Schlanker Staat und schlanke Körper

Schlanker Staat und schlanke Körper

Mit der »Active City«-Stra­te­gie will Ham­burg sich als Sport­stadt pro­fi­lie­ren, den Stadt­raum even­ti­sie­ren und die Bevöl­ke­rung akti­vie­ren. Es geht also um mehr als etwas Bewe­gung im All­tag. Der Sport wird zum Trans­mis­si­ons­rie­men des vor­an­schrei­ten­den Umbaus von Stadt, Staat und Gesell­schaft ent­lang neo­li­be­ra­ler Pro­gramme. Nun steht eine erneute Olympia-Bewerbung im Raum.

Mehr als nur etwas Bewe­gung im All­tag: Die »Active City«-Strategie ist auch Aus­druck des Umbaus der Stadt ent­lang neo­li­be­ra­ler Pro­gramme. Para­dig­ma­tisch dafür ist die Hafen­City – sie wird die­sen Arti­kel foto­gra­fisch beglei­ten. Hier zu sehen ist ein Teil des »Baa­ken­parks«. Foto: privat.

Es ist keine zehn Jahre her: Ende Novem­ber 2015 stimmte eine Mehr­heit der Hamburger:innen aus guten Grün­den dage­gen, dass sich ihre Stadt als Aus­tra­gungs­ort der olym­pi­schen Spiele 2024 bewirbt. Gewor­den ist es dann Paris. Die Bil­der der dies­jäh­ri­gen Som­mer­spiele waren für Sport­se­na­tor Andy Grote »mit­rei­ßend und inspi­rie­rend«. Vor allem, so Grote, hät­ten sie »einen Ein­druck« davon ver­mit­telt, »wie es auch für Deutsch­land sein könnte.« Kein ›hätte sein kön­nen‹, son­dern ein in die Zukunft gerich­te­ter Kon­junk­tiv: Tat­säch­lich läuft die Stadt sich wie­der ein­mal warm, um die olym­pi­sche Fackel nach Ham­burg zu tra­gen – die­ses Mal soll es das Jahr 2040 werden.

Diese Pläne ste­hen im Zusam­men­hang mit der vom Ham­bur­ger Senat im Jahr 2022 beschlos­se­nen »Active City«-Strategie. Sie ist den meis­ten Hamburger:innen wohl bis­lang eher bei­läu­fig begeg­net, etwa in Form einer tem­po­rä­ren Sport­arena auf dem Hei­li­gen­geist­feld. Ein genaue­rer Blick auf diese Stra­te­gie lohnt sich jedoch. Sie ist Teil des vor­an­schrei­ten­den Umbaus von Stadt, Staat und Gesell­schaft. So besteht ein Ele­ment besag­ter Stra­te­gie, die auch aus der geschei­ter­ten Olympia-Bewerbung her­vor­ge­gan­gen ist, darin, noch mehr Gro­ße­vents nach Ham­burg zu holen. Ironman-Triathlons, Beachvolleyball-Weltmeisterschaften und nun wohl auch Olym­pia tra­gen, so die Idee, nicht nur zu einem der ver­kün­de­ten Ziele bei – der Akti­vie­rung der Bevöl­ke­rung. Die Groß-Events sol­len der »Marke Ham­burg« auch zu wei­te­rer inter­na­tio­na­ler Bekannt­heit ver­hel­fen. Vor dem Hin­ter­grund glo­ba­ler Stand­ort­kon­kur­renz ist das schließ­lich not­wen­dig und ver­spricht nicht zuletzt Gewinne in staat­li­chen wie pri­va­ten Kassen.

Es geht also um deut­lich mehr als ein wenig Sport und Bewe­gung im All­tag. Das ver­schweigt das Stra­te­gie­pa­pier auch gar nicht und darin liegt nicht das Pro­blem – ebenso wenig wie im (Breiten-)Sport selbst und sei­ner För­de­rung, die einen wei­te­ren gro­ßen Teil der Stra­te­gie aus­macht. Der moderne Sport war und ist seit jeher Pro­dukt und Pro­du­zent gesell­schaft­li­cher Ver­hält­nisse. Die Frage ist jedoch, wel­che Vor­stel­lun­gen von Gesell­schaft über den Sport in die poli­ti­sche Pra­xis über­führt wer­den. Im Falle der »Active City«-Strategie zeigt sich, wie eng sozi­al­de­mo­kra­ti­sches Regie­ren mitt­ler­weile mit einer neo­li­be­ra­len Pro­gram­ma­tik ver­wo­ben ist. Aus­zah­len dürfte sich das indes nur für die wenigs­ten Hamburger:innen. Die Stra­te­gie ver­spricht zwar mehr »Lebens­qua­li­tät« für alle – neun­zehn­mal kommt der Begriff allein im Kon­zept­pa­pier vor. Die Kehr­seite der Klimm­stange im Park und des even­ti­sier­ten Stadt­raums wird sich jedoch unter ande­rem in stei­gen­den Mie­ten und sozia­len Aus­schlüs­sen zeigen.

Die Kehr­seite der Klimm­stange im Park: stei­gende Mie­ten und soziale Aus­schlüsse. Foto: privat.

Ein Blick zurück: Olympia und die »wachsende Stadt« um das Jahr 2000

Der olym­pi­sche Traum begann in Ham­burg vor über 20 Jah­ren. Im Jahr 2002 hatte der Ham­bur­ger Senat unter Ole von Beust das Leit­bild »Metro­pole Ham­burg – Wach­sende Stadt« ver­ab­schie­det. Ein Teil die­ser Stra­te­gie bestand darin, die Som­mer­spiele im Jahr 2012 nach Ham­burg holen zu wol­len. In dem Leit­bild, so wird es auch anhand eines 2004 ver­öf­fent­lich­ten Arti­kels aus der Feder von Beusts deut­lich, war das Sport­event vor allem ein Mar­ke­ting­ve­hi­kel. Galt es doch ange­sichts beschwo­re­ner glo­ba­ler Stand­ort­kon­kur­renz »Ham­burg zu einer unver­wech­sel­ba­ren Marke [zu] machen«. Ganz neu war diese Idee nicht: Bereits im Jahr 1983 hatte der dama­lige sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Bür­ger­meis­ter Klaus von Dohn­anyi vom »Unter­neh­men Ham­burg« gespro­chen, das sich auf eine neue Stand­ort­po­li­tik ein­stel­len müsse.

Aber wieso eigent­lich sollte Ham­burg als Unter­neh­men agie­ren und sich selbst ver­mark­ten? Dafür lohnt es, in gebo­te­ner Kürze beim Leit­bild der 2000er Jahre und der his­to­ri­schen Situa­tion, die es her­vor­ge­bracht hat, zu ver­wei­len. Denn nicht nur fin­det sich der Begriff der »wach­sen­den Stadt« auch noch im aktu­el­len Stra­te­gie­pa­pier der »Active City« wie­der. Son­dern dar­über hin­aus wird in der Zeit um die Jahr­tau­send­wende eine stadt­po­li­ti­sche Matrix sicht­bar, die bis heute prä­gend ist.

Das Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« war eine Reak­tion auf die lang­an­hal­tende Krise der for­dis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nisse und des inter­ven­tio­nis­ti­schen Wohl­fahrts­staa­tes seit den 1970er Jah­ren.1Diese hat­ten sich im wirt­schaft­li­chen Auf­schwung des Wie­der­auf­baus nach dem Zwei­ten Welt­krieg her­aus­ge­bil­det. Ein hohes Wirt­schafts­wachs­tum ging ins­be­son­dere auf­grund des boo­men­den indus­tri­el­len Sek­tors mit Voll­be­schäf­ti­gung ein­her. Ideen staat­li­cher Pla­nung und öko­no­mi­scher Glo­bal­steue­rung gedach­ten nicht nur die Markt­kräfte zu besänf­ti­gen, son­dern auch den Klas­sen­kom­pro­miss durch Teil­habe aller an Wohl­stand und Kon­sum zu beför­dern. Ab den 1970er Jah­ren geriet die­ses Modell jedoch vor dem Hin­ter­grund einer kri­seln­den Welt­wirt­schaft in die Schief­lage. Erst­ma­lig stie­gen seit Ende des Krie­ges die Arbeits­lo­sen­zah­len wie­der, Indus­trie­be­triebe muss­ten schlie­ßen. Sin­kende Steu­er­ein­nah­men brach­ten auch den immer umfang­rei­che­ren Wohl­fahr­staat an seine Gren­zen. Nun wur­den Stim­men lau­ter, die Kon­zepte for­der­ten, die sich bereits in den 1930er Jah­ren her­aus­ge­bil­det hat­ten, dem dama­li­gen Abge­sang auf den laissez-faire-Kapi­ta­lis­mus in der Welt­wirt­schafts­krise jedoch nichts ent­ge­gen­set­zen konn­ten. Diese wer­den heute gemein­hin unter dem Label Neo­li­be­ra­lis­mus gefasst. Es speist sich aus Kon­zep­ten, die heute gemein­hin unter dem Label Neo­li­be­ra­lis­mus gefasst wer­den und unter ande­rem auf den Abbau (wohlfahrts-)staatlicher Ein­griffe, eine Hin­wen­dung zum Markt und die zuneh­mende Pri­va­ti­sie­rung staat­li­chen Eigen­tums zielen.

Kon­kur­renz um  Human­ka­pi­tal: Im Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« gal­ten groß­zü­gige und damit hoch­prei­sige Eigen­tums­woh­nun­gen – hier der Marco-Polo-Tower – als Stand­ort­fak­tor. Foto: privat.

In Ham­burg äußerte sich die Krise for­dis­ti­scher Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nisse darin, dass sich für die Stadt zen­trale Indus­trie­zweige wie etwa der Schiffs­bau samt Zulie­fe­rer­be­trie­ben nur bedingt hal­ten konn­ten. Auch die Einwohner:innenzahl nahm bis Ende der 1990er Jahre kon­ti­nu­ier­lich ab. Ergo musste die Stadt wach­sen, konnte dafür jedoch nicht auf die bis­he­rige indus­tri­elle Pro­duk­tion set­zen. Ver­stärkt kon­zen­trierte man sich etwa auf den Dienst­leis­tungs­sek­tor, den Tou­ris­mus und auf die soge­nannte Krea­tiv­bran­che. Ham­burg ver­stand sich zuneh­mend als Medien- und bald auch als Musi­cal­stadt. Die Stadt sah sich darin jedoch einem glo­ba­len Wett­be­werb um Human- und Finanz­ka­pi­tal aus­ge­setzt. Und die­ses Kapi­tal strömt, so die Vor­stel­lung, ins­be­son­dere in jene Metro­po­len, die über ent­spre­chende Stand­ort­fak­to­ren – und die ent­spre­chende Bekannt­heit – ver­fü­gen. Hier schließt sich nun der Kreis zu Olym­pia. Die Stadt setzte näm­lich nicht nur ver­mehrt auf wei­che Stand­ort­fak­to­ren wie Kul­tur und Sport­events. Gerade wäh­rend der Olympia-Bewerbung, so schrieb es Ole von Beust in obi­gem Arti­kel, stellte der Senat fest, »dass das Stand­ort­mar­ke­ting […] ver­stärkt wer­den muss«.

Eine wei­tere Folge der neu­jus­tier­ten Stadt­po­li­tik war die mas­sive Pri­va­ti­sie­rung zuvor staat­li­chen und genos­sen­schaft­li­chen Wohn­raums sowie des zukünf­ti­gen Woh­nungs­baus. Einer­seits lie­ßen sich so die klam­men Staats­kas­sen sanie­ren. Ande­rer­seits gal­ten grö­ßere und luxu­riö­sere (Eigentums-)Wohnungen als Stand­ort­fak­tor im Wett­be­werb um die begehr­ten unter­neh­me­ri­schen und krea­ti­ven Köpfe. Der Anteil an Sozi­al­woh­nun­gen sank in Ham­burg von 45 Pro­zent im Jahr 1980 auf 11 Pro­zent im Jahr 2010.2Ich ver­danke der Lek­türe von Arndt Neu­manns Unter­neh­men Ham­burg viele der hier nur knapp und daher sehr ver­kürzt wie­der­ge­ge­be­nen Ein­sich­ten. Vgl. Arndt Neu­mann, Unter­neh­men Ham­burg. Eine Geschichte der neo­li­be­ra­len Stadt, Göt­tin­gen 2018. Zwar ist das keine unmit­tel­bare Folge der Olympia-Bewerbung, doch kor­re­spon­diert die Ver­mark­tung bezie­hungs­weise Ver­markt­li­chung des Stadt­raums not­wen­di­ger­weise mit sei­ner Privatisierung.

Die Stadt als Unternehmen…

Das Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« war vor allem von einem Papier der Unter­neh­mens­be­ra­tung McK­in­sey inspi­riert. Wie es Dohn­anyi gefor­dert hatte, gerierte sich Ham­burg ab den 2000er Jah­ren zuneh­mend als Unter­neh­men. Für die »Active City«-Strategie beauf­tragte die Behörde für Inne­res und Sport nun keine Unter­neh­mens­be­ra­tung, son­dern das pri­vat­wirt­schaft­li­che Ham­bur­gi­sche Welt­Wirt­schafts­in­sti­tut (HWWI), das dar­auf­hin im Jahr 2020 eine Stu­die über die Öko­no­mi­schen Effekte einer vita­len Sport­stadt ver­öf­fent­lichte. Gegen­über dem Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« zeigt sich: Sport und Sport­events sol­len nicht mehr aus­schließ­lich der Hamburg-PR die­nen. Es geht auch nicht mehr allein um die För­de­rung des Breiten- und Leis­tungs­sports, wie noch bei den Vor­gän­ge­rin­nen der aktu­el­len Stra­te­gie.3Ver­wie­sen sei auf den 2016 beschlos­se­nen »Mas­ter­plan Active­City« und die »Deka­denstra­gie Sport« aus dem Jahr 2011. Mit der »Active City«-Strategie sol­len durch eine akti­vierte Bevöl­ke­rung, so die Stu­die, nun auch »Pro­duk­ti­vi­täts­ef­fekte« auf indi­vi­du­el­ler Ebene erzielt wer­den: »gerin­gere Aus­fall­zei­ten, bes­sere psy­chi­sche Gesund­heit und höhere Motivation«.

In der Logik der HWWI-Studie fun­giert die Stadt in der Tat als Unter­neh­men. Sie tätigt Inves­ti­tio­nen in der Erwar­tung von Gewin­nen. Es geht nicht zuvor­derst um das das gute Leben für alle, son­dern um schwarze Zah­len in der Staats­kasse. So errech­ne­ten die Wissenschaftler:innen des HWWI für das Jahr 2017 einen »Gesamt­ef­fekt von rund 2,4 Mil­li­ar­den Euro Wert­schöp­fung«. Jeder von der Stadt in den Sport inves­tierte Euro gene­riere »lang­fris­tig eine öko­no­mi­sche Wert­schöp­fung von rund zwei Euro«. Über die Hälfte die­ser Ein­nah­men solle sich wie­derum aus soge­nann­ten Gesundheits- und Wohl­fahrts­ef­fek­ten spei­sen. Eine akti­vierte Bevöl­ke­rung sei nicht nur sel­te­ner krank, ver­ur­sa­che weni­ger Kos­ten und habe mehr Zeit zu arbei­ten. Der Sport hätte auch »posi­tive Aus­wir­kun­gen auf die Moti­va­ti­ons­fä­hig­keit von Men­schen, deren Pro­duk­ti­vi­tät oder Teil­habe am sozia­len Leben«.

…und das unternehmerische Selbst

Bewe­gung, Sport und Spiel sind die­sem Den­ken zufolge nicht in ers­ter Linie wich­tig, weil sie etwa Freude berei­ten. Sie wer­den zunächst und vor allem als Inves­ti­tio­nen ver­stan­den. Eine Inves­ti­tion, die der Stadt­staat in den Kol­lek­tiv­kör­per der Bevöl­ke­rung tätigt, sowie Inves­ti­tio­nen, die die ange­ru­fe­nen Sub­jekte in ihre Indi­vi­du­al­kör­per vornehmen.

Doch wie wird aus die­ser markt­för­mi­gen Logik eine all­täg­li­che Pra­xis? Ein Bei­spiel dafür ist die »Active City«-App, die die Stadt vor eini­gen Jah­ren ent­wi­ckeln ließ. Diente sie anfäng­lich vor allem dazu, einen Über­blick über Sport­an­ge­bote zu erhal­ten, kamen nach und nach neue Funk­tio­nen hinzu. Die App adap­tierte darin Tech­ni­ken des soge­nann­ten Self-Trackings – also der indi­vi­du­el­len Daten­auf­nahme zur Selbst­op­ti­mie­rung. Aus dem Stadt­raum wurde ein vir­tu­el­ler »Play­ground«. Die Nutzer:innen zeich­nen darin per Schritt­zäh­ler ihre Akti­vi­tät etwa bei der Lauf­runde im Park auf und sam­meln »Coins«. Für »jede Bewe­gung«, so heißt es in der Beschrei­bung der App, wer­den »Punkte gut­ge­schrie­ben«. Die »Coins« brin­gen »satte Extra-Punkte«. In die­sem digi­ta­len Pan­op­ti­kum, so die Idee, sta­cheln die Nutzer:innen sich selbst und unter­ein­an­der zu mehr Bewe­gung an und ver­bes­sern ste­tig ihr »Wochen-Level« – Ver­lo­sun­gen für die Best­plat­zier­ten inklu­sive. Dass die Nutzer:innen nun Mün­zen sam­meln, wäh­rend sie sport­lich aktiv sind, ist eine schöne Alle­go­rie: So wie die Stadt als Unter­neh­men tätig ist, sol­len ihre Einwohner:innen zu Unternehmer:innen ihrer selbst werden.

Diese Logik kommt nicht von unge­fähr. Das HWWI ist ein pri­vat­wirt­schaft­lich finan­zier­ter neo­li­be­ra­ler Think Tank, der seit jeher per­so­nell wie ideo­lo­gisch mit ein­schlä­gi­gen Insti­tu­tio­nen wie der Initia­tive Neue Soziale Markt­wirt­schaft oder der Stif­tung Ord­nungs­po­li­tik ver­bun­den ist. Dass die dort ver­brei­te­ten Ideen mitt­ler­weile fes­ter Bestand­teil sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Poli­tik sind, wurde zu Beginn der 2000er Jahre mit dem Wan­del vom sor­gen­den zum akti­vie­ren­den Sozi­al­staat in der »Agenda 2010« der rot­grü­nen Koali­tion deut­lich. Der der­zei­tige rot­grüne Ham­bur­ger Senat schreibt im Stra­te­gie­pa­pier aus dem Jahr 2022: »Active Citi­zens« sol­len »Ver­ant­wor­tung über­neh­men« und »nicht die Frage stel­len, was der Staat für sie tun kann«. Die akti­vier­ten Einwohner:innen »fra­gen, was sie für ihre Stadt, ihren Staat und ihre Gesell­schaft tun können.«

In den neuen Regi­men der Arbeit las­sen sich Arbeits- und Frei­zeit kaum mehr tren­nen. Der Sport dient nicht allein der Stei­ge­rung der Pro­duk­ti­vi­tät der Mitarbeiter:innen – er wird selbst zu einer markt­för­mi­gen Pra­xis. Foto: privat.

Im »Zeitalter der Fitness«

Dass eine wei­tere Pri­va­ti­sie­rung und Even­ti­sie­rung des Stadt­raums – auch durch eine nun dro­hende Olympia-Bewerbung – mit stei­gen­den Mie­ten ein­her­geht und den öko­no­mi­schen Druck auf den Ein­zel­nen erhöht, hat die Kam­pa­gne NOlym­pia bereits im Jahr 2015 kri­ti­siert. Aber wo liegt das Pro­blem einer akti­vie­ren­den Poli­tik, die wie im Fall der »Active City«-Strategie doch vor­der­grün­dig zu mehr Bewe­gung im All­tag anre­gen möchte? Der His­to­ri­ker Jür­gen Mart­schukat spricht, so auch der Titel sei­nes Buchs, vom »Zeit­al­ter der Fit­ness«, des­sen Beginn nicht nur zeit­lich, son­dern auch ideo­lo­gisch mit der neo­li­be­ra­len Wende seit den 1970er Jah­ren zusam­men­fiel. »Das Indi­vi­duum soll an sich arbei­ten, das Leben im Griff haben, sich fit machen, für die eigene Leis­tung Sorge tra­gen«. Die Öko­no­mi­sie­rung des Sozia­len und die stär­ker ein­ge­for­derte Eigen­ver­ant­wor­tung pro­du­zier­ten jedoch neue soziale Aus­schlüsse und ver­schärf­ten bestehende (Klassen-)Gegensätze.

Das »Active City«-Strategiepapier schwärmt indes vom inklu­si­ven Cha­rak­ter des Sports. Dage­gen lässt sich mit Mart­schukat ein­wen­den, dass Fit­ness stets um Fat­ness kreist und gerade Über­ge­wich­tige häu­fig mehr­fa­cher Dis­kri­mi­nie­rung ent­lang von race, class und gen­der aus­ge­setzt sind – der His­to­ri­ker ver­weist hier auf die Situa­tion in den USA. Die neuen Exklu­si­ons­me­cha­nis­men wer­den jedoch nicht mehr bio­lo­gi­siert in dem Sinne, dass sie als unver­än­der­bar gel­ten. Für die Fit­ness ist das Indi­vi­duum ebenso ver­ant­wort­lich wie für die damit ver­bun­dene eigene Gesund­heit und vor allem auch den wirt­schaft­li­chen Erfolg. Wer, aus wel­chen guten Grün­den auch immer, nicht mit­hal­ten kann, hat eben nicht genug inves­tiert und bleibt auf der Strecke.

Wohl nicht zufäl­lig schweigt das »Active City«-Strategiepapier zu öko­no­mi­scher Ungleich­heit. So ver­spricht die neo­li­be­rale Stadt, deren Kon­tu­ren sich seit den 2000er Jah­ren immer deut­li­cher abzeich­nen, in ihren Pro­gram­men und Leit­bil­dern zwar eine höhe­ren Lebens­qua­li­tät für alle. Von gro­ßen Sport­events und einer akti­vier­ten Bevöl­ke­rung wer­den jedoch nur wenige pro­fi­tie­ren. Einer erneu­ten Olympia-Bewerbung gilt es daher wie­der ent­schie­den ent­ge­gen­zu­tre­ten. Wenn sie tat­säch­lich kommt, wäre sie jedoch als PR-Vehikel für die »Marke Ham­burg« vor allem Aus­druck einer tie­fer­lie­gen­den Ursa­che: des Umbaus von Stadt, Staat und Gesell­schaft ent­lang neo­li­be­ra­ler Programme. 

Johan­nes Rad­c­zinski, Okto­ber 2024

Der Autor über­denkt seine Argu­mente am liebs­ten bei bei einer Jog­ging­runde im Park – »Coins« sam­melt er dabei aber noch nicht. Auf Untie­fen schrieb er zuletzt über den soge­nann­ten »grü­nen Bun­ker«.

