Frauen zunächst alles selbst machen – renovieren, Möbel organisieren, Spenden sammeln, das Haus schützen. So erinnert sich auch eine Zeitzeugin in der filmischen Dokumentation »Juli 76 – Das Private ist Politisch« an die ersten Jahre des Hauses: »Selbstorganisation. Selbstbestimmung. Das ist auch eine Utopie gewesen.« Das Frauenhaus selbst war feministische Praxis.
Selbstorganisation und Professionalisierung
Die Selbstorganisation stieß jedoch auch an zeitliche, finanzielle und emotionale Grenzen, wie die ehemalige Redakteurin der Hamburger Frauenzeitung Dr. Andrea Lassalle in einer Chronik der Hamburger Frauenhäuser im digitalen deutschen Frauenarchiv nachzeichnet. Innerhalb der Frauenbewegung wurden daher Debatten um die Organisierung und Struktur der Frauenhäuser geführt, die eng verzahnt waren mit den damaligen politischen und theoretischen Analysen um (unbezahlte) Sorgearbeit, Hierarchiefreiheit und Unabhängigkeit.
Mittlerweile wurden Frauenhäuser durch bezahlte Mitarbeiterinnen aus der Sozialen Arbeit professionalisiert. Dadurch entstand ein Widerspruch zwischen Selbstwirksamkeit und Professionalität, der im Alltag der Mitarbeiterinnen und Bewohnerinnen bis heute eine Rolle spielt. Im Gespräch mit Untiefen berichtet eine Mitarbeiterin eines Frauenhauses in der Metropolregion Hamburg, die Professionalisierung sei grundsätzlich der anspruchsvollen Arbeit mit Frauen und Kindern aus akuten Gewaltsituationen angemessen. In vielen autonomen Frauenhäusern übernehmen allerdings auch die Bewohnerinnen selbst noch Teile der täglichen Arbeit, beispielsweise die nächtliche Aufnahme.
In Hamburg ist dafür seit 2016 die 24/7, die zentrale Notaufnahme für die Hamburger Frauenhäuser, zuständig. Die Mitarbeiterinnen nehmen die akut betroffenen Frauen auf und vermitteln sie dann an Häuser weiter. Dies entlaste die Bewohnerinnen von den nächtlichen und wöchentlichen Notdiensten, so die Mitarbeiterin. Gleichwohl könne es den Bewohnerinnen auch Stärke zurückgeben, einen Teil beizutragen und andere Frauen zu unterstützen. Allerdings übernehmen die Bewohnerinnen diese Aufgaben nicht in erster Linie aufgrund dieser ermächtigenden Wirkung, sondern schlichtweg, weil das Personal fehle.
Die befürchtete Hierarchie zwischen professionalisierten und ehrenamtlich arbeitenden Frauen in den Häusern konnte trotz basisdemokratischer Struktur nicht vermieden werden. Da die Frauenhäuser mittlerweile öffentlich finanziert und tariflich gebunden sind, werden auch die Anforderungen an die Qualifikationen der Mitarbeiterinnen höher – und schließen damit viele Frauen, auch ehemalige Bewohnerinnen, aus. Doch gerade diese Frauen bringen oft sowohl eigene Erfahrung mit partnerschaftlicher Gewalt und dem Leben im Frauenhaus mit als auch Sprachkenntnisse, die dem Leben im Haus zuträglich sein könnten. Die geringe Anerkennung ausländischer Abschlüsse in der Sozialen Arbeit und die strukturelle Ungleichheit im Bildungssystem in Deutschland tragen dazu bei, dass die Mitarbeit im Frauenhaus nicht allen gleichermaßen zugänglich ist – und die Teams ihrem Anspruch an Diversität nicht immer gerecht werden können.
Feministische Debatten in der Frauenhauspraxis
Mit dem Auftreten antirassistischer Diskurse an den Universitäten und in der feministischen Szene entbrannten auch innerhalb der Frauenhäuser Debatten über Rassismus und Diskriminierung, im Zuge derer mit Quotierungen in den Teams und bei den Aufnahmen experimentiert wurde. Weniger diskutiert wurde hingegen jahrelang das hot topic der aktuellen feministischen Debatten: Was ist eine Frau? Bis vor wenigen Jahren, so eine Mitarbeiterin, war die Diskussion darum, was Geschlecht eigentlich ist, in Frauenhäuser nicht anschlussfähig. Dies ändert sich jedoch derzeit, insbesondere durch jüngere Kolleginnen.
Die etwa in der Debatte um das »Selbstbestimmungsgesetz« geäußerte Befürchtung einiger Feministinnen, Frauenschutzräume könnten unterlaufen werden, wenn Geschlecht an eine empfundene Identität statt an körperliche Merkmale geknüpft ist, erscheint angesichts des von der Mitarbeiterin beschriebenen Frauenhausalltags weniger eine praktische als vielmehr eine theoretische Frage zu sein: »Die Frau kommt – die kann mir auch irgendwas erzählen, wer sie ist – sie muss mir auch nicht ihren Perso zeigen. So arbeiten wir nicht. Die Frau erzählt, und wenn sie von häuslicher Gewalt betroffen ist, dann wird sie aufgenommen.« Der rechtliche Personenstand spielt in der Praxis keine Rolle. Jede Aufnahme ist außerdem eine Einzelfallentscheidung und berücksichtigt die Erfahrungen der Bewohnerinnen. Und: nicht jede sei für diese Art des Zusammenwohnens geeignet, auch das spielt bei den Aufnahmegesprächen eine Rolle.
In Hamburg wurde zudem vor zwei Jahren das 6. Frauenhaus gegründet, das sich explizit als Schutzraum für trans Frauen positioniert und die seit Jahren gängige Praxis untermauert. Viel wichtiger als die theoretische Definition von Geschlecht erscheint jedoch die Frage, ob in den Häusern überhaupt genug Plätze vorhanden sind. Zu Beginn der Pandemie fehlten in Hamburg rund 200 Frauenhausplätze.
Zu wenige Plätze, zu wenig Geld, zu wenig Personal
Obwohl aktuelle innerfeministische Debatten durchaus zum Thema werden, nimmt das alltägliche Rotieren, auch aufgrund fehlenden Personals, in den Häusern einen Großteil der Zeit ein. Die Art und Weise der öffentlichen Finanzierung unterscheidet sich je nach Bundesland und Gemeinde. Während in Hamburg, Schleswig-Holstein und Berlin die autonomen Frauenhäuser durch eine Pauschale pro Platz im Haus finanziert werden, ist die Finanzierung in anderen Bundesländern direkt an die betroffene Frau gekoppelt. Da sie in einigen Ländern über das Sozialhilfegesetz abgewickelt wird, sind Frauen mit eigenem Einkommen, Studentinnen und Frauen mit unsicherem Aufenthaltsstatus davon ausgeschlossen. Diese Frauen werden, wenn möglich, in Ländern mit Pauschalfinanzierung untergebracht, da sie die Plätze sonst selbst zahlen müssten – vorausgesetzt, Aufenthaltsbestimmungen oder der Job lassen einen Umzug zu und es sind freie Plätze vorhanden. Die Zentrale Informationsstelle der autonomen Frauenhäusern (ZIF) fordert dementsprechend eine bundesweite einzelfallunabhängige Finanzierung der Frauenhäuser.
Doch auch die pauschale Finanzierung bringt Schwierigkeiten mit sich. Der Erhalt sowie die Ausweitung der Plätze sind vom Wohlwollen der jeweiligen Landesregierungen abhängig. Um einer drohenden Schließung zu entgehen, wurden im Jahr 2006 das 1. und das 3. Autonome Frauenhaus zusammengelegt. Der CDU-geführte Senat hatte Kürzungen beschlossen, da die Versorgungslage in Hamburg besser sei als in anderen Großstädten.
Männergewalt und Femizide
Laut behördlicher Auskünfte wurden in Hamburg im laufenden Jahr insgesamt 16 Frauen getötet, sechs davon von ihrem (Ex-)Partner, bei den zehn anderen ist die Einordnung unklar. Die Zahl der Femizide, also der Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts, ist in jedem Fall alarmierend. Allerdings ist Femizid im deutschen Recht kein eigener Tatbestand, er wird unter Partnerschaftsgewalt subsumiert. Studien und genaue Fallzahlen zu Femiziden fehlen entsprechend im deutschsprachigen Raum weitgehend. Die frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft Cansu Özdemir kritisierte daher jüngst den Senat für seine Weigerung, eine Untersuchung zu Femiziden in Hamburg als »nötige wissenschaftliche Basis für ein zielgerichtetes und wirkungsvolles Präventionskonzept« in Auftrag zu geben.
Bewohnerinnen und ehemaligen Bewohnerinnen von Frauenhäusern steht die Gefahr, Opfer eines Femizids zu werden, besonders deutlich vor Augen. 2018 wurde die 42-Jährige Juliet H. von ihrem Expartner ermordet. Nachdem sie in einem Hamburger Frauenhaus Schutz gesucht hatte, zog sie mit ihren Kindern in eine eigene Wohnung, wo sie von ihrem Exmann getötet wurde. Doch nicht nur für die Bewohnerinnen sind solche Fälle alarmierend. Es setzt auch die Mitarbeiterinnen enorm unter Druck, die mit knappen Ressourcen und staatlichen Hürden kämpfen, um den Frauen Schutz und eine Perspektive zu bieten.
Väterrechte stehen über dem Schutz von Frauen und ihren Kindern. Die Veränderungen im Familienrecht der letzten Jahre machen die Situation von Frauen aus Gewaltbeziehungen gefährlicher. Die Zeit unmittelbar nach der Trennung vom gewalttätigen Partner birgt das höchste Risiko, Opfer eines (versuchten) Femizids zu werden. Umso wichtiger ist dann ein unkomplizierter Zugang zu einem Frauenhaus. Dieser Schutz wird allerdings durch das familienrechtlich angestrebte Wechselmodell untergraben.
Das von der jetzigen Bundesregierung in den Mittelpunkt von Sorge- und Umgangsrecht gestellte Wechselmodell soll eigentlich zu einer gleichberechtigten Aufteilung der Erziehung und Verantwortung für gemeinsame Kinder führen. Es bedarf jedoch einer Kommunikation auf Augenhöhe, um die nötigen Absprachen für dieses Arrangement zu treffen. Übt der Vater Gewalt über die Mutter aus, ist diese Augenhöhe offensichtlich nicht gegeben. Aus der Praxis berichtet die Mitarbeiterin, dass dem Vater durch das Umgangsrecht in diesen Fällen ermöglicht wird, weiterhin Kontrolle und Gewalt auszuüben. Das Wechselmodell steht deshalb bei Feministinnen und Initiativen für Alleinerziehende Mütter in der Kritik.
Gerichte ordnen sogar bei Müttern, die im Frauenhaus leben, das Wechselmodell an. Die Mitarbeiterin des Frauenhauses beschreibt: »Wenn die [Frau] Kinder hat, geht’s sofort los mit Kontakt zu Jugendamt, Kontakt zu Anwälten, dann wird irgendwer versuchen sofort das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu beantragen, es werden Sofortumgänge in die Wege geleitet mit den gewalttätigen Vätern – und das ist krass.«
Die Gerichte gingen ohne weiteres davon aus, dass die Gewalt durch den Auszug der Mutter aufgehört habe und also bei Verfahren zum Sorge- und Umgangsrecht nicht berücksichtigt zu werden brauche. Die Mütter müssten daher irgendwie Vorkehrungen treffen, um dem gewalttätigen Mann die Kinder zu übergeben, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Durch Personalmangel ist es den Mitarbeiterinnen in den Frauenhäusern oft nicht möglich, Frauen zu diesen Übergaben zu begleiten.
Nach 45 Jahren sind autonome Frauenhäuser also zwar anerkannte Institutionen zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Aber ihre Existenz bleibt prekär und die Situation der Frauen selbst wird komplexer. Die Mitarbeiterin und ihre Kolleginnen erwarten vom Senat und der Bundesregierung eine Erhöhung der Anzahl der Plätze und eine bundesweite pauschale Finanzierung. Im Sorge- und Umgangsrecht müsse das Personal geschult werden, um den Gewaltschutz konsequenter berücksichtigen. Nicht die Frauen sollten im Haus Schutz suchen und dann um ihre Kinder kämpfen müssen, sondern die Männer sollten beweisen, dass sie nicht gefährlich sind, schließt die Mitarbeiterin.
Lea Remmers
Die Autorin schrieb für Untiefen bereits über die Herbertstraße als Symbol männlicher Herrschaft.
Am 18. September wird im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals in Hamburg der renommierte Klaus-Michael Kühne-Preis verliehen. Nun haben zwei Schriftsteller:innen ihre Nominierungen zurückgezogen – weil der Geld- und Namensgeber die NS-Historie seines Familienunternehmens nicht aufarbeite. Wir hatten zuvor sie und die übrigen Nominierten kontaktiert, um über die finanzielle Abhängigkeit des Kulturbetriebes von privater Förderung und die Imagepolitik problematischer Mäzene zu sprechen.
Im Kunst- und Kulturbetrieb rumort es: Das Londoner British Museum benennt alle nach einem Großspender benannten Räume um, die Videokünstlerin Hito Steyerl zieht eines ihrer Werke aus einer angesehenen Sammlung zurück, die Salzburger Festspiele beenden in Reaktion auf einen offenen Brief des Autors Lukas Bärfuss und der Regisseurin Yana Ross die Zusammenarbeit mit einem Sponsor. All diese Auseinandersetzungen ereigneten sich in den letzten Monaten. Und bei allen ging es um ganz ähnliche Fragen: Wer finanziert eigentlich Kulturinstitutionen und Kulturschaffende? Aus welchen Quellen stammen die Milliarden an privaten Mitteln, mit denen Museen, Konzerthäuser, Preise und Festivals gefördert werden? Und wie kann oder soll man sich gegenüber ›schmutzigen‹ Fördergeldern verhalten, die aus fragwürdigen Quellen stammen und von den Geldgeber:innen zumReinwaschen des eigenen Namens bzw. dem Verdecken von Schandtaten genutzt werden?
Auf die Frage nach dem praktischen Umgang haben Kulturinstitutionen und Künstler:innen in den genannten drei Fällen klare Antworten gefunden. Sie zogen Konsequenzen daraus, dass die Milliardärsfamilie Sackler mit ihrem Unternehmen Purdue Pharma maßgeblich für die Opioidkrise in den USA verantwortlich war; daraus, dass die Unternehmerin und Kunstsammlerin Julia Stoschek ihr Milliardenvermögen ihrem Nazi-Urgroßvater verdankt, der den Automobilzulieferer Brose gründete, den NS-Staat belieferte und als treues NSDAP-Mitglied zum Wehrwirtschaftsführer aufstieg; und daraus, dass das Bergbauunternehmen Solway nicht nur massive Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung verantwortet, sondern zudem enge Verbindungen zum Kreml unterhalten soll.
Die Kühne-Stiftung
Eine in Hamburg besonders aktive und ebenfalls fragwürdige Kultursponsorin ist die Kühne-Stiftung: Bei der Elbphilharmonie, dem Philharmonischen Staatsorchester und dem Harbour Front Literaturfestival tritt die Stiftung als Hauptförderin auf. Gegründet wurde sie 1976 vom Unternehmer Alfred Kühne, seiner Frau Mercedes und ihrem gemeinsamem Sohn Klaus-Michael Kühne. Das Stiftungskapital stammt aus den Erträgen der Kühne Holding, also vorrangig aus jenen des Unternehmens Kühne + Nagel (K+N), eines der weltweit größten Transport- und Logistikunternehmen.
Damit aber verdankt sich das Kapital zum einen dem Umstand, dass Alfred Kühne und sein Bruder Werner 1933 ihren jüdischen Teilhaber Adolf Maass aus dem Unternehmen drängten, und zum anderen der maßgeblichen Beteiligung von K+N an der ›Arisierung‹ jüdischen Eigentums in den von Deutschland besetzten Ländern während des Zweiten Weltkriegs. Hinzu kommt: Klaus-Michael Kühne, der das Unternehmen von 1966 bis 1998 leitete und bis heute sowohl die Mehrheit der Aktienanteile als auch die Fäden in der Hand hält, zeigt keinerlei Verständnis dafür, dass die NS-Vergangenheit seines Unternehmens »immer wieder hochgekocht wird«, und wehrt jegliche Aufarbeitung dieser – seiner – Familien- und Unternehmensgeschichte vehement ab.