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    Diese hat­ten sich im wirt­schaft­li­chen Auf­schwung des Wie­der­auf­baus nach dem Zwei­ten Welt­krieg her­aus­ge­bil­det. Ein hohes Wirt­schafts­wachs­tum ging ins­be­son­dere auf­grund des boo­men­den indus­tri­el­len Sek­tors mit Voll­be­schäf­ti­gung ein­her. Ideen staat­li­cher Pla­nung und öko­no­mi­scher Glo­bal­steue­rung gedach­ten nicht nur die Markt­kräfte zu besänf­ti­gen, son­dern auch den Klas­sen­kom­pro­miss durch Teil­habe aller an Wohl­stand und Kon­sum zu beför­dern. Ab den 1970er Jah­ren geriet die­ses Modell jedoch vor dem Hin­ter­grund einer kri­seln­den Welt­wirt­schaft in die Schief­lage. Erst­ma­lig stie­gen seit Ende des Krie­ges die Arbeits­lo­sen­zah­len wie­der, Indus­trie­be­triebe muss­ten schlie­ßen. Sin­kende Steu­er­ein­nah­men brach­ten auch den immer umfang­rei­che­ren Wohl­fahr­staat an seine Gren­zen. Nun wur­den Stim­men lau­ter, die Kon­zepte for­der­ten, die sich bereits in den 1930er Jah­ren her­aus­ge­bil­det hat­ten, dem dama­li­gen Abge­sang auf den laissez-faire-Kapi­ta­lis­mus in der Welt­wirt­schafts­krise jedoch nichts ent­ge­gen­set­zen konn­ten. Diese wer­den heute gemein­hin unter dem Label Neo­li­be­ra­lis­mus gefasst. 
  • 2
    Ich ver­danke der Lek­türe von Arndt Neu­manns Unter­neh­men Ham­burg viele der hier nur knapp und daher sehr ver­kürzt wie­der­ge­ge­be­nen Ein­sich­ten. Vgl. Arndt Neu­mann, Unter­neh­men Ham­burg. Eine Geschichte der neo­li­be­ra­len Stadt, Göt­tin­gen 2018.
  • 3
    Ver­wie­sen sei auf den 2016 beschlos­se­nen »Mas­ter­plan Active­City« und die »Deka­denstra­gie Sport« aus dem Jahr 2011.

Chronik antisemitischer Vorfälle in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023

Chronik antisemitischer Vorfälle in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023

Seit dem Mas­sa­ker der Hamas am 07. Okto­ber 2023 gibt es auch in Ham­burg eine Welle anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle. Wir haben gemein­sam mit dem Bil­dungs­ver­ein Bag­rut e.V. eine Chro­nik über das ver­gan­gene Jahr erstellt, um das Aus­maß und die For­men des Anti­se­mi­tis­mus sicht­bar zu machen.

Anti­se­mi­ti­sche Bil­der, Tags und Graf­fiti aus Ham­burg nach dem 07.10.2023. Bild: Untie­fen

Am 7.10.2023 ver­übte die isla­mis­ti­sche Ter­ror­or­ga­ni­sa­tion Hamas auf israe­li­schem Boden ein geno­zi­da­les, anti­se­mi­ti­sches und miso­gy­nes Mas­sa­ker. Die grau­same und wahl­lose Ermor­dung von 1.200 Men­schen, die Ver­ge­wal­ti­gung zahl­rei­cher Frauen und die Ent­füh­rung von 250 Per­so­nen bedeu­te­ten eine Zäsur selbst in der an gewalt­vol­len Ereig­nis­sen kaum armen Geschichte des Juden­has­ses. Die liba­ne­si­sche, vom Iran gesteu­erte Miliz His­bol­lah star­tete am 8.10.2023 in Soli­da­ri­tät mit der Hamas eine neue Angriffs­welle gegen Isra­els Nor­den; die Houthi-Milizen im Jemen schlos­sen sich mit ähn­li­chen Angriffs­ver­su­chen an. Die mili­tä­ri­sche Reak­tion der israe­li­schen Streit­kräfte dau­ert bis heute an. Die Kämpfe haben im Gaza­strei­fen bereits viele Tau­send zivile Opfer gefor­dert und große Teile der dor­ti­gen Infra­struk­tur zerstört.

Welt­weit, und auch in Ham­burg, for­mierte sich nach einer nur kur­zen Schock­starre eine Welle anti­se­mi­ti­scher und isra­el­feind­li­cher Gewalt in Wort und Tat – auf Wän­den, auf den Stra­ßen, in den Hör­sä­len, in den digi­ta­len Medien. Die Gewalt rich­tet sich gegen (ver­meint­li­che) Jüdin­nen und Juden, gegen (ver­meint­lich) jüdi­sche und israe­li­sche Ein­rich­tun­gen, gegen mit Israel soli­da­ri­sche oder auch ledig­lich anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Demons­trie­rende, Aktivist:innen oder Künstler:innen, Kul­tur­zen­tren, Clubs oder Bars und viele weitere.

Die Fol­gen für jüdi­sches Leben in Hamburg

Wel­che Fol­gen die­ses gewalt­tä­tige Klima für Jüdin­nen und Juden in Ham­burg hat, berich­tete uns ein­drück­lich Rebecca Vaneeva. Sie ist der­zeit Prä­si­den­tin des Ver­bands jüdi­scher Stu­die­ren­der Nord. Die Zunahme anti­se­mi­ti­scher Anfein­dun­gen führt ihr zu Folge unter den Mit­glie­dern ihres Ver­ban­des zu einem Rück­zug in die Anony­mi­tät. Jüdi­sche Iden­ti­tät wird ver­steckt. Im öffent­li­chen Auf­tre­ten zen­sie­ren Jüdin­nen und Juden sich zuneh­mend selbst, um keine Angriffs­flä­che zu bie­ten: »Beson­ders an den Hoch­schu­len war die stän­dige Prä­senz isra­el­feind­li­cher und anti­se­mi­ti­scher Pro­teste schwer erträg­lich«, so Vaneeva.

Beson­ders an den Hoch­schu­len war die stän­dige Prä­senz isra­el­feind­li­cher und anti­se­mi­ti­scher Pro­teste schwer erträglich

Gegen­über dem Zeit­raum vor dem 07. Okto­ber hat sich in ihrer Wahr­neh­mung die Lage »auf jeden Fall ver­schlim­mert«. Vaneeva kri­ti­siert gegen­über Untie­fen: »Jüdi­sche Stu­die­rende und unser Ver­band erfah­ren zwar ver­ein­zelt Soli­da­ri­tät, aber es gibt keine aktive Gegen­be­we­gung gegen Anti­se­mi­tis­mus.« Woran fehlt es aus ihrer Sicht kon­kret? »Es bräuchte Safe Spaces, Anlauf­stel­len, die kon­se­quente Mode­ra­tion von Online-Inhalten und auch straf­recht­li­che Kon­se­quen­zen für Terror-Propaganda. Würde das ähn­li­che enga­giert ver­folgt wie etwa die ras­sis­ti­schen Gesänge in dem berüch­tig­ten ›Sylt-Video‹, wäre schon viel gewon­nen«. Die Hoch­schu­len machen es sich ihrer Mei­nung nach etwa bei anti­se­mi­ti­schen und isra­el­feind­li­chen Ver­stal­tun­gen zu bequem. Terror-relativierende Semi­nare und Vor­träge, die unter dem Deck­man­tel von Hoch­schul­grup­pen nahezu anonym orga­ni­siert wer­den kön­nen, wer­den fast immer tole­riert, selbst wenn ein­schlä­gige Aktivist:innen betei­ligt sind.

Es gibt einen ver­brei­te­ten Selbst­be­trug über die Kom­ple­xi­tät des Phä­no­mens Antisemitismus.

Den Umgang mit den ver­schie­de­nen For­men von Anti­se­mi­tis­mus bezeich­net Rebecca Vaneeva ins­ge­samt als »selek­tiv«, denn: »Es gibt einen ver­brei­te­ten Selbst­be­trug über die Kom­ple­xi­tät des Phä­no­mens Anti­se­mi­tis­mus. Rechts­extre­mer Anti­se­mi­tis­mus wird zum Glück weit­ge­hend ver­ur­teilt. Es han­delt sich aber auch um ein mus­li­mi­sches und ein lin­kes Phä­no­men. Unsere Mit­glie­der berich­ten uns, dass sogar die Mehr­zahl der Anfein­dun­gen, die sie erle­ben, aus mus­li­mi­schen und lin­ken Milieus kommen«.

Wie ist die Daten­lage in Hamburg?

Die­ser »selek­tive Umgang« wird in Ham­burg auch dadurch gestützt, dass es, anders als in ande­ren Bun­des­län­dern, keine öffent­li­che Doku­men­ta­tion anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle gibt. Abseits der v.a. durch Kleine Anfra­gen in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft[1] ver­öf­fent­lich­ten Daten der Poli­zei, die auf zur Anzeige gebrach­ten Delik­ten von Hass­kri­mi­na­li­tät basie­ren, exis­tiert offen­bar keine sys­te­ma­ti­sche Samm­lung. Gegen­über dem Vor­jah­res­zeit­raum haben sich laut die­sen Daten die Fälle anti­se­mi­ti­scher Hass­kri­mi­na­li­tät im 4. Quar­tal 2023 ver­fünf­facht. Bun­des­weite Zah­len des Bun­des­kri­mi­nal­amts zur „poli­tisch moti­vier­ten Kri­mi­na­li­tät“ (PMK) und des Bun­des­ver­bands Recherche- und Infor­ma­ti­ons­stel­len Anti­se­mi­tis­mus (RIAS) wei­sen in die­selbe Richtung.

Das zivil­ge­sell­schaft­li­che Moni­to­ring betreibt in Ham­burg die 2021 gegrün­dete, öffent­lich geför­derte digi­tale Hinweis- und Mel­de­stelle memo. Sie ver­öf­fent­li­che aller­dings bis­lang die Fall­zah­len für rechte, ras­sis­tisch und anti­se­mi­tisch moti­vierte Angriffe nur zusam­men­ge­fasst. In einem im Som­mer 2024 vor­ge­leg­ten Bericht ver­öf­fent­lichte die Trä­ge­rin der Mel­de­stelle, die Bera­tungs­stelle empower, für 2023 genauere Zah­len und berich­tete 282 dort bekannt gewor­dene Fälle von Anti­se­mi­tis­mus in Ham­burg. Nach dem 7. Okto­ber ver­zeich­nete man auch hier einen star­ken Anstieg.

Aber: Alle ver­füg­ba­ren Daten deu­ten dar­auf hin, dass es ein gro­ßes Dun­kel­feld gibt. In einer eben­falls im Som­mer 2024 ver­öf­fent­lich­ten Stu­die der Aka­de­mien der Poli­zei Ham­burg und Nie­der­sach­sen gaben 77 % der befrag­ten Ham­bur­ger Jüdin­nen und Juden an, inner­halb des ver­gan­ge­nen Jah­res Anti­se­mi­tis­mus erfah­ren zu haben. Die Stu­die schätzt den Anteil unbe­kann­ter Fälle auf 80 %. Und: die Daten ver­ra­ten nichts über die kon­kre­ten Fälle. Wer sind die Täter, wer die Geschä­dig­ten? Wel­che Ideo­lo­gien ste­hen jeweils dahinter?

Eine öffent­li­che Chro­nik für das Jahr nach 07/10

Auf­grund die­ser offe­nen Fra­gen haben wir uns ent­schlos­sen, selbst eine Chro­nik anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle in Ham­burg seit dem 7. Okto­ber 2023 anzu­le­gen. Damit wol­len wir einen Ein­druck vom Aus­maß und den ver­schie­de­nen For­men des Anti­se­mi­tis­mus in Ham­burg ver­mit­teln. Und Ent­glei­sun­gen in Erin­ne­rung hal­ten, die meist allzu schnell in Ver­ges­sen­heit gera­ten. Wir haben dazu aus ver­schie­de­nen Quel­len eine Liste von der­zeit 187 anti­se­mi­ti­schen Vor­fäl­len für den Zeit­raum 7.10.2023 bis 7.10.2024 zusam­men­ge­stellt. Dar­un­ter sind Pres­se­be­richte, online doku­men­tierte Vor­fälle, per­sön­li­che Berichte aus der jüdi­schen Com­mu­nity und von ande­ren Betrof­fe­nen sowie die genann­ten, durch die Anfra­gen in der Bür­ger­schaft ver­öf­fent­lich­ten Quar­tals­zah­len zu Hass­kri­mi­na­li­tät. Diese Moment­auf­nahme für das Jahr nach dem 7. Okto­ber kann und will aber natür­lich nicht eine sys­te­ma­ti­sche Erhe­bung und ein ent­spre­chen­des insti­tu­tio­na­li­sier­tes Moni­to­ring erset­zen. Das bleibt notwendig.

Was wir erfasst haben – und was nicht

Bekannt­lich ist die Frage, was als anti­se­mi­tisch ein­zu­ord­nen ist, durch­aus umstrit­ten. Wir haben uns an der Arbeits­de­fi­ni­tion Anti­se­mi­tis­mus der Inter­na­tio­nal Holo­caust Remem­brance Alli­ance (IHRA) von 2019 sowie der Sys­te­ma­tik des Bun­des­ver­bands RIAS ori­en­tiert. Diese unter­schei­det „ver­let­zen­des Ver­hal­ten“, „Bedro­hung“, „Angriff“, „(extreme) Gewalt“, „(gezielte) Sach­be­schä­di­gung“ und „Mas­sen­zu­schrif­ten“. Das bedeu­tet, die Fälle rei­chen poten­zi­ell von ein­schlä­gi­gen Äuße­run­gen oder anti­se­mi­tisch moti­vier­ten Ver­an­stal­tun­gen bis hin zu kör­per­li­cher Gewalt.

Bei eini­gen Vor­fäl­len, die wir recher­chie­ren konn­ten, ist nicht ohne Wei­te­res zu klä­ren, ob sie nach der ver­wen­de­ten Sys­te­ma­tik anti­se­mi­tisch genannt wer­den kön­nen.[2] Meist des­halb, weil über den Kon­text und/ oder den kon­kre­ten Ablauf wenig bekannt ist. Wir haben daher nur Fälle auf­ge­nom­men, bei denen der anti­se­mi­ti­sche Gehalt bzw. eine ent­spre­chende Inten­tion deut­lich erkenn­bar ist. Um unse­rer Ver­fah­ren trans­pa­rent zu machen, haben wir in Anhang 1 (unter der Tabelle) drei Bei­spiele für Fälle, deren Kate­go­ri­sie­rung wir inten­si­ver dis­ku­tiert haben, zusam­men­ge­stellt und unsere Ent­schei­dung kurz skizziert.

Nicht auf­ge­nom­men haben wir etwa einige Fälle von – gleich­wohl ein­deu­ti­gem – Isra­el­hass. Das meint die Dämo­ni­sie­rung Isra­els, z.B. als »Apart­heid­staat« oder als »kolo­nial«, die durch­aus in der Pra­xis meist anti­se­mi­tisch, d.h. juden­feind­lich gemeint sein kann bzw. die prak­tisch oft eine sol­che Wir­kung hat. Ähn­lich sind wir mit eini­gen offen­sicht­lich fal­schen Dar­stel­lun­gen des 7. Okto­bers (etwa als bloße Ver­tei­di­gung, als Wider­stand o.Ä.) umge­gan­gen. Unser Haupt­au­gen­merk lag dar­auf, eine mög­lichst kon­sis­tente Liste zu erzeugen.

Das bedeu­tet auch: nicht nur gab es mit Sicher­heit in Ham­burg seit dem 7. Okto­ber 2023 mehr Fälle der Art, wie wir sie zusam­men­ge­tra­gen haben. Son­dern Anti­se­mi­tis­mus bedient sich im gegen­wär­ti­gen kul­tu­rel­len Klima noch wei­te­rer Sujets und Tech­ni­ken. Dass sie nicht immer ein­deu­tig als anti­se­mi­tisch erkenn­bar sind, ist dabei durch­aus beab­sich­tigt – und Teil des Pro­blems im Umgang mit dem Anti­se­mi­tis­mus. Er ist nach Ausch­witz in der BRD – noch – mit einem öffent­li­chen Tabu belegt und wird eher indi­rekt geäu­ßert. Die Kom­mu­ni­ka­tion auf Umwe­gen, in Codes, Schlag­wor­ten und auf Ein­ver­ständ­nis zie­len­den Andeu­tun­gen dient dazu, die­ses Tabu zu umge­hen. Kaum jemand bezeich­net sich selbst als Anti­se­mi­ten. Im Gegen­teil wird der Hin­weis auf anti­se­mi­ti­sche Gehalte und Wir­kun­gen in der Pra­xis allzu oft als „Anti­se­mi­tis­mus­vor­wurf“ abge­wehrt.[3]

Schluss­fol­ge­run­gen

Unsere Liste bestä­tigt die poli­ti­sche Ein­schät­zung Rebecca Vanee­vas: bei den von uns recher­chier­ten Fäl­len han­delt es sich, soweit erkenn­bar, viel­fach um selbst­er­klärt „pro-palästinensisch“, also natio­na­lis­tisch und/oder anti­im­pe­ria­lis­tisch gerecht­fer­tigte Taten. Der rechts­extreme Anti­se­mi­tis­mus mit posi­ti­vem Bezug auf den Natio­nal­so­zia­lis­mus oder als Rela­ti­vie­rung des Holo­causts sowie ein All­tags­an­ti­se­mi­tis­mus aus der „Mitte der Gesell­schaft“ (z.B. Juden seien „ganz anders als wir“) spie­len aller­dings nach wie vor eine nicht zu unter­schät­zende Rolle.

In der unten­ste­hen­den Tabelle haben wir nicht alle 187 Fälle auf­ge­nom­men, son­dern nur exem­pla­ri­sche, die die ver­schie­de­nen For­men des Anti­se­mi­tis­mus und ihre Gewich­tung in Ham­burg mög­lichst gut illus­trie­ren. Der voll­stän­dige Daten­satz kann auf Anfrage zugäng­lich gemacht werden.

Unsere Samm­lung für das Jahr nach dem 7. Okto­ber 2023 kann aus den genann­ten Grün­den kei­nen Anspruch auf Voll­stän­dig­keit oder Reprä­sen­ta­ti­vi­tät erhe­ben. Die aller­meis­ten Vor­fälle wer­den nie gemel­det oder öffent­lich bekannt. Daher möch­ten wir Sie herz­lich bit­ten: Brin­gen Sie ent­spre­chende Fälle ggf. zur Anzeige und mel­den Sie sie in jedem Fall einer Mel­de­stelle wie dem Bun­des­ver­band RIAS. Falls Sie von wei­te­ren Vor­fäl­len im zurück­lie­gen­den Jahr in Ham­burg wis­sen, berich­ten Sie uns bitte davon. Wir wer­den die Chro­nik dann aktualisieren.

Ein gemein­sa­mes Pro­jekt von Untie­fen und dem Bil­dungs­ver­ein Bag­rut e.V., bear­bei­tet von Felix Breu­ning und Flo­rian Hessel.

Wann?Was?Wo?Quelle
10/8/2023Anti­se­mi­ti­scher Kom­men­tar auf der Instgram-Seite von Bag­rut e.V.: »Dann ver­pisst euch ein­fach aus deren Gebie­ten! Wieso müsst ihr wei­ter­hin sol­che kolo­nia­lis­ten [sic!] sein! Apart­heids Süd­afrika und Nazi Deutsch­land kön­nen von euch noch ne Menge ler­nen [wei­nen­des Emoji]«Otten­senInsta­gram
10/9/2023Über­griff auf isra­els­o­li­da­ri­sche Demons­tran­tin­nen »In Ham­burg sind nach einer Soli­da­ri­täts­kund­ge­bung für Israel zwei Teil­neh­me­rin­nen ange­grif­fen wor­den. […] Die bei­den 32 und 47 Jahre alten Frauen waren nach der Kund­ge­bung mit dem Abbau beschäf­tigt, als sie plötz­lich atta­ckiert wur­den. Zwei junge Män­ner grif­fen sie von hin­ten an, schlu­gen und tra­ten auf die Frauen ein. Dabei ris­sen sie ihnen auch eine Israel-Flagge aus der Hand und tram­pel­ten auf ihr herum.«Alt­stadtNDR
10/20/2023Anti­se­mi­ti­sche Flyer in St. Georg »Einige Men­schen ver­teil­ten dort [vor den gut besuch­ten Moscheen im Stadt­teil St. Georg] Flyer, auf denen die Angriffe Isra­els auf den Gaza-Streifen kri­ti­siert wur­den.« Dar­auf ver­wen­dete Aus­drü­cke sind u.a.: »Ver­bre­che­ri­sche Zio­nis­ten«, »Zio­nis­ten­ge­bilde«, »Geno­zid«. (Anm.: Der Begriff »Zio­nis­ten­ge­bilde« ruft das anti­se­mi­ti­sche Kli­schee auf, Juden wären nicht zum Auf­bau eines »nor­ma­len« Staa­tes fähig und/oder spricht dem Staat grund­sätz­lich das Exis­tenz­recht ab.)St. GeorgNDR
10/20/2023NDR-Moderator und Centralcongress-Betreiber Michel Abdol­lahi nutzt in IG-Video anti­se­mi­ti­sche Ste­reo­type, behaup­tet u.a., Israel wolle den Men­schen im Gaza-Streifen »bis zum letz­ten Bluts­trop­fen alles wegnehmen«. Alt­stadtX (Twit­ter)
10/23/2023Aus­schrei­tun­gen und Paro­len in Har­burg: »Am Mon­tag­abend hat es in Hamburg-Harburg Ran­dale von Jugend­li­chen und jun­gen Män­nern gege­ben. Vor Ort wur­den rechts­extreme und isra­el­feind­li­che Bot­schaf­ten ver­brei­tet. Nach Anga­ben der Poli­zei ver­sam­mel­ten sich ab 18 Uhr rund 40 Jugend­li­che und junge Män­ner am Har­bur­ger Ring. Bis 1 Uhr nachts sol­len sie dort für Unruhe gesorgt haben. Unter ande­rem spray­ten die Jugend­li­chen im Alter zwi­schen 13 und 21 Jah­ren isra­el­feind­li­che Paro­len und zün­de­ten offen­bar auch Böl­ler. Die Poli­zei spricht von poli­tisch moti­vier­ten Straf­ta­ten im Zusam­men­hang mit den Nahost-Konflikt. Vor Ort äußer­ten sich einige Jugend­li­che rechts­extrem und isra­el­feind­lich. Andere sag­ten, sie woll­ten ein Zei­chen dafür set­zen, dass sie auf der Seite von Paläs­tina stün­den und sich soli­da­risch zeigen.«Har­burgNDR
10/24/2023Pla­kat­zer­stö­rung an der Roten Flora: »Unbe­kannte [haben] das rie­sige Soli­da­ri­täts­pla­kat [für die Opfer des Mas­sa­kers am 7. Okto­ber] an der Flora-Fassade über­klebt, die Worte „Jüdin­nen“ und „Juden“ wur­den ent­fernt. Viele Betrach­ter sind empört.«Stern­schanzeMopo
10/27/2023Die orga­ni­sie­ren­den Grup­pen einer geplan­ten »Anti-Repressionsparty« im Cen­tro Sociale (u.a. das Offene Anti­fa­schis­ti­sche Tref­fen Ham­burg (OAT)), wol­len sich nicht von den mit­or­ga­ni­sie­ren­den »Young Struggle« distan­zie­ren, obwohl diese zuvor auf ihrer Web­site einen Arti­kel ver­öf­fent­licht haben, der das Mas­sa­ker vom 07. Okto­ber 2023 als »Gefäng­nis­aus­bruch des paläs­ti­nen­si­schen Vol­kes« ver­harm­lost und legi­ti­miert. Das Nutzer:innenplenum sagt dar­auf­hin die Ver­an­stal­tung ab.Stern­schanzeJungle World
10/28/2023Isla­mis­ti­sche Ver­samm­lung in St. Georg: »Etwa 500 Men­schen haben sich am Sonn­abend auf dem Stein­damm im Ham­bur­ger Stadt­teil St. Georg ver­sam­melt. Angeb­lich um für die Paläs­ti­nen­ser und Paläs­ti­nen­se­rin­nen im Gaza­strei­fen zu demons­trie­ren. Doch hin­ter dem gewalt­sa­men Pro­test steck­ten offen­bar radi­kale Isla­mis­ten. […] Die aus­schließ­lich männ­li­chen Demons­tran­ten hät­ten außer­dem dazu auf­ge­ru­fen, auch in Deutsch­land die Scha­ria, das isla­mi­sche Recht, ein­zu­füh­ren. Dar­über hin­aus sei die Rede davon gewe­sen, das Blut der Paläs­ti­nen­ser und Paläs­ti­nen­se­rin­nen in Gaza auch hier in Deutsch­land zu rächen.«St. GeorgNDR
11/1/2023Anruf in der KZ-Gedenkstätte Neu­en­gamme: »Anru­fer mel­det sich mit ›Adolf Hit­ler‹ und ver­stell­ter Stimme… ›Steht denn die Dusche noch?‹, auf Nach­frage Wiederholung«Neu­en­gammeMit­tei­lung Gedenkstätte
11/9/2023Ganz­sei­ti­ger Ein­trag “Free Pal­es­tine” im Besu­cher­buch der Gedenk­stätte Bul­len­hu­ser Damm (erin­nert an 20 jüdi­sche Kin­der und min­des­tens 28 Erwach­sene, die am 20. April 1945 im Kel­ler des Gebäu­des von SS-Männern ermor­det wurden)MitteZeug*in
11/11/2023Bom­ben­dro­hung gegen Jüdi­sches Bil­dungs­zen­trum (»Vor dem Jüdi­schen Bil­dungs­zen­trum an der Rothen­baum­chaus­see hat ein unbe­kann­ter Mann per App ein Taxi bestellt; über die Chat­funk­tion schickt er dem Fah­rer meh­rere Nach­rich­ten, behaup­tet unter ande­rem, er habe Spreng­stoff in der Syn­agoge Hohe Weide plat­ziert; er spricht von angeb­li­chen erfolg­ten Straf­ta­ten, droht Taten an. Der Taxi­fah­rer alar­miert die Poli­zei. Auf dem von der Poli­zei bewach­ten Gelände der Syn­agoge befin­det sich zu die­ser Zeit eine kleine Gruppe jüdi­scher Men­schen; sie ver­brin­gen nach Abendblatt-Informationen eine Stunde vol­ler Angst in einem Kel­ler, bis die Poli­zei Ent­war­nung gibt. […] Es hät­ten sich keine Hin­weise auf ›kon­krete Gefähr­dungs­si­tua­tio­nen‹ erge­ben, teilt die Poli­zei auf Anfrage mit. Gleich­wohl lau­fen straf­recht­li­che Ermitt­lun­gen, geführt von der Staats­schutz­ab­tei­lung des Landeskriminalamts.«Rother­baumAbend­blatt
11/21/2023Anti­se­mi­ti­sche, natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Schmie­re­rei (»NSDAP«) auf Pla­kat­wand, die über jüdi­sches Leben (»Ist Cha­nukka das jüdi­sche Weih­nach­ten?«) informiertAltonaX (Twit­ter)
11/26/2023Groß­flä­chig rote Farbe auf das Syn­ago­gen­mahn­mal und Geste­cke in Har­burg gesprühtHar­burgZeug*in
1/19/2024Rote-Hände Graf­fito in Kom­bi­na­tion mit einer Paläs­ti­na­flagge. (Die roten Hände bezie­hen sich posi­tiv auf einen Lynch­mord an israe­li­schen Sol­da­ten zu Beginn der Zwei­ten Inti­fada im Jahr 2000)St. PauliZeug*in
1/25/2024Paläs­ti­na­flagge mit Auf­schrift »Free Gaza from Wie­der­gut­ma­chung« (Der Slo­gan for­dert ein Ende der Auf­ar­bei­tung der NS-Vergangenheit und/ oder sug­ge­riert, diese würde im Dienste Isra­els bzw. gegen die Paläs­ti­nen­ser geschehen)Win­ter­hudeZEIT/Elbvertiefung News­let­ter
1/25/2024Key­note der antizionistisch-antisemitischen Kli­ma­ak­ti­vis­tin Zamzam Ibra­him im Rah­men der Klima-Tagung »How Low Can We Go« auf Kamp­na­gel. Ibra­him unter­stützte zuvor bekann­ter­ma­ßen die anti­se­mi­ti­sche BDS-Kampagne gegen Israel, setzte Israel mit dem NS gleich und legi­ti­mierte öffent­lich den Ter­ror von Hamas und Huthi-Rebellen. Sie trat u.a. im ira­ni­schen Staats­fern­se­hen auf.Win­ter­hudeBericht Untie­fen
1/25/2024Gegen­de­mons­tra­tion zu einer isra­els­o­li­da­ri­schen Demons­tra­tion vor Kamp­na­gel, skan­diert wird laut der ZEIT u.a. »Free Pal­es­tine from Wiedergutmachung«Win­ter­hudeBericht Untie­fen, ZEIT Newsletter
1/28/2024»Der Ver­ur­teil­ten wurde vor­ge­wor­fen, am 28. Januar 2024 im Valen­tins­kamp einer pro-israelischen Ver­samm­lungs­teil­neh­me­rin u.a. eine mit­ge­führte Israel-Flagge ent­ris­sen zu haben. Im Straf­be­fehls­wege wurde sie zu einer Geld­strafe von 30 Tages­sät­zen wegen Nöti­gung verurteilt.«Neu­stadtMit­tei­lung Staatsanwaltschaft
1/31/2024Im Rah­men einer Podi­ums­dis­kus­sion in den Bücher­hal­len tritt ein Stö­rer auf, belei­digt nach Auf­for­de­run­gen, den Raum zu ver­las­sen, die jüdi­schen Dis­ku­tan­tin­nen als »Nazis« und pro­kla­miert, er lasse sich von ihnen »nicht ins KZ sper­ren«. Ein phy­si­scher Über­griff kann vom Mode­ra­tor ver­hin­dert werden.St. GeorgZeug*in
2/4/2024Paro­len an einem Pri­vat­haus: »We stand with Pal­es­tine – Geno­cide apo­lo­gists – zio­nists + other racists not wel­come«; nach Mit­tei­lung zuvor bereits ange­bracht: »Isra­els Staats­rä­son: Völkermord!«Lok­stedtZeug*in
2/8/2024Stö­rung der Jah­res­aus­stel­lungs­er­öff­nung der HfbK und Mord­dro­hung gegen Besu­cher: »HFBK-Präsident Mar­tin Köt­te­ring hatte gerade mit sei­ner Eröff­nungs­rede begon­nen, als plötz­lich Flug­blät­ter durch die Ein­gangs­halle flo­gen und eine Gruppe von circa zehn Men­schen ›Free Pal­es­tine‹ (deutsch: Befreit Paläs­tina) skan­dierte. Als jener Besu­cher sich dar­auf­hin ent­schied, die Ver­an­stal­tung zu ver­las­sen, und beim Hin­aus­ge­hen mit den Wor­ten ›from the Hamas Mur­ders‹ (deutsch: von den Hamas-Mördern) auf die Rufe reagierte, wurde er von einem der Anwe­sen­den mit dem Tod bedroht. Der Unbe­kannte hatte auf die Aus­sage des Besu­chers mit der Dro­hung ›I will fol­low and kill you‹ (Ich werde dich ver­fol­gen und töten) reagiert und sein Opfer damit erreicht.«Barmbek-SüdAbend­blatt
2/9/2024Ver­let­zung eines Stu­die­ren­den an der Uni Ham­burg: »Ein jüdi­scher Stu­die­ren­der der Uni­ver­si­tät Ham­burg [wurde] bei einem Hand­ge­menge an der Hand ver­letzt. […] Nach Infor­ma­tio­nen des Abend­blatts kam es zu dem Hand­ge­menge wegen pro-palästinensischer Flug­blät­ter, die in der Mensa ver­teilt wor­den waren. Der jüdi­sche Stu­die­rende sam­melte diese ein, der Flug­blatt­ver­tei­ler kon­fron­tierte ihn; es kam zum Streit, dann zum Geran­gel – bei die­sem Hand­ge­menge wurde der Stu­die­rende an der Hand ver­letzt.« Der Betrof­fene wurde zudem als »Zio­nist« beschimpft.Rother­baumAbend­blatt; Zeug*in
2/19/2024Heil Hitler‹-Schmiererei an Wand der Haupt­aus­stel­lung der KZ-Gedenkstätte NeuengammeNeu­en­gammeMit­tei­lung Gedenkstätte
3/2/2024Belei­di­gung auf der Mön­cke­berg­straße: »Dem Ver­ur­teil­ten wurde vor­ge­wor­fen, am 2. März 2024 auf der Mön­cke­berg­straße die Teil­neh­mer einer Mahn­wa­che für Israel u.a. als „Scheiß Juden“ beschimpft zu haben. Er wurde des­halb wegen Volks­ver­het­zung und Belei­di­gung zu einer Geld­strafe von 120 Tages­sät­zen verurteilt.«Alt­stadtMit­tei­lung Staatsanwaltschaft
4/10/2024Trans­pa­rent auf einer pro-palästinensischen Demons­tra­tion: »Free Gaza from Wiedergutmachung«Zeug*in;
4/15/2024Anti­se­mi­ti­scher und isra­el­feind­li­cher Shit­s­torm gegen den Ver­an­stal­ter des unab­hän­gi­gen Musik­fes­ti­vals »Booze Cruise«St. PauliJungle World
4/27/2024Isla­mis­ti­sche Demo der Gruppe Mus­lim Inter­ak­tiv (Tarn­or­ga­ni­sa­tion der ver­bo­te­nen Hizb ut-Tahrir) am Stein­damm, u.a. For­de­rung nach einem Kali­fat in Deutschland.St. GeorgZeug*in
4/28/2024Zahl­rei­che Pla­kate der Par­tei DIE GRÜNEN mit »Zio­nis­mus = Faschis­mus« beschmiertEims­büt­telZeug*in
5/2/2024Aktivist*in »Heal d Wrld« filmt als Insta­gram Reel in einem Edeka im Grin­del­vier­tel »Hass-Avocados« mit der Her­kunft Israel. Das Preis­schild ist mit »Isra­Hell« beschmiert und mit einem »Fuck Zionism«-Sticker beklebt.Rother­baumHam­bur­ger Initia­tive gegen Antisemitismus
5/3/2024Graf­fito rotes Ziel­drei­eck (Hamas-Propaganda) und Parole »All Eyes on Gaza«St. PauliInsta­gram
5/6/2024Ein­rich­tung eines »Protest-Camps« auf der Moor­weide (Nähe Uni­ver­si­tät) unter Betei­li­gung der palästinensisch-nationalistischen Gruppe »Thawra«. Aus dem Camp gehen bis Sep­tem­ber 2024 ver­schie­dene anti­se­mi­ti­sche Aktio­nen her­vor (siehe u.a. Ein­trag »Tät­li­cher Angriff…« am 08.05.2024). Das rote Drei­eck der Hamas-Propaganda ist immer wie­der am Camp und im Umfeld zu sehen.Rother­baumZEIT; taz; Bürgerschafts-Drucksache 22/15817
7/5/2024Sti­cker mit dem Motiv eines Pan­zers: »Wider­stand ist Leben. Pan­zer für Palestina.«MitteZeug*in
5/7/2024Graf­fito der geno­zi­da­len Parole »From the River to the Sea«Rother­baumInsta­gram
5/8/2024Tät­li­cher Angriff auf ein Vor­stands­mit­glied der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft nach einer Ver­an­stal­tung zu Anti­se­mi­tis­mus an der Uni­ver­si­tät Ham­burg; laut Pres­se­be­rich­ten ist eine Täte­rin Mit­an­mel­de­rin des „Protest-Camps“Rother­baumZEIT
5/8/2024Auf einer Kund­ge­bung des lin­ken »Bünd­nis 8. Mai« auf dem Rat­haus­markt wird eine Teil­neh­me­rin, die ein Pla­kat hoch­hält (»Bring them home now«) von Men­schen aus dem »Jugend­block« (bei dem auch »Young Struggle« mit­läuft) ange­grif­fen. Ihr Pla­kat wird ihr aus den Hän­den geris­sen. Auch ein Anti­fa­schist, der zu ver­mit­teln ver­sucht, wird bei­seite gedrängt. Die Kund­ge­bungs­lei­tung bedau­ert den Zwischenfall.Alt­stadtZeug*in
5/11/2024Isla­mis­ti­sche Demo der Gruppe Mus­lim Inter­ak­tiv (Tarn­or­ga­ni­sa­tion der ver­bo­te­nen Hizb ut-Tahrir) am Stein­damm, u.a. For­de­rung nach einem Kali­fat im Nahen Osten (ca. 2300 Teilnehmer)St. GeorgHaga­lil
5/13/2024Auf das Graf­fito einer paläs­ti­nen­si­schen Fahne wurde »Isla­mic Jihad muss sein« geschmiertRother­baumInsta­gram
5/14/2024Aktion vor dem auto­no­men, besetz­ten Zen­trum Rote Flora, gestreamt und bewor­ben von pro-russischen, pro-islamistischen Medi­en­ka­nä­len (Red­Stream; Salah Said). Legi­ti­miert wird die Aktion mit einer grund­sätz­li­chen Ableh­nung der Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik, die von der Roten Flora zu ver­schie­de­nen Anläs­sen for­mu­liert wurde. Diese wird als »anti­deutsch« diffamiert.Stern­schanzetaz
5/14/2024Pla­kat im »Protest-Camp« Moor­weide (»Zio­nism is Racism is Fascism«)Rother­baumZEIT/Elbvertiefung News­let­ter
5/14/2024Auf­kle­ber zur Erin­ne­rung an israe­li­sche Gei­sel mit »Israel Ter­ror« beschmiertMitteInsta­gram
5/15/2024»Nakba«-Demonstration unter Betei­li­gung der palästinensisch-nationalistischen Gruppe Thawra. Laut ZEIT blei­ben bei den Reden »die Opfer des Ter­ror­an­schlags vom 7. Okto­ber uner­wähnt. Auf der Bühne ist immer wie­der von ›Besat­zung, Kolo­nia­li­sie­rung und Geno­zid‹ die Rede. Ein­mal wird Israel als ›geno­zi­da­ler Staat‹ bezeichnet.«St. GeorgZEIT
5/15/2024Anti­se­mi­ti­sche Paro­len auf dem Cam­pus der Hoch­schule für ange­wandte Wis­sen­schaf­ten (HAW). Die Pres­se­stelle der Uni­ver­si­tät schreibt: »Heute Mor­gen waren sie auf dem Cam­pus am Ber­li­ner Tor zu lesen: Mit Sprüh­farbe an den Mau­ern hin­ter­las­sene Paro­len zum Krieg in Gaza mit anti­se­mi­ti­schem Hin­ter­grund. Die Sach­be­schä­di­gung wurde zur Anzeige gebracht, die Paro­len doku­men­tiert, nun wer­den sie ent­fernt bzw. überstrichen.«St. GeorgHAW
5/18/2024Auf­kle­ber mit rotem Drei­eck angebrachtMitteInsta­gram
5/18/2024Anti­se­mi­ti­sche Tafel des Künst­ler­kol­lek­tivs »New Red Order« in der Aus­stel­lung »SURVIVAL IN THE 21ST CENTURY« in den Deich­tor­hal­len. Bericht des NDR: »Auf einer Tafel neben dem eigent­li­chen Kunst­werk wird Israel die allei­nige Schuld am Nahost-Konflikt gege­ben und mit Nazi-Deutschland in eine Reihe gestellt. […] es ist nichts ande­res als eine anti­se­mi­ti­sche Ver­schwö­rungs­er­zäh­lung, die da in der Aus­stel­lung hängt. Der Mas­sen­mord an den Indi­ge­nen in den USA, die Shoa in Nazi­deutsch­land und die israe­li­sche Poli­tik von heute seien struk­tu­rell alles das­selbe. Israel trage allein die Ver­ant­wor­tung für den Nah­ost­kon­flikt. Vom Hamas-Terror kein Wort. Von den ira­ni­schen Aus­lö­schungs­fan­ta­sien keine Silbe.«Alt­stadtNDR
5/19/2024Anti­se­mi­ti­sches und isra­el­feind­li­ches Pla­kat in Plan­ten un Blo­men (»Zio­nis­mus = Kolo­nia­lis­mus, Ras­sis­mus, Terrorismus.«)MitteInsta­gram
5/20/2024Anti­se­mi­ti­sches und isra­el­feind­li­ches Pla­kat am Kul­tur­zen­trum B5 (»Isra­els Geno­zid, 83% der Grund­was­ser­brun­nen […] zerstört.«)St. PauliInsta­gram
5/24/2024Pro-Palästina Akti­vis­ten und Akti­vis­tin­nen hat­ten im Gebäude der Hoch­schule für bil­dende Künste (HfbK) anti­se­mi­ti­sche Graf­fi­tis und Pla­kate ange­bracht. Die Hoch­schule hat diese entfernt.Barmbek-SüdNDR/Meldung Ham­burg Journal
5/27/2024Kund­ge­bung Thawra unter dem Motto »Israel sofort ent­waff­nen« bzw. »Boy­kot­tiert Israel«St. GeorgHam­bur­ger Initia­tive gegen Antisemitismus
5/28/2024Insta­gram Story der Gruppe Thawra aus dem »Protest-Camp«, mit Auf­kle­ber »Free Gaza from Ger­man Antifa!«Rother­baumHam­bur­ger Initia­tive gegen Antisemitismus
5/30/2024Auf Insta­gram fil­men sich Aktivist*innen von Thawra, wie sie im Auto über die Grin­del­al­lee fah­ren, aus den Sei­ten­fens­tern hal­ten sie eine paläs­ti­nen­si­sche Fahne, aus dem Auto­ra­dio tönt der Song »Free Pal­es­tine« vom Inter­pre­ten SEB!, in dem das Ende Isra­els her­bei­ge­sehnt wird. Rother­baumHam­bur­ger Initia­tive gegen Antisemitismus
5/30/2024Holo­caust­leug­nung an der Uni­ver­si­tät Ham­burg: »Ein Mann soll auf dem Cam­pus der Uni­ver­si­tät Ham­burg volks­ver­het­zende Äuße­run­gen gemacht haben. Was bekannt ist. Im Inter­net kur­siert ein Video des Vor­falls. Dar­auf ist zu hören, wie der Mann die Frage, ob er den Holo­caust leugne, bejaht. In einer ande­ren Auf­nahme sagt er, Adolf Hit­ler habe ver­sucht, Juden zu schüt­zen. Laut Pres­se­stelle der Poli­zei ermit­telt das Lan­des­kri­mi­nal­amt gegen ihn. Der Vor­fall soll sich gegen Mit­tag vor dem Audi­max der Uni­ver­si­tät ereig­net haben. Auf Fotos von Stu­die­ren­den ist zu sehen, wie der 43-Jährige mit drei Flag­gen vor dem Gebäude steht: mit einer Isra­el­flagge, einer Reichs­flagge mit David­stern und einer Fahne, auf der ein Eiser­nes Kreuz abge­bil­det ist. Eine Gruppe von Stu­die­ren­den soll den mut­maß­li­chen Holo­caust­leug­ner ange­spro­chen haben, dabei sei auch das Video ent­stan­den, erklärt die Gruppe Stu­dents for Pal­es­tine Ham­burg, die die Auf­nah­men online ver­brei­tet hat. Laut einer Pres­se­spre­che­rin der Poli­zei wurde der Mann von Stu­die­ren­den angezeigt.«Rother­baumEims­büt­te­ler Nachrichten
6/2/2024Ehren­amt­li­cher Guide der Stif­tung His­to­ri­sche Gedenk­stät­ten und Lern­orte berich­tet von anti­se­mi­ti­schen Äuße­run­gen einer Besu­che­rin in der Gedenk­stätte FuhlsbüttelFuhls­büt­telMit­tei­lung Gedenkstätte
6/3/2024Trans­pa­rente mit roten Ziel­drei­ecken (der Hamas-Propaganda) sowie »Yal­lah Inti­fada« am »Protest-Camp« MoorweideRother­baumInsta­gram
6/6/2024Michel Abdol­lahi sug­ge­riert als Mode­ra­tor auf einer auf Kampnagel-Veranstaltung zu »Can­celn und Boy­kott« eine pro­is­rae­li­sche Lobby in Deutsch­land, die eine mccar­thy­is­ti­sche Dis­kurs­ver­en­gung betreibe. Raunt ver­schwö­rungs­ideo­lo­gisch, dass Thea­ter­ma­cher im Fokus einer »poli­ti­schen Kam­pa­gne« stün­den »weil bestimmte Insti­tu­tio­nen Sorge haben, dass hier etwas apas­siert, was ihnen nicht passt«. Jeder Pro­test dage­gen würde als anti­se­mi­tisch dif­fa­miert etc. Die isra­els­o­li­da­ri­sche Kund­ge­bung gegen Zamzam Ibra­him vom 25.01.2024 auf Kamp­na­gel bezeich­net er als »Neo­na­zis in Israelfahnen«.Win­ter­hudeZeug*in
6/8/2024Thawra Akti­vist »einfach_tarik« mar­kiert Olaf Scholz in Insta­gram Story mit rotem Drei­eck; schreit ihm »Kin­der­mör­der« zuonlineHam­bur­ger Initia­tive gegen Antisemitismus
6/9/2024Insta­gram Story von Students4palestinehh doku­men­tiert »Zio­nism = Racism« Graf­fiti an der UHH GebäudeRother­baumHam­bur­ger Initia­tive gegen Antisemitismus
6/13/2024Sti­cker zur Erin­ne­rung an die Gei­seln in Gaza wurde mit Sti­cker »Jüdi­sche Stimme – Juden gegen Geno­zid« überklebtMitteHam­bur­ger Initia­tive gegen Antisemitismus
6/26/2024Unan­ge­mel­dete Demons­tra­tion gegen­über dem Ein­gang Ost­flü­gel Haupt­ge­bäude UHH gegen die dort statt­fin­dende Ver­an­stal­tung zu »Anti­se­mi­tis­mus & Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus aus jüdi­scher Per­spek­tive«. Teil­neh­mende rufen laut­stark Paro­len, u.a. »Unsere Kin­der, Frauen, Män­ner wol­len leben – Uni Ham­burg ist dage­gen« und »Gegen Zio­nis­mus – gegen Faschismus«.Rother­baumZeug*in
6/26/2024Stö­run­gen der Ver­an­stal­tung »Anti­se­mi­tis­mus & Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus aus jüdi­scher Per­spek­tive«: »Offen­bar hat­ten sich im Hör­saal meh­rere Akti­vis­ten ver­teilt. Bei sich tru­gen sie kleine Laut­spre­cher­bo­xen, aus denen sie dann – einer nach dem ande­ren – etwas abspiel­ten. Ob es sich dabei um Paro­len han­delte, sei kaum zu ver­ste­hen gewe­sen, erzählt die schon erwähnte Besu­che­rin, die eben­falls anonym blei­ben möchte. ›Es war in ers­ter Linie laut und plär­rend.‹ Immer wie­der habe die Ver­an­stal­tung unter­bro­chen wer­den müs­sen. Die von der Uni­ver­si­tät enga­gier­ten Sicher­heits­leute hät­ten einen Stö­ren­den nach dem ande­ren aus dem Saal geführt. Dann sei etwas gesche­hen, das für einen ›Schreck­mo­ment‹ im Publi­kum gesorgt habe: In den Rei­hen seien zwei Män­ner mit Paläs­ti­nen­ser­tü­chern auf­ge­stan­den und lang­sam nach vorne gegan­gen. Dort hät­ten sie sich in der ers­ten Reihe neben einem wei­te­ren Akti­vis­ten nie­der­ge­las­sen – direkt vor dem Red­ner­pult. Einige im Publi­kum hät­ten geru­fen: ›Jenny, pass auf!‹ Es sei eine ganz offen­sicht­li­che Droh­ge­bärde gewe­sen, so die erwähnte Besu­che­rin gegen­über dem Abendblatt.«
Die Sicher­heits­leute hät­ten sich dann nahe bei den drei Män­nern pos­tiert. Diese seien sit­zen geblie­ben. Die sich an den Vor­trag anschlie­ßende Gesprächs­runde habe einer der Män­ner mit Zwi­schen­ru­fen gestört. Als die Ver­an­stal­tung endete, seien einige Besu­cher gebe­ten wor­den, den Saal über einen Sei­ten­ein­gang zu ver­las­sen.« (Abend­blatt)
Rother­baumAbend­blatt
6/26/2024Einer Per­son, die ein T‑Shirt mit hebräi­scher Auf­schrift trägt, wird am Damm­tor­bahn­hof von einem Mann mehr­mals der Hit­ler­gruss gezeigt.Rother­baumBetrof­fe­ner
6/28/2024Pla­kate zur Erin­ne­rung an Hamas Gei­seln wur­den abge­ris­sen und beschädigtOtten­senZeug*in
7/1/2024Auf­kle­ber »Bring them home to Europe! Deco­lo­nize Pal­es­tine« (auf rotem Dreieck)Eims­büt­telInsta­gram
7/3/2024Demons­tra­tion Haupt­ein­gang Uni­ver­si­tät, nähe Vor­le­sungs­reihe zu JudenfeindschaftRother­baumZeug*in
7/8/2024Rotes Drei­eck auf dem »Thawra Kalen­der« (Insta­gram)Rother­baumInsta­gram
7/10/2024Demons­tra­tion Haupt­ein­gang Uni­ver­si­tät, nähe Vor­le­sungs­reihe zu Juden­feind­schaft; ca. 150 Per­so­nen; Paro­len u.a. »Gegen den Faschis­mus! Gegen Anti­se­mi­tis­mus! Gegen Zionismus!«Rother­baumZeug*in
7/15/2024Angriff, anti­se­mi­ti­sche Belei­di­gung: »Die 56 Jahre alte Fuß­gän­ge­rin hatte sich über die Rad­fah­re­rin, die auf dem Geh­weg fuhr, geär­gert und sie ange­spro­chen. Der Poli­zei sagte sie spä­ter, die Rad­fah­re­rin habe sie dar­auf­hin zunächst anti­se­mi­tisch belei­digt. Und dann nach ihrer mar­kan­ten Hals­kette gegrif­fen und sie gewürgt. Die Rad­fah­re­rin soll auch noch auf die bereits am Boden lie­gende Fuß­gän­ge­rin ein­ge­tre­ten haben.« (NDR)Bah­ren­feldNDR
7/17/2024Demons­tra­tion von Thawra von der Roten Flora nach Altona; auf Trans­pa­ren­ten steht u.a.: »Inti­fada Gene­ra­tion«, »Das ein­zig rote an der Flora ist das Blut an ihren Händen«.Stern­schanzeInsta­gram; Abend­blatt; Zeug*innen
7/17/2024Eine Kund­ge­bung gegen die zuvor genannte Demo (Rote Flora nach Altona) wird atta­ckiert. Ein Mann ver­sucht, eine Israel Fahne zu erobern, stürzt sich zwi­schen die TN der Kund­ge­bung und ver­letzt TN. Er wird von der Poli­zei, die die Kund­ge­bung absi­chert, festgenommen.Stern­schanzeZeug*in
7/26/2024Graf­fiti »Free Gaza« und Ham­mer und Sichel an einem von ortho­do­xen Juden bewohn­ten HausEims­büt­telInsta­gram; Aus­kunft Zeug*in
7/26/2024Schmie­re­rei an der Mei­nungs­wand der Haupt­aus­stel­lung der KZ-Gedenkstätte Neu­en­gamme: »Man muss wohl die Öfen wie­der anschmeißen«Neu­en­gammeMit­tei­lung Gedenkstätte
8/3/2024Auf­tritt der u.a. anti­se­mi­ti­schen, ver­schwö­rungs­theo­re­ti­schen Deutsch-Rap-Crew »Rap­bel­li­ons« in BramfeldBramfeldInsta­gram
9/19/2024In einem Auf­ruf von »ahrar.de« (Insta­gram) zu einer Demons­tra­tion am 5. Okto­ber wird das Mas­sa­ker vom 7. Okto­ber rela­ti­viert und gerecht­fer­tigt, Israel dämo­ni­siert, die Zer­stö­rung Isra­els gefor­dert (»Wir wer­den nicht auf­hö­ren, wir wer­den nicht ruhen, bis jeder Zen­ti­me­ter Paläs­ti­nas frei ist.« Alt­stadtInsta­gram
10/5/2024Palästinensisch-nationalistische »Mas­sen­de­mons­tra­tion« nach Auf­ruf von »ahrar.de« (siehe Ein­trag 19.09.2024); u.a. Pla­kat »Deut­sche Staats­rä­son: Paläs­ti­nen­ser und Liba­ne­sen müs­sen heute für die deut­schen Ver­bre­chen von damals büßen. WARUM???«Alt­stadtZeug*in
10/5/2024Wäh­rend der palästinensisch-nationalistischen »Mas­sen­de­mons­tra­tion« ver­su­chen ca. 20 junge Män­ner zur »Mahn­wa­che für Israel« durch­zu­bre­chen, wird von der Poli­zei ver­hin­dert, Ord­ner grei­fen einAlt­stadtZeug*in
10/5/2024Im Umfeld der palästinensisch-nationalistischen »Mas­sen­de­mons­tra­tion« wer­den Sti­cker mit dem David­stern in den ein rotes Drei­eck inte­griert ist und der Auf­schrift »Libe­rate Juda­ism from Zionism»gefundenAlt­stadtInsta­gram