Kulturförderung als Schweigegeld
Bislang scheint Klaus-Michael Kühnes Strategie des Relativierens und Verschweigens aufzugehen. Zwar haben insbesondere aus Anlass des 125-jährigen Firmenjubiläums im Jahr 2015 viele Medien kritisch über die Unternehmensgeschichte berichtet, über die man dank der Recherchen des ehemaligen taz-Redakteurs Henning Bleyl und von Historikern wie Wolfgang Dreßen, Frank Bajohr und Johannes Beermann-Schön immerhin einiges weiß. Doch einer breiten Öffentlichkeit sind Klaus-Michael Kühne und sein Unternehmen nach wie vor nicht als NS-Profiteure bekannt. Das öffentliche Bild von Kühne bestimmt vielmehr sein Engagement als Investor und Kulturförderer. Die Hamburger Morgenpost etwa veröffentlichte in den letzten zwei Jahren 50 Artikel über Kühne; nur ein einziger von ihnen behandelt die Geschichte des Unternehmens im Nationalsozialismus und seine Nachgeschichte. Stattdessen produziert Kühne (überwiegend) positive Schlagzeilen mit seinem Engagement beim HSV (dem er die Benennung des Stadions nach Uwe Seeler finanzieren will), mit Investitionen (er hat seine Anteile an der Lufthansa und an der Immobiliengesellschaft Signa Prime erhöht und Anteile am Elbtower erworben) und eben mit seinen Aktivitäten in der Kulturförderung.
Es steht daher außer Frage: Klaus-Michael Kühnes Mäzenatentum dient effektiv der Imagepflege des Familiennamens, dem Verschweigen bzw. Reinwaschen. ›Tue Gutes und sprich darüber‹, sagt man; im Fall von Kühne ließe sich ergänzen: ›damit über das Schlechte nicht gesprochen wird‹. Dass er den von ihm gestifteten Preis für das beste Romandebüt des Jahres ganz unbescheiden nach sich selbst benannt hat, ist davon der wohl krasseste Ausdruck. Es hat zur Folge, dass der Klaus-Michael-Kühne-Preis nicht nur eine Auszeichnung für die Autor:innen darstellt, die ihn erhalten. Vielmehr verschaffen die Preisträger:innen auch dem Mäzen, in dessen an der Außenalster gelegenen Luxushotel The Fontenay die Preisverleihung stattfinden wird, Ansehen und Anerkennung. Und sie drängen damit wider Willen die Beteiligung des Unternehmens an der Enteignung von Jüdinnen und Juden im NS aus dem Blick der Öffentlichkeit. Wenn etwa, wie im Jahr 2014 mit Per Leos Roman Flut und Boden, die literarische Aufarbeitung einer deutschen Familiengeschichte und Abrechnung mit der NS-Täter:innengeneration den Klaus-Michael Kühne-Preis erhält, ohne dass dieser zynische Widerspruch zur Sprache kommt, dient der Preis ganz offenkundig als Feigenblatt.
Suche nach dem angemessenen Umgang
Natürlich haben fast alle deutschen Großunternehmen, die vor 1945 gegründet wurden, eine Verbrechensgeschichte. Der niederländische Politikwissenschaftler David de Jong hat das in seinem Buch Braunes Erbe kürzlich noch einmal eindrücklich dargelegt. Doch das Ausmaß der Kollaboration der Gebrüder Alfred und Werner Kühne mit dem NS-Staat, die anhaltende Weigerung ihres Erben Klaus-Michael Kühne, diese Geschichte aufzuarbeiten und Konsequenzen daraus zu ziehen, sowie die Benennung des Preises nach Kühne selbst machen den Klaus-Michael Kühne-Preis zu einem besonders hervorstechenden Fall.
Was aber wäre ein angemessener Umgang mit dem problematischen Geldgeber? Diese Frage stellten wir, die Redaktion von Untiefen, uns im Vorfeld der diesjährigen Verleihung des Kühne-Preises, ohne zu einer befriedigenden Antwort zu kommen. Wir versuchten daher im Juli, mit den acht Nominierten des Preises selbst ins Gespräch darüber zu kommen. In einer E‑Mail an die Autor:innen schilderten wir ausführlich die Verstrickung von K+N in die NS-Verbrechen und hoben vor allem die Weigerung Klaus-Michael Kühnes hervor, das Firmenarchiv zu öffnen und die Unternehmensgeschichte von unabhängigen Historiker:innen untersuchen zu lassen. In unserem Schreiben an die Nominierten hoben wir auch die Komplexität der Situation hervor und fragten die Autor:innen nach einem möglichen Umgang:
»Klar ist einerseits: Diese Umstände können und dürfen nicht (weiter) beschwiegen werden. Klar ist andererseits aber auch: Ein Literaturpreis ist für eine Debütantin / einen Debütanten wie Sie auch über das hohe Preisgeld hinaus von beträchtlicher Bedeutung. Hinzu kommt, dass Kühnes eigene Ansichten bei der Entscheidung der Jury gewiss keine Rolle spielen werden. Die Forderung, den Preis oder gar schon die Nominierung zurückzuweisen, wäre daher wohlfeil. Doch wir fragen uns – und Sie: Wenn die öffentliche Ablehnung des Preises keine sinnvolle Option ist, was könnten dann alternative Wege sein, mit dem problematischen Hintergrund des Preises und seines Stifters dennoch einen Umgang zu finden? Diese Frage, auf die wir selbst bislang keine befriedigende Antwort gefunden haben, weist auch über den konkreten Fall hinaus und zieht weitere, grundsätzliche Fragen nach sich: Wie kann man sich zum Widerspruch der Neutralisierung von Kritik durch ihre Vereinnahmung, der auch nur die Zuspitzung eines generellen Widerspruchs im ›wiedergutgewordenen‹ Deutschland ist, ins Verhältnis setzen? Ist das Pathos etwa eines Thomas Brasch bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises 1981 (noch) angemessen? Stellt die Literatur selbst Mittel bereit, sich der Vereinnahmung zu widersetzen, oder ist sie ohnmächtig angesichts der Machtverhältnisse eines Betriebs, in dem man es sich mit seinen Geldgebern nicht ›verscherzen‹ darf?«
Die Antworten der Nominierten: Zwischen Realismus…
Auf unsere Fragen und unsere Bitte um Austausch erhielten wir in den folgenden Wochen von immerhin drei der acht Autor:innen Rückmeldung. Domenico Müllensiefen, der für seinen Roman Aus unseren Feuern nominiert wurde, schreibt: »Ich denke, dass es ein großes Problem ist, dass die öffentliche Kulturförderung in Deutschland stark eingeschränkt ist.« Denn in die Lücke, die die öffentliche Förderung lässt, stießen private Förderer. Was es bräuchte, so Müllensiefen, sei eine »breite und preisunabhängige Förderung von AutorInnen«. Bis dahin bleibe er auch beim Klaus-Michael Kühne-Preis „Realist“, denn: »Die Jury ist hochkarätig besetzt und frei in Ihrem Handeln. Die nominierten SchriftstellerInnen gefallen mir sehr gut. Der Umgang mit den AutorInnen ist erstklassig. […] Und ganz ehrlich, wäre es mir eine sehr große Freude, mal eine Nacht in diesem schicken Hotel von Herrn Kühne zu übernachten.« In einem späteren Statement gegenüber der ZEIT fügt er hinzu: »Deutscher Reichtum ist in vielen, wenn nicht sogar in den meisten Fällen auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit entstanden. So zu tun, als wäre alles in Ordnung, wenn Herr Kühne die NS-Vergangenheit aufarbeiten ließe, wäre auch falsch. Wir haben ein strukturelles Gesellschaftsproblem, zu dem wir AutorInnen uns individuell verhalten sollen.« Und: »Und wäre es nicht an der Zeit, dass wir, und da darf DIE ZEIT gern vorneweg gehen, ernsthaft über eine Umverteilung der Vermögen in Deutschland sprechen?«
Ähnlich antwortete Daniel Schulz, taz-Redakteur und Autor des Romans Wir waren wie Brüder. Er betont wie Müllensiefen: „Die Unabhängigkeit und Fachkompetenz der Jury stehen außer Zweifel. Klaus-Michael Kühne hat auf ihre Entscheidungen keinen Einfluss“. Vor allem hält er die Autor:innen für die falschen Ansprechpartner:innen für die Frage nach dem Umgang mit dem NS-Erbe von Kühne + Nagel. Schließlich seien sie in der abhängigsten und prekärsten Lage von allen und „auf die wenigen Förderungen angewiesen […], die es noch gibt“. Die Ressourcen und die Verantwortung dafür, einen Umgang mit problematischen Förderern wie Kühne zu finden, sieht er vor allem bei den Verlagen und der Kulturpolitik.
Der Tenor dieser Antworten ist klar: In dieser Gesellschaft als Schriftsteller:in tätig zu sein bedeutet, in zahlreiche Widersprüche verstrickt und nicht wenigen Zwängen unterworfen zu sein. Solange die Kulturförderung maßgeblich über private Stiftungen und Organisationen geleistet wird und die Autor:innen von deren Geld abhängig seien, müsse man letztlich damit leben, dass Gelder im Kulturbetrieb aus fragwürdigen Quellen stammen Das zentrale Problem sehen die beiden Autoren in der privatisierten Kulturförderung in einer postfaschistischen Gesellschaft – und die Verantwortung auf Seiten der öffentlichen Hand.
… und Absagen
Sven Pfizenmaier, nominiert für Draußen feiern die Leute, ist zu einem anderen Schluss für seinen individuellen Umgang mit der Situation gekommen. Er hat seine Nominierung zurückgewiesen und seine Teilnahme am ›Debütantensalon‹ auf dem Harbour Front Literaturfestival abgesagt. In seiner am 29. August veröffentlichten Erklärung schreibt er so knapp wie deutlich: »Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dagegen wehrt, die NS-Historie seines Unternehmens aufzuarbeiten, möchte ich meinen Text nicht in einen Wettbewerb um sein Geld und eine Auszeichnung mit seinem Namen stellen.«
Anderthalb Wochen später, am 07.09., sagte auch Franziska Gänsler, nominiert für Ewig Sommer, ihre Teilnahme am Harbour Front Festival ab. In ihrer Erklärung, die diesmal durch die Festivalleitung veröffentlicht wurde, führt sie die Nicht-Diskussion um die Absage Pfizenmaiers als Grund an:
»Mich hat der Rückzug des mitnominierten Autors Sven Pfizenmaier und die darauf folgende Reaktion sehr beschäftigt. Ich denke, es hätte einen öffentlichen Diskurs gebraucht, der ein Ernstnehmen seiner Kritik erkennbar macht und zeigt, dass es das Anliegen der Stiftung ist, genau das zu fördern – kritische literarische Stimmen. Leider zeigt die Reaktion für mich, dass dies nicht gegeben scheint. Unter diesen Umständen weiter auf die Auszeichnung zu hoffen erscheint mir, unabhängig von der finanziellen Komponente, wie ein Wegsehen, das ich nicht gut mit mir und meinem Schreiben vereinbaren kann.«
Pfizenmaier und Gänsler haben damit drastische Schritte gewählt. Pfizenmaier betont in seiner Erklärung aber auch, dass er seine Entscheidung »explizit nicht als Vorwurf« gegen die Mitnominierten und Mitarbeitenden des Festivals verstanden wissen wolle: »Das Verhältnis zwischen Geldgeber:innen und Kulturschaffenden in Deutschland ist ein dermaßen komplexes Feld, dass es unzählige Wege gibt, einen angemessenen Umgang damit zu finden. Dieser hier ist meiner.«
Drastisch sind diese Entscheidungen nicht nur, weil beide damit auf die Möglichkeit verzichtet, das stattliche Preisgeld von 10.000 Euro zu gewinnen, sondern auch und vor allem, weil der Debütantensalon und der Klaus-Michael Kühne-Preis in den letzten Jahren zu einem wichtigen Sprungbrett für junge Autor:innen geworden sind. Bei Verlagen, Buchhändler:innen und Autor:innen genießt der Preis ebenso hohes Ansehen wie bei Kritik und Leser:innenschaft. Autor:innen, deren Debüt eine Nominierung erhalten oder den Preis gar gewonnen hat, steigern nicht nur die Verkäufe ihres Romans, sondern haben gute Aussichten, sich fest zu etablieren. Zu den bisherigen Preisträger:innen zählen etwa Olga Grjasnowa, Per Leo, Dmitrij Kapitelman, Fatma Aydemir und Christian Baron.
Der Eklat
Pfizenmaiers und Gänslers Entscheidung ist bisher präzedenzlos. Obwohl viele der früheren Nominierten und Preisträger:innen als engagierte Stimmen in der öffentlichen Debatte bekannt (geworden) sind, hatte bisher noch kein:e Autor:in öffentlich Kritik an Kühne geübt – geschweige denn die Nominierung oder den Preis zurückgewiesen.
Dementsprechend überfordert und ratlos wirkt der Umgang des Harbour Front-Festivals mit der Situation. Man glaubte dort offenbar, Pfizenmaiers Absage einfach unter den Teppich kehren zu können. Am 24. August wurde in einer Pressenachricht und auf Twitter lapidar ein »Programmupdate« verkündet: Nach Sven Pfizenmaiers Absage trete Przemek Zybowski durch ein Nachrückverfahren an seine Stelle. Bis zur Absage Gänslers ging das Festival weder auf die Gründe für Pfizenmaiers Absage ein, noch drückte es sein Bedauern darüber aus. Auf der Homepage des Festivals wurde Pfizenmaier stillschweigend ersetzt. Nach Gänslers Absage lässt das Festival auf der Website knapp verlautbaren:
»Wir finden diese Absagen sehr bedauerlich. Für die Beweggründe der Betreffenden haben wir Verständnis – auch wir sehen Diskussionsbedarf in dieser Angelegenheit.«
Die Reaktion der Kühne-Stiftung aber übertrifft das anfängliche Schweigen des Festivalsum Längen. Während sie der Mopo noch keinen Kommentar geben wollte und wohl auch hoffte, das Problem löse sich von selbst auf, ging sie gegenüber der tazin die Offensive: Man habe »mit Vorgängen, die ca. 80 Jahre zurückliegen, nichts zu tun«. Und weil sich die Stiftung »in höchstem Maße« ungerecht behandelt fühlte, setzte man dort zum Gegenangriff gegen die undankbaren Kulturschaffenden und ‑liebhaber:innen an: Man werde »die traditionelle Verleihung des Klaus-Michael Kühne-Preises jetzt überdenken« ließ die Kühne-Stiftung auf Anfrage der taz verlauten. Wer Kritik übt, erhält kein Geld – das ist die Botschaft, die die Kühne-Stiftung vermittelt.
Kulturförderung entprivatisieren
Die Reaktion der Kühne-Stiftung zeigt: Man scheint sich dort sehr bewusst darüber zu sein, wer hier am längeren Hebel sitzt. Der Kulturbetrieb ist in hohem Grad abhängig von seinen (privaten) Gönnern. Sie können den von ihnen geförderten Einrichtungen und Veranstaltungen ihre Bedingungen diktieren – und bei Kritik oder Nichtbefolgen die Förderung beenden oder zumindest damit drohen. Die Kühne-Stiftung zeigt mit ihrem Verhalten gegenüber den Kulturschaffenden überdeutlich auf, wo die Grenze(n) der Autonomie der Kunst liegen: Don’t bite the hand that feeds you.
Die ersten Leidtragenden eines Rückzugs wären die Schriftsteller:innen und Künstler:innen, also ausgerechnet die schwächsten Glieder in der Kette. Tatsächlich sind die anderen Nominierten nicht zu beneiden. Durch Pfizenmaiers und Gänslers Absage stehen sie unter Druck, sich zu bekennen, womöglich gar, ihrem Beispiel zu folgen. Vieles hängt davon ab, dass die Debatte solidarisch geführt wird, und das heißt: nicht individualisierend und moralisierend, sondern im Bewusstsein der Widersprüche und des strukturellen Charakters des Problems.