AnhangErläu­te­run­gen

Bei­spiel 1: 

18.10.2023Am Mitt­woch sind in der Ham­bur­ger Innen­stadt erneut pro-palästinensische Demons­trie­rende auf die Straße gegan­gen. Unter­des­sen wurde das Ver­bot sol­cher Kund­ge­bun­gen bis Sonn­tag ver­län­gert. Auf dem Jung­fern­stieg hat­ten zunächst etwa 20 Men­schen gegen die Angriffe Isra­els pro­tes­tiert – unter ande­rem mit Papp­pla­ka­ten auf denen eine Was­ser­me­lone zu sehen war, das alt­be­kannte Zei­chen der Palästina-Proteste. Vier junge Män­ner wur­den von der Poli­zei in Gewahr­sam genom­men, wie NDR 90,3 berich­tete. Laut Augen­zeu­gen sol­len sie zwei Palästina-Flaggen mit dem Abbild des ira­ki­schen Dik­ta­tors Sad­dam Hus­sein gezeigt haben.« Alt­stadtNDR

In die­sem Fall ste­hen uns keine aus­rei­chen­den Infor­ma­tio­nen für eine Kate­go­ri­sie­rung zur Ver­fü­gung. Es ist aller Erfah­rung nach wahr­schein­lich, dass es im Rah­men die­ser sog. pro-palästinensischen Kund­ge­bung zu die­sem Zeit­punkt zu Israel dämo­ni­sie­ren­den, anti­se­mi­ti­schen Aus­sa­gen kam; das Zei­gen eines Bilds des ehe­ma­li­gen ira­ki­schen Dik­ta­tors Sad­dam Hus­sein, der 1991 im Rah­men des zwei­ten Golf­kriegs Rake­ten auf Israel – das keine Kriegs­par­tei dar­stellte – abfeu­ern ließ, kann so inter­pre­tiert wer­den. Kund­ge­bun­gen stel­len ein demo­kra­ti­sches Grund­recht dar. Wir fol­gen der Sys­te­ma­tik der Recher­che und Infor­ma­ti­ons­stel­len Anti­se­mi­tis­mus (RIAS) und ord­nen ent­spre­chende Ver­samm­lun­gen nur als anti­se­mi­ti­sche Ver­samm­lun­gen ein, wenn „in Reden, Paro­len, auf mit­ge­führ­ten Trans­pa­ren­ten oder in Auf­ru­fen anti­se­mi­ti­sche Inhalte fest­ge­stellt“ wer­den. In die­sem Fall „wird die gesamte Ver­samm­lung als ein anti­se­mi­ti­scher Vor­fall vom Typ ver­letz­ten­des Ver­hal­ten regis­triert. Ereig­nen sich bei oder am Rande einer sol­chen Ver­samm­lung Angriffe oder Bedro­hun­gen, so wer­den diese jeweils als zusätz­li­che anti­se­mi­ti­sche Vor­fälle
doku­men­tiert.“ (RIAS 2024

Bei­spiel 2: 

20.10.2023Isra­el­feind­li­che, ter­ror­re­la­ti­vie­rende Aus­sage gegen­über NDR Kame­ra­team: »Israel hat zuerst Paläs­tina ange­grif­fen und Paläs­tina hat sich ver­tei­digt, mei­ner Mei­nung nach.«St. GeorgNDR

Die­ser Fall wurde von uns nicht als anti­se­mi­tisch kate­go­ri­siert. Die im Inter­view mit dem NDR getä­tigte Aus­sage kann plau­si­bel als Recht­fer­ti­gung anti­jü­di­scher Aggres­sion und des Mas­sa­kers vom 7. Okto­ber inter­pre­tiert wer­den. Aller­dings ste­hen uns nicht genü­gend Infor­ma­tio­nen (ins­be­son­dere zum Gesprächs­ver­lauf und ‑kon­text) zur Ver­fü­gung, die eine seriöse Ent­schei­dung absi­chern wür­den. In der eth­no­zen­tris­ti­schen Wahr­neh­mung zweier homo­ge­ner Kol­lek­tive („Israel hat…“, „Paläs­tina hat…“) liegt eine Logik abso­lu­ter Feind­be­stim­mung, die auch ein Ele­ment des Anti­se­mi­tis­mus darstellt. 

Bei­spiel 3: 

26.07.2024Graf­fiti »Free Gaza« und Ham­mer und Sichel an einem von ortho­do­xen Juden bewohn­ten HausEims­büt­telZeug*in

Die­ser Fall wurde als anti­se­mi­tisch ein­ge­ord­net. Es han­delt sich um eine (gezielte) Sach­be­schä­di­gung, d.h. „die Beschä­di­gung oder das Beschmie­ren jüdi­schen Eigen­tums“ (RIAS 2024). Obwohl der Gehalt der Schmie­re­reien selbst nicht anti­se­mi­tisch ist, wer­den hier prak­tisch deut­sche Bürger:innen jüdi­schen Glau­bens für ein (ver­meint­li­ches) Han­deln des israe­li­schen Staats ver­ant­wort­lich gemacht. Auch die­ser Vor­fall illus­triert exem­pla­risch, wie Anti­se­mi­tis­mus als ein kul­tu­rel­les Klima von Bedro­hung und Aus­schluss von Jüd:innen in Deutsch­land sowie der Recht­fer­ti­gung anti­jü­di­scher Aggres­sion wirkt. 


[1] Stell­ver­tre­tend für alle enga­gier­ten Parlamentarier:innen sei hier die Arbeit von Cansu Özd­emir und Deniz Celik (beide Mit­glie­der der Bür­ger­schafts­frak­tion der Links­par­tei) her­vor­ge­ho­ben, die durch ihre regel­mä­ßi­gen Klei­nen Anfra­gen dabei hel­fen, die not­wen­dige Trans­pa­renz und Öffent­lich­keit im Bereich Hass­kri­mi­na­li­tät herzustellen.

[2] Nach Mit­tei­lung der Pres­se­stelle der Staats­an­walt­schaft Ham­burg arbei­tet die Zen­tral­stelle Staats­schutz mit der Arbeits­de­fi­ni­tion Anti­se­mi­tis­mus der IHRA; ent­spre­chende Bewer­tun­gen könn­ten sich aller­dings im Laufe von Ermitt­lun­gen und Ver­fah­ren ändern.

[3] In die­sem Zusam­men­hang wei­sen wir noch­mals auf den an die­ser Stelle vor eini­gen Wochen erschie­ne­nen Text „Klima der Juden­feind­schaft“ zum Anti­se­mi­tis­mus in Ham­burg von Flo­rian Hes­sel hin; die dort skiz­zier­ten Über­le­gun­gen Begriffe und Ana­ly­sen for­mu­lie­ren einige der Grund­la­gen und Grund­an­nah­men des vor­lie­gen­den Chronik­pro­jekts aus und geben wei­tere Literaturhinweise.

Klima der Judenfeindschaft

Klima der Judenfeindschaft

Der Über­fall der radikal-islamischen Hamas auf Israel am 7. Okto­ber 2023 und das fol­gende Mas­sa­ker mit über 1.200 Todes­op­fern sind eine Zäsur, selbst in der an grau­en­vol­len Ereig­nis­sen kei­nes­wegs armen Geschichte des Anti­se­mi­tis­mus. Ihre glo­ba­len Nach­wir­kun­gen – keine Äch­tung anti-humanistischer Ideo­lo­gien und Poli­tik, son­dern im Gegen­teil eine Ent­hem­mung der aggres­si­ven Dämo­ni­sie­rung des Juden­staats und der Bedro­hung von Jüdin­nen und Juden – sind auch in Ham­burg zu spüren.

Nichts Abwei­chen­des mag noch ertra­gen wer­den: Pla­kate, die an die von der Hamas fest­ge­hal­te­nen Gei­seln erin­nern, wer­den auch in Ham­burg abge­ris­sen. Foto: privat

Schon der Blick auf die Zah­len ist erschre­ckend: Bun­des­weit ist die Zahl anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle nach dem 7. Okto­ber dra­ma­tisch gestie­gen, das­selbe gilt für Ham­burg. Hier machte Anti­se­mi­tis­mus 2023 24% aller erfass­ten Fälle von Hass­kri­mi­na­li­tät aus – wobei weni­ger als 0,2% der Hamburger:innen jüdi­schen Glau­bens sind. Im vier­ten Quar­tal hat sich die Fall­zahl gegen­über dem Vor­jah­res­zeit­raum ver­fünf­facht, auf 67 gegen­über 12 Fäl­len (siehe die Klei­nen Anfra­gen der Links­frak­tion zur Hass­kri­mi­na­li­tät in Ham­burg in 2022 und 2023). Im Rah­men einer im Som­mer 2024 erschie­ne­nen Stu­die unter ande­rem der Hoch­schule der Aka­de­mie der Poli­zei Ham­burg gaben mehr als drei Vier­tel der befrag­ten Ham­bur­ger Jüdin­nen und Juden an, inner­halb der letz­ten zwölf Monate Anti­se­mi­tis­mus erfah­ren zu haben.

Nach allen Erkennt­nis­sen bleibt ein gro­ßer Teil der dahin­ter lie­gen­den Fälle anti­se­mi­ti­scher Dis­kri­mi­nie­rung und Gewalt außer­halb der Wahr­neh­mung von Öffent­lich­keit und Behör­den – die erwähnte Stu­die schätzt den Anteil auf 80%. Zivil­ge­sell­schaft­lich gesam­melte Daten, die die­ses große Dun­kel­feld erfah­rungs­ge­mäß erhel­len könn­ten, stan­den für Ham­burg allzu lange nicht zur Ver­fü­gung: Die 2021 gegrün­dete, öffent­lich geför­derte digi­tale Hinweis- und Mel­de­stelle memo ver­öf­fent­licht im Gegen­satz zu den Recherche- und Infor­ma­ti­ons­stel­len Anti­se­mi­tis­mus (RIAS) in ande­ren Bun­des­län­dern keine Fälle oder (aus­sa­ge­kräf­tige) Zah­len. Ein nun vom Trä­ger der Mel­de­stelle, der Bera­tungs­stelle für Betrof­fene ras­sis­ti­scher, anti­se­mi­ti­scher und rech­ter Gewalt Empower, vor­ge­leg­ter Bericht gibt 282 Fälle von Anti­se­mi­tis­mus in Ham­burg für 2023 an – mehr als ein Drit­tel der inge­samt dort bekannt gewor­de­nen men­schen­feind­li­chen Taten; im Zeit­raum nach dem 7. Okto­ber ver­dop­pel­ten sich auch hier die Fälle.

Plakativer Judenhass

Die Wände und die Öffent­lich­keit der Stadt erlau­ben uns einen wei­te­ren Ein­blick in die Rea­li­tät des Anti­se­mi­tis­mus. Wenige Tage nach dem 7. Okto­ber begin­nend, wer­den auf Haus­wän­den und Later­nen fort­lau­fend soge­nannte pro-palästinensische Slo­gans, Auf­kle­ber etc. ange­bracht. Neben die seit Jahr­zehn­ten obli­ga­to­ri­schen natio­na­lis­ti­schen Paro­len wie »Free Pal­es­tine« tre­ten immer wie­der auch Israel dämo­ni­sie­rende, mani­fest anti­se­mi­ti­sche Bil­der: So wurde laut Bericht eines Anwoh­ners auf St. Pauli z.B. nach dem 7. Okto­ber ein Graf­fito mit blut­ro­ten Hand­ab­drü­cken plat­ziert – eine Chif­fre, die sich zustim­mend auf den Lynch­mord an zwei israe­li­schen Sol­da­ten zu Beginn der Zwei­ten Inti­fada ab 2000 bezieht; aus Eims­büt­tel mel­de­ten Anwohner:innen der Insta­gram­seite Civil-Watch against Anti-Semitism Anfang Juli 2024 Auf­kle­ber mit dem roten Drei­eck (der Ziel­mar­kie­rung der Hamas-Propaganda) und dem Slo­gan »Bring Them Back to Europe – Deco­lo­nize Pal­es­tine«. Isra­els­o­li­da­ri­sche oder auch nur anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Bot­schaf­ten, sogar Pla­kate, die an die von der Hamas fest­ge­hal­te­nen Gei­seln erin­nern, wer­den abge­ris­sen, beschä­digt oder über­malt.

Jeg­li­che isra­els­o­li­da­ri­sche Kund­ge­bung und anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Ver­an­stal­tung hat mit Stö­run­gen und mit min­des­tens ver­ba­len Bedro­hun­gen zu rechnen

Jeg­li­che isra­els­o­li­da­ri­sche Kund­ge­bung und anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Ver­an­stal­tung hat mit Stö­run­gen und mit min­des­tens ver­ba­len Bedro­hun­gen zu rech­nen: Im Anschluss an eine Soli­da­ri­täts­kund­ge­bung mit Israel Mitte Okto­ber 2023 etwa wur­den zwei Organisator:innen beschimpft und phy­sisch ange­grif­fen, eine israe­li­sche Fahne wurde gewalt­sam ent­wen­det; auf einer Podi­ums­dis­kus­sion in den Bücher­hal­len Ende Januar 2024 wur­den die jüdi­schen Podi­ums­teil­neh­me­rin­nen als »Nazis« und »KZ-Wächter« beschimpft und phy­sisch bedroht.

Boykotte und alltäglicher Antisemitismus

Kon­krete Posi­tio­nie­run­gen sind dabei zuneh­mend irrele­vant: So war z.B. das Punk­fes­ti­val Booze Cruise mas­si­ven Anfein­dun­gen im Netz und inter­na­tio­nal einem fak­ti­schen Boy­kott aus­ge­setzt, weil der Ver­an­stal­ter als »Zio­nist« und »Gen0cide-Supporter« [sic!] mar­kiert wurde. Seit Anfang Mai 2024 konnte nach US-amerikanischem Vor­bild von palästinensisch-nationalistischen Grup­pen und Aktivist:innen ein »Protest-Camp« am Rande der Uni­ver­si­tät Ham­burg eta­bliert wer­den. Aus des­sen Umfeld kam es am 8. Mai im Anschluss an eine anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Vor­trags­ver­an­stal­tung in der Uni­ver­si­tät zu einer wohl spon­ta­nen, aber geziel­ten ver­ba­len und phy­si­schen Atta­cke auf ein Vor­stands­mit­glied der Deutsch-Israelischen Gesell­schaft, wenige Tage spä­ter zu einer als Angriff zu ver­ste­hen­den kurz­zei­ti­gen Beset­zung der Roten Flora.

Nach einer kur­zen Phase media­ler Dis­kus­sion direkt nach dem 7. Okto­ber sind die Ham­bur­ger Schu­len aus dem Fokus der Öffent­lich­keit ver­schwun­den. Die Zahl von Anfra­gen für Antisemitismus-Workshops an Akteure der poli­ti­schen Bil­dung ist jedoch seit­her wei­ter gestie­gen und zumin­dest an eini­gen Schu­len ist das Niveau der Vor­fälle hoch. Wie Lehrer:innen von Har­bur­ger Schu­len gegen­über Untie­fen berich­te­ten rei­chen diese Vor­fälle bis hin zu demons­tra­ti­ver Ver­herr­li­chung des anti­se­mi­ti­schen Mas­sen­mords und der Bedro­hung enga­gier­ter Lehr­kräfte. Nur Weni­ges über­schrei­tet die Schwelle der öffent­li­chen Wahr­neh­mung: In der Ant­wort des Senats auf eine Kleine Anfrage in der Bür­ger­schaft vom Novem­ber 2023 wer­den vier Bom­ben­dro­hun­gen gegen Schu­len »im Zusam­men­hang mit dem Nah­ost­kon­flikt« erwähnt, die von der Poli­zei jedoch als »keine Gefähr­dungs­lage« ein­ge­stuft wor­den seien.

Wie sich deut­lich zeigt, eröff­net die Dyna­mik der Ereig­nisse – von den Mor­den, Ver­ge­wal­ti­gun­gen und Ent­füh­run­gen am 7. Okto­ber in Israel bis hin zum grau­sa­men Kriegs­ge­sche­hen in Gaza und des­sen media­ler Dau­er­prä­senz – auch in Ham­burg Mög­lich­keits­räume und Gele­gen­heits­struk­tu­ren für juden­feind­li­che Aggres­sio­nen und Affekte. Gefüllt und genutzt wer­den diese Räume ebenso im per­sön­li­chen Umgang und Umfeld – off­line oder online – wie von öffent­li­chen Akteur:innen.

In der Sache geeint: IslamistInnen und autoritäre Linke

Anti­se­mi­tis­mus bezeich­net Juden­hass – eine auf Jüdin­nen und Juden bezo­gene Pra­xis der Gewalt in Wort und Tat und deren gleich­zei­tige Recht­fer­ti­gung, und tritt in allen gesell­schaft­li­chen Schich­ten und poli­ti­schen Spek­tren auf. Der Aus­sage, Israel mache im Prin­zip mit den Paläs­ti­nen­sern das­selbe wie die Nazis mit den Juden, stimmte zuletzt 2022 43% der deut­schen Wohn­be­völ­ke­rung zu. Gleich­wohl sind es bestimmte Milieus, die gegen­wär­tig eine her­vor­ge­ho­bene Rolle spie­len. Nament­lich sind dies isla­mis­ti­sche Milieus, Teile der auto­ri­tä­ren Lin­ken sowie akti­vis­ti­sche, selbst­er­klärt »pro-palästinensische« Kreise. Die Chif­fre »Paläs­tina« sowie Isra­el­hass und Anti­se­mi­tis­mus die­nen hier – in jeweils unter­schied­li­cher Weise – als Agi­ta­ti­ons­mit­tel, die einen gro­ßen emo­tio­na­len Rück­hall in post­mi­gran­ti­schen und/oder akti­vis­ti­schen Milieus ver­spre­chen, vor allem unter Jugend­li­chen und bis in die bürgerlich-liberale Mitte hinein.