Klar ist: Solange die Kultur den Marktgesetzen unterliegt und die Förderung der Kulturschaffenden nicht durch öffentliche Hand getragen wird, ist sie auf private Förder:innen angewiesen. Denn wenn nicht allein die Marktgängigkeit von Kunst, Musik oder Literatur zählen soll, sondern auch die inhärenten Maßstäbe der Kunst, braucht es Kultursponsoring. An Beispielen wie Kühne zeigt sich aber, zu welchen Problemen es führen kann, wenn dies privat organisiert und zwangsläufig von besonders vermögenden Unternehmen und Einzelpersonen mit eigenen Interessen übernommen wird. Deshalb muss im Sinne einer demokratischen Kulturförderung zumindest eine Reduktion des Anteils privaten Sponsorings durch die (Wieder-)Einführung öffentlicher Förderung durchgesetzt werden. Die Leidtragenden des privaten Kultursponsorings sind letztlich auch die Autor:innen selbst, denen in diesem System mitunter nur eine Wahl bleibt zwischen Verzicht auf das, was ihren Unterhalt finanziert, oder der Annahme fragwürdiger Fördergelder – eine infame Verantwortungsverschiebung.
In Bezug auf den aktuellen Eklat heißt das: Der Kühne-Preis muss umbenannt und öffentlich finanziert werden. Wie wäre es etwa mit einem von der Stadt Hamburg finanzierten Peter-Rühmkorf-Preis? Wenn man sich anschaut, wie schnell die Stadt im Cum-Ex-Skandal bereit war, auf 47 Millionen Euro an Steuern zugunsten der Warburg-Bank zu verzichten, sollten 10.000 Euro Preisgeld sicherlich kein Problem darstellen. Und Kühnes Geld könnte auch in einer unabhängigen, wissenschaftlichen Aufarbeitung der eigenen Firmengeschichte sehr gute Verwendung finden.
Kühne + Nagel ist eines der größten Logistikunternehmen der Welt. Die entscheidende Grundlage dafür schuf die Beteiligung des Unternehmens an NS-Verbrechen – und seine ›Arisierung‹ im Jahr 1933. Während in Bremen nun ein Mahnmal entsteht, gibt es in Hamburg bislang keine Praxis des Erinnerns.
Bremen erhält einen neuen Gedenkort: ein Mahnmal zur Erinnerung an die systematische Ausplünderung der europäischen Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus – und an die maßgebliche Beteiligung von Bremer Logistikunternehmen an diesem Verbrechen. Initiiert wurde das Mahnmal vom ehemaligen taz-Redakteur und heutigen Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung Bremen, Henning Bleyl. Als 2015 auf dem Bremer Marktplatz mit viel Pomp das 125-jährige Bestehen des Logistikunternehmens Kühne + Nagel (K+N) gefeiert wurde, begann er, zur NS-Geschichte des Unternehmens zu recherchieren und zu publizieren.1Alle seit 2015 von Bleyl und anderen Autor:innen in der taz erschienenen Beiträge sind in einem umfassenden Dossier versammelt, das einen hervorragenden Überblick über die Causa Kühne + Nagel verschafft.
Bleyl und seine Mitstreiter:innen forderten ein Mahnmal für die Verbrechen, an denen K+N beteiligt war, und erzwangen so eine Auseinandersetzung der Politik und der Öffentlichkeit mit dem lange Zeit beschwiegenen Thema. Nun, sieben Jahre später, gegen viele Widerstände und nach langwierigen Auseinandersetzungen vor allem um den Standort, materialisieren sich diese Bemühungen: An den Weser-Arkaden in Sichtweite der 2020 neu errichteten Deutschland-Zentrale von K+N soll in Kürze mit dem Bau des Mahnmals nach einem Entwurf von Evin Oettingshausen begonnen werden. Spätestens 2023 soll das Mahnmal eingeweiht werden.
Willige Vollstrecker und Profiteure der ›Arisierung‹
Dort, wo jetzt der Neubau steht, befand sich seit 1909 die Zentrale des 1890 in Bremen gegründeten Unternehmens Kühne + Nagel. Innerhalb kurzer Zeit war das Unternehmen zu einem bedeutenden Transport- und Logistikkonzern aufgestiegen und hatte Niederlassungen in zahlreichen deutschen Städten gegründet, darunter auch in Hamburg. 1932 starb der Firmengründer August Kühne; seine beiden Söhne Alfred und Werner übernahmen das Geschäft. Unter ihrer Leitung war das Unternehmen dann an NS-Verbrechen beteiligt, insbesondere an ›Arisierungen‹. Die von den Nazis so bezeichneten Verbrechen umfassten nicht nur die Verdrängung von Jüdinnen und Juden aus ihren Unternehmen, Berufen und Wohnungen, sondern auch den systematischen Raub jüdischen Eigentums in ganz Europa.
K+N war an diesem Raub insbesondere in Frankreich, Belgien und den Niederlanden in beträchtlichem Ausmaß beteiligt. Das Unternehmen transportierte im Rahmen der sogenannten ›M‑Aktion‹ der ›Dienststelle Westen‹ Raubgut (vor allem Möbel) aus den Wohnungen deportierter oder geflohener Jüdinnen und Juden nach Deutschland. In diesem wahrscheinlich größten Raubzug der jüngeren Geschichte wurden zwischen 1942 bis 1944 etwa 70.000 Wohnungen geplündert, davon wohl etwa die Hälfte mit Hilfe von K+N. In Deutschland wurden die Möbel günstig an ›Volksgenossen‹ weiterverkauft oder versteigert. »Zwischen 1941 und 1945 verging in Hamburg kaum ein Tag, an dem nicht Besitz von Juden öffentlich versteigert wurde«, schrieben Linde Apel und Frank Bajohr 2004.
So profitierten unzählige ›ganz normale Deutsche‹ von den systematischen Plünderungen, die ihnen günstig Hausrat verschafften. Ganz besonders profitierten aber der NS-Staat, der mit den Erlösen zur Finanzierung von Krieg und Judenvernichtung beitrug, und das Unternehmen K+N, das für seine Dienstleistungen gut bezahlt wurde. K+N verdiente somit unmittelbar an der Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden.2Auch an der erzwungenen Flucht selbst verdiente K+N als Transportdienstleister für das Hab und Gut der Ausreisenden. Davon zeugt u.a. ein Plakat von 1935 im Bestand des Deutschen Historischen Museums.
Wie der Historiker Johannes Beermann-Schön betont, waren die deutschen Logistikunternehmen, unter denen K+N sich während des NS eine Quasi-Monopolstellung erkämpfte, dabei nicht bloße Handlanger, sondern willige Vollstrecker. Ihr Vorgehen sorgte für eine Verschärfung und Beschleunigung der Entrechtung und der Ausplünderung Deportierter, urteilte er in einem 2020 erschienenen Beitrag.3Vgl. Johannes Beermann-Schön: Taking Advantage: German Freight Forwarders and Property Theft, 1933–1945, in: Christoph Kreutzmüller, Jonathan R. Zatlin (Hg.): Dispossession. Plundering German Jewry, 1933–1953, Ann Arbor/Michigan 2020, 127–147, 142. Ein solches Engagement wurde vom NS-Staat nicht nur gut bezahlt, sondern auch symbolisch honoriert: K+N erhielt 1937 und von 1939 bis zum Kriegsende ein »Gaudiplom« als »Nationalsozialistischer Musterbetrieb«.
Entrechtet, enteignet, ermordet: Adolf und Käthe Maass
Dass Alfred und Werner Kühne deutlich mehr waren als opportunistische Profiteure, zeigt nicht nur ihre Kollaboration mit dem NS-Staat im Rahmen der ›M‑Aktion‹. Ihr Vater, der Unternehmensgründer August Kühne, hatte 1902 seinen vormaligen Lehrling Adolf Maass mit dem Aufbau einer Hamburger Niederlassung betraut und ihn aufgrund seines großen Erfolgs bei dieser Aufgabe schon 1910 zum Teilhaber des Unternehmens gemacht. Ab 1928 hielt Maass 45 Prozent der Anteile am Hamburger Zweig von K+N. Nach August Kühnes Tod und der Übernahme des Geschäfts durch seine Söhne war für den jüdischen Teilhaber aber kein Platz mehr bei K+N. Im April 1933 wurde er von den Kühne-Brüdern mittels eines Knebelvertrags aus dem Unternehmen gedrängt. Wenige Tage nach dieser ›Arisierung‹, am 1. Mai 1933, traten Alfred und Werner Kühne in die NSDAP ein.
Der vormalige Teilhaber Maass blieb in Deutschland und wurde Gesellschafter eines Importunternehmens. Doch die sich verschärfende antisemitische Gesetzgebung drängte ihn auch hier aus dem Unternehmen und raubte ihm zudem einen beträchtlichen Teil seines Vermögens. Nachdem Maass im Gefolge der Pogromnacht vom 9. November 1938 für mehrere Wochen im KZ Sachsenhausen interniert worden war, planten er und seine Frau Käthe die Emigration. Doch der Beginn des Kriegs vereitelte diese Pläne. 1942 wurden Adolf und Käthe Maass nach Theresienstadt deportiert. Von dort wurden sie 1944 nach Auschwitz verbracht, wo sie vermutlich Anfang 1945 ermordet wurden. In der Blumenstraße in Hamburg-Winterhude, in der die beiden wohnten, bis sie ihr Haus 1941 weit unter Wert verkaufen mussten, erinnern seit 2006 zwei Stolpersteine an sie. In der Hamburger Öffentlichkeit sind ihre Namen jedoch weitgehend vergessen.
Der ›wundersame‹ Wiederaufstieg von Kühne + Nagel
Alles andere als vergessen ist hingegen der Name Kühne: Dass er gerade in Hamburg so präsent ist, verdankt sich vor allem dem öffentlichen Auftreten des Multimilliardärs und heutigen K+N‑Eigentümers Klaus-Michael Kühne, dem Sohn und Alleinerben Alfred Kühnes. Kühne, geboren 1937 in Hamburg, ist der Zeitschrift Forbes zufolge die zweitreichste Einzelperson in Deutschland und verfügt über ein Vermögen von geschätzten 32 Milliarden Dollar.
K+N, an dem Kühne die Mehrheit der Anteile hält, ist einer der zehn umsatzstärksten Logistikkonzerne der Welt. Über die Kühne Holding AG hält Kühne außerdem große Anteile an Transportunternehmen wie Lufthansa und Hapag-Lloyd sowie an Immobilienprojekten wie dem in Hamburg im Bau befindlichen Elbtower. Als Sponsor der Elbphilharmonie, der Staatsoper und des Harbourfront Literaturfestivals, als langjähriger Großinvestor des HSV und als Gründer der privaten Kühne Logistics University (KLU) hat er immensen Einfluss auf die Hamburger Politik und Gesellschaft. Seit 2010 verleiht außerdem der von Kühne gestiftete und, gewohnt unbescheiden, nach ihm selbst benannte Literaturpreis für das beste deutschsprachige Romandebüt seinem Namen Glanz.
Doch wie kam Kühne zu derartigem Vermögen, Einfluss und Ansehen? Um dieser Frage nachzugehen, muss man die Nachkriegsgeschichte der BRD in den Blick nehmen. Klaus-Michael Kühnes Vater Alfred Kühne galt nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als belastet, wurde dann allerdings unter fragwürdigen Bedingungen entnazifiziert. Grund dafür war offenbar, dass sein weitverzweigtes Unternehmen als Tarnfirma eine Rolle bei der Etablierung des BND spielen sollte. Durch diese Entlastung konnte Alfred Kühne an seine Tätigkeit als Logistikunternehmer während des Nationalsozialismus nahezu nahtlos anknüpfen. Durch die NS-Geschäfte hatte Kühne nicht nur ein beträchtliches Vermögen erwirtschaftet, sondern war auch europaweit vernetzt. Diesen Wettbewerbsvorteil konnte das Unternehmen sich zunutze machen, und so wuchs es rasant.
Anders als es der etwa von der FAZ bis heute fortgeschriebene Mythos will, bildeten nicht »Fleiß, Fortune und eisenharte Disziplin« der Kühnes die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg von K+N, sondern zuallererst der durch die Beteiligung an den NS-Verbrechen erworbene Akkumulationsvorsprung. »Das Unternehmen verdankt seinem Engagement in der NS-Zeit wesentliche, bis heute relevante Entwicklungsimpulse«, resümiert Henning Bleyl. Der Wiederaufstieg von K+N ist genauso wenig ›wundersam‹ wie das bundesrepublikanische ›Wirtschaftswunder‹, dessen Grundlagen ebenfalls in einer im Krieg u.a. durch Zwangsarbeit und ›Arisierung‹ expandierten und nur zu geringen Teilen zerstörten Industrie lagen. Angesichts dieser Parallele ist es auch nicht verwunderlich, dass Alfred Kühne in der Bundesrepublik hohe gesellschaftliche Anerkennung zuteil wurde: Er erhielt das Bremische Hanseatenkreuz, wurde 1955 zum Honorarkonsul der Republik Chile in Bremen ernannt und erhielt 1960 das Große Bundesverdienstkreuz für seine »Verdienste um den Wiederaufbau«.
Sein Sohn Klaus-Michael Kühne übernahm vom Vater im Alter von 29 Jahren die Führung des Unternehmens. Unter seiner Leitung entwickelte sich K+N zu einem der weltweit größten Logistikunternehmen der Welt – im Bereich Seefracht ist es heute sogar Weltmarktführer.4In den letzten Jahren profitierte K+N zudem von den staatlichen Aufträgen für den Impfstofftransport sowie von den durch die Lieferkettenprobleme hervorgerufenen enormen Preissteigerungen für Frachttransporte. K+N gehört damit zu den größten Krisengewinnlern der letzten Jahre.
Und wie sein Vater erhält auch Klaus-Michael Kühne für diese Erfolge staatliche Ehrungen – insbesondere in seinen beiden ›Heimatstädten‹ Bremen und Hamburg: Im Rahmen der bereits erwähnten 125-Jahr-Feiern im Jahr 2015 machten die damaligen Ersten Bürgermeister der beiden Hansestädte, Jens Böhrnsen und Olaf Scholz, dem Unternehmen und seinem Patriarchen die Aufwartung. Die Stadt Hamburg hat Kühne eine Ehrenprofessur verliehen und ihm ihr Goldenes Buch vorgelegt. Die BILD berichtete 2017 gar von Bestrebungen, Kühne zum Hamburger Ehrenbürger zu machen. Alfred und Klaus-Michael Kühne verlegten den Firmensitz 1969 zwar in die Schweiz, um den unter der sozialliberalen Regierung erlassenen Mitbestimmungsgesetzen zu entgehen, doch Bremen und Hamburg sind als Deutschland- bzw. Europazentrale des Konzerns nach wie vor von großer Bedeutung.
Verweigerte und sabotierte Aufarbeitung
»Wir sind eine sehr offene Firma. Wir stellen uns dar, wir wollen nichts verstecken«, zitiert der Weserkurier den Bremer Niederlassungsleiter anlässlich der Eröffnung der neuen Deutschlandzentrale im Jahr 2020. Schließlich böten die großen Fenster den Passant:innen einen transparenten Einblick – in die Firmenkantine. Ein anderes Bild bietet der Geschäftssitz von K+N in der Schweiz. Dessen Fassade besteht rundum aus verspiegeltem Glas – und kann damit sinnbildlich für das Verhältnis des Unternehmens zur Aufarbeitung seiner Geschichte stehen. Klaus-Michael Kühne weigert sich nämlich beharrlich, die Geschichte des Unternehmens aufzuarbeiten und von Historiker:innen untersuchen zu lassen.
Transparenz à la Klaus-Michael Kühne: Die Zentrale von K+N am Zürichsee. Foto: Roland zh, Wikipedia.