Vor­feld­or­ga­ni­sa­tio­nen der isla­mis­ti­schen Hizb ut-Tahrir hat­ten bereits kurz nach dem 7. Okto­ber in St. Georg eine »spon­tane« anti-israelische Kund­ge­bung orga­ni­siert. 2024 folg­ten zwei wei­tere, ange­mel­dete Demons­tra­tio­nen, die bun­des­weit breit the­ma­ti­siert wur­den. Über Social Media als Bil­der der Stärke insze­niert, sol­len dar­über Anhän­ger mobi­li­siert und Sym­pa­thi­san­ten für eine miso­gyne, juden- und min­der­hei­ten­feind­li­che, ins­ge­samt isla­mis­ti­sche, demo­kra­tie­feind­li­che Agenda gewon­nen wer­den. Autoritär-linke, »rote« oder »kom­mu­nis­ti­sche« Grup­pen ver­öf­fent­lich­ten zügig Israel dämo­ni­sie­rende State­ments (»Der Ter­ro­rist heißt Israel» u.ä.) und agi­tie­ren ent­spre­chend. Die Bünd­nis­demo die­ses Spek­trums zum 1. Mai 2024 wurde weit­ge­hend von palästinensisch-nationalistischen Paro­len und Sym­bo­len domi­niert. Neben der Mobi­li­sie­rung dient diese Posi­tio­nie­rung als Instru­ment, um anti-autoritäre Linke im Kampf um Ein­fluss, Deu­tun­gen (v.a. von Anti­se­mi­tis­mus) und Kon­trolle von Räu­men unter Druck zu setzen.

Gegen­über den isla­mis­ti­schen und autoritär-linken Grup­pen ist das als akti­vis­tisch umschrie­bene Milieu deut­lich hete­ro­ge­ner in Zusam­men­set­zung und Aus­rich­tung. Anders als diese kann man eine Wir­kung in die wei­tere poli­ti­sche Öffent­lich­keit hin­ein ent­fal­ten. Dies gilt auch für orga­ni­sierte Grup­pen der »Palästina-Solidarität« wie Thawra, deren Grund­struk­tu­ren bereits län­ger eta­bliert sind und die min­des­tens ideo­lo­gisch auch Über­schnei­dun­gen mit den zuvor beschrie­be­nen Grup­pen auf­wei­sen. Sie betrei­ben Kam­pa­gnen­po­li­tik und radi­ka­li­sie­ren sich in wider­spruchs­freien Echo­kam­mern wie dem »Protest-Camp«. Wie bereits skiz­ziert, wer­den ent­ge­gen der Selbst­be­schrei­bung als sich der gan­zen Macht von Staat und Gesell­schaft ent­ge­gen­stel­len­den Widerstandskämpfer:innen, vor allem »wei­che«, nicht-staatliche und in die­sem Sinn unge­schützte Ziele aus Sub­kul­tur und Bil­dungs­sek­tor gewählt: Man ver­sucht jed­we­den lin­ken Pro­test und jede Struk­tur ver­ein­nah­mend zu kapern und bedroht ein besetz­tes auto­no­mes Zen­trum; man demons­triert regel­mä­ßig gegen eine uni­ver­si­täre Vor­le­sungs­reihe zu Juden­feind­schaft und stört diese mehr oder weni­ger orga­ni­siert. (Alles prak­ti­scher­weise meist nur einen kur­zen Fuß­weg oder eine S‑Bahnstation vom »Protest-Camp« entfernt.)

Von jeder Wand muss es her­un­ter­schreien: Anti-Israelische Raum­nahme durch Graf­fiti. Foto: privat

Israelhass als kultureller Code

Eine wesent­li­che Ziel­gruppe die­ser natio­na­lis­ti­schen Kam­pa­gnen­pra­xis ist ein wei­te­res, eher dif­fu­ses, for­mal unor­ga­ni­sier­tes, aktivistisch-künstlerisches Milieu von Per­so­nen an oder im Umfeld von Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen oder Hoch­schu­len, die sich mehr­heit­lich als links oder links­li­be­ral ver­ste­hen wür­den. Im Fokus stan­den in jeweils ande­rer Weise die Hoch­schule für bil­dende Künste Ham­burg (HfBK), das Kul­tur­zen­trum Kamp­na­gel und seit dem Früh­jahr 2024 zuneh­mend die Uni­ver­si­tät Hamburg.

Der Kam­pa­gnen­po­li­tik im Sinne eines undif­fe­ren­zier­ten, kom­pro­miss­lo­sen paläs­ti­nen­si­schen Natio­na­lis­mus wird im wei­te­ren künstlerisch-aktivistischen Milieu von einer Hal­tung Raum gege­ben, in der das Res­sen­ti­ment gegen Israel (als Schlag­wort: »die Isra­el­kri­tik«) affek­tiv ver­an­kert ist. Durch­aus auch auf­grund die­ser jahr­zehn­te­al­ten natio­na­lis­ti­schen Kam­pa­gnen wie des ent­spre­chen­den Erbes der Neuen Lin­ken nach 1968, fun­gie­ren die »Isra­el­kri­tik«, der »Anti-Zionismus«, die Dämo­ni­sie­rung Isra­els als ein kul­tu­rel­ler Code, wie dies die His­to­ri­ke­rin Shul­a­mit Vol­kov benannt hat (2000: 84ff.), d.h. als »Erken­nungs­zei­chen der Zuge­hö­rig­keit zu einem bestimm­ten, sub­kul­tu­rel­len Milieu« und einer emo­tio­na­li­sier­ten moralisch-politischen Hal­tung: Im Mit­tel­punkt, so Vol­kovs Ana­lyse, ste­hen nicht die tat­säch­li­chen Fra­gen, son­dern »der sym­bo­li­sche Wert, ihnen gegen­über einen Stand­punkt zu bezie­hen.« Und heute gilt umso deut­li­cher was Vol­kov bereits in den 1980er Jah­ren fest­ge­hal­ten hatte, dass glo­bal anschei­nend »die Juden oft zum Sym­bol für all das gewor­den [sind][…], was man am Wes­ten geh­aßt und ver­ab­scheut hat«: nament­lich Kolo­nia­lis­mus, Natio­na­lis­mus und Ras­sis­mus, Aus­beu­tung, Aus­gren­zung und Unter­drü­ckung.[1]

Dämo­ni­sie­ren­der Isra­el­hass muss nicht selbst pro­pa­giert wer­den, son­dern des­sen Nor­ma­li­sie­rung als ein kul­tu­rel­ler Ori­en­tie­rungs­punkt ist das ent­schei­dende Moment, wie es Lukas Betz­ler an die­ser Stelle anhand des Kli­ma­fes­ti­vals im Januar auf Kamp­na­gel exem­pla­risch beschrie­ben hat. In die­sem kul­tu­rel­len Klima aus offe­ner Aggres­sion und bes­ten­falls ver­un­si­cher­ter Derea­li­sie­rung ange­sichts eines »kon­tro­ver­sen The­mas« – Anti­se­mi­tis­mus und ein poli­tisch kom­ple­xer, his­to­risch auf­ge­la­de­ner Kon­flikt – bil­den sich die Mög­lich­keits­räume und Gele­gen­heits­struk­tu­ren, die ein Medium von Juden­hass in der Gegen­wart darstellen.

»Berechtigter« Antisemitismus?

Auf­rufe zu Gewalt gegen Jüdin­nen und Juden, Israe­lis, »Zio­nis­ten« – auf Social Media oder zumin­dest eini­gen Ham­bur­ger Schul­hö­fen immer weni­ger codiert zu hören –, sind dabei ein Moment. Ent­schei­den­der sind die Derea­li­sie­rung und Kon­se­quenz­lo­sig­keit der für sich spre­chen­den Taten und Tat­sa­chen, die Ver­schie­bung der Debatte auf den »Anti­se­mi­tis­mus­vor­wurf« statt den Anti­se­mi­tis­mus, und die Ver­wei­ge­rung von Empa­thie gegen­über den Erfah­run­gen von Jüdin­nen und Juden. Ent­schei­den­der ist das Miss­trauen, das der­art ent­steht. Die immer hem­mungs­lo­sere Aggres­sion zieht ihre Ziele – Jüdin­nen und Juden; Akteure, die sich gegen Anti­se­mi­tis­mus und Isra­el­hass posi­tio­nie­ren; belie­bige Fes­ti­val­ver­an­stal­ter, die ein unter­wer­fen­des Bekennt­nis ver­wei­gern – mit in Ver­dacht. In die­sem kul­tu­rel­len Klima prägt sich Anti­se­mi­tis­mus als soge­nann­ter sekun­dä­rer aus, als Entlastungs- oder Schuld­ab­wehr­an­ti­se­mi­tis­mus: Die Opfer wer­den für Gewalt, Hass und Ver­fol­gung, die auf sie gerich­tet wer­den, ver­ant­wort­lich gemacht. Oder wie der Sozio­loge Det­lev Claus­sen in Gren­zen der Auf­klä­rung sar­kas­tisch for­mu­lierte (2005, XIV): »Unter Anti­se­mi­tis­mus wird eine unbe­rech­tigte Aggres­sion gegen Juden ver­stan­den; aber berech­tigte Angriffe sind denk- und arti­ku­lier­bar geworden.«

Die Wände und Räume der Stadt sind ein pas­sen­des Bild für das, was heute Anti­se­mi­tis­mus heißt, die aktu­ellste Recht­fer­ti­gung von anti­jü­di­scher Aggres­sion in Wort und Tat: Von jeder Wand muss es her­un­ter schreien. Jeder Raum soll mit der abso­lu­ten Gewiss­heit besetzt wer­den. Nichts Abwei­chen­des mag noch ertra­gen wer­den. Der sich ste­tig selbst radi­ka­li­sie­rende, kom­pro­miss­un­fä­hige, hoch emo­tio­na­li­sierte Modus der anti-israelischen Camps, Graf­fi­tis, Kam­pa­gnen und Bekennt­nisse ent­hält das Res­sen­ti­ment gegen Geist, Dia­log und Refle­xion und zwingt die unüber­sicht­li­che Welt in sein ein­deu­ti­ges Schema von Gut und Böse. Und von sol­cher in wider­spruchs­lo­sen Räu­men ver­stärk­ten (Selbst-)Gewissheit ist es nur noch ein kur­zer Weg dahin, den von den eige­nen mar­tia­li­schen Paro­len erzeug­ten Mythos als Rechts- und Macht­an­spruch in die (Gewalt-)Tat umset­zen zu dür­fen, ja gera­dezu: umset­zen zu müssen.

Man wäge genau ab, wo man hin­gehe, berich­tet eine aus der Ukraine geflüch­tete Ham­bur­ger Jüdin der taz: »Ich frage mich: Wann werde ich ange­grif­fen?« Die all­ge­gen­wär­tige, Israel dämo­ni­sie­rende Pro­pa­ganda, die Ver­ein­nah­mung des Raums der Stadt, das kul­tu­relle Klima erzeu­gen für Jüdin­nen und Juden eine Atmo­sphäre der Bedro­hung und des Aus­schlus­ses von Orten ihres All­tags. Gegen die allzu breit akzep­tierte, fal­sche Wahr­neh­mung zweier glei­cher­ma­ßen kompromiss- und dia­log­un­fä­hi­ger »Geg­ner« ist fest­zu­hal­ten: Wäh­rend die anti-israelischen Aktivist:innen selbst­er­klärt für ein poli­ti­sches Anlie­gen ein­tre­ten und die Frei­heit rekla­mie­ren, Men­schen mit abwei­chen­den Hal­tun­gen zu bedro­hen, wol­len Jüdin­nen und Juden ein­fach in Frei­heit von sol­cher Dro­hung in ihrer Stadt leben.

– Die­ser Arti­kel erschien in einer frü­he­ren Ver­sion auf vernetztgegenrechts.hamburg –

Flo­rian Hes­sel, August 2024

Der Autor lebt in Ham­burg und hat allzu oft keine Wahl als über diese Gesell­schaft und ihren Anti­se­mi­tis­mus zu leh­ren und zu schrei­ben.

Der Autor dankt Janne Misie­wicz und Olaf Kis­ten­ma­cher sowie der Redak­tion Untiefen.


[1] Ähn­li­ches gilt auch für einige post­mi­gran­ti­sche, stär­ker türkisch- oder arabisch-nationalistisch geprägte Milieus. Hier ver­bin­det sich ähn­lich wie im Isla­mis­mus der eini­gende, dämo­ni­sie­rende Isra­el­hass mit Res­sen­ti­ments gegen Min­der­hei­ten wie Kurd:innen oder Yezid:innen – gerade wo diese ihre eigene Ver­fol­gungs­er­fah­rung im Mas­sa­ker vom 7. Okto­ber und des­sen Rela­ti­vie­rung reflek­tiert sehen.

Der neue Garten des Kapitalismus

Der neue Garten des Kapitalismus

Im Her­zen Ham­burgs wurde der ehe­ma­lige Flak­turm IV, der Bun­ker an der Feld­straße, auf­ge­stockt und begrünt. In die­sem Zuge sollte auch ein Dach­gar­ten als Park für die Öffent­lich­keit ent­ste­hen. Her­aus­ge­kom­men ist eine alles andere als ein­la­dende Dau­er­wer­be­flä­che. Sie ist auch ein Fens­ter auf die der­zei­tige Stadt­ent­wick­lung und ‑ver­wer­tung.

Der Bun­ker an der Feld­straße kurz nach der Eröff­nung des Dach­gar­ten­ho­tels. Foto: privat. 

„Ein Park soll zum Ver­wei­len ein­la­den“, hieß es in der im Mai 2015 erschie­ne­nen zwei­ten Aus­gabe des Ideen­jour­nals für eine Stadt­na­tur auf St. Pauli. Her­aus­ge­ge­ben hatte das Heft eine im Jahr 2014 gegrün­dete Initia­tive von Anwohner:innen, die sich für die Begrü­nung des ehe­ma­li­gen Flak­bun­kers an der Feld­straße ein­setzte – so zumin­dest die öffent­li­che Dar­stel­lung. Kri­tik an dem Pro­jekt gab es schon zu die­sem Zeit­punkt. Neben Zwei­feln an der Selbst­dar­stel­lung der Initia­tive warn­ten ansäs­sige urban-gardening-Grup­pen auch vor der Ver­ein­nah­mung stadteil­po­li­ti­scher Anlie­gen durch Inves­to­ren und Krea­tiv­agen­tu­ren. In einer gemein­sa­men Stel­lung­nahme aus dem Jahr 2014 ver­ur­teil­ten sie „die mar­ke­ting­tech­nisch gewitzte Prä­sen­ta­tion des Groß­vor­ha­bens“. Die „Bun­ker­groß­bau­stelle beschert uns eine grüne Aufwertungsspirale.“

Rund zehn Jahre spä­ter, im Juli 2024, fei­er­ten der Dach­gar­ten und mit ihm unter ande­rem ein Hotel in sei­nem Inne­ren ihre Eröff­nung. Die Kri­tik ist mitt­ler­weile fast ver­stummt. Die Lokal­presse über­nahm nicht nur den Marketing-Sprech vom „grü­nen Bun­ker“, sie beju­belt ihn nahezu durch­gän­gig als „neues Wahr­zei­chen Ham­burgs“. Doch ein Blick hin­ter die Fas­sade – oder bes­ser: ihr Gestrüpp – eröff­net ein ande­res Bild. Der Park, wenn er denn so genannt wer­den kann, lädt nicht gerade zum Ver­wei­len ein. Viel­mehr scheint der Dach­gar­ten vor allem ein geschick­tes Mar­ke­ting­tool zu sein, das nicht nur den Bun­ker auf­stockt, son­dern auch das fik­tive Kapi­tal von Immo­bi­li­en­port­fo­lios. Zeit also für eine Bestandsaufnahme. 

Das Versprechen des Parks

In der Moderne trug der Park ein Ver­spre­chen in sich. Im städ­ti­schen Raum gele­gen, sollte er offen für alle und frei zugäng­lich sein; Erho­lung, Sport, Spiel und Ent­span­nung vor allem jenen bie­ten, die – ein­ge­pfercht in Fabri­ken und beengte Wohn­ver­hält­nisse – kei­nen Zugang zur freien Natur hat­ten. Darin unter­schei­det er sich vom herr­schaft­li­chen Gar­ten, der zuvor­derst Macht und Reich­tum reprä­sen­tiert und mehrt. Der Stadt- sowie der Alto­naer Volks­park, die beide um die Jahr­hun­dert­wende erdacht und in der Folge gestal­tet wur­den, kön­nen als Bei­spiele öffent­li­cher Parks die­nen. Sollte nun die­ses Ver­spre­chen nicht in fal­scher Nost­al­gie als Folie der Kri­tik auf­ge­spannt wer­den, so lag es jedoch auch dem nun begrün­ten Bun­ker zugrunde. In der ers­ten Aus­gabe des oben erwähn­ten Ideen­jour­nals war etwa die Rede von einer „völ­lig neuen Stadt­na­tur“, von „Gar­ten­flä­chen, auf denen man sich zum Pick­nick trifft“, es sollte ein „Gar­ten vie­ler wer­den“ – gar ein „Pilot­pro­jekt“, das „nicht zuletzt für mehr Lebens­qua­li­tät in der wach­sen­den Stadt“ sor­gen sollte.

Wie die­ser Park zum Ver­wei­len oder Pick­ni­cken ein­la­den soll, wenn selbst ein But­ter­brot nicht erlaubt ist, bleibt unklar. Foto: privat

Die Rea­li­tät sieht anders aus. Gleich am Ein­gang, der mit mar­tia­li­schen Dreh­kreu­zen (Öff­nungs­zei­ten der­zeit 9 bis 21 Uhr, nicht wie ver­spro­chen 7 bis 23 Uhr) auf­war­tet, pran­gen vier große Ver­bots­schil­der: keine Hunde, keine mit­ge­brach­ten Spei­sen und Getränke, Rauch­ver­bot. Durch­ge­setzt wer­den diese Ver­bote von einem pri­va­ten Sicher­heits­dienst, der die Besucher:innen nicht nur auf Schritt und Tritt beäugt, son­dern am Ein­gang bis­wei­len auch strengs­tens durch­sucht. Der Zutritt zum Dach­gar­ten fühlt sich an wie ein Grenz­über­tritt. Wer es dann über die Grenze schafft, sollte jedoch kein grü­nes Para­dies erwar­ten. Denn wie die­ser Park zum Ver­wei­len oder Pick­ni­cken ein­la­den soll, wenn selbst ein But­ter­brot nicht erlaubt ist und Sitz­mög­lich­kei­ten – zumin­dest sol­che, für die nicht kon­su­miert wer­den muss – rar sind, bleibt unklar. Zumin­dest der­zeit scheint es, als hoffe man auf einen mög­lichst kur­zen Auf­ent­halt der Besucher:innen. Immer­hin ist der Zutritt zum Gar­ten auf 900 Per­so­nen begrenzt und es sol­len ja mög­lichst viele über den soge­nann­ten „Berg­pfad“ auf den Bun­ker stei­gen, um zumin­dest das Ver­spre­chen eines öffent­li­chen Parks gewahrt blei­ben zu las­sen. Bar­rie­re­frei ist der Dach­gar­ten indes nicht. Wer im Roll­stuhl sitzt oder nicht gut zu Fuß ist, kommt „nur auf spe­zi­elle Nach­frage und in Beglei­tung“ ganz nach oben.

Der Dach­gar­ten ist ein tro­ja­ni­sches Pferd aus Beton und Gestrüpp. Unter dem Schein der Gemein­nüt­zig­keit las­sen sich die innen­lie­gen­den Flä­chen nur umso bes­ser vermarkten.

Aber wofür dann der große Auf­wand und die in der Presse genannte Inves­ti­ti­ons­summe von 60 Mil­lio­nen Euro? In der offi­zi­el­len Erzäh­lung heißt es, dass die Ver­mie­tung der Räume im Inne­ren des auf­ge­stock­ten Bun­kers seine Begrü­nung finan­ziere und die lau­fen­den Kos­ten decke. Nun, nach der Eröff­nung, scheint doch ein­ge­trof­fen zu sein, was man­che schon vor eini­ger Zeit befürch­tet hat­ten. Der Dach­gar­ten ist ein tro­ja­ni­sches Pferd aus Beton und Gestrüpp. Unter dem Schein der Gemein­nüt­zig­keit las­sen sich die innen­lie­gen­den Flä­chen nur umso bes­ser ver­mark­ten. So geriert sich der grüne Bun­ker als Park für alle, fällt jedoch hin­ter sein Ver­spre­chen zurück. Ent­stan­den ist ein neu­ar­ti­ger herr­schaft­li­cher Gar­ten – nicht eines früh­neu­zeit­li­chen Mon­ar­chen, son­dern eines Unter­neh­mers im Zeit­al­ter des digi­ta­len Finanz­markt­ka­pi­ta­lis­mus. Der ver­meint­lich öffent­li­che Dach­gar­ten soll nicht Reich­tum zur Schau stel­len, son­dern ein pro­fi­ta­bles Invest­ment ermög­li­chen und gegen Kri­tik schützen.

Öko-Gentrifizierung: die New Yorker High Line als zweifelhaftes Vorbild

Sowohl in der Lokal­presse als auch von­sei­ten der Macher:innen des Bun­kers wird immer wie­der auf die New Yor­ker High Line als Vor­bild des städ­ti­schen Dach­gar­tens ver­wie­sen. Aus einer alten Bahn­trasse wurde in der US-Metropole ein über zwei Kilo­me­ter lan­ger, mitt­ler­weile welt­be­rühm­ter Park. Eine lokale Inter­es­sens­ge­mein­schaft hatte sich Ende der 1990er Jahre zusam­men­ge­fun­den, um die Bahn­trasse vor ihrem Abriss zu ret­ten und in einen Park umzu­ge­stal­ten. Nach des­sen Eröff­nung wurde die High Line schnell zum Tourist:innen-Magnet. Ins­be­son­dere die umlie­gen­den Gebäude erfuh­ren eine mas­sive Wert­stei­ge­rung. Mitt­ler­weile wird in Ver­bin­dung mit der High Line auch von Öko-Gentrifzierung gespro­chen. Nun war diese Ent­wick­lung kein genui­nes Anlie­gen der High Line-Interessensgemeinschaft; auch man­che ihrer Gründer:innen kri­ti­sie­ren die mas­sive Wert­stei­ge­rung im Umfeld des neu­ge­schaf­fe­nen Parks.

Der Bun­ker ohne Dach­gar­ten im Jahr 2018. Foto: privat.

In der Bericht­erstat­tung um den grü­nen Bun­ker sowie in der Selbst­dar­stel­lung sei­ner Macher:innen erfah­ren diese Fol­gen der High Line keine Erwäh­nung. Es ver­hält sich beim Bun­ker auch anders. Ist zwar zu ver­mu­ten, dass eine wei­tere Attrak­tion im Stadt­teil zu des­sen Auf­wer­tung bei­trägt, so stei­gert die Begrü­nung wohl vor allem den Wert des Bun­kers selbst. Und: anders als bei der High Line war diese Ent­wick­lung hier wohl von vorn­her­ein geplant. Bereits Jahre bevor die ers­ten Besucher:innen den Bun­ker erklim­men konn­ten und noch vor sei­ner tat­säch­li­chen Begrü­nung, wurde er über letz­tere schon vor­aus­ei­lend zur Marke gemacht. Der Instagram-Account unter den Namen „ham­burg­bun­ker“ setzte schon Ende 2021 sei­nen ers­ten Post ab. Nur durch die ver­meint­lich gemein­wohl­ori­en­tierte Begrü­nung erfuhr der Bun­ker ein gro­ßes Medi­en­echo. In den letz­ten Mona­ten berichte die Lokal­presse wöchent­lich, zuletzt gar täg­lich über ihn.

Der Account ver­linkt auf die offi­zi­elle Web­seite der RIMC Bun­ker Ham­burg Hotel­be­triebs­ge­sell­schaft bezie­hungs­weise der RIMC Inter­na­tio­nal Hotels & Resorts GmbH, die den Zuschlag für die Ver­mie­tung und Ver­mark­tung der Innen­flä­chen erhal­ten hatte. Dass die bekannte Hard Rock-Kette nach lan­gem Hin-und-Her ihre neue Hotel­marke unter dem Namen „Reverb“ im Bun­ker plat­zie­ren konnte, dürfte sich für sie aus­zah­len, um diese, wie es im Jar­gon heißt, Brand Exten­sion bekannt zu machen. Die Medi­en­be­richt­erstat­tung häm­merte den Leser:innen bei­läu­fig nicht nur den Namen der neuen Hotel­marke ein, son­dern auch einen offen­bar aus fir­men­ei­ge­nen Pres­se­mit­tei­lugen abge­schrie­ben Pas­sus. Die­ses Hotel sei das erste sei­ner Art in Europa und damit wie der Bun­ker eine Attrak­tion, ja ein „Erleb­nis“. Das anhal­tende Medi­en­echo dürfte sich in den kom­men­den Jah­ren für künf­tige Ver­mie­tun­gen aus­zah­len und ins­ge­samt den Wert des Gebäu­des steigern.

Der neue Geist des Kapitalismus und seine Gärten

„Aus grau wird bunt“, lau­tet das Motto des Bun­kers bezie­hungs­weise der Flä­che, die die Betrei­ber­ge­sell­schaft nun ver­mark­tet. Ihr Logo setzt sich ent­spre­chend aus ver­schie­den­far­bi­gen Buch­sta­ben zusam­men. „Sankt Pauli bleibt bunt“, for­dert ein, zu sei­nen Füßen gesprüh­tes Graf­fiti; unweit ent­fernt bekennt ein ande­res ein „Herz für St. Pauli“. Unter­schrie­ben ist die­ses Graf­fiti auch mit Viva con Agua, einer ansäs­si­gen Non-Profit-Organisation, die jedoch in jün­ge­rer Zeit in Kri­tik geriet – unter ande­rem wegen eines von ihr betrie­be­nen Hotels unweit des Ham­bur­ger Hauptbahnhofs.

Die Ver­mark­tung des Bun­kers funk­tio­niert also nicht nur über seine Begrü­nung, son­dern ebenso über den Ver­kauf eines Lebens­ge­fühls. Die­ses Lebens­ge­fühl gene­riert sich über den immer wie­der genann­ten Stadt­teil. Die­sen kenn­zeich­nete einst, gerade nicht ver­markt­bar, son­dern wider­stän­dig zu sein. Das aber ist voll­ends vom Mar­ke­ting auf­ge­so­gen wor­den. So lässt sich gar der im Inne­ren des Bun­kers befind­li­che, bis heute jedoch nicht fer­tig­ge­stellte Informations- und Erin­ne­rungs­ort an Krieg und Zwangs­ar­beit in die Kam­pa­gnen inte­grie­ren. Das neue Hotel bewirbt sei­nen Stand­ort nicht nur mit einem im nach­bar­li­chen Stadt­teil zu fin­den­den „diverse mix of cul­tures“ und dem „artis­tic flair“, son­dern beher­bergte als ers­ten Gast auch öffent­lich­keits­wirk­sam einen Zeit­zeu­gen. Die Web­seite der Betrei­ber­ge­sell­schaft lädt dazu ein, die „Magie die­ses geschichts­träch­ti­gen Ortes selbst zu erle­ben“. Dass die bewor­bene Immo­bi­lie ein Nazi-Bunker war, wird zum Uni­que Sel­ling Point.

Eine unge­heure Mar­ken­samm­lung, Schild am Ein­gang des Bun­kers. Foto: privat

Ohne die Begrü­nung, aber auch nicht ohne die ehren­amt­li­che Arbeit der nach wie vor täti­gen Anwohner:innen-Initiative sowie die Aneig­nung ursprüng­lich lin­ker (stadtteil-)politischer Anlie­gen hätte der Bun­ker wohl nie die ihm nun zukom­mende Auf­merk­sam­keit erfah­ren. Am Bun­ker lässt sich damit eine zwar nicht mehr neue, aber zuneh­mende Form der Stadt­ent­wick­lung und ‑kapi­ta­li­sie­rung erken­nen, die grö­ßere Auf­merk­sam­keit ver­dient. Denn die Ver­wer­tung der Stadt wird heute nicht mehr gegen ihre Kri­tik durch­ge­setzt, son­dern mit ihr und über sie. Die Natur und ihre Rena­tu­rie­rung, die feh­len­den Frei- und Krea­tiv­räume in der beeng­ten Stadt, gar erin­ne­rungs­po­li­ti­sche Arbeit und damit die Spu­ren natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Herr­schaft, die im Wie­der­auf­bau noch unter grauem Beton ver­schwan­den, wer­den heute zu Ele­men­ten begehr­ter Investitionsobjekte.

Wie konnte das pas­sie­ren? Einige Hin­weise gibt die Ana­lyse der Soziolog:innen Luc Bol­tan­ski und Ève Chia­pello, die in Anleh­nung an Max Weber von einem „neuen Geist des Kapi­ta­lis­mus“ spre­chen. Die­ser neue Geist, der im All­ge­mei­nen die jeweils hege­mo­niale Form kapi­ta­lis­ti­scher Ver­hält­nisse mit Sinn und Legi­ti­ma­tion aus­stat­tet, zeich­net sich gegen­über sei­nen älte­ren For­men dadurch aus, dass er die einst gegen ihn gewen­dete Kri­tik auf­nahm und pro­duk­tiv wen­dete. Zu Hoch­zei­ten der Indus­trie­mo­derne bezie­hungs­weise des For­dis­mus in den 1960er Jah­ren wurde eine Kri­tik laut, die den Ver­hält­nis­sen etwa Sinn­ver­lust und Ent­frem­dung und damit man­gelnde Mög­lich­kei­ten der Selbst­ver­wirk­li­chung vor­warf. Es waren nun diese und andere Ele­mente der Künst­ler­kri­tik, wie es Bol­tan­ski und Chia­pello aus­drü­cken, die sich der Kapi­ta­lis­mus in der Krise der 1970er mehr und mehr aneig­nete. Heute fin­den sie sich etwa in der Manage­ment­li­te­ra­tur und der Figur krea­ti­ven Unter­neh­mer­tums wie­der. Aber nicht nur Arbeit wurde sub­jek­ti­viert, son­dern auch der Kon­sum – Pro­dukte erzäh­len eine Geschichte, stif­ten Sinn und Selbstverwirklichung.

In Waren trans­for­miert, rückt der Kapi­ta­lis­mus die einst­mals gegen ihn gerich­tete Kri­tik ins Zen­trum der Ver­wer­tung. Foto: privat

Wie an ande­rer Stelle die­ses Blogs gezeigt, las­sen sich auch in der Stadt­ent­wick­lung die öko­no­mi­schen und kul­tu­rel­len Trans­for­ma­tio­nen der 1970er und fort­fol­gen­den Jahr­zehnte als Wen­dung vom All­ge­mei­nen der Moderne zum Beson­de­ren der Post­mo­derne beschrei­ben: Sin­gu­la­ri­sie­rung statt Stan­dar­di­sie­rung. Gefragt ist nicht mehr der Wohn­block indus­tri­el­len Bau­ens, son­dern die ver­schnör­kelte Alt­bau­villa, ähn­li­ches gilt für Super­märkte und Hotels. Wer etwas ver­kau­fen will, wirbt mit den Ele­men­ten der Künst­ler­kri­tik wie Authen­ti­zi­tät, Indi­vi­dua­li­tät, Krea­ti­vi­tät, Sinn und Selbst­ver­wirk­li­chung[1]. Die­ses einst abge­lehnte Beson­dere – beim Bun­ker etwa seine Geschichte und das ihn umge­bende Stadt­vier­tel – kann der Kapi­ta­lis­mus jedoch nur bedingt aus sich selbst her­aus erzeu­gen. Er muss es aus exter­ner Quelle aneig­nen. In Waren trans­for­miert, rückt er die einst­mals gegen ihn gerich­tete Kri­tik ins Zen­trum der Ver­wer­tung. Dass der einst ver­spro­chene Park nun als Dach­gar­ten die spe­zi­fi­schen Qua­li­tä­ten eines Parks, also sei­nen Gebrauchs­wert, ver­lo­ren hat, liegt auch daran, dass er als Mar­ke­ting­tool vor allem Tausch­wert ist. Zu hof­fen bleibt der­zeit nur, dass sich aus die­sem Wider­spruch – die Ver­wer­tung zehrt das Beson­dere als Abs­trak­tes auf und beraubt sich somit ihrer eige­nen Quelle – das bal­dige Ende die­ser Form der Stadt­ent­wick­lung ergibt. Gegen diese Hoff­nung spre­chen jedoch die zahl­rei­chen Apologet:innen der neo­li­be­ra­len Stadt.

Die versuchte Ehrenrettung der neoliberalen Stadt

Es wird kaum jeman­den über­ra­schen, dass die Ham­bur­ger Sozi­al­de­mo­kra­tie nicht als Ver­tei­di­ge­rin der Wohl­fahrts­staat­lich­keit gegen die pri­vat­wirt­schaft­li­che Aneig­nung der Stadt auf­tritt. Bereits im Jahr 1983 hatte der dama­lige Ham­bur­ger Bür­ger­meis­ter und Sozi­al­de­mo­krat Klaus von Dohn­anyi  das „Unter­neh­men Ham­burg“ aus­ge­ru­fen und die Stadt zur Marke gemacht, wie es Chris­toph Twi­ckel in sei­nem nach wie vor lesens­wer­ten Gen­tri­fi­dings­bums beschreibt (kauft mehr Nautilus-Bücher!). Gerade diese Poli­tik und damit die Pri­va­ti­sie­rung der Stadt(-entwicklung) als Ort der Kapi­tal­ak­ku­mu­la­tion geriet jedoch im Herbst 2023 in die Krise. Der Elb­tower ist – neben ande­ren inner­städ­ti­schen Brach­flä­chen – deren sicht­bars­tes Zei­chen. Die Pleite der von René Benko gegrün­de­ten Signa Hol­ding führte indes nicht nur zum Bau­stopp zuvor gerühm­ter Pres­ti­ge­bau­ten, son­dern auch zu Zwei­feln, ob Investor:innen für die Gestal­tung des öffent­li­chen Rau­mes ver­ant­wort­lich sein soll­ten. Letzt­lich geriet die gesamte Erzäh­lung, der neue Geist des Kapi­ta­lis­mus, ins Wan­ken: René Benko, einst zur Licht­ge­stalt krea­ti­ven Unter­neh­mer­tums hoch­ge­schrie­ben, ist ein Betrüger.

Das neue Ant­litz der neo­li­be­ra­len Stadt? Die­ses Signa-Projekt am Gän­se­markt liegt seit län­ge­rer Zeit brach. Foto: privat.

Das seit Wochen zu ver­neh­mende über­schwäng­li­che Lob des begrün­ten Bun­kers dient inso­fern auch zur Ehren­ret­tung der neo­li­be­ra­len Stadt und sei­ner Unternehmer:innen. Etwa war Andreas Dressel, Finanz­se­na­tor und Sozi­al­de­mo­krat, bei der Eröff­nungs­feier des grü­nen Bun­kers „geflasht“. Er „lobte den Bau­her­ren über­schwäng­lich, der das gesamte Pro­jekt“, wie die Ham­bur­ger Mor­gen­post schreibt, „ohne einen Euro öffent­li­chen Gel­des durch­zog.“ Geret­tet ist damit offen­sicht­lich die Idee der neo­li­be­ra­len Stadt; einen öffent­li­chen Park gab es dafür jedoch nicht. Vor allem die Anwohner:innen pro­fi­tie­ren nicht von den Früch­ten, die in den neuen Gär­ten des Kapi­ta­lis­mus wach­sen – sie dür­fen dort ja nicht ein­mal einen Apfel essen.

Johan­nes Rad­c­zinski, August 2024

Der Autor genoss beim Ver­fas­sen die­ses Arti­kels alle Annehm­lich­kei­ten eines öffent­li­chen Parks (u.a. Sitz­ge­le­gen­hei­ten, mit­ge­brachte Getränke, Ziga­ret­ten) in Sicht­weite des begrün­ten Bun­kers. Auf Untie­fen blickte er bereits auf andere, in Schief­lage befind­li­che Orte der Ham­bur­ger Stadt­ent­wick­lung wie das Bis­marck­denk­mal oder auch die Rindermarkthalle.

[1] Dass die soge­nannte Rin­der­markt­halle in Nach­bar­schaft des Bun­kers, die durch die Frei­le­gung ihrer Back­stein­fas­sade vor rund zehn Jah­ren zu einem beson­de­ren, da authen­ti­schen und geschichts­träch­ti­gem Ort ver­mark­tet wurde, nun mit dem grü­nen Bun­ker auf ihrer Web­seite wirbt, ist kein Zufall. 

Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg

Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg

Die deut­sche Geschichte ist für radi­kal rechte Par­teien ein zen­tra­les Agi­ta­ti­ons­feld. Auch die Ham­bur­ger AfD ver­brei­tet einer­seits immer wie­der klas­sisch revi­sio­nis­ti­sche The­sen, die vor allem den Holo­caust und die Kolo­ni­al­ge­schichte umdeu­ten. Vor allem aber ver­tritt sie einen nost­al­gi­schen Natio­na­lis­mus, der für die eigene poli­ti­sche Agenda durch geziel­tes Aus­wäh­len und Ver­schwei­gen Mythen über die deut­sche Ver­gan­gen­heit entwirft.

Eine Mauer mit Stacheldraht auf der "Bismak Sucks!" geschrieben steht. Im Hintergrund ist die Hamburger Bismarkstatue zu sehen.
Bezugs­punkt des rech­ten Revi­sio­nis­mus: Der erste Reichs­kanz­ler und Sozia­lis­ten­jä­ger Otto von Bis­marck. Das deutsch­land­weit größte Denk­mal für ihn steht auf St. Pauli. Foto: Marco Hosemann

Die­ser Arti­kel erscheint par­al­lel auf AfD Watch Ham­burg.


Das Ver­hält­nis zur deut­schen Ver­gan­gen­heit ist die zen­trale Ein­tritts­karte in den poli­ti­schen Dis­kurs der BRD. Offene Holo­caust­leug­nung oder ‑rela­ti­vie­rung sind nicht nur straf­bar, son­dern auch poli­tisch äußerst schäd­lich. Bei der popu­lis­ti­schen, als Ver­tei­di­ge­rin der Demo­kra­tie auf­tre­ten­den AfD spie­len sie daher auch in Ham­burg nur eine unter­ge­ord­nete Rolle. Den­noch wird immer wie­der erkenn­bar, dass es sich hier um stra­te­gi­sche Zurück­hal­tung handelt.

Offe­ner Revisionismus

Bekannt sind etwa NS-Relativierungen des Ham­bur­ger AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Bau­mann, frü­here revi­sio­nis­ti­sche Kom­men­tare des der­zei­ti­gen Ham­bur­ger AfD-Pressesprechers Robert Offer­mann und der Ver­dacht auf anti­se­mi­ti­sche Aus­sa­gen eines Mit­ar­bei­ters der Bür­ger­schafts­frak­tion. Am meis­ten Auf­se­hen erregte wohl der stell­ver­tre­tende Frak­ti­ons­vor­sit­zende der AfD in der Bür­ger­schaft, Alex­an­der Wolf. 2017 wurde bekannt, dass er 1994 eine Samm­lung von NS-Liedern unter dem Titel „Schlacht­ruf“ her­aus­gab, in deren Vor­be­mer­kun­gen er mit Blick auf die Kapi­tu­la­tion Nazi-Deutschlands im Zwei­ten Welt­krieg zu einem „ent­schlos­se­nen Nie wie­der!’“ auf­rief.

Alex­an­der Wolf, geschichts­po­li­ti­scher Scharfmacher

Über­haupt, Alex­an­der Wolf: Er ist in der Bür­ger­schafts­frak­tion der Mann für die pro­vo­kan­ten his­to­ri­schen The­sen. So behaup­tete er etwa im März 2023 in der Bür­ger­schaft, die Nazis hät­ten sich „kei­nes­wegs als rechts, son­dern bewusst als Sozia­lis­ten“ ver­stan­den. Die DDR und den NS-Staat par­al­le­li­sierte er als „Dik­ta­tu­ren“, um sogleich zu sei­nem eigent­li­chen Anlie­gen zu kom­men, näm­lich der Lüge, auch der heu­tige Kampf gegen Rechts sei wie­der ähn­lich eine ähn­li­che „Frei­heits­ein­schrän­kung“ und „Aus­gren­zung“.

„Vogel­schiss“ als Pro­gramm: der nost­al­gi­sche Nationalismus

Diese offe­nen Rela­ti­vie­run­gen sind aber die Aus­nahme. Die wirk­li­che geschichts­po­li­ti­sche Stra­te­gie der Ham­bur­ger AfD besteht darin, die Gau­land­sche Rede vom „Vogel­schiss“ in die Pra­xis umzu­set­zen. In den Bei­trä­gen der AfD-Abgeordneten fin­det sich kaum eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus oder mit der Kolo­ni­al­ge­schichte. Und wenn diese The­men berührt wer­den, dann geht es stets darum, für die radi­kal rechte Poli­tik nostalgisch-nationalistische, posi­tive Anker­punkte in der deut­schen Geschichte des 19. und 20. Jahr­hun­derts zu finden.

His­to­ri­sche Wür­di­gung for­dert die AfD etwa für fol­gende Grup­pen: die Ver­schwö­rer um Claus Schenk Graf von Stauf­fen­berg („Höhe­punkt des deut­schen Wider­stands“), die Opfer der alli­ier­ten Bom­bar­die­rung Ham­burgs im Juli 1943 („Kriegs­ver­bre­chen“), die Auf­stän­di­gen vom 17. Juni 1953 in der DDR („iden­ti­täts­stif­ten­des Datum“) sowie für die an der Gren­zen zwi­schen DDR und BRD Ermor­de­ten und den Mau­er­bau 1961 („Schick­sals­da­tum der deut­schen Nation“).

Und die im Jahr 2020 auf­ge­kom­me­nen Rufe nach einem Denk­mal für die Leis­tun­gen der soge­nann­ten tür­ki­schen „Gast­ar­bei­ter“ kon­terte Wolf im Novem­ber 2021 mit der For­de­rung, statt­des­sen ein Denk­mal für „Trüm­mer­frauen“ zu schaffen.

Das Kai­ser­reich soll rechts­ra­di­kale Her­zen wärmen

Neben den deut­schen Opfern alli­ier­ter Bom­ben und kom­mu­nis­ti­scher SED-Herrschaft sowie patrio­ti­schen kon­ser­va­ti­ven Gene­rä­len steht vor allem das Deut­sche Kai­ser­reich im Zen­trum der AfD-Geschichtspolitik. Eine Folge des Pod­casts „(Un-)Erhört!“ der Ham­bur­ger AfD-Fraktion vom Januar 2021 zum 150. Jah­res­tag der Reichs­grün­dung 1871 illus­triert das. 

Zum ein­gangs gespiel­ten „Heil dir im Sie­ger­kranz“ spricht Wolf von einem „der glück­lichs­ten Momente der deut­schen Geschichte“. Heu­tige Politiker:innen wür­den sich jedoch der Erin­ne­rung daran ver­wei­gern, sie hät­ten ein „gestör­tes Ver­hält­nis zur „eige­nen Geschichte“. So hätte die „über tau­send­jäh­rige Geschichte Deutsch­lands“ zwar „pro­ble­ma­ti­sche Sei­ten“, doch sei sie eben auch „mehr“. Ab dort ver­schwin­det der Natio­nal­so­zia­lis­mus aus die­ser Erzäh­lung und das heu­tige Deutsch­land wird schlicht in Kon­ti­nui­tät zum Kai­ser­reich gesetzt. Das ist eine ganz bewusste Kon­struk­tion einer Tra­di­tion, die nur über Aus­las­sung funk­tio­niert. An die „posi­ti­ven Momente der Geschichte“ soll erin­nert wer­den, so Wolf wei­ter, „weil das unsere Iden­ti­tät prägt. Eine Nation lebt nicht nur von der Ratio und von der Ver­fas­sung, son­dern auch von einem posi­ti­ven Gemein­schafts­ge­fühl.“ Nur dar­aus könn­ten „Soli­da­ri­tät und Mit­ein­an­der erwachsen.“

Gerei­nigt wer­den soll die deut­sche Geschichte also nicht, indem der Holo­caust geleug­net wird. Der „Schuldkult“-Vorwurf wird hier sub­ti­ler for­mu­liert: Der beding­ten Aner­ken­nung der Ver­bre­chen in den 12 Jah­ren NS-Herrschaft wird eine sau­bere Ver­sion der ver­meint­lich ande­ren 988 Jahre deut­scher Geschichte und deut­schen Glan­zes entgegengestellt.

Die Hamburger Bismarkstatue zwischen zwei Baumkronen.
Bis­marck, Begrün­der des deut­schen Kolo­ni­al­rei­ches, strahlt frisch reno­viert. Foto: Marco Hosemann

Mit Bis­marck gegen die Wahrheit

Diese Stra­te­gie zeigt sich auch an der Posi­tion der AfD zur Debatte um das Otto von Bismarck-Denkmal auf St. Pauli. In einer Folge des besag­ten Pod­casts vom Juli 2021 zeich­net Wolf den ers­ten Reichs­kanz­ler als eine posi­tive Figur der deut­schen Geschichte. Die gefor­derte Neu-Kontextualisierung des Denk­mals sei selbst Geschichts­re­vi­sio­nis­mus, schließ­lich würde Bis­marck dabei „aus dem Blick­win­kel eines Anti­fan­ten und einer Femi­nis­tin“ gese­hen. Die soge­nannte Westafrika-Konferenz 1884/85 in Ber­lin, zu der Bis­marck ein­lud und bei der die euro­päi­schen Groß­mächte den afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent als Kolo­ni­al­be­sitz unter sich auf­teil­ten, ver­schweigt Wolf dabei nicht. Aber er stellt sie als rein frie­dens­stif­tende Maß­nahme zur Siche­rung der inner­eu­ro­päi­schen Ord­nung dar. Das funk­tio­niert wie­derum nur durch Aus­blen­den der Fol­gen für die kolo­ni­sier­ten Bevöl­ke­run­gen außer­halb Euro­pas. Aber mehr noch: Kolo­nia­lis­mus ist für Wolf „nicht per se von vorn­her­ein schlecht“. Denn es sei „viel Posi­ti­ves geleis­tet wor­den, Infra­struk­tur, Gesund­heit etc.“ Es dürfe eben nicht „ein­sei­tig die nega­tive Brille“ auf­ge­setzt wer­den, wie es bei der Black Lives Matter-Bewegung gesche­hen sei. So hält Wolf dann auch die gän­gige For­schungs­po­si­tion, dass die Deut­schen 1904/5 in Süd­west­frika einen Völ­ker­mord began­gen haben, für „absurd“, ja „Quatsch“. Man sieht: Obwohl nost­al­gi­scher Natio­na­lis­mus die Kern­stra­te­gie der AfD Ham­burg aus­macht, ist der Schritt zu offe­nem Revi­sio­nis­mus schnell gemacht.