Erst 2015, als Reaktion auf den durch Recherchen der taz und des Bayerischen Rundfunks erzeugten öffentlichen Druck, äußerte sich das Unternehmen erstmals zu seiner NS-Geschichte: In einer Presseerklärung bekundete K+N sein Bedauern, »seine Tätigkeit zum Teil im Auftrag des Nazi-Regimes ausgeübt« zu haben, attestierte sich selbst aber großzügig mildernde Umstände und rühmte sich, »in dunklen und schwierigen Zeiten seine Existenz behaupte[t]« und »die Kriegswirren unter Aufbietung aller seiner Kräfte überstanden« zu haben. Einen ähnlichen Ton schlägt eine firmeninterne Jubiläumsschrift an, aus der bislang nur einzelne Zitate an die Öffentlichkeit gelangt sind. Über das Ausscheiden Adolf Maass’ im Jahr 1933 heißt es darin etwa: »Herr Maass hat von sich aus in freundschaftlicher Abstimmung mit uns die Konsequenzen getragen, indem er bei uns ausschied.«
Dass diese Aussagen mit der Wirklichkeit wenig gemein haben, ist offensichtlich: Nichts spricht dafür, dass Maass das Unternehmen nach mehr als dreißig Jahren ›freiwillig‹ und ohne Abfindung verlassen habe. Um die Details des Vorgangs in Erfahrung zu bringen, bräuchte es jedoch den Zugang zum Unternehmensarchiv – und der wurde bisher niemandem gewährt. Klaus-Michael Kühne behauptet, dieses Archiv sei im Krieg zerstört worden – dabei konnte Henning Bleyl für die taz nachweisen, dass die Unterlagen aus Bremen und Hamburg wohl rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden waren. Das Verzeichnis »Deutsche Wirtschaftsarchive« jedenfalls weist ein Firmenarchiv von K+N in der Stadt Konstanz aus: mit Beständen ab 1902 und der Inhaltsangabe »Urkunden, Akten, Protokolle, Geschäftsberichte, Druckschriften, Fotos etc. Benutzung nur mit Genehmigung der Geschäftsleitung«.
»Milliardär mit eisenharter Disziplin«
Kühne ficht das nicht an. Er bleibt bei seiner unglaubwürdigen Behauptung und geriert sich als Opfer einer Kampagne: Er habe kein Verständnis dafür, dass die NS-Vergangenheit des Unternehmens »immer wieder hochgekocht wird«, sagte er 2019 gegenüber radio bremen. Während andere deutsche Unternehmen zumindest in den letzten Jahren, da die Täter:innen längst unbescholten gestorben sind, Historiker:innen mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte beauftragt haben, verhindert Kühne dies beharrlich. Kein Wunder ist es daher, dass er sich massiv dagegen wehrte, als die Initiative um Henning Bleyl die Forderung erhob, das ›Arisierungs‹-Mahnmal direkt vor der Firmenzentrale aufzustellen. Auch jetzt, wo es ein wenig abseits entsteht, beteiligen sich weder K+N noch ein anderes der in den NS verstrickten Bremer Transportunternehmen an den Kosten des Mahnmals.
Kühne macht keinen Hehl daraus, dass er zur Unternehmens- und Familiengeschichte keinerlei Distanz einnimmt. Häufig betont er die starke Prägung durch seinen Vater; im Firmensitz hängt das Porträt Alfred Kühnes autoritativ über der Tür des Besprechungszimmers.5Christian Rickens: Ganz oben. Wie Deutschlands Millionäre wirklich leben. Köln 2011, S. 177 Dass auch Kühnes Geisteshaltung mehr Kontinuitäten als Brüche mit der seines Vaters aufweist, legt eine Äußerung von ihm im Jahr 2008 nahe. Mit Bezug auf seine Ablehnung einer Übernahme der Reederei Hapag-Lloyd durch ausländische Unternehmen bekundete er damals: »Wir wollen uns möglichst reinrassig deutsch halten.«
Gleichzeitig inszeniert sich Klaus-Michael Kühne als kunstsinniger Mäzen, visionärer Gestalter und sachkundiger Politikberater. In den Medien wird er als »Milliardär mit eisenharter Disziplin« (FAZ) bzw. »Milliardär, der Gedichte schreibt – und nicht aufhören kann zu arbeiten« (SPIEGEL), hofiert. In Interviews und Homestories darf sich Kühne über den ›sehr großen Sozialneid‹ in Deutschland beklagen (NZZ), seine Ablehnung der Übergewinnsteuer bekunden oder seine Pläne für ein neues Opernhauses für Hamburg ausbreiten. Kritische Nachfragen zur NS-Geschichte von K+N bleiben aus.
Klaus-Michael Kühne ›bringt Opfer‹ (FAZ) und er ›verlangt Opfer‹ (Abendblatt). Foto: Monster4711, Wikipedia.
Auch in Hamburg: NS-Verbrechen erinnern!
Kühne ist kein Einzelfall. Zahlreiche Unternehmen in Hamburg und darüber hinaus machten ihr Vermögen im Nationalsozialismus.6Vgl. dazu etwa Frank Bajohrs Studie ›Arisierung‹ in Hamburgund Felix Matheis‹ Beitrag ›Arisieren‹ und Ausbeuten bei Untiefen. Aber Kühne ist ein Extremfall insofern, als er nicht nur dank diesem Vermögen heute einer der reichsten Menschen der Welt ist, sondern zudem jegliche Aufarbeitung der Geschichte verhindert und seinen Namen durch Mäzenatentum und Kultursponsoring weißwäscht.
Das ist nun kein Geheimnis. Vor allem Henning Bleyl recherchierte und publizierte seit 2015 eingehend zu dem Thema; hinzu kommen Recherchen von Historikern wie Wolfgang Dreßen, Götz Aly, Frank Bajohr und Johannes Beermann-Schön. Und auch viele Medien berichteten in den letzten Jahren über die NS-Verstrickungen von K+N – sogar in der Hamburger Morgenpost und im HSV-Fanmagazin Bahrenfelder Anzeiger konnte man schon darüber lesen. In Hamburg hat diese Berichterstattung jedoch offenbar kaum Konsequenzen.
Das muss sich ändern. Die NS-Geschichte der Hamburger Handels- und Transportunternehmen muss in den Blick der erinnerungspolitischen Arbeit geraten. Am Beispiel Kühne offenbart sich ein Skandal, der sich mit dem Selbstbild des ›wiedergutgewordenen‹ Deutschland nicht verträgt und doch konstitutiv für dieses Land ist: Die aktive Beteiligung an NS-Verbrechen zahlt sich für deutsche Unternehmen bis zum heutigen Tag aus. Eine kritische Stadtöffentlichkeit sollte es als ihre Aufgabe begreifen, diesen Skandal ins öffentliche Bewusstsein zu rufen. Und sie sollte derer gedenken, die – wie Adolf und Käthe Maass – diesen Verbrechen zum Opfer fielen. Ein Mahnmal wie in Bremen wäre ein erster Schritt.
Lukas Betzler
Der Autor schrieb für Untiefen bereits über das Holstenareal und das Stadtmagazin SZENE Hamburg. Eine Umfrage in seinem Freundeskreis hat ergeben, dass eine Mehrheit Klaus-Michael Kühne bislang für den Chef des gleichnamigen Hamburger Senf- und Essigherstellers hielt.
1
Alle seit 2015 von Bleyl und anderen Autor:innen in der taz erschienenen Beiträge sind in einem umfassenden Dossier versammelt, das einen hervorragenden Überblick über die Causa Kühne + Nagel verschafft.
2
Auch an der erzwungenen Flucht selbst verdiente K+N als Transportdienstleister für das Hab und Gut der Ausreisenden. Davon zeugt u.a. ein Plakat von 1935 im Bestand des Deutschen Historischen Museums.
3
Vgl. Johannes Beermann-Schön: Taking Advantage: German Freight Forwarders and Property Theft, 1933–1945, in: Christoph Kreutzmüller, Jonathan R. Zatlin (Hg.): Dispossession. Plundering German Jewry, 1933–1953, Ann Arbor/Michigan 2020, 127–147, 142.
4
In den letzten Jahren profitierte K+N zudem von den staatlichen Aufträgen für den Impfstofftransport sowie von den durch die Lieferkettenprobleme hervorgerufenen enormen Preissteigerungen für Frachttransporte. K+N gehört damit zu den größten Krisengewinnlern der letzten Jahre.
5
Christian Rickens: Ganz oben. Wie Deutschlands Millionäre wirklich leben. Köln 2011, S. 177
Am 22. August jährt sich das neonazistische Attentat in der Hamburger Halskestraße zum 42. Mal. Eine angemessene Gelegenheit, seiner Opfer zu gedenken und sich die widersprüchliche gesellschaftliche Auseinandersetzung um diesen wohl ersten rassistischen Mordanschlag in der Bundesrepublik in Erinnerung zu rufen.
Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu. Foto: Initiative zum Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân.
In der Nacht des 22. August 1980 schlichen sich drei Gestalten an das Gebäude Halskestraße 72 heran, die ein abgelegenes Gewerbegebiet im Stadtteil Billbrook im Südosten Hamburgs durchzieht. Es handelte sich um Angehörige der selbsternannten »Deutschen Aktionsgruppen«. Sie schmierten die Parole »Ausländer raus!« an die Wand und schleuderten brennende Molotow-Cocktails durch eine Scheibe im Erdgeschoss. Hinter dem Fenster schliefen Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân. Sie waren kurz zuvor als sogenannte »boat people« aus Vietnam geflohen und gemeinsam mit weiteren Geflüchteten in dem Wohnheim untergekommen. Die Brandsätze explodierten und setzten das kleine Zimmer sofort in Flammen. Nguyễn Ngọc Châu starb wenige Stunden später. Đỗ Anh Lân erlag neun Tage darauf seinen schweren Verletzungen in einem Hamburger Krankenhaus.
Der brutale Anschlag war ein rechtsextremer Terrorakt. Er gilt heute als erster dokumentierter rassistischer Mord in der Geschichte der Bundesrepublik und stellt den Beginn einer ganzen Reihe ähnlicher Mordtaten Rechtsextremer während der achtziger Jahre dar. Allein die »Deutschen Aktionsgruppen« hatten in den Wochen und Monaten zuvor zahlreiche rassistische und antisemitische Anschläge verübt. Im April 1980 explodierte eine Bombe vor der Janusz-Korczak-Schule, der NS-Gedenkstätte »Bullenhuser Damm«, in Rothenburgsort unweit der Halskestraße. Es folgten Attacken auf Geflüchtetenwohnheime in Bayern und Baden-Württemberg sowie auf eine weitere NS-Ausstellung. Die Terrorbande war bei weitem nicht die einzige militante Neonazi-Gruppe dieser Zeit. Beim Oktoberfestattentat vom 26. September 1980 tötete ein junger Rechtsextremer mit Verbindungen zur »Wehrsportgruppe Hoffmann« zwölf Menschen und sich selbst. Der Terroranschlag stellt das herausragendste Ereignis dieser bislang kaum erforschten bundesdeutschen Gewaltgeschichte dar.
Dabei war es keineswegs so, dass die zeitgenössische Öffentlichkeit das Thema ignorierte, wie sich anhand einer kleinen historischen Probebohrung in Hamburg zeigen lässt. Die Auseinandersetzungen um rechte Gewalt intensivierten sich im Laufe der achtziger Jahre. Sie deuten exemplarisch auf die rassistische Stimmung in der Bundesrepublik hin, die zu dieser Zeit eine Konjunktur erlebte. Die öffentlichen Reaktionen sowohl im bürgerlichen wie im linken Spektrum blieben indes widersprüchlich und drehten sich um eigene Befindlichkeiten.
Die egozentrische Empörung der Mehrheitsgesellschaft
Die hamburgische, aber auch die bundesdeutsche Öffentlichkeit nahm den Anschlag in der Halskestraße aufmerksam zur Kenntnis. Das öffentliche Interesse in Hamburg lässt sich exemplarisch an der Berichterstattung des Hamburger Abendblatts nachvollziehen. Die bürgerlich-konservative Publikation widmete dem Angriff und seinem Kontext im August und September 1980 rund ein Dutzend Artikel. Auch führende Vertreter der hansestädtischen Politik nahmen öffentlich Anteil.
So dokumentierte das Hamburger Abendblatt die Trauerfeier für Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân auf dem Öjendorfer Friedhof, wo die beiden am 4. September 1980 bestattet wurden, sowie eine Rede, die der Erste Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) bei der Zeremonie hielt. Demnach wohnten immerhin 400 Personen der Veranstaltung bei, was ebenfalls auf die große Anteilnahme hinweist. Die Darstellung der Zeitung offenbart dabei eindrücklich die disparaten Sichtweisen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Sie bewegten sich zwischen Empörung über die Gewalttat und kulturalistischen Differenzkonstruktionen.
Der Reporter bemühte sich sehr, die vermeintliche gegenseitige Fremdheit der Anwesenden unmissverständlich herauszustellen: »Der bedrückende Anlaß der Trauerfeier sollte gestern zugleich ein Zeichen der Hoffnung setzen, sollte eine Brücke des Verständnisses schlagen helfen. Doch eher staunend und verständnislos als Seite an Seite mit den Vietnamesen standen die Einheimischen unter den 400 Trauergästen.« Die beiden Opfer seien ebenso wie die anschließende Grabesprozession »fremd und fremdländisch« geblieben. »Verstehen konnte der eine die anderen nicht«, so der Autor über die Gruppe von »Menschen aus zwei Kulturkreisen«, zumal die Zeremonie »die Hamburger […] mit der völlig fremden Kultur jener Menschen konfrontierte, die als Opfer der Politik plötzlich zu Nachbarn und dann doch wieder zu Opfern geworden sind«. Bloß die »Abscheu vor dem Verbrechen« habe die Gäste verbunden.
Die Perspektiven der Betroffenen blieben eine Randnotiz. Nur knapp zitierte der Autor eine nicht namentlich genannte Vietnamesin: »Wir fragen die Mörder, was sie wohl empfinden mögen«. Das war zugleich der einzige Hinweis auf die Täter und ihre hier ungenannt bleibende rassistische Motivation. Zwar benannte der Teaser des Artikels die Tat als »Terroranschlag«, doch die Überbetonung der angeblichen Differenz zwischen »Einheimischen« und den Opfern beziehungsweise der Gruppe, der sie angehörten, konterkariert selbst den Versuch, »eine Brücke schlagen« zu wollen. Die Befindlichkeiten eines mehrheitsdeutschen Blicks stellte das Abendblatt in den Vordergrund, echte Solidarität und Mitgefühl mit den »Nachbarn« ließen sich so nicht ausdrücken.
Der Ort des neonazistischen Terrors – die Halskestraße 72 im Jahr 2022. Foto: privat.
Dem Bürgermeister gelang es in seiner Ansprache hingegen besser, empathische Anteilnahme angesichts des »brutalen, heimtückischen Anschlags« zum Ausdruck zu bringen. Dennoch zeigen seine Äußerungen ebenfalls einen bemerkenswert deutsch-zentrierten Fokus. So bemühte Klose den Mythos von Hamburg als liberaler und weltoffener Stadt, der eine wichtige Rolle im beschönigenden historischen Selbstbild der seehandelsorientierten Kaufmannsmetropole spielt: »Ich bin zutiefst betroffen, daß eine solche Tat in unserem Land geschehen konnte, in einer Stadt, die in ihrer Geschichte Zeichen gesetzt hat für freiheitlichen Geist und Toleranz. Mit dieser Tat ist ein anderes Zeichen gesetzt worden, geprägt von Haß und Feindseligkeit« Für ihn konnte es offenbar kaum sein, dass ausgerechnet in der Hansestadt ein – von ihm nicht als solcher bezeichneter – rassistischer Terrorakt passieren konnte. Er betonte, die Tat sei in verschiedener Hinsicht eine »Mahnung«, Geflüchtete zu unterstützen und »Kräften der Intoleranz und des Hasses gegen Minderheiten« entgegenzutreten.
Rechter Terror als Problem einer wiedergutgewordenen Nation
Auch in Kloses Rede wird deutlich, wer die Adressat:innen der Rede waren: Angehörige des deutschen Mehrheitskollektivs. Die Opfer des Brandanschlags beziehungsweise »Minderheiten« blieben objektifizierte »Andere«, denen gegenüber sich die Deutschen als vorbildlich-demokratisch, anständig und hilfsbereit zu zeigen hätten. Denn jene »Mahnung«, die der Bürgermeister aussprach, galt besonders angesichts der Geschichte des Nationalsozialismus, von der Klose fürchtete, dass sie »uns«, das heißt das deutsche nationale Kollektiv, »einholt«. Die Rede präsentierte hier den Topos von der »deutschen historischen Verantwortung«, die im heutigen bundesrepublikanischen Diskurs zentral ist. »Gerade wir sollten wach und hellhörig sein und bleiben, wenn irgendwo bei uns Mißtrauen und Feindseligkeit gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, Sprache und Kultur aufkeimen … Vergessen wir nie: Wir haben eine Schuld abzutragen – all jenen Menschen gegenüber, die in deutschem Namen verfolgt, gedemütigt, getötet wurden. … Wir – gerade wir, sind zur Hilfe aufgerufen.«
Die Rede Kloses deutet darauf hin, dass 1980 die sogenannte Vergangenheitsbewältigung im bundesdeutschen Diskurs bereits etabliert war. Im Vorjahr hatten die Sender der ARD die US-amerikanische Serie »Holocaust« ausgestrahlt. Sie hatte viele Zuschauer:innen gefunden und gab der (west-)deutschen Gesellschaft einen starken Anschub, sich gründlicher mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu befassen. Diese wurde zunehmend in die nationale Basiserzählung des nunmehr demokratischen Westdeutschland integriert. Rassistisch oder antisemitisch motivierte Gewalttaten von Neonazis konnte man vor diesem Hintergrund nicht einfach ignorieren. Rhetorische Gegenreaktionen wie Kloses Rede kreisten jedoch vor allem um die Konstruktion einer geläuterten Nation, deren moralische Wiedergutwerdung angesichts rechtsextremen Terrors infrage gestellt schien.
Das »refugees welcome« der Konservativen…
Die Auseinandersetzung mit dem Doppelmord in der Halskestraße muss auch vor dem Hintergrund der Diskussion um vietnamesische »boat people« gesehen werden, die um 1980 in Deutschland geführt wurde. In der Tat gab es seit 1979 in Westdeutschland eine Welle der Sympathie für Menschen, die teilweise auf Booten aus dem inzwischen vollständig »kommunistisch« regierten Vietnam flohen. Die Bundesrepublik nahm zahlreiche von ihnen auf, wobei die Unterstützung wesentlich aus dem bürgerlichen und konservativen Spektrum kam. Die Vietnames:innen flohen vor dem Kommunismus. Im Sinne der modernisierten Basiserzählung galten sie einigen überdies als »Juden Asiens«, für die Deutsche besonders verantwortlich seien.
Denkmal für die »boat people« auf dem Öjendorfer Friedhof. Foto: privat.
Die konservative Warmherzigkeit für »boat people« kühlte sich in den Folgejahren deutlich ab und war ein Aspekt einer intensiven und rassistisch aufgeladenen Debatte um Migration und Asyl. Diese unterschied nicht bloß zwischen »Gastarbeitern« und »Asylanten«, sondern bereits auch zwischen vermeintlich legitimer politischer Flucht einerseits, und sogenannten »Wirtschaftsasylanten« andererseits. Neben Vietnames:innen erreichten zu dieser Zeit zahlreiche Menschen Deutschland, die vor den Regimen in Polen und der Türkei flohen, aber auch Flüchtende etwa aus afrikanischen Ländern. Die angebliche »Asylflut« und das generelle »Ausländerproblem« waren nicht nur Rechtsterrorist:innen wie den »Deutschen Aktionsgruppen« ein Dorn im Auge. Dass die Täter:innen die Adresse in der Halskestraße einem Bericht des Hamburger Abendblatts entnommen haben sollen, verweist auf die Doppelrolle vieler Medien, die einerseits kritisch über Rechtsextreme berichteten und andererseits die migrationsfeindliche Stimmung mit anheizten.
…und die Leerstellen des linken Antifaschismus
Die Tatsache, dass es sich bei der Hilfe für »boat people« um ein gleichsam antikommunistisches Projekt handelte, führte dazu, dass viele bundesdeutsche Linke keineswegs eine empathische Haltung gegenüber den zuziehenden Vietnames:innen einnahmen. Zwar nicht alle, doch einige Linksradikale leugneten in diffamierender Weise, dass sie der Solidarität würdig seien: »Viele der Boat-People sind Schwarzhändler, Zuhälter und US-Kollaborateure, die sich gegen Geld Tickets für den Weg zu neuen Ufern kaufen«, war etwa 1981 in konkret zu lesen. Fliehende Vietnames:innen passten kaum in die »antiimperialistische» Schablone zeitgenössischer Linker, die noch wenige Jahre zuvor für eine Niederlage der USA im Vietnamkrieg gefiebert hatten.
Das mag ein Grund dafür sein, dass die hier zugrundeliegenden Recherchen in linken Bewegungsarchiven Hamburgs kaum Material zum Brandanschlag hervorbrachten, obwohl Gruppierungen wie der in der Hansestadt gegründete »Kommunistische Bund« sich bereits seit den siebziger Jahren intensiv mit lokalen Neonazis befassten. Überhaupt war die vermeintlich drohende »Faschisierung der BRD« zentral für die Gesellschaftskritik der Neuen Linken. Die Frage, ob weitere Untersuchungen das Bild korrigieren oder ob die Quellenlage dem linken Desinteresse an vietnamesischen Opfern entspricht, muss noch offenbleiben. Prinzipiell wurden Rechtsextremismus und Rassismus (zeitgenössisch meist »Ausländerfeindlichkeit« genannt) seit 1980 auch in Hamburg immer stärker zum Thema linker Mobilisierungen, zumal die Stadt Tatort weiterer rechtsextremer Morde werden sollte. Auch selbstbewusste migrantische Organisierung spielte in den Kämpfen um Rassismus und Migration eine zunehmende Rolle.
Die Behörden zerschlugen die »Deutschen Aktionsgruppen« im September 1980. Sie fassten die Täter:innen der Brandattacke, zwei Männer und eine Frau, und verurteilten sie in Stuttgart-Stammheim zu Gefängnisstrafen. Trotz der zeitgenössischen Aufmerksamkeit für den Hamburger Terroranschlag, schien er für Jahrzehnte vergessen und erhält erst seit einigen Jahren wieder Aufmerksamkeit. Es ist ein Fortschritt, dass Überlebende und Zeitzeugen 2014 in Hamburg eine Initiative zum Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân gründeten. Sie richtet regelmäßige Gedenkveranstaltungen zu den Jahrestagen des Anschlags aus – in diesem Jahr am 21. August – und fordert, die Halskestraße nach den beiden Getöteten umzubenennen. Die Geschichte rechtsextremer Gewalttaten in der Bundesrepublik steht noch am Anfang ihrer Erforschung und sollte auch von der antifaschistischen Linken stärker betrieben werden. Es begann nicht erst 1990 in Ostdeutschland: Hamburg hat zahlreiche traurige Beispiele zu bieten.
Felix Matheis, August 2022.
Der Autor ist Historiker in Hamburg und arbeitet derzeit zu Antisemitismus und Rassismus in der Bundesrepublik, historisch und aktuell. Auf Untiefen schrieb er bereits über die schuldhafte Rolle Hamburger Kaufleute im Nationalsozialismus.
Während sich Frauen immer mehr Raum erkämpft haben und geschlechtliche Ungleichheiten angegangen wurden, blieb die Herbertstraße an der Reeperbahn für sie bis heute tabu – für einen Teil der Frauen zumindest. Wie kommt das und was hat das mit dem Patriarchat und männlichen Herrschaftsansprüchen zu tun?
Offen für alle? Blick in die Herbertstraße bei geöffnetem Tor. Foto: Hinnerk11, CC BY-SA 4.0, Wikipedia.
Hamburg steht mit der Reeperbahn, der Herbertstraße und den Burlesque Shows immer wieder im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit, zum Beispiel durch ›kultige‹ Kiez-Reportagen, und geriert sich als Inbegriff der sexuellen Offenheit. Der ›erotische‹ Humor und feuchtfröhliche Lifestyle, der durch allerhand kulturelle Praktiken rund um die »sündigste Meile der Welt«1Diese Phrase, die mit der Umwertung christlich-konservativer Moralvorstellungen kokettiert, ist inzwischen zum Marketing-Slogan geronnen und wird auch auf der offiziellen Tourismus-Webseite der Stadt Hamburg verwendet. präsentiert wird, zieht Tourist:innen an und lässt viele Feministinnen aufatmen, die sich immer wieder um die Moral von Sexarbeit beziehungsweise Prostitution streiten. Die Reeperbahn scheint zu zeigen: Alles ganz entspannt und frei – es geht um Spaß und lockere Sexualität, die kaum irgendwo sonst so frei ausgelebt werden könne wie hier. Doch wie jede Kulturindustrie ist auch diese nicht frei von Ideologie und Inszenierung: Sie verschleiert den Blick für ihre stabilisierende Funktion im Sinne der (durch den Feminismus infrage gestellten) männlichen Herrschaftsansprüche.
Die Herbertstraße existiert in ihrer Funktion als Hort sexueller Dienste von Frauen für Männer etwa seit der Weimarer Republik. Seit den 1930er Jahren stehen an beiden Enden der nur etwa 60 Meter langen Straße Sichtschutzwände, im Jahr der Fußball-WM 1974 wurden Schilder mit der Beschriftung »Jugendliche unter 18 und Frauen verboten« auf Deutsch und Englisch angebracht. Zwar kann niemandem der Zutritt zu einer öffentlichen Straße, wie es die Herbertstraße ist, rechtlich verboten werden, schon gar nicht aufgrund des Geschlechts. Dennoch wird das Verbot für Frauen, die Straße ohne Absicht sexueller Dienstleistungen anzubieten, zu betreten, auch von öffentlicher Seite reproduziert. Was (angeblich) passiert, wenn man das Verbot missachtet, erfährt man woanders: Einem privaten Touristik-Anbieter zufolge ist dann »mit Beschimpfungen und einem Angriff durch Wasserbomben« zu rechnen, die SHZ warnt vor »deftigsten Schimpfworten, faulen Eiern und manchmal auch handfesten Argumenten«.
›Frauen verboten‹ – zum Schutz der Prostituierten?
Frauen von außen werden als störende Eindringlinge dargestellt, die nicht nur die Männer am Kauf von sexuellen Dienstleistungen behindern. Das Verbot von sich nicht prostituierenden Frauen soll der Wunsch der Prostituierten selbst sein, es soll sie vor den anderen Frauen schützen, die als »Schaulustige« die Straße besuchten. Ob das der tatsächliche Grund für das Verbot ist, bleibt unklar und Thema für Spekulationen. Gleichwohl schützt es fraglos die Geschäftsinteressen, wenn die Männer nicht durch Ehefrauen, Freundinnen, Schwestern gestört werden.2Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 vermerkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhälter der Herbertstraßen-Prostituierten hätten sich einer Öffnung für Frauen widersetzt. Weibliche Touristen in der No-go-Area, so das Kalkül, könnten das Geschäft vermasseln.«
Aktivistinnen der kontroversen feministischen Gruppe Femenbauten am 8. März 2019 die Sichtschutzwand am Zugang zur Herbertstraße unter dem Slogan ab, die »Mauer zwischen Frauen« zu demontieren. Gegen die Aktivistinnen wurde damals wegen Sachbeschädigung Strafanzeige erhoben. Wenngleich die Gruppe und vorangegangene Aktionen durchaus kritisch betrachtet werden können, werden Feministinnen im gesellschaftlichen Diskurs so zu Antagonist:innen der Prostituierten stilisiert.
Femen überwindet die »Mauern zwischen Frauen«. Protest am 8. März 2019. Screenshot: Youtube.
Frauen in der Prostitution sind einem weitaus größeren Risiko als andere Frauen ausgesetzt, Gewalt zu erfahren oder gar ermordet zu werden. Für ihren Schutz zu sorgen, ist daher dringend nötig. Aber warum sollen sie gerade vor anderen Frauen geschützt werden? Die Ausübenden der Gewalt gegenüber Prostituierten sind überwiegend Männer, die in verschiedenen Beziehungen zu den Frauen stehen – insbesondere durch Freier.3BMFSFJ: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Ergebnisse der repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland, S. 26–27. Online unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf. Allein in den 20 Jahren seit der Entkriminalisierung sind in Deutschland mehr als hundert Frauen aus der Prostitution ermordet worden, wie die Initiative Sex Industrie Kills dokumentiert hat. Die Liberalisierung schützt die Frauen nicht, sondern macht Menschenhandel lukrativer. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Anstieg des Menschenhandels zu weniger Gewalt gegen Frauen führt. Zuletzt wurde am 14. Mai eine Frau in Hamburg-Harburg tot aufgefunden, die gelegentlich der Prostitution nachging und von einem ihrer Freier erwürgt wurde. Aufgrund des massiven Dunkelfeldes kann jedoch von einer höheren Zahl ausgegangen werden. Wen oder was schützen die Wände an der Herberstraße also eigentlich?
Homosozialer Raum und männliche Herrschaft
Der schwedische Soziologe Sven-Axel Månsson beschrieb Prostitution bereits in den achtziger Jahren als männliche Praxis, sich der eigenen Potenz zu versichern und Maskulinität zu konstruieren.4Vgl. Sven-Axel Månsson: The man in sexual commerce, Lund 1988, S. 39. Online unter: https://lucris.lub.lu.se/ws/portalfiles/portal/66114471/1988_2.pdf. Dies geschieht in homosozialen Räumen, in denen Frauen lediglich Zutritt haben, wenn sie als Objekte der männlichen Libido existieren. Männern als sozialer Gruppe steht der weibliche Körper in diesen Räumen uneingeschränkt zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse zur Verfügung, um die eigene Männlichkeit in Abgrenzung zum Weiblichen über die sexuelle Dominanz zu bestätigen.
Es verwundert nicht, dass das explizite Verbot von Frauen in der Herbertstraße erst in den siebziger Jahren in Kraft trat. Mit der Zweiten Welle des Feminismus, die zu dieser Zeit Fahrt aufnahm, begannen Frauen sich intensiv mit ihren eigenen sexuellen Bedürfnissen auseinanderzusetzen. Die Akzeptanz der Frauen, sexuell von Männern beherrscht zu werden, sank rapide und stellte damit auch die Selbstverständlichkeit männlicher Herrschaft infrage. Prostitution stellte dagegen eine Art Zufluchtsort für Männer dar und diente damit als ›Konservatorium‹ von Männlichkeit sowie der hierarchischen Geschlechterordnung. Dass Prostitution als ’notwendiges Übel‹ im Rahmen eines hierarchischen Geschlechterverhältnisses gesehen im Konservativen fest verankert ist und nach wie vor reproduziert wird, zeigt nicht zuletzt die neue Hymne der Jungen Union.
Feiert da etwa die Junge Union? Die Disco Bierkönig auf Mallorca. Foto: O. Lipp, CC BY-SA 3.0, Wikipedia.
Die ›doppelte Moral‹ der Konservativen zeigt sich darin, dass sie Frauen, die der Prostitution nachgehen als ›Huren‹ entwerten, während sie andere Frauen zu ›Heiligen‹ stilisieren. Über die Entwertung der Frauen als ›Huren‹ im Gegensatz zur ›heiligen‹ Ehefrau und Mutter wird die körperliche und sexuelle Autonomie der entwerteten Frauen negiert. Gleichzeitig ermöglichen sie einen permanenten männlichen Zugriff auf den Körper der Frau – häufig mit dem Argument eines zu erfüllenden männlichen Triebes.5Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007. Solange eine patriarchale Organisation der Gesellschaft vorherrscht, ermöglichen konservative Kräfte in kreativen Formen, wie zum Beispiel mit der ›Zeitehe‹ im Iran, immer auch den Zugriff auf Frauenkörper.
Das Geschlechterverhältnis an sich ist so wieder klar: Frauen als Dienerinnen der männlichen Bedürfnisse, der sexuellen wie auch der fürsorglichen, die Männer als Herren. Frauen als eigenständige Subjekte, die Bedingungen und Grenzen umsetzen (können), stören diese Ordnung. In der Herbertstraße wird die homosoziale Struktur zusätzlich durch die Beschilderung und den Sichtschutz perpetuiert. Auch nach außen wird damit die Grenze zu dieser anderen Welt, in der noch nach den ›alten Regeln‹ gespielt wird, symbolisiert.
Zwischen Normalisierung…
Wie jedes Herrschaftsverhältnis braucht auch das patriarchale Geschlechterverhältnis die Illusion der Natürlichkeit, um sich aufrechtzuerhalten. Diverse Umfragen unter Freiern legen nahe, dass der durchschnittliche Freier von einer »männlichen Natur« und biologischen Zwängen überzeugt ist und darüber hinaus ein im Vergleich zu Männern, die keine sexuellen Dienstleistungen in Anspruch nehmen, aggressiveres Sexualverhalten aufweist.6Vgl. Claudine Legardinier: Der ›Freier‹ im Brennpunkt der Kritik, in: Feministisches Bündnis Heidelberg (Hg.): Was kostet eine Frau? Eine Kritik der Prostitution. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2020, 69–86. Der Wunsch nach Sexualität ohne Verantwortung spielt dabei ebenfalls eine Rolle. Bei sich prostituierenden Frauen, so die Prämisse, müsse keine Rücksicht genommen werden, da man für die Dienstleistung bezahlt. ›Der Kunde ist König‹ bleibt dabei nicht bloß ein Spruch aus der Dienstleistungsbranche, sondern steht sinnbildlich für das Geschlechterverhältnis.