Redak­tion Untie­fen, März 2024

»Über 1000 Fälle«

»Über 1000 Fälle«

Am 19.01. eröff­nete im Ham­bur­ger Rat­haus eine Son­der­aus­stel­lung über »Rechte Gewalt in Ham­burg von 1945 bis heute«. Unter den Macher:innen sind auch Betrof­fene und Ange­hö­rige von Opfern rech­ter Gewalt. Die Aus­stel­lung bie­tet einen sehr guten Ein­stieg in die lokale Geschichte rechts­extre­mer Gewalt, ringt aber mit eini­gen Schwierigkeiten.

Aus­schnitt des Ausstellungs-Plakats. Bild: Stif­tung Ham­bur­ger Gedenk­stät­ten und Lernorte

Im gro­ßen Fest­saal des Rat­hau­ses wurde ges­tern, am 19.01.2024, die neue Son­der­aus­stel­lung »Rechte Gewalt in Ham­burg von 1945 bis heute« eröff­net. Wie schon seit über 20 Jah­ren prä­sen­tiert die Bür­ger­schaft wie­der anläss­lich des Gedenk­ta­ges für die Opfer des Natio­nal­so­zia­lis­mus am 27. Januar eine neue tem­po­räre his­to­ri­sche Aus­stel­lung. Unge­wöhn­lich ist die­ses Mal die große Aktua­li­tät. Denn die neue Aus­stel­lung beleuch­tet rechte Gewalt nach dem Zwei­ten Welt­krieg – bis heute. Ver­ant­wor­tet wird sie dabei wie immer von der KZ-Gedenkstätte Neu­en­gamme.
Die Aus­stel­lung eröff­net mit den per­sön­li­chen Geschich­ten von fünf Todes­op­fern rech­ter Gewalt in  Hamburg:

Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân (1980; Nazi-Brandanschlag auf Flücht­lings­un­ter­kunft in der Hals­ke­straße), Meh­met Kay­makçı (1985; erschla­gen von Skin­heads im Kiwitts­moor­park), Rama­zan Avcı (1985; erschla­gen von Skin­heads an der S‑Bahn-Station »Land­wehr«) und Süley­man Taş­köprü (2001; erschos­sen in der Schüt­zen­straße von Ter­ro­ris­ten des »NSU«).

Auch das letzte Wort haben die Betrof­fe­nen. In einer Video­sta­tion wer­den Aus­schnitte aus Inter­views mit Über­le­ben­den rech­ter Gewalt und Ange­hö­ri­gen von Opfern gezeigt, die unter ande­rem von dem jahr­zehn­te­lan­gen Des­in­ter­esse von Staat und Gesell­schaft und sogar Geden­kinitia­ti­ven an ihren Erfah­run­gen und Per­spek­ti­ven berich­ten.
Aber nicht nur in der Aus­stel­lung kom­men die Betrof­fe­nen zu Wort, auch in der Ent­ste­hung waren sie betei­ligt. Im Gespräch mit Untie­fen sagt Lenn­art Onken (KZ-Gedenkstätte Neu­en­gamme), einer der Kurator:innen: »Ins­be­son­dere für die ers­ten fünf Tafeln haben wir eng mit Initia­ti­ven und Ange­hö­ri­gen zusam­men­ge­ar­bei­tet, haben Texte und Bild­aus­wahl inten­siv bespro­chen. Das war ein sehr span­nen­der Pro­zess, bei dem auch wir sehr viel gelernt haben.«

İbrahim Ars­lan: »Ich führe das zurück auf unse­ren Wider­stand und unsere Kämpfe«

Einer der Mit­ge­stal­ter, der Akti­vist İbrahim Ars­lan (Über­le­ben­der des ras­sis­ti­schen Brand­an­schlags 1992 in Mölln) betont gegen­über Untie­fen: »Wir haben die gesamte Aus­stel­lung gemein­sam kon­zi­piert, haben die Ver­net­zung der Betrof­fe­nen und das Empower­ment gemacht und unsere Exper­tise ein­ge­bracht.« Er fin­det die Aus­stel­lung gelun­gen, denn: »Die Betrof­fe­nen sind zufrie­den. Ihre Wün­sche und Bedürf­nisse ste­hen im Vor­der­grund. Das ist rela­tiv neu, dass Antifaschist:innen und Anti­ras und Insti­tu­tio­nen uns ein­be­zie­hen. Ich führe das zurück auf unse­ren Wider­stand und unsere Kämpfe. Wir machen her­vor­ra­gende Arbeit und lang­sam wer­den unsere Inter­ven­tio­nen auch staat­lich anerkannt.«

Die Aus­stel­lung prä­sen­tiert auf über drei­ßig Tafeln die jeweils wich­tigs­ten und prä­gnan­tes­ten Fälle rech­ter Gewalt für die Nach­kriegs­jahr­zehnte, aber auch Wider­stands­be­we­gun­gen fin­den Erwäh­nung. So bie­tet sie einen sehr guten Über­blick über die Wel­len rech­ter Gewalt – und eig­net sich gut auch für jün­gere Antifaschist:innen, die viel­leicht das Gefühl haben, diese Geschichte Ham­burgs bis­lang nur bruch­stück­haft zu ken­nen. Aber auch für schon län­ger Inter­es­sierte gibt es neue Abgründe und bis­lang unbe­kannte Opfer zu ent­de­cken, selbst für den His­to­ri­ker Onken von der KZ-Gedenkstätte: »Beson­ders krass finde ich den Fall des Zei­tungs­bo­ten Rudi M., der 1988 in Eims­büt­tel von einem Skin­head ersto­chen wurde, weil er ihm angeb­lich homo­se­xu­elle Avan­cen gemacht hat. Ich hatte noch nie vor­her von Rudi M. gehört. Sein Fall ist total unbekannt.«

Nicht viel bekann­ter dürfte das Schick­sal des thai­län­di­schen Inge­nieurs Pray­ong Rung­jangs sein, der 1977 an den Fol­gen eines Neonazi-Übergriffs in der Tal­straße starb. Hier hält ledig­lich sein Sohn, der Video- und Objekt­künst­ler Arin Rung­jang, die Erin­ne­rung wach.

Der Gedenk­stein für Süley­man Tas­köprü in der Schüt­zen­straße in Bah­ren­feld. Foto: Kati Jurischka, Stif­tung Ham­bur­ger Gedenk­stät­ten und Lernorte

Was tun mit den Tätern?

Auch auf der Täter:innenseite lie­fert die Aus­stel­lung einen Über­blick über die Orga­ni­sa­tio­nen  und zen­tra­len Per­so­nen. Nazi-Haufen wie die »Ham­bur­ger Bru­der­schaft«, »Akti­ons­front Natio­na­ler Sozia­lis­ten«, die »Wehrwolf-Gruppe«, die »Deut­schen Akti­ons­grup­pen« und natür­lich der »NSU« wer­den vor­ge­stellt. Dabei ver­zich­ten die Kurator:innen auf per­sön­li­che Anek­do­ten und letzt­lich auch auf The­sen dazu, warum bestimmte Milieus und Per­so­nen ers­tens für rechts­extreme Ideo­lo­gie emp­fäng­lich sind und zwei­tens den Schritt zur Gewalt gehen. Ledig­lich für die unmit­tel­bare Gegen­wart ver­weist die Aus­stel­lung dar­auf, dass die Zustim­mungs­werte der AfD mit Beginn des Krie­ges gegen die Ukraine und der zuneh­men­den Infla­tion gestie­gen seien. Die theo­re­ti­sche Zurück­hal­tung ist vor dem Hin­ter­grund der Fokus­sie­rung auf die Opfer und aus Platz­grün­den zwar ver­ständ­lich, erschwert es aber, Schluss­fol­ge­run­gen für die Gegen­wart zu zie­hen. Das Video-Interview am Ende der Aus­stel­lung schließt mit Wor­ten Thời Trọng Ngũs, Über­le­ben­der des Anschlags in der Hals­ke­straße von 1980 und Akti­ver der »Initia­tive für ein Geden­ken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân«: »Wie kann man wei­tere Taten ver­mei­den? Das ist die Frage.« Die Aus­stel­lung ant­wor­tet auf ihren letz­ten Tafeln: durch anti­fa­schis­ti­schen und migran­ti­schen Wider­stand sowie durch brei­tes gesell­schaft­li­ches Enga­ge­ment und staat­li­che Maß­nah­men gegen Rechts. Das ist natür­lich uner­läss­lich. Aber bleibt der anti­fa­schis­ti­sche Wider­stand nicht im Modus des ewi­gen Reagie­rens, wenn er über kein Kon­zept der gesell­schaft­li­chen Hin­ter­gründe rech­ter Gewalt ver­fügt? Wenn er nicht nach der psy­chi­schen und öko­no­mi­schen Funk­tio­na­li­tät von Res­sen­ti­ment und Gewalt fragt?

İbrahim Ars­lan hebt im Gespräch auch hier die Bedeu­tung der Betrof­fe­nen­fo­kus­sie­rung her­vor: »Migran­tisch situ­ier­tes Wis­sen hat schon in den 1980ern ras­sis­tisch moti­vierte Taten vor­her­ge­sagt.« Sei­ner Wahr­neh­mung nach konnte man sich auch bei die­ser Aus­stel­lung nicht von »einer gewis­sen Täter­fo­kus­sie­rung« befreien. Das Inter­esse an den Täter:innen und den Tat­hin­ter­grün­den sei zwar ver­ständ­lich, grade jetzt ange­sichts der ans Licht gekom­me­nen Deportations-Pläne im Umfeld der AfD. Aber das führe eben immer wie­der zu der Vor­stel­lung, man habe es nun mit etwas Neuem zu tun. Statt­des­sen sei klar: »Die AfD wird von Neo­na­zis getra­gen. Diese Pläne gibt es schon seit der Grün­dung der AfD.« Und würde man Betrof­fe­nen zuhö­ren, so Ars­lan wei­ter, wüsste man, dass sie auch dar­auf schon lange hinweisen.

Was ist »rechte Gewalt«?

Eine kon­zep­tu­elle Unklar­heit der Aus­stel­lung ist der­weil deut­lich spür­bar. »Rechts­extre­mes Den­ken« wird zunächst breit gefasst, im Sinne einer all­ge­mei­nen, grup­pen­be­zo­ge­nen Men­schen­feind­lich­keit: »Grund­le­gend ist die Auf­fas­sung von einer gene­rel­len Ungleich­wer­tig­keit der Men­schen.« Laut Lenn­art Onken hat das Aus­stel­lungs­team in die­ser Per­spek­tive allein durch eigene Recher­chen eine Liste von 500 doku­men­tier­ten Fäl­len zusam­men­ge­stellt, die von Belei­di­gun­gen bis zum Mord rei­chen. Ein par­al­lel lau­fen­des For­schungs­pro­jekt der For­schungs­stelle für Zeit­ge­schichte Ham­burg (FZH), der KZ-Gedenkstätte sowie der Lan­des­zen­trale für poli­ti­sche Bil­dung unter dem Titel »HAMREA – Ham­burg rechts­au­ßen« hat laut Onken für Ham­burg und das Umland seit 1945 schon »über 1000 Fälle« zusam­men­ge­tra­gen – mit einer ver­mut­lich deut­lich höhe­ren Dun­kel­zif­fer. Die Ergeb­nisse die­ses For­schungs­pro­jekts wer­den fort­lau­fend sehr anschau­lich auf der neuen Web­site ver­öf­fent­licht: https://rechtegewalt-hamburg.de/
Selbst­ver­ständ­lich kön­nen aber 1000 oder auch nur 500 Fälle nicht in einer Aus­stel­lung prä­sen­tiert wer­den. Ange­sichts der Fülle rech­ter Taten fokus­sie­ren die Kurator:innen not­wen­dig auf bestimmte Opfer- und Täter­grup­pen. Laut Onken haben die Kurator:innen ver­sucht, für jedes Nach­kriegs­jahr­zehnt die zen­tra­len Fälle dar­zu­stel­len: »Wir haben uns gefragt: Was ist jeweils das bestim­mende Thema, das bestim­mende Feind­bild der extre­men Rech­ten gewe­sen?« Nur die sie­ben doku­men­tier­ten Todes­op­fer rech­ter Gewalt wur­den ohne sol­che Gewich­tung auf­ge­nom­men. Dar­un­ter ist auch der Fall des Bau­in­ge­nieurs Neşet Danış, der 1977 in Nor­der­stedt bei einem Über­fall von tür­ki­schen Rech­ten aus dem Umfeld der »Grauen Wölfe« lebens­ge­fähr­lich ver­letzt wurde und spä­ter sei­nen Ver­let­zun­gen erlag. Das wirft die Frage auf: Zäh­len sol­che nicht-deutschen extre­mis­ti­schen Gewalt­ta­ten zu »rech­ter Gewalt«? Und wie ist es mit isla­mis­ti­scher oder isra­el­feind­li­cher Gewalt, die ja auch anti­se­mi­tisch moti­viert ist? In der Aus­stel­lung tau­chen etwa von den spä­ten 1970ern bis in die 2020er keine anti­se­mi­ti­schen Gewalt­ta­ten auf.

Onken erläu­tert den Umgang des Kurator:innen-Teams so: »Wir haben recht früh gesagt, dass wir uns auf die bio­deut­sche extrem rechte Szene fokus­sie­ren.« Und für die wäre der Anti­se­mi­tis­mus zwar in den Nach­kriegs­jah­ren sehr wich­tig gewe­sen, in den 1980ern habe sich das Feind­bild aller­dings deut­lich auf Migrant:innen ver­la­gert. »Beim Anti­se­mi­tis­mus kommt noch hinzu, dass es kein Allein­stel­lungs­merk­mal der extre­men Rech­ten ist, son­dern da unter­schied­li­che Gruppe zur Tat schrei­ten.« Bei der Fokus­sie­rung habe auch die Sorge eine Rolle gespielt, sich durch wei­tere The­men in Dis­kus­sio­nen zu ver­stri­cken, die von der Kon­ti­nui­tät deut­scher extrem rech­ter Gewalt ablen­ken könn­ten. Onken ergänzt aller­dings: »Grade im Nach­gang des 7. Okto­ber 2023 ist frag­lich, ob das so auch in Zukunft wei­ter klug und mach­bar ist. Mit Blick auf den Isla­mis­mus würde es aus mei­ner Sicht Sinn machen, die extreme Rechte und den Isla­mis­mus enger zusam­men zu den­ken. Denn beide tei­len die Moder­ni­täts­feind­schaft und den viru­len­ten Antisemitismus.«

Die Fokus­sie­rung schafft es aber, zumin­dest für die deut­sche extrem rechte Gewalt, einen guten Über­blick über Opfer, Täter und Kon­ti­nui­tä­ten zu geben. Viel­leicht kann sie den Wunsch der Mehr­heits­ge­sell­schaft unter­lau­fen, in den kom­men­den rech­ten Mobi­li­sie­run­gen und den staat­li­chen Reak­tio­nen wie­der eigent­lich doch längst Über­wun­de­nes, Ewig­gest­ri­ges aus einer ganz ande­ren Zeit zu sehen. Gülü­stan Avcı, die Witwe des 1983 ermor­de­ten Rama­zan Avcı, beklagte bei der Eröff­nung der Aus­stel­lung am Frei­tag unter ande­rem, dass in Ham­burg bis heute kein Unter­su­chungs­aus­schuss zum Mord des „NSU“ an Süley­man Taş­köprü ein­ge­rich­tet wurde. Auch das kann man im Gedächt­nis behal­ten, wenn man die­ser Tage mit der »Mitte« und den regie­ren­den Par­teien gegen Rechts demonstriert.

Felix Jacob


Die Aus­stel­lung »Rechte Gewalt in Ham­burg von 1945 bis heute« ist vom 19.01.2024 bis zum 18.02.2024 kos­ten­los in der Rat­haus­diele zu sehen. Öffnungszeiten:

Mon­tag bis Frei­tag 7.00 –19.00 Uhr
Sams­tag 10.00 –18.00 Uhr
Sonn­tag 10.00 –17.00 Uhr

Die Web­site des For­schungs­pro­jek­tes »Ham­burg rechts­au­ßen. Rechts­extreme Gewalt- und Akti­ons­for­men in, mit und gegen die städ­ti­sche Gesell­schaft« ist unter https://rechtegewalt-hamburg.de/ zu erreichen.

45 Jahre Frauenhäuser in Hamburg

45 Jahre Frauenhäuser in Hamburg

Im August 1977 eröff­nete das erste der auto­no­men Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser. Seit­dem sind sie uner­läss­lich für den Schutz vor Gewalt. Doch die Plätze sind rar und die Finan­zie­rung von poli­ti­schem Wohl­wol­len abhän­gig. Aus einer femi­nis­ti­schen Pra­xis sind pre­käre Insti­tu­tio­nen gewor­den. Anläss­lich des Inter­na­tio­nen Tags gegen Gewalt an Frauen fragt unsere Autorin eine Mit­ar­bei­te­rin: Wie geht es den Ham­bur­ger Frau­en­häu­sern heute?

Die For­de­rung bleibt bestehen. Trans­pa­rent auf einer »One Billion-Rising«-Aktion gegen Gewalt an Frauen 2014 in Ham­burg. Foto: www.sommer-in-hamburg.de Lizenz: CC BY-SA 2.0

Für die Frau­en­be­we­gung der 1970er-Jahre war die Orga­ni­sie­rung gegen Gewalt gegen Frauen zen­tra­ler Bestand­teil der poli­ti­schen Arbeit. Gewalt in der Bezie­hung galt zuvor lange als »Ein­zel­schick­sal«. Die Frauen der zwei­ten Welle des Femi­nis­mus the­ma­ti­sier­ten diese männ­li­che Gewalt durch Selbst­er­fah­rungs­grup­pen und Orga­ni­sie­rung als struk­tu­rel­les Pro­blem von Frauen im Patri­ar­chat. Auch in Ham­burg orga­ni­sier­ten sich im Jahr 1976 Frauen, um gegen geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt zu kämp­fen. Sie grün­de­ten den Ver­ein Frauen hel­fen Frauen e.V. und erschu­fen inner­halb eines Jah­res das erste auto­nome Ham­bur­ger Frau­en­haus. Das Selbst­ver­ständ­nis damals: Das Frau­en­haus ist ein Teil der Frau­en­be­we­gung und soll unab­hän­gig sein – alle Frauen ent­schei­den gemein­sam, was pas­sie­ren soll.

Da die Finan­zie­rung noch nicht staat­lich abge­si­chert war, muss­ten die Frauen zunächst alles selbst machen – reno­vie­ren, Möbel orga­ni­sie­ren, Spen­den sam­meln, das Haus schüt­zen. So erin­nert sich auch eine Zeit­zeu­gin in der fil­mi­schen Doku­men­ta­tion »Juli 76 – Das Pri­vate ist Poli­tisch« an die ers­ten Jahre des Hau­ses: »Selbst­or­ga­ni­sa­tion. Selbst­be­stim­mung. Das ist auch eine Uto­pie gewe­sen.« Das Frau­en­haus selbst war femi­nis­ti­sche Praxis.

Selbstorganisation und Professionalisierung

Die Selbst­or­ga­ni­sa­tion stieß jedoch auch an zeit­li­che, finan­zi­elle und emo­tio­nale Gren­zen, wie die ehe­ma­lige Redak­teu­rin der Ham­bur­ger Frau­en­zei­tung Dr. Andrea Lass­alle in einer Chro­nik der Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser im digi­ta­len deut­schen Frau­en­ar­chiv nach­zeich­net. Inner­halb der Frau­en­be­we­gung wur­den daher Debat­ten um die Orga­ni­sie­rung und Struk­tur der Frau­en­häu­ser geführt, die eng ver­zahnt waren mit den dama­li­gen poli­ti­schen und theo­re­ti­schen Ana­ly­sen um (unbe­zahlte) Sor­ge­ar­beit, Hier­ar­chie­frei­heit und Unabhängigkeit.

Mitt­ler­weile wur­den Frau­en­häu­ser durch bezahlte Mit­ar­bei­te­rin­nen aus der Sozia­len Arbeit pro­fes­sio­na­li­siert. Dadurch ent­stand ein Wider­spruch zwi­schen Selbst­wirk­sam­keit und Pro­fes­sio­na­li­tät, der im All­tag der Mit­ar­bei­te­rin­nen und Bewoh­ne­rin­nen bis heute eine Rolle spielt. Im Gespräch mit Untie­fen berich­tet eine Mit­ar­bei­te­rin eines Frau­en­hau­ses in der Metro­pol­re­gion Ham­burg, die Pro­fes­sio­na­li­sie­rung sei grund­sätz­lich der anspruchs­vol­len Arbeit mit Frauen und Kin­dern aus aku­ten Gewalt­si­tua­tio­nen ange­mes­sen. In vie­len auto­no­men Frau­en­häu­sern über­neh­men aller­dings auch die Bewoh­ne­rin­nen selbst noch Teile der täg­li­chen Arbeit, bei­spiels­weise die nächt­li­che Aufnahme.

In Ham­burg ist dafür seit 2016 die 24/7, die zen­trale Not­auf­nahme für die Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser, zustän­dig. Die Mit­ar­bei­te­rin­nen neh­men die akut betrof­fe­nen Frauen auf und ver­mit­teln sie dann an Häu­ser wei­ter. Dies ent­laste die Bewoh­ne­rin­nen von den nächt­li­chen und wöchent­li­chen Not­diens­ten, so die Mit­ar­bei­te­rin. Gleich­wohl könne es den Bewoh­ne­rin­nen auch Stärke zurück­ge­ben, einen Teil bei­zu­tra­gen und andere Frauen zu unter­stüt­zen. Aller­dings über­neh­men die Bewoh­ne­rin­nen diese Auf­ga­ben nicht in ers­ter Linie auf­grund die­ser ermäch­ti­gen­den Wir­kung, son­dern schlicht­weg, weil das Per­so­nal fehle.

Kein Frau­en­haus, son­dern der Sitz von Frauen hel­fen Frauen e.V., der ande­ren Trä­ger­ver­eine der auto­no­men Frau­en­häu­ser sowie der Koor­di­na­ti­ons­stelle der 24/7 in der Aman­da­straße.
Foto: Dirtsc Lizenz: CC BY-SA 3.0

Die befürch­tete Hier­ar­chie zwi­schen pro­fes­sio­na­li­sier­ten und ehren­amt­lich arbei­ten­den Frauen in den Häu­sern konnte trotz basis­de­mo­kra­ti­scher Struk­tur nicht ver­mie­den wer­den. Da die Frau­en­häu­ser mitt­ler­weile öffent­lich finan­ziert und tarif­lich gebun­den sind, wer­den auch die Anfor­de­run­gen an die Qua­li­fi­ka­tio­nen der Mit­ar­bei­te­rin­nen höher – und schlie­ßen damit viele Frauen, auch ehe­ma­lige Bewoh­ne­rin­nen, aus. Doch gerade diese Frauen brin­gen oft sowohl eigene Erfah­rung mit part­ner­schaft­li­cher Gewalt und dem Leben im Frau­en­haus mit als auch Sprach­kennt­nisse, die dem Leben im Haus zuträg­lich sein könn­ten. Die geringe Aner­ken­nung aus­län­di­scher Abschlüsse in der Sozia­len Arbeit und die struk­tu­relle Ungleich­heit im Bil­dungs­sys­tem in Deutsch­land tra­gen dazu bei, dass die Mit­ar­beit im Frau­en­haus nicht allen glei­cher­ma­ßen zugäng­lich ist – und die Teams ihrem Anspruch an Diver­si­tät nicht immer gerecht wer­den können.