Die Herbertstraße hat sich widersprechende und doch zusammengehörende Normalisierungsfunktionen. Auf der einen Seite konstituiert sich mit ihr die Selbstverständlichkeit männlicher Räume und der Erfüllung männlicher, vermeintlich natürlicher, Bedürfnisse. Freier wollen Frauen, die sexuell willig sind, aber genau dasselbe wollen wie sie selbst: all ihre sexuellen Wünsche erfüllen, ohne Gegenleistung. Prostitution als ›Arbeit‹ anzuerkennen steht dieser Illusion allerdings entgegen, da es sich letztlich auch für die Frauen um eine Dienstleistung bzw. um etwas handelt, das sie nicht freiwillig, nicht ohne eine Gegenleistung bzw. Kompensation tun würden. Um sich dieser Verantwortung zu entziehen, reichten zwei Freier gar eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz ein, das die Inanspruchnahme von sexuellen Dienstleistungen bei Zwangsprostituierten unter Strafe stellt. Die Geschichte der sexuell befreiten, aber missverstandenen Frau als erotisches Wesen, das den (unverbindlichen, einseitigen) Sex mit fremden Männern will, muss reproduziert werden: Sie hat ›ihr Hobby zum Beruf gemacht‹.
… und Exotisierung
Zusätzlich und entgegen der Normalisierung, braucht der Raum die Atmosphäre des Exotischen, des Verbotenen und ›Sündigen‹, damit sich Männer darin ihrer Virilität versichern können. Der ›Reiz des Versteckten‹ ist die Grundlage dieser männlichen Fantasie, Gewalt gegen die als minderwertig markierten ›Huren‹ ist ein Teil davon. Nicht erst die Erhebung Fritz Honkas, der in den siebziger Jahren zahlreiche sich prostituierende Frauen ermordete, zur Hauptfigur in Heinz Strunks Roman Der goldene Handschuh und seiner Verfilmung durch Fatih Akin oder die »Sex&Crime«-Rundgänge für Tourist:innen auf der Reeperbahn zeugen von der schaurigen Faszination, die das ›Rotlichtmilieu‹ und Gewalt gegen Frauen durch Männer generell in unserer Gesellschaft ausüben.
Der Reiz des Geheimen: Schummriges Licht und schwere Vorhänge. Foto: hds, CC BY 2.0, Wikipedia.
Die Atmosphäre des Exotischen, Sündigen wird durch die Sichtwände unterstützt und suggeriert Subversion. Prostitution ist in Deutschland allerdings sowohl für die sexuelle Handlungen anbietenden Frauen als auch für die Freier seit Jahrzehnten legal, die Herbertstraße eine öffentliche Straße, die grundsätzlich jede:r betreten dürfte. Auch die sogenannte »Sittenwidrigkeit«, durch die Prostitution trotz Legalität moralisch abgewertet und diszipliniert wurde, wurde 2002 abgeschafft. Es ist mittlerweile keine Seltenheit, dass Verfechter:innen und Sexarbeiter:innen in Talkshows, Podcasts und Artikeln über die Wichtigkeit von Prostitution und Pornografie sprechen.
Der Widerspruch zwischen der ›verbotenen‹, ’sündigen‹ und vermeintlich von Moralvorstellungen freien Sexualität und dem staatlich geförderten, gewerblich organisierten und vermarkteten Prostitutionsbetrieb ist offensichtlich. Der Mythos, im Nationalsozialismus sei Prostitution grundsätzlich illegal gewesen, wird auch nach wie vor im Kontext der Herbertstraße reproduziert. Die Nationalsozialisten hätten die Wand aufgestellt, um die Prostitution aus dem »Sichtfeld der Öffentlichkeit zu verbannen«, so eine Kiez-Seite. Es stimmt, dass Frauen für Prostitution verfolgt wurden, doch ging es praktisch in erster Linie um staatliche Kontrolle über die Prostitution und (unverheiratete) Frauen. Frauen, die sich regelmäßig untersuchen ließen und sich staatlich organisiert prostituierten, entgingen der Verfolgung, wenngleich dieses Arrangement kein sicheres für die Frauen war.7Vgl. Robert Sommer: Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Leiden: Brill & Schöningh, 2009. Die Darstellung der Prostitution als subversive, quasi emanzipatorische Praxis wird durch die wiederholte und verkürzte mediale Gegenüberstellung mit dem Nationalsozialismus unterstützt. Der Freier und die Prostituierte werden so ideologisch als Vorreiterinnen gegen eine überkommene Sexualmoral und für eine befreite Sexualität verklärt.
Hamburg, die »Puffmama«
Im Juni 2021, einen Tag vor der Abschaffung des pandemiebedingten Verbots körpernaher Dienstleistungen und damit auch von Prostitution, demonstrierten Frauen aus der Herbertstraße für die Wieder-Erlaubnis von sexuellen Diensten unter dem Namen Sexy Aufstand Reeperbahn. Unter anderem mit Plakaten mit der Aufschrift »Der Staat fickt uns und zahlt nicht« wiesen die Frauen auf ihre prekäre Situation, aber auch noch auf etwas anderes hin: Der Staat beziehungsweise die Stadt Hamburg nutzt die Frauen für den eigenen Vorteil – hat aber letztlich die Kontrolle über sie. Ein paar Monate fand in der Herbertstraße eine Kunstausstellung statt, die an den »Aufstand« erinnern sollte. Mit der Aktion wollte man sich u.a. beim Bezirksamt Hamburg St. Pauli bedanken, das – laut Organisator:innen der Aktion – die Gewerbe in der Herbertstraße und auf der Reeperbahn im Sinne der Wiedereröffnung unterstützt habe.
Der (Sex-)Tourismus in Hamburg lebt vom Reiz, den die Herbertstraße und die Reeperbahn ausüben. Parallel zu den Schritten der Entkriminalisierung der Prostitution in Deutschland stiegen die Tourismus-Zahlen in Hamburg rasant. Während die Zahl der Tourist:innen in den neunziger Jahren stagnierte, stieg sie seit 2002 um mehrere Millionen an. Hamburg profitiert maßgeblich vom Sextourismus als wichtiger ökonomischer Einnahmequelle. Der ›kultige‹ Kiez und das Versprechen lustvoller Frivolität und sexueller Verfügbarkeit von Frauen ziehen Besucher:innen an. Selbst diejenigen, die ’nur‹ der Atmosphäre der Reeperbahn, des Kiezes und des Milieus nachspüren wollen, bringen durch ihre Besuche Geld in die städtischen Taschen.
»Für mehr Fremdenverkehr«: Darauf können sich in der Herbertstraße alle einigen. Foto: S. McCann, flickr.
Mit dem boomenden (Sex-)Tourismus war Schluss, als vor zweieinhalb Jahren das Corona-Virus der Prostitution und Beherbergungsbranche für einige Monate den Garaus machte. Nicht ganz uneigennützig scheinen da die Bemühungen der Stadt- und Bezirksverwaltung von Hamburg Mitte, die Prostitutionsgewerbe wieder ›in Betrieb‹ zu nehmen. Ein Gruppenfoto mit Falko Droßmann, damaliger Bezirksamtsleiter, das groß auf der Homepage der Gruppe Sexy Aufstand Reeperbahn zu finden ist, weist auf die nicht uneigennützigen Motive des Bezirks hin. Die Brüche, die staatliche sowie städtische Politiken in Bezug auf sich prostituierende Frauen aufweisen, sind geprägt vom Machtverhältnis zwischen patriarchal organisierten Kapitalinteressen und den in der Regel vulnerablen Frauen, die sich für die Prostitution entscheiden oder in diese hineinrutschen.
Unerwünscht sind Frauen in der Herbertstraße offensichtlich nicht. Sie sind sowohl ökonomische Grundlage als auch kultureller Bestandteil der Touristenattraktion und der Rituale einer sich selbst ihrer Herrschaft versichernden Männlichkeit. Dies gilt allerdings nur für bestimmte Frauen. Wenn sie selbst als Anbieterinnen sexueller Dienstleistungen und damit als durch Männer konsumierbare Ware auftreten, sind sie willkommen. Alle anderen müssen ›draußen bleiben‹ und sollen nicht an den Wänden der Männerbündelei, der kulturellen Grundlage patriarchaler Gesellschaften, rütteln.
Lea Remmers
Die Autorin ist feministische Soziologin und vermisst in aktuellen Debatten um Prostitution den Anspruch, das Bestehende als Ausdruck einer heterosexistisch-kapitalistisch organisierten Gesellschaft zu analysieren.
1
Diese Phrase, die mit der Umwertung christlich-konservativer Moralvorstellungen kokettiert, ist inzwischen zum Marketing-Slogan geronnen und wird auch auf der offiziellen Tourismus-Webseite der Stadt Hamburg verwendet.
2
Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 vermerkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhälter der Herbertstraßen-Prostituierten hätten sich einer Öffnung für Frauen widersetzt. Weibliche Touristen in der No-go-Area, so das Kalkül, könnten das Geschäft vermasseln.«
Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007.
6
Vgl. Claudine Legardinier: Der ›Freier‹ im Brennpunkt der Kritik, in: Feministisches Bündnis Heidelberg (Hg.): Was kostet eine Frau? Eine Kritik der Prostitution. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2020, 69–86.
7
Vgl. Robert Sommer: Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Leiden: Brill & Schöningh, 2009.
Zwei neue Bücher über Olaf Scholz schreiben ihm hanseatische Tugenden zu und empfehlen ihn als Verwalter des neoliberalen Status Quo. Was wirklich über Scholz zu sagen wäre, fällt in dieser staatsjournalistischen Imagepflege unter den Tisch.
„Frei von Empathie“ und „ohne jedes Charisma“: Olaf Scholz laut zwei Hofberichterstattern. Foto: privat.
In der repräsentativen bürgerlichen Demokratie erfüllen politische Eliten immer auch eine symbolische Funktion. Sie sollen den Staat beziehungsweise „das Volk“ repräsentieren, den Bürger:innen ein Bild ihres Gemeinwesens verkörpern. Im Gegensatz zum königlichen Körper, der im Ancien Régime qua Geburt und göttlicher Auserwähltheit unfraglich die Einheit des Staates symbolisierte, müssen die wechselnden demokratischen Repräsentant:innen sich dem anpassen, was die Bevölkerung sich wünscht und was sie zu akzeptieren bereit ist. Sie müssen, zumal in der hochgradig medialisierten Demokratie der Gegenwart, ihr Image herstellen als Projektionsfläche für staatstragende Tugenden.
Angesichts der zunehmenden Personalisierung von Parteipolitik ist solche Imagepflege ein nicht zu vernachlässigender Bestandteil der Herstellung von politischer Hegemonie, also der Zustimmung der Beherrschten zu ihrer Beherrschung. Journalisten staatsnaher Medien versuchen von dieser Notwendigkeit zu profitieren und übernehmen dabei unaufgefordert diese Imagepflege, indem sie die vermeintlich bedeutsame „Persönlichkeit“ führender Politiker:innen in den Fokus rücken und ihre positiven Qualitäten beschreiben bzw. eben erfinden.
Eben so ist es im Fall Olaf Scholz. Zwar eignet Scholz sich denkbar schlecht für Imagepflege, verkörpert er doch der allgemeinen Wahrnehmung nach vor allem Langeweile. Aber das hindert Journalist:innen nicht, die es ja gewohnt sind, aus wenig Material viel leicht verdaulichen Text zu machen. Und nun, da er Kanzler ist, lässt sich so etwas auch verkaufen.
Beispiele dieser Art von kostenloser PR sind die beiden bisher über Olaf Scholz erschienenen Bücher: „Olaf Scholz: Der Weg zur Macht. Das Porträt“ (Klartext, Dezember 2021) vom Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, Lars Haider, und „Olaf Scholz – Wer ist unser Kanzler?“ (S. Fischer, Februar 2022) von Mark Schieritz, wirtschaftspolitischer Korrespondent im Haupststadt-Büro der ZEIT.
Natürlich können auch Haider und Schieritz zu Scholz nichts wirklich Interessantes berichten. Beide Bücher sind bürgerliche bundesdeutsche Hofberichterstattung ohne jede Gesellschaftskritik. Neben Langeweile können sie höchstens schaudern lassen, etwa, wenn Haider anbiedernd erzählt, wie oft er Scholz schon in Hintergrundgesprächen oder zu Interviews getroffen habe. Kurz: Sie gehören zu denen, die selbst in 7 langen Leben keinen Platz auf der Leseliste verdient hätten. Aber es ist interessant, welche Qualitäten sie Scholz im Sinne der genannten staatstragenden Imagepflege anzudichten versuchen.
Bei Haider sind Scholz‘ hanseatische Qualitäten, ins Politische gewendet, im Kern eine Affirmation des gegenwärtigen neoliberalen Regimes. Was die Bürger:innen in Scholz sehen sollen, ist „Kompetenz“, „Nüchternheit“ und „Erfahrung“ – also Politik unter dem Diktat des tristen Realismus, streng an den Sachzwängen orientiert, ohne verderbliche Utopie, Visionen (Helmut Schmidt ist für Scholz nicht ohne Grund ein „Gigant“) oder auch nur ein erkennbares Programm. Sicher, hier darf es auch mal Zugeständnisse geben – aber was nötig und möglich ist und was nicht, das entscheidet das Kapital. Er habe „das Geld zusammengehalten“ und in Hamburg „gut und solide“ regiert. Natürlich ist er ein „Machtmensch“ – denn anders geht es schließlich in den Kommandohöhen des Staates nicht. Haider stellt sich die Beziehung zu den Wähler:innen so vor: Sie bestellen „Führungsleistung“ und Scholz liefert sie.
Solch markige Management-Macherrhetorik soll beruhigen, suggeriert sie doch, dass der_die Einzelne noch etwas ausrichten kann. Dabei vernebelt sie natürlich, dass das politökonomische Wohl oder Verderben in kapitalistischen Staaten kaum von einzelnen Politiker:innen abhängt, selbst von Kanzlern nicht. Bei Scholz wird nun diese Personalisierung der Politik auf einen Kanzler gepresst, der sie mangels nennenswerter Persönlichkeit beinahe schon ad absurdum führt. Wer das schlucken kann, hofft wohl kaum noch, dass irgendwer den Irrsinn dieser Gesellschaft doch noch richten könnte. Haider offenbart genau den capitalist realism, den Mark Fisher beschrieb: Es ist nichts Anderes vorstellbar als ein ewiges „weiter so“, also ist es doch besser, jemandem die Sache zu überlassen, der genau das und auch nicht mehr will.
Die Person Scholz beschreibt Haider als „frei von Empathie“ und „ohne jedes Charisma“. Das ist nicht negativ gemeint, sondern soll wohl Sachkenntnis und Kompetenz noch einmal unterstreichen: Scholz hat keine Gefühle, er hat Ahnung. Über sein Leben gibt Scholz wenig preis, aber was man wissen kann, lässt ahnen: Er ist genauso langweilig und durchschnittlich, wie er erscheint. Geboren in Osnabrück in eine Mittelschichtsfamilie, politische Sozialisierung bei den Jusos, Jurastudium, Selbstständigkeit als Anwalt für Arbeitsrecht, SPD-Parteikarriere.
Haiders Scholz „arbeitet hart“, ist „ehrgeizig“, man kann ihm vertrauen, denn „er kann was“. Er ist hart im Nehmen – aber auch hart zu sich selbst. Er studiert tagelang Akten, ohne zu ermüden. Er ist von sich überzeugt, aber auch zu Recht. Er hat zwar kein Charisma, aber denkt analytisch und ist ein „Arbeitstier“. Er ist höflich und nicht arrogant.
Schließlich auch noch ein Schuss Sozialdemokratie: Er ist ein „Aufsteiger, der an soziale Gerechtigkeit glaubt“, ja, ein „Außenseiter“. Haider widmet gar sein Buch „allen Außenseitern“. Was einen sozialdemokratischen Juristen mit jahrzehntelanger erfolgreicher Politkarriere zum Außenseiter macht, bleibt freilich Haiders Geheimnis. Vielleicht die Kindheit in Rahlstedt? Ähnlich dünn ist der Versuch, Scholz als „Feministen“ dazustellen. Er hätte sich schon immer für Gleichberechtigung eingesetzt, etwa in der Auswahl seiner Senator:innen und Minister:innen, und sei allergisch, wenn in Interviews die Berufstätigkeit seiner Frau in Frage gestellt wird. Fair enough – aber das ist genau die Art Staatsfeminismus, mit dem man heute wirklich nirgendswo mehr Widerspruch hervorruft.
Jetzt setzt’s aber Respekt: Olaf Scholz im Wahlkampf 2021. Foto: Michael Lucan CC BY-SA 3.0
Schieritz’ Buch ordnet anders als Haiders Machwerk Scholz auch politisch ein. Dass er schon unter Gerhard Schröder als Generalsekretär an der Neoliberalisierung der SPD mitgearbeitet hat und die Agenda 2010 fleißig verteidigte, wird hier zumindest nicht verschwiegen. Ebenso, dass Scholz damals den Begriff „demokratischen Sozialismus“ aus dem Parteiprogramm der SPD streichen lassen wollte.
Aber für Schieritz begründet das keinen Vorwurf, sondern für ihn zeigt es, wie „geerdet“ Scholz heute im Vergleich zu seiner linksradikalen Zeit in den 1970ern ist. Vor allem der Anwaltsberuf habe ihn zu einem „Mann der Mitte“ gemacht. Auch der von Scholz verantwortete Brechmitteleinsatz, der 2001 Achidi John das Leben kostete, kann diesem Bild nichts anhaben. Schieritz verhandelt den Skandal unter ferner liefen, bei Haider taucht er erst gar nicht auf. Scholz ist für Schieritz „den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen“, denn er ist kein Ideologe, sondern „je nach den Umständen ausgerichtet“. Er ist ein Verhandler, „will alle Meinungen hören“, umgibt sich mit „Leuten die etwas bewegen wollen“.
Sogar ein bisschen weniger Neoliberalismus will er neuerdings. Denn statt Leistungsgerechtigkeit wie in der Sozialdemokratie des Dritten Weges à la Blair und Schröder stellt Scholz die „Beitragsgerechtigkeit“ in den Mittelpunkt. Der Sermon vom „Respekt“ ist wohl allen noch aus dem letzten Bundestagswahlkampf im Ohr. „Respekt“ soll für notwendige Lohnhierarchien entschädigen. „Respekt“ soll es für Erwerbsarbeit jeder Art geben, egal ob hoch- oder niedrig qualifiziert. Das aber hat natürlich nur wenig mit Gerechtigkeit zu tun. Denn „Respekt“, man ahnt es, ist, was von der Sozialdemokratie übrigbleibt, wenn sie nicht umverteilen will. Mit Scholz soll der neoliberale Wahnsinn des Bestehenden humanisiert werden. Wie eng begrenzt diese rhetorischen Zugeständnisse sind, zeigt schon jetzt, wie wenig wir uns davon versprechen dürfen. Wer Scholz’ Weg in Hamburg verfolgt hat, weiß, dass er Ansprüche auf mehr als „Respekt“ auch abzuwehren weiß: die Law&Order-Rhetorik im Wahlkampf gegen Schill, die Brechmitteleinsätze, sein Einsatz gegen die Rekommunalisierung der Energienetze und für Olympia, die Gefahrengebiete, seine absurde Verleugnung polizeilicher Gewalt beim G20-Treffen und jüngst sein beunruhigend schlechtes Gedächtnis bezüglich Korruption mit der Warburg-Bank zeigen, wozu ein ideologisch flexibler Parteisoldat wie Scholz fähig ist. Scholz ist kein wirklicher Bösewicht, autoritäre Ressentiments und persönliche Bereicherung sind ihm sicher fremd. Aber er ist eben ein typischer Sozialdemokrat des neoliberalen Zeitalters. James Jackson hat das im Jacobin Magazin schön zusammengefasst: Scholz verbindet höhere Mindestlöhne mit kapitalfreundlicher Klimapolitik, Law & Order-Maßnahmen mit dem Kampf gegen Rechtspopulismus. Er steht für „Stabilität statt Vision, Management statt Transformation, und wahrt die Interessen der Mächtigen – während er gerade genug reformiert, um den Kohle-getriebenen Koloss deutsche Industrie am Laufen zu halten.“ Auf Bundesebene setzt Scholz somit fort, was seine Politik als Erster Bürgermeister Hamburgs auszeichnete – und was ihn populär machte. Und wer weiß, vielleicht räumt die ZEIT ihm nach der nächsten Bundestagswahl ja Helmut Schmidts altes Büro frei.
Der Investor des Holstenareals ist finanziell stark angeschlagen und steht zudem unter Betrugsverdacht. Jetzt hat die Stadt den Planungsstopp verkündet. Für die Entwicklung des Quartiers auf dem ehemaligen Brauerei-Gelände in Altona-Nord ist das eine unverhoffte Chance. Sie muss unbedingt ergriffen werden.
Langer Atem: Schon im Februar 2021 gab es Protest vor dem Holstenareal. Foto: Rasande Tyskar, flickr.
»Ist das Kind in den Brunnen gefallen?«, wurde Theo Bruns, Teil der Initiative Knallt am dollsten, Anfang Februar im Hamburg1-Gespräch gefragt. Bruns weigerte sich, diese Frage mit ›Ja‹ zu beantworten, und bekundete, weiter für die Kommunalisierung des Holstenareals zu kämpfen. Doch blickte man damals, vor vier Monaten, auf die Faktenlage, schien dieser Kampf nahezu aussichtslos zu sein. Im April oder Mai, so der damalige Stand, wollte der Bezirk den städtebaulichen Vertrag mit dem Investor, der zur Adler Group gehörigen Consus Real Estate, unterzeichnen; Einwendungen gegen den Vertrag wurden pauschal zurückgewiesen; und dass der Bezirk Altona es als Erfolg verkaufte, für 100 der ca. 1200 geplanten Wohnungen »preisgedämpfte« Nettokaltmieten in Höhe von 12,90 bzw. 14,90 Euro pro m² ausgehandelt zu haben, offenbarte den Unwillen und die Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen, gegenüber dem Investor ernsthaft Stellung zu beziehen.
Immobilienspekulant in Schieflage
Doch nun scheint sich die Hartnäckigkeit des Protests von Initiativen wie Knallt am dollsten bezahlt zu machen. Der Mai liegt hinter uns und der städtebauliche Vertrag ist immer noch nicht unterzeichnet. Und dazu wird es wohl so bald auch nicht kommen, denn der Bezirk Altona hat erklärt, alle Planungen auf Eis zu legen. Grund dafür: Die wirtschaftliche Lage des in der Presse gerne als »umstritten« bezeichneten Investors, der ca. 30.000 Wohnungen besitzt, ist so undurchsichtig, dass er die für eine Unterzeichnung geforderte Finanzierungszusage einer Bank für das riesige Projekt nicht vorlegen konnte. Der Konzern ist schon länger unter Druck, vor allem nachdem der Investor Fraser Perring, der bereits den systematischen Betrug bei Wirecard aufdeckte, im vergangenen Herbst ähnliche Vorwürfe gegen die Adler Group erhob.
Weiter zugespitzt hat sich die Situation, nachdem die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG Ende April ein entlastendes Testat für den Jahresabschluss des Konzerns verweigerte, woraufhin die Adler-Aktie abstürzte und mehrere Mitglieder des Managements zurücktraten. Das Handelsblatt berichtete Ende Mai zudem von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Frankfurt und davon, dass der Finanzaufsichts-Chef Mark Branson den Finanzausschuss des Bundestags am 18. Mai eigens in streng geheimer Sitzung über die Vorwürfe gegen Adler informierte.
Wenn nun neues Leben in die Angelegenheit Holstenquartier kommt, ist das also keineswegs das Verdienst der Politik. Der Bezirk Altona nämlich hat lange immer noch auf Consus/Adler gesetzt und auf der einmal getroffenen Entscheidung beharrt – trotz der immer größeren Vorwürfe gegen den Investor. Anstatt das Scheitern des bisherigen Plans einzubekennen, erklärte die Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg noch vor zwei Wochen gegenüber dem Hamburger Abendblatt, die Verhandlungen lägen »auf Eis«, bis eine Finanzierungszusage vorliege: »Wir haben dazu auch keine Frist gesetzt, sondern warten ab.«
Dass nicht alle in der Stadtpolitik so geduldig sind, zeigte sich aber Anfang Mai, als der Landesbetrieb Immobilienmanagement und Grundvermögen (LIG) die Consus angeschrieben und um Verkaufsverhandlungen bat. Allerdings drängt sich der Eindruck auf, dass es sich hier um bloße Symbolpolitik handelt. Die Nachricht führte zu markigen Schlagzeilen wie »Hamburg macht Ernst: Stadt will Holsten-Quartier kaufen« (Abendblatt). Im ›Kleingedruckten‹ erfuhr man dann aber: Die Stadt würde die Fläche nur »zu einem angemessenen Preis« erwerben und nur dann, wenn der Investor überhaupt verkaufen will. Noch am 1. Juni, also nach dem offiziellen Planungsstopp, verkündete Stefanie von Berg: Wenn die Adler Group das Grundstück nicht zum Verkauf anbiete, »kann auch die Stadt nichts machen«.1Das Hamburger Abendblatt schreibt trotzdem und entgegen aller Fakten von einem »harten Kurs« der Stadt »gegen die Adler Group«.
Kurz: Die Krise bei Adler/Consus hat die Chance eröffnet, doch noch eine ökologische und soziale Entwicklung des Quartiers zu ermöglichen, – aber die Hamburger Politik macht den Eindruck, damit so gar nicht glücklich zu sein. Davon könnte man überrascht sein, hätte man die Slogans von Grünen (»Für Mieten ohne Wahnsinn«) und SPD (»Wachstum ja, aber nicht bei den Mieten«) zu den Bürgerschaftswahlen 2020 für bare Münze genommen. Blickt man allerdings auf das Vorgehen des SPD-geführten Senats und des unter grünem Vorsitz stehenden Bezirks Altona in Sachen Holstenareal, wird deutlich: Hier wurde von Beginn an alles unterlassen, was diesen Slogans auch nur ein klein wenig Substanz verliehen hätte.
Hamburger Investorenmonopoly
Das begann schon 2015. Damals entschied die Holsten-Brauerei, ihren bisherigen Standort an der Holstenstraße aufzugeben. Der Senat unter dem damaligen Bürgermeister Olaf Scholz hätte sein Vorkaufsrecht nutzen und das Gelände für ca. 55 Millionen Euro kaufen können – doch er hat es unterlassen (was inzwischen selbst die CDU anprangert). Stattdessen wurde das Gelände höchstbietend verkauft, womit ein kaum fassbares Investorenmonopoly in Gang gesetzt wurde. 150 Millionen Euro betrug der anfängliche Kaufpreis der Düsseldorfer Gerch-Gruppe. Seither wurde das Grundstück viermal in sogenannten share deals mit Gewinn weiterverkauft – bis Consus es schließlich 2019 für 320 Millionen Euro übernahm.
Dieser Bebauungsplan (Stand: November 2019) ist jetzt hoffentlich Geschichte. Quelle: hamburg.de
Angesichts dieses horrenden Kaufpreises war klar: Um die von einem börsennotierten Immobilienkonzern erwarteten Profite zu erwirtschaften, müsste hier extrem dicht bebaut und extrem teuer verkauft bzw. vermietet werden. Zur Verdeutlichung: Nicht-profitorientierte Genossenschaften hatten der Kampagne »So geht Stadt« zufolge für den Erwerb des Grundstücks maximal 50 Millionen Euro geboten, weil sie bei einem höheren Preis keine sozialverträglichen Mietpreise mehr möglich sahen. Dementsprechend hoch fallen die nun erwarteten Mieten – sowohl für Gewerbe als auch für Wohnen – aus: Für die frei vermieteten zwei Drittel der Wohnungen sei mit einer Nettokaltmiete von 23 Euro pro m² zu rechnen, schätzte die Initiative Knallt am dollsten im Dezember 2021.
Adler: Immobilienspekulation als Geschäftsmodell
Das Holstenareal ist bei weitem nicht das einzige Projekt der Adler Group. Insgesamt 47 sogenannte ›Entwicklungsprojekte‹, fünf davon in Hamburg, hat der Investor aktuell am Laufen – oder eben nicht. Denn bei der Mehrzahl der Projekte gibt es aktuell keine Baufortschritte. Wie beim Holstenareal, wo kürzlich zumindest langsam mit den Abrissarbeiten begonnen wurde, eigentlich aber schon längst hätte gebaut werden sollen, sieht es auch woanders aus. In Berlin etwa tut sich beim Hochhaus Steglitzer Kreisel schon seit Monaten nichts – der Rohbau wirkt wie eine sizilianische Bauruine (und gibt so einen Vorgeschmack davon, was mit dem Elbtower passieren könnte). Das brachliegende Neuländer Quarree in Harburg hatte Adler letztes Jahr an eine dubiose Fondsgesellschaft mit Sitz auf Guernsey verkauft – und nun vor wenigen Wochen wieder zurückgekauft. Der Verdacht, dass es sich hierbei um einen Scheinverkauf handelte, um die Bilanzen aufzubessern, liegt nahe.
Daran, die erworbenen Grundstücke tatsächlich zu bebauen, zeigt der Investor jedenfalls gar kein Interesse. Und warum auch: Die Grundstücke steigen angesichts der immer noch wachsenden Immobilienblase sukzessive im Wert, und die zuletzt stark gestiegenen Baukosten machen das Bauen weniger rentabel. Es überrascht nicht, dass auch Vonovia, Deutschlands größter Wohn-Immobilienkonzern und Enteignungskandidat Nummer eins, mit mehr als 20% an der Adler Group beteiligt ist, und dass ihr Verwaltungsratsvorsitzende Stefan Kirsten vorher CFO bei Vonovia war.
Viele offene Fragen
Doch wie kann es nun weitergehen? Die Initiative Knallt am dollsten fordert die Kommunalisierung des Areals, denn sie wäre die Grundvoraussetzung dafür, dass dort ein soziales, inklusives, ökologisches Quartier entstehen kann. Damit das möglich ist, müsste die Stadt nun eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme nach § 165 Baugesetzbuch für das Holstenareal beschließen. »Sie ist das wichtigste Instrument, mit dem effektiver Druck auf den Investor ausgeübt werden kann. Als ultima ratio schließt sie sogar eine Enteignung nicht aus«, erklärte Theo Bruns gegenüber Untiefen. Nur so könnte verhindert werden, dass das Areal einfach an den nächsten Investor verkauft wird.
Dass das gangbar ist, zeigen andere Beispiele: In Düsseldorf etwa hat die regierende Mehrheit aus CDU und Grünen einen Antrag auf Einleitung einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme beschlossen – mit Zustimmung der Linkspartei und selbst der FDP. In Harburg sind vorbereitende Untersuchungen für die beiden Adler/Consus-Projekte (neben dem Neuländer Quarree noch die New York-Hamburger Gummiwaarenfabrik) eingeleitet worden. Der Bezirk Altona lehnt dasselbe mit der abstrusen Begründung ab, es handele sich beim Holstenareal nicht um einen »Stadtteil mit herausgehobener Bedeutung«. Theo Bruns vermutet andere Gründe: Neben dem fehlenden politischen Interesse und der Weigerung, Fehler einzugestehen, vor allem »Mangel an Courage und Gestaltungswillen«. Eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme wäre für die Bezirksverwaltung nämlich eine äußerst zeit- und arbeitsaufwendige Angelegenheit. Aber selbst wenn die in Bezirk und Stadt maßgeblichen rot-grünen Mehrheiten sich trotzdem (und d.h. vor allem wegen des öffentlichen Drucks) für solch ein Vorgehen entschieden, blieben noch einige offene Fragen.
Die größte wäre natürlich der Preis: Das Grundstück steht mittlerweile mit einem Wert von 364 Millionen Euro in den Bilanzen der Adler Group – ein völlig unrealistischer, durch Spekulation in die Höhe getriebener Preis. Knallt am dollsten fordert dagegen, die Kalkulation umzudrehen und einen »sozial verträglichen Verkehrswert« für den Rückkauf anzulegen. Das heißt, nicht der Grundstückspreis soll die Mieten bestimmen, sondern umgekehrt: Ausgehend von einer angestrebten (Maximal-)Miete soll der Grundstückspreis berechnet werden.
Aber auch die Frage, wie viel Zeit für all das noch bleibt, ist ungeklärt. Adler hat eine Insolvenz der Consus Real Estate zwar noch Mitte Mai offiziell ausgeschlossen, aber es erscheint nicht unwahrscheinlich, dass bald ein Insolvenzverfahren eröffnet wird. Für eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme wäre es dann wohl zu spät – als Teil der Insolvenzmasse müsste das Holstenareal höchstbietend weiterverkauft werden.
Für einen radikalen Neuanfang
Wünsche und Forderungen…… für ein lebenswertes Quartier. Foto: privat
Derweil hat Knallt am dollsten gemeinsam mit anderen Initiativen aber schon demonstrativ einen Neustart eingeläutet. Am 25. Mai versammelten sich dutzende Teilnehmer:innen vor dem Altonaer Rathaus zu einer »Bezirksversammlung von unten«. »Adler ist Geschichte, darüber muss man jetzt nicht mehr reden. Wir können jetzt einen Schritt weiter gehen«, sagte Theo Bruns in einem Redebeitrag. Es gehe jetzt darum, das Quartier neu zu denken und die Bürger:innen an der Planung zu beteiligen, so wie das im Falle der Esso-Häuser in St. Pauli mit der Planbude praktiziert wurde und wird.2Freilich sind die Esso-Häuser alles andere als ein gutes Beispiel für einen gelungenen Planungsprozess. An ›zu viel Bürger:innenbeteiligung‹ liegt das aber nicht – und es ist eine interessierte Falschbehauptung, wenn die Welt das in einem jüngst erschienenen Artikel so darstellt. Zu den Forderungen, die am offenen Mikrofon und an den aufgestellten Pinnwänden gesammelt wurden, zählen: geringere Verdichtung und Versiegelung, bezahlbare Mieten, mehr barrierefreie Wohnungen (die aktuelle Planung sieht sechs (!) rollstuhlgerechte Wohnungen im gesamten Holstenquartier vor), Raum für neue Wohnformen und die Verwendung ökologischer Baumaterialien.
Während die ›Bezirksversammlung von unten‹ vor dem Altonaer Rathaus Druck auf die Entscheider:innen aufbaute und Ideen für ein lebenswertes Quartier entwickelte, unternahm die zeitgleich stattfindende Bezirksversammlung im Rathaus – nichts. Da sich die Situation nicht verändert habe, gebe es auch nichts zu entscheiden. Man scheint dort auf weitere Winke des ›Schicksals‹ (d.h. des Marktes) zu warten. Dabei gälte es, jetzt umgehend zu handeln: den »Chaosinvestor« Adler/Consus enteignen, das Holstenareal vergesellschaften und es anschließend von gemeinwohlorientierten Genossenschaften und Baugemeinschaften bebauen lassen. Die Bewohner:innen Altonas hätten dafür jedenfalls schon einige Ideen.
Lukas Betzler
Der Autor ist Teil der Untiefen-Redaktion und schrieb hier bereits über das als Stadtmagazin firmierende Anzeigenblatt SZENE Hamburg.
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Das Hamburger Abendblatt schreibt trotzdem und entgegen aller Fakten von einem »harten Kurs« der Stadt »gegen die Adler Group«.
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Freilich sind die Esso-Häuser alles andere als ein gutes Beispiel für einen gelungenen Planungsprozess. An ›zu viel Bürger:innenbeteiligung‹ liegt das aber nicht – und es ist eine interessierte Falschbehauptung, wenn die Welt das in einem jüngst erschienenen Artikel so darstellt.
Für nur ein Wochenende im März war in Hamburg eine Ausstellung des Künstlers Gerrit Frohne-Brinkmann zu sehen. Seine Installationen waren der Vacanti-Maus gewidmet. Hätte man diesem skurrilen Hybridwesen nur besser gelauscht: Während nur wenige Meter entfernt die Impfgegner:innen marschierten, ließ sich von den Mäusen etwas von falscher Wissenschaftsfeindschaft erfahren.
Detail aus Gerrit Frohne-Brinkmanns Ausstellung »Earmouse«, März 2022. Foto: Heinrich Holtgreve
1997 veröffentlichte eine Forschungsgruppe aus Massachusetts um den Mediziner Joseph P. Vacanti die Ergebnisse ihrer mehrjährigen Forschung. Dem Team war es gelungen, auf dem Rücken von Mäusen Knorpelgewebe in Form einer menschlichen Ohrmuschel zu züchten. Das war eine wissenschaftliche, vor allem aber auch eine öffentliche Sensation: Denn die Earmouse, auch unter dem Namen Vacanti-Maus bekannt (es war wohl eine ganze Schar solcher Mäuse vonnöten, deshalb hat die Maus keinen Eigennamen wie das Klonschaf Dolly), bot einen bizarren, ja verstörenden Anblick.
Unheimlich und verstörend war diese Maus, weil da ein normal großes menschliches Ohr auf dem Rücken einer kleinen, nackten, rotäugigen Maus ›wuchs‹. Dieses Gewächs, über dem sich die dünne Mausehaut spannte, konnte nicht hören, war aber unverkennbar eine hochartifiziell geformte menschliche Ohrmuschel. Die Maus fungierte als Bioreaktor für dieses nichthörende Ohr – ein lebendes Medium, das ein ›Ersatzteil‹ bis zu seiner Entnahme spazieren trägt. Die Entnahme des gezüchteten Knorpelgewebes ließe sich zwar auch ohne eine Tötung des Mediums durchführen, doch ging es der Vacanti-Maus wie allen anderen Labormäusen auch: Sie wurde verbraucht bzw. »geopfert«, wie es in einem Paper der Forschungsgruppe hieß.[1]
Die Earmice und das an ihnen erstmals erfolgreich angewandte Verfahren bevölkern seitdem das kollektive Imaginäre auf der ganzen Welt. So ließ etwa Stelarc, ein zypriotisch-australischer Künstler, ab 2006 über zehn Jahre lang, von einigen Operationen begleitet, ein linkes menschliches Ohr auf seinem Arm wachsen. Stelarcs Absicht war es, das Ohr mit dem Internet zu verbinden und es so weltweit ›senden‹ zu lassen, was es an dem Ort ›hört‹, an dem sich sein Medium – der Künstler Stelarc – aufhält. Auch dieses knorpelige künstliche Ohr konnte natürlich nicht eigenständig hören, aber es war mit einem technischen Aufnahmegerät ausgestattet. Das Ohr darum herum war ›nur‹ Kunst.
Der Künstler Stelarc 2011 mit seinem künstlichen ›dritten Ohr‹. Foto: AltSylt Lizenz: CC BY-SA 2.0
Ohrmäuse aus Keramik
25 Jahre nachdem die Vacanti-Maus zur weltweiten Sensation wurde, widmete der Hamburger Künstler Gerrit Frohne-Brinkmann ihr nun eine Ausstellung im Projektraum ABC. Benannt nach der gleichnamigen Straße in der Neustadt, ist der Ort ABC – wie so viele Projekträume – eine Zwischenraumnutzung. Das Gebäude, ein Commerzbank-Investment-Piece aus den Neunzigern, passt zeitlich gut zur Vacanti-Maus. Am 12. und 13. März tummelte sich dort eine große Familie keramischer Mäuse auf dem Fußboden. Sie sind haarlos und rosa wie die nackten Vacanti-Mäuse. Und wie die Vacanti-Mäuse tragen sie alle ein menschliches Ohr auf dem Körper. Es scheint sie nicht zu stören.
Drei der Mäuse sitzen in übergroßen Muscheln, keramischen Fantasien von Meeresschneckengehäusen, an der Wand. Von dort tönt ein weißes Rauschen. Es sind jedoch nicht die Muscheln, die hier rauschen, sondern die Mäuse, besser wohl: die menschlichen Ohrmuscheln auf ihren Rücken. Die Mäuse sind verkabelt, so dass sie entgegen ihrer üblichen Aufgabe – und in entgegengesetzter Richtung zum ›Ohr‹ auf Stelarcs Arm – Schall senden. Sie empfangen nichts. Mit derlei Gangart- und Richtungswechseln ist bei Ausstellungen des 1990 geborenen Frohne-Brinkmann, der an der HFBK studierte, stets zu rechnen.
Keramische Formen, die stark unterschnittig sind, also negativ, konkav nach innen gewölbt, lassen sich nur mit großem Geschick modellieren. Das menschliche Ohr ist eine maximal komplizierte Form, sei es als Skulptur oder als gezüchtetes Ersatzohr (Ohren werden, weil sie so kompliziert zu modellieren sind, mittlerweile tatsächlich wie bei Stelarc an unauffälliger Stelle am Körper der Patient:innen nachwachsen gelassen, nachdem sie zuvor im Labor initial angezüchtet wurden).
Genauso wie das nachgezüchtete gehörlose Ohr ist auch die Form einer Meeresschnecke nur mühevoll zu modellieren, eben wegen ihrer Unterschnittigkeiten. Als keramischer Hohlkörper erzeugt die Form dann aber zweifellos auch ohne Verkabelung und künstliche Schallquelle das bekannte ›Meeresrauschen‹, das man hört, wenn man ein Meeresschneckengehäuse oder eine Muschel an sein Ohr legt. Dieses Rauschen ist allerdings weder die eingefangene Aufnahme eines Südseeurlaubs noch das akustisch verstärkte Fließgeräusch des eigenen Bluts, wie häufig angenommen wird. Vielmehr entsteht es, weil die Muschel die Umgebungsgeräusche aufnimmt, verstärkt und als undifferenziertes Rauschen wieder nach draußen sendet (also wieder in umgekehrter Richtung zur menschlichen Ohrmuschel, die den Schall aufnimmt und ihn, wenn sie denn hören kann, über das Trommelfell nach innen ans Gehirn weitergibt).
Die Maus als Schnittstelle zwischen Mensch und Natur
Die keramischen Ohrmäuse, die in den Meeresschnecken sitzen und das weiße Rauschen versenden, sind über ihre sehr langen Schwänze an die Kabelage hinter der Fußleiste angeschlossen. Auch die anderen Mäuse haben einen Kabel-Schwanz, bei ihnen ist er allerdings in normaler Mäuselänge abgeschnitten. Damit erinnern die Mäuse an eine der wohl wichtigsten Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine seit der Erfindung des Personal Computer: die Computermaus. Zu Earmouse-Zeiten hatte sich die heute auf beinahe jedem Schreibtisch zu findende Funktechnologie noch nicht durchgesetzt. Die meiste Zeit seit ihrer Erfindung in den 1960er Jahren hatten alle Mäuse einen ›Kabelschwanz‹, und so haben schon die Erfinder:innen der »X‑Y-Positionsanzeige für ein Anzeigesystem« (so die Bezeichnung der Patentanmeldung 1963) sie »Maus« getauft. Wäre sie damals bereits durch eine Funkverbindung ohne Schwanz ausgekommen, hätte man sie vermutlich Hamster genannt.
Während die Computermaus als Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine dient, bewegen sich medizinische Forschungen mit Labortieren an einer Schnittstelle zwischen Mensch und Tier. Seit Jahrzehnten forscht die Transplantationsmedizin an den Möglichkeiten, wie Tiere zu Bioreaktoren für funktionierende Organe werden können, also wie sie mehr sein können als Träger tauber Ohren aus Knorpelzellen. So tragen inzwischen spezielle, genetisch manipulierte Schweine transplantierbare Herzen spazieren – mit dem im Vergleich zur Ohrmaus entscheidenden Unterschied, dass dieses Herz zuerst für das Schwein arbeitet und nicht irgendwo auf seinem Rücken als Extraposten wächst.
Die mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit verfolgte Transplantation eines Schweineherzens in einen menschlichen Patienten am 7. Januar 2022 schien zuerst geglückt zu sein. Zwei Monate nach dem Eingriff jedoch starb der Mann, der das Implantat erhalten hatte. Vorerst ist das Experiment also gescheitert. Dennoch werfen derartige Xenotransplantationen für die Forschenden und für die Patient:innen schon jetzt die irrsten Fragen auf. Nicht zuletzt: Was bedeutet es, den Tod eines Säugetiers zu billigen, um selbst weiterleben zu können? Anders als bei Menschen, die einen Organspendeausweis besitzen, sich im Fall ihres Todes also bereiterklären Organe abzugeben, werden diese Schweine dezidiert als Organspender gezüchtet. Die an menschlichen Zwecken ausgerichtete Schweinezüchtung ist dabei kein Skandal, sie dient seit Jahrhunderten der Kotelett- und Wurstproduktion. Bemerkenswert ist aber der Transfer lebendiger Organe vom Tier zum Menschen – nicht als Nahrung, sondern als funktionale Inkorporation eines lebenswichtigen Organs. In Vorbereitung der Xenotransplantation vom Januar 2022 wurden etliche Gespräche mit religiösen Oberhäuptern diverser Konfessionen geführt. Sie alle stellten das gerettete Menschenleben über das Tierwohl.
Aufklärungsfeindschaft gestern und heute
Die Earmouse des Jahres 1997 brachte viele erbitterte Wissenschaftsgegner:innen auf den Plan, die »Gottes Schöpfung« in Gefahr sahen. Eine große Anzeige des Turning Point Project, eines Zusammenschlusses von mehr als 60 NGOs, warnte mit einem Foto der Earmouse vor (roter) Gentechnik und titelte: »Who plays God in the 21st Century?« Sie suggerierte fälschlicherweise, dass die abgebildete Maus genetisch modifiziert sei, und setzte ganz auf den schockierenden Effekt ihres Frankenstein-haften Aussehens. In einem menschlichen Ohr auf dem Rücken einer Maus meinte man den Inbegriff der zombification, der monströsen Selbstüberschätzung der Medizin erkennen zu können. Auch ohne großformatige Anzeigen verbreitete sich das Bild der Earmouse daher wahnsinnig schnell – dank ihrer verkabelten Verwandten, der Computermaus. Internetnutzer:innen verschickten das Bild massenhaft und häufig gänzlich dekontextualisiert per E‑Mail.
Eine verzerrte Spiegelung durch die Jahrzehnte zeigt uns eben diese Menschen heute als sogenannte »Impfgegner:innen«. Ihnen erscheint das (weiße) Rauschen des Internets als Rauschen ihres Bluts, ihres eigenen, heiligen, gesunden Körpers. Diese Überzeugung versenden sie, mit einer mittlerweile kabellosen Computermaus im WWW herumklickend, gerne nach außen – nur noch selten via E‑Mail, umso öfter aber in den Echokammern von Telegram-Gruppen und Youtube-Kanälen. Sie tun das im Glauben, es sei ihr eigener Gedanke, der da tönt, dabei sind sie nur eine die Außengeräusche verstärkende Hohlform – leere Muscheln (oder einfach Hohlköpfe).
Die Impfung wird von diesen Menschen abgelehnt, weil sie in die einzelnen Körper eindringt. In dieser Hinsicht gleicht die Impfgegnerschaft der Ablehnung von Xenotransplantationen oder eben der Transplantation eines auf dem Rücken einer Maus gezüchteten Ohrs. Dabei lässt sich beobachten, dass der Widerstand gegen derartige Operationen nicht aus ethischen Überlegungen, aus Sorge um das Tierwohl erwächst, sondern aus Angst um die Integrität des eigenen Körpers; im Fall der Impfungen obendrein abgemischt mit Sorgen um Selbstbestimmung, Misstrauen gegenüber Behörden und der Sehnsucht nach einer soliden Volks‑, also Infektionsgemeinschaft, die, so die Wunschvorstellung, als Herde insgesamt immun werden möge. Wir halten uns da lieber an die Mäuse: Sie sind zwar durchaus gesellig, aber Herdentiere sind sie nicht – ob mit oder ohne Ohr auf dem Rücken.
Nora Sdun, April 2022
Die Autorin gründete vor 18 Jahren zusammen mit Gustav Mechlenburg den Textem Verlag. Im Dezember 2016 erschien dort der Band All in, der eine Auswahl performativer Arbeiten Gerrit Frohne-Brinkmanns dokumentiert.
[1] In Nowosibirsk wurde 2013 ein Denkmal enthüllt, das den Labormäusen und ‑ratten, diesen so unsichtbaren wie unermüdlichen Streiter:innen für Aufklärung und wissenschaftlichen Fortschritt, gewidmet ist.