Feministische Debatten in der Frauenhauspraxis

Mit dem Auf­tre­ten anti­ras­sis­ti­scher Dis­kurse an den Uni­ver­si­tä­ten und in der femi­nis­ti­schen Szene ent­brann­ten auch inner­halb der Frau­en­häu­ser Debat­ten über Ras­sis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung, im Zuge derer mit Quo­tie­run­gen in den Teams und bei den Auf­nah­men expe­ri­men­tiert wurde. Weni­ger dis­ku­tiert wurde hin­ge­gen jah­re­lang das hot topic der aktu­el­len femi­nis­ti­schen Debat­ten: Was ist eine Frau? Bis vor weni­gen Jah­ren, so eine Mit­ar­bei­te­rin, war die Dis­kus­sion darum, was Geschlecht eigent­lich ist, in Frau­en­häu­ser nicht anschluss­fä­hig. Dies ändert sich jedoch der­zeit, ins­be­son­dere durch jün­gere Kolleginnen.

Die etwa in der Debatte um das »Selbst­be­stim­mungs­ge­setz« geäu­ßerte Befürch­tung eini­ger Femi­nis­tin­nen, Frau­en­schutz­räume könn­ten unter­lau­fen wer­den, wenn Geschlecht an eine emp­fun­dene Iden­ti­tät statt an kör­per­li­che Merk­male geknüpft ist, erscheint ange­sichts des von der Mit­ar­bei­te­rin beschrie­be­nen Frau­en­haus­all­tags weni­ger eine prak­ti­sche als viel­mehr eine theo­re­ti­sche Frage zu sein: »Die Frau kommt – die kann mir auch irgend­was erzäh­len, wer sie ist – sie muss mir auch nicht ihren Perso zei­gen. So arbei­ten wir nicht. Die Frau erzählt, und wenn sie von häus­li­cher Gewalt betrof­fen ist, dann wird sie auf­ge­nom­men.« Der recht­li­che Per­so­nen­stand spielt in der Pra­xis keine Rolle. Jede Auf­nahme ist außer­dem eine Ein­zel­fall­ent­schei­dung und berück­sich­tigt die Erfah­run­gen der Bewoh­ne­rin­nen. Und: nicht jede sei für diese Art des Zusam­men­woh­nens geeig­net, auch das spielt bei den Auf­nah­me­ge­sprä­chen eine Rolle.

In Ham­burg wurde zudem vor zwei Jah­ren das 6. Frau­en­haus gegrün­det, das sich expli­zit als Schutz­raum für trans Frauen posi­tio­niert und die seit Jah­ren gän­gige Pra­xis unter­mau­ert.  Viel wich­ti­ger als die theo­re­ti­sche Defi­ni­tion von Geschlecht erscheint jedoch die Frage, ob in den Häu­sern über­haupt genug Plätze vor­han­den sind. Zu Beginn der Pan­de­mie fehl­ten in Ham­burg rund 200 Frau­en­haus­plätze.

Zu wenige Plätze, zu wenig Geld, zu wenig Personal

Obwohl aktu­elle inner­fe­mi­nis­ti­sche Debat­ten durch­aus zum Thema wer­den, nimmt das all­täg­li­che Rotie­ren, auch auf­grund feh­len­den Per­so­nals, in den Häu­sern einen Groß­teil der Zeit ein. Die Art und Weise der öffent­li­chen Finan­zie­rung unter­schei­det sich je nach Bun­des­land und Gemeinde. Wäh­rend in Ham­burg, Schleswig-Holstein und Ber­lin die auto­no­men Frau­en­häu­ser durch eine Pau­schale pro Platz im Haus finan­ziert wer­den, ist die Finan­zie­rung in ande­ren Bun­des­län­dern direkt an die betrof­fene Frau gekop­pelt. Da sie in eini­gen Län­dern über das Sozi­al­hil­fe­ge­setz abge­wi­ckelt wird, sind Frauen mit eige­nem Ein­kom­men, Stu­den­tin­nen und Frauen mit unsi­che­rem Auf­ent­halts­sta­tus davon aus­ge­schlos­sen. Diese Frauen wer­den, wenn mög­lich, in Län­dern mit Pau­schal­fi­nan­zie­rung unter­ge­bracht, da sie die Plätze sonst selbst zah­len müss­ten – vor­aus­ge­setzt, Auf­ent­halts­be­stim­mun­gen oder der Job las­sen einen Umzug zu und es sind freie Plätze vor­han­den. Die Zen­trale Infor­ma­ti­ons­stelle der auto­no­men Frau­en­häu­sern (ZIF) for­dert dem­entspre­chend eine bun­des­weite ein­zel­fall­un­ab­hän­gige Finan­zie­rung der Frauenhäuser.

Doch auch die pau­schale Finan­zie­rung bringt Schwie­rig­kei­ten mit sich. Der Erhalt sowie die Aus­wei­tung der Plätze sind vom Wohl­wol­len der jewei­li­gen Lan­des­re­gie­run­gen abhän­gig. Um einer dro­hen­den Schlie­ßung zu ent­ge­hen, wur­den im Jahr 2006 das 1. und das 3. Auto­nome Frau­en­haus zusam­men­ge­legt. Der CDU-geführte Senat hatte Kür­zun­gen beschlos­sen, da die Ver­sor­gungs­lage in Ham­burg bes­ser sei als in ande­ren Großstädten.

Femi­nis­ti­sche Per­fo­mance »Der Ver­ge­wal­ti­ger bist du« des Kol­lek­tivs Las Tesis aus Argen­ti­nien, die mitt­ler­weile auch in Ham­burg regel­mä­ßig zum 25. Novem­ber im Rah­men von Demons­tra­tio­nen auf­ge­führt wird. Foto: Paulo Sla­chevsky Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

Männergewalt und Femizide

Laut behörd­li­cher Aus­künfte wur­den in Ham­burg im lau­fen­den Jahr ins­ge­samt 16 Frauen getö­tet, sechs davon von ihrem (Ex-)Partner, bei den zehn ande­ren ist die Ein­ord­nung unklar. Die Zahl der Femi­zide, also der Tötung von Frauen und Mäd­chen auf­grund ihres Geschlechts, ist in jedem Fall alar­mie­rend. Aller­dings ist Femi­zid im deut­schen Recht kein eige­ner Tat­be­stand, er wird unter Part­ner­schafts­ge­walt sub­su­miert. Stu­dien und genaue Fall­zah­len zu Femi­zi­den feh­len ent­spre­chend im deutsch­spra­chi­gen Raum weit­ge­hend. Die frau­en­po­li­ti­sche Spre­che­rin der Links­frak­tion in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft Cansu Özd­emir kri­ti­sierte daher jüngst den Senat für seine Wei­ge­rung, eine Unter­su­chung zu Femi­zi­den in Ham­burg als »nötige wis­sen­schaft­li­che Basis für ein ziel­ge­rich­te­tes und wir­kungs­vol­les Prä­ven­ti­ons­kon­zept« in Auf­trag zu geben.

Bewoh­ne­rin­nen und ehe­ma­li­gen Bewoh­ne­rin­nen von Frau­en­häu­sern steht die Gefahr, Opfer eines Femi­zids zu wer­den, beson­ders deut­lich vor Augen. 2018 wurde die 42-Jährige Juliet H. von ihrem Expart­ner ermor­det. Nach­dem sie in einem Ham­bur­ger Frau­en­haus Schutz gesucht hatte, zog sie mit ihren Kin­dern in eine eigene Woh­nung, wo sie von ihrem Exmann getö­tet wurde. Doch nicht nur für die Bewoh­ne­rin­nen sind sol­che Fälle alar­mie­rend. Es setzt auch die Mit­ar­bei­te­rin­nen enorm unter Druck, die mit knap­pen Res­sour­cen und staat­li­chen Hür­den kämp­fen, um den Frauen Schutz und eine Per­spek­tive zu bieten.

Väter­rechte ste­hen über dem Schutz von Frauen und ihren Kin­dern. Die Ver­än­de­run­gen im Fami­li­en­recht der letz­ten Jahre machen die Situa­tion von Frauen aus Gewalt­be­zie­hun­gen gefähr­li­cher. Die Zeit unmit­tel­bar nach der Tren­nung vom gewalt­tä­ti­gen Part­ner birgt das höchste Risiko, Opfer eines (ver­such­ten) Femi­zids zu wer­den. Umso wich­ti­ger ist dann ein unkom­pli­zier­ter Zugang zu einem Frau­en­haus. Die­ser Schutz wird aller­dings durch das fami­li­en­recht­lich ange­strebte Wech­sel­mo­dell untergraben.

Das von der jet­zi­gen Bun­des­re­gie­rung in den Mit­tel­punkt von Sorge- und Umgangs­recht gestellte Wech­sel­mo­dell soll eigent­lich zu einer gleich­be­rech­tig­ten Auf­tei­lung der Erzie­hung und Ver­ant­wor­tung für gemein­same Kin­der füh­ren. Es bedarf jedoch einer Kom­mu­ni­ka­tion auf Augen­höhe, um die nöti­gen Abspra­chen für die­ses Arran­ge­ment zu tref­fen. Übt der Vater Gewalt über die Mut­ter aus, ist diese Augen­höhe offen­sicht­lich nicht gege­ben. Aus der Pra­xis berich­tet die Mit­ar­bei­te­rin, dass dem Vater durch das Umgangs­recht in die­sen Fäl­len ermög­licht wird, wei­ter­hin Kon­trolle und Gewalt aus­zu­üben. Das Wech­sel­mo­dell steht des­halb bei Femi­nis­tin­nen und Initia­ti­ven für Allein­er­zie­hende Müt­ter in der Kri­tik.

Gerichte ord­nen sogar bei Müt­tern, die im Frau­en­haus leben, das Wech­sel­mo­dell an. Die Mit­ar­bei­te­rin des Frau­en­hau­ses beschreibt: »Wenn die [Frau] Kin­der hat, geht’s sofort los mit Kon­takt zu Jugend­amt, Kon­takt zu Anwäl­ten, dann wird irgend­wer ver­su­chen sofort das Auf­ent­halts­be­stim­mungs­recht zu bean­tra­gen, es wer­den Sofort­um­gänge in die Wege gelei­tet mit den gewalt­tä­ti­gen Vätern – und das ist krass.«

Die Gerichte gin­gen ohne wei­te­res davon aus, dass die Gewalt durch den Aus­zug der Mut­ter auf­ge­hört habe und also bei Ver­fah­ren zum Sorge- und Umgangs­recht nicht berück­sich­tigt zu wer­den brau­che. Die Müt­ter müss­ten daher irgend­wie Vor­keh­run­gen tref­fen, um dem gewalt­tä­ti­gen Mann die Kin­der zu über­ge­ben, ohne sich selbst in Gefahr zu brin­gen. Durch Per­so­nal­man­gel ist es den Mit­ar­bei­te­rin­nen in den Frau­en­häu­sern oft nicht mög­lich, Frauen zu die­sen Über­ga­ben zu begleiten.

Nach 45 Jah­ren sind auto­nome Frau­en­häu­ser also zwar aner­kannte Insti­tu­tio­nen zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Aber ihre Exis­tenz bleibt pre­kär und die Situa­tion der Frauen selbst wird kom­ple­xer. Die Mit­ar­bei­te­rin und ihre Kol­le­gin­nen erwar­ten vom Senat und der Bun­des­re­gie­rung eine Erhö­hung der Anzahl der Plätze und eine bun­des­weite pau­schale Finan­zie­rung. Im Sorge- und Umgangs­recht müsse das Per­so­nal geschult wer­den, um den Gewalt­schutz kon­se­quen­ter berück­sich­ti­gen. Nicht die Frauen soll­ten im Haus Schutz suchen und dann um ihre Kin­der kämp­fen müs­sen, son­dern die Män­ner soll­ten bewei­sen, dass sie nicht gefähr­lich sind, schließt die Mitarbeiterin.

Lea Rem­mers

Die Autorin schrieb für Untie­fen bereits über die Her­bert­straße als Sym­bol männ­li­cher Herrschaft.

Kühne-Preis: Kulturförderung als Schweigegeld?

Kühne-Preis: Kulturförderung als Schweigegeld?

Am 18. Sep­tem­ber wird im Rah­men des Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­vals in Ham­burg der renom­mierte Klaus-Michael Kühne-Preis ver­lie­hen. Nun haben zwei Schriftsteller:innen ihre Nomi­nie­run­gen zurück­ge­zo­gen – weil der Geld- und Namens­ge­ber die NS-Historie sei­nes Fami­li­en­un­ter­neh­mens nicht auf­ar­beite. Wir hat­ten zuvor sie und die übri­gen Nomi­nier­ten kon­tak­tiert, um über die finan­zi­elle Abhän­gig­keit des Kul­tur­be­trie­bes von pri­va­ter För­de­rung und die Image­po­li­tik pro­ble­ma­ti­scher Mäzene zu spre­chen.

Weiß wie die Unschuld: In Küh­nes Luxus­ho­tel „The Fon­tenay“ an der Als­ter soll der Klaus-Michael Kühne-Preis am 18.09. ver­lie­hen wer­den. Foto: travelswiss1 Lizenz: CC BY-NC 2.0

Im Kunst- und Kul­tur­be­trieb rumort es: Das Lon­do­ner Bri­tish Museum benennt alle nach einem Groß­spen­der benann­ten Räume um, die Video­künst­le­rin Hito Stey­erl zieht eines ihrer Werke aus einer ange­se­he­nen Samm­lung zurück, die Salz­bur­ger Fest­spiele been­den in Reak­tion auf einen offe­nen Brief des Autors Lukas Bär­fuss und der Regis­seu­rin Yana Ross die Zusam­men­ar­beit mit einem Spon­sor. All diese Aus­ein­an­der­set­zun­gen ereig­ne­ten sich in den letz­ten Mona­ten. Und bei allen ging es um ganz ähn­li­che Fra­gen: Wer finan­ziert eigent­lich Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen und Kul­tur­schaf­fende? Aus wel­chen Quel­len stam­men die Mil­li­ar­den an pri­va­ten Mit­teln, mit denen Museen, Kon­zert­häu­ser, Preise und Fes­ti­vals geför­dert wer­den? Und wie kann oder soll man sich gegen­über ›schmut­zi­gen‹ För­der­gel­dern ver­hal­ten, die aus frag­wür­di­gen Quel­len stam­men und von den Geldgeber:innen zum Rein­wa­schen des eige­nen Namens bzw. dem Ver­de­cken von Schand­ta­ten genutzt werden?

Auf die Frage nach dem prak­ti­schen Umgang haben Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen und Künstler:innen in den genann­ten drei Fäl­len klare Ant­wor­ten gefun­den. Sie zogen Kon­se­quen­zen dar­aus, dass die Mil­li­ar­därs­fa­mi­lie Sack­ler mit ihrem Unter­neh­men Pur­due Pharma maß­geb­lich für die Opio­id­krise in den USA ver­ant­wort­lich war; dar­aus, dass die Unter­neh­me­rin und Kunst­samm­le­rin Julia Sto­schek ihr Mil­li­ar­den­ver­mö­gen ihrem Nazi-Urgroßvater ver­dankt, der den Auto­mo­bil­zu­lie­fe­rer Brose grün­dete, den NS-Staat belie­ferte und als treues NSDAP-Mitglied zum Wehr­wirt­schafts­füh­rer auf­stieg; und dar­aus, dass das Berg­bau­un­ter­neh­men Sol­way nicht nur mas­sive Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und Umwelt­zer­stö­rung ver­ant­wor­tet, son­dern zudem enge Ver­bin­dun­gen zum Kreml unter­hal­ten soll.

Die Kühne-Stiftung

Eine in Ham­burg beson­ders aktive und eben­falls frag­wür­dige Kul­tur­spon­so­rin ist die Kühne-Stiftung: Bei der Elb­phil­har­mo­nie, dem Phil­har­mo­ni­schen Staats­or­ches­ter und dem Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­val tritt die Stif­tung als Haupt­för­de­rin auf. Gegrün­det wurde sie 1976 vom Unter­neh­mer Alfred Kühne, sei­ner Frau Mer­ce­des und ihrem gemein­sa­mem Sohn Klaus-Michael Kühne. Das Stif­tungs­ka­pi­tal stammt aus den Erträ­gen der Kühne Hol­ding, also vor­ran­gig aus jenen des Unter­neh­mens Kühne + Nagel (K+N), eines der welt­weit größ­ten Transport- und Logistikunternehmen.

Damit aber ver­dankt sich das Kapi­tal zum einen dem Umstand, dass Alfred Kühne und sein Bru­der Wer­ner 1933 ihren jüdi­schen Teil­ha­ber Adolf Maass aus dem Unter­neh­men dräng­ten, und zum ande­ren der maß­geb­li­chen Betei­li­gung von K+N an der ›Ari­sie­rung‹ jüdi­schen Eigen­tums in den von Deutsch­land besetz­ten Län­dern wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs. Hinzu kommt: Klaus-Michael Kühne, der das Unter­neh­men von 1966 bis 1998 lei­tete und bis heute sowohl die Mehr­heit der Akti­en­an­teile als auch die Fäden in der Hand hält, zeigt kei­ner­lei Ver­ständ­nis dafür, dass die NS-Vergangenheit sei­nes Unter­neh­mens »immer wie­der hoch­ge­kocht wird«, und wehrt jeg­li­che Auf­ar­bei­tung die­ser – sei­ner – Familien- und Unter­neh­mens­ge­schichte vehe­ment ab.

Kulturförderung als Schweigegeld

Bis­lang scheint Klaus-Michael Küh­nes Stra­te­gie des Rela­ti­vie­rens und Ver­schwei­gens auf­zu­ge­hen. Zwar haben ins­be­son­dere aus Anlass des 125-jährigen Fir­men­ju­bi­lä­ums im Jahr 2015 viele Medien kri­tisch über die Unter­neh­mens­ge­schichte berich­tet, über die man dank der Recher­chen des ehe­ma­li­gen taz-Redak­teurs Hen­ning Bleyl und von His­to­ri­kern wie Wolf­gang Dre­ßen, Frank Bajohr und Johan­nes Beermann-Schön immer­hin eini­ges weiß. Doch einer brei­ten Öffent­lich­keit sind Klaus-Michael Kühne und sein Unter­neh­men nach wie vor nicht als NS-Profiteure bekannt. Das öffent­li­che Bild von Kühne bestimmt viel­mehr sein Enga­ge­ment als Inves­tor und Kul­tur­för­de­rer. Die Ham­bur­ger Mor­gen­post etwa ver­öf­fent­lichte in den letz­ten zwei Jah­ren 50 Arti­kel über Kühne; nur ein ein­zi­ger von ihnen behan­delt die Geschichte des Unter­neh­mens im Natio­nal­so­zia­lis­mus und seine Nach­ge­schichte. Statt­des­sen pro­du­ziert Kühne (über­wie­gend) posi­tive Schlag­zei­len mit sei­nem Enga­ge­ment beim HSV (dem er die Benen­nung des Sta­di­ons nach Uwe See­ler finan­zie­ren will), mit Inves­ti­tio­nen (er hat seine Anteile an der Luft­hansa und an der Immo­bi­li­en­ge­sell­schaft Signa Prime erhöht und Anteile am Elb­tower erwor­ben) und eben mit sei­nen Akti­vi­tä­ten in der Kulturförderung.

Es steht daher außer Frage: Klaus-Michael Küh­nes Mäze­na­ten­tum dient effek­tiv der Image­pflege des Fami­li­en­na­mens, dem Ver­schwei­gen bzw. Rein­wa­schen. ›Tue Gutes und sprich dar­über‹, sagt man; im Fall von Kühne ließe sich ergän­zen: ›damit über das Schlechte nicht gespro­chen wird‹. Dass er den von ihm gestif­te­ten Preis für das beste Roman­de­büt des Jah­res ganz unbe­schei­den nach sich selbst benannt hat, ist davon der wohl kras­seste Aus­druck. Es hat zur Folge, dass der Klaus-Michael-Kühne-Preis nicht nur eine Aus­zeich­nung für die Autor:innen dar­stellt, die ihn erhal­ten. Viel­mehr ver­schaf­fen die Preisträger:innen auch dem Mäzen, in des­sen an der Außen­als­ter gele­ge­nen Luxus­ho­tel The Fon­tenay die Preis­ver­lei­hung statt­fin­den wird, Anse­hen und Aner­ken­nung. Und sie drän­gen damit wider Wil­len die Betei­li­gung des Unter­neh­mens an der Ent­eig­nung von Jüdin­nen und Juden im NS aus dem Blick der Öffent­lich­keit. Wenn etwa, wie im Jahr 2014 mit Per Leos Roman Flut und Boden, die lite­ra­ri­sche Auf­ar­bei­tung einer deut­schen Fami­li­en­ge­schichte und Abrech­nung mit der NS-Täter:innengeneration den Klaus-Michael Kühne-Preis erhält, ohne dass die­ser zyni­sche Wider­spruch zur Spra­che kommt, dient der Preis ganz offen­kun­dig als Feigenblatt.

Suche nach dem angemessenen Umgang

Natür­lich haben fast alle deut­schen Groß­un­ter­neh­men, die vor 1945 gegrün­det wur­den, eine Ver­bre­chens­ge­schichte. Der nie­der­län­di­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler David de Jong hat das in sei­nem Buch Brau­nes Erbe kürz­lich noch ein­mal ein­drück­lich dar­ge­legt. Doch das Aus­maß der Kol­la­bo­ra­tion der Gebrü­der Alfred und Wer­ner Kühne mit dem NS-Staat, die anhal­tende Wei­ge­rung ihres Erben Klaus-Michael Kühne, diese Geschichte auf­zu­ar­bei­ten und Kon­se­quen­zen dar­aus zu zie­hen, sowie die Benen­nung des Prei­ses nach Kühne selbst machen den Klaus-Michael Kühne-Preis zu einem beson­ders her­vor­ste­chen­den Fall.

Was aber wäre ein ange­mes­se­ner Umgang mit dem pro­ble­ma­ti­schen Geld­ge­ber? Diese Frage stell­ten wir, die Redak­tion von Untie­fen, uns im Vor­feld der dies­jäh­ri­gen Ver­lei­hung des Kühne-Preises, ohne zu einer befrie­di­gen­den Ant­wort zu kom­men. Wir ver­such­ten daher im Juli, mit den acht Nomi­nier­ten des Prei­ses selbst ins Gespräch dar­über zu kom­men. In einer E‑Mail an die Autor:innen schil­der­ten wir aus­führ­lich die Ver­stri­ckung von K+N in die NS-Verbrechen und hoben vor allem die Wei­ge­rung Klaus-Michael Küh­nes her­vor, das Fir­men­ar­chiv zu öff­nen und die Unter­neh­mens­ge­schichte von unab­hän­gi­gen Historiker:innen unter­su­chen zu las­sen. In unse­rem Schrei­ben an die Nomi­nier­ten hoben wir auch die Kom­ple­xi­tät der Situa­tion her­vor und frag­ten die Autor:innen nach einem mög­li­chen Umgang:

»Klar ist einer­seits: Diese Umstände kön­nen und dür­fen nicht (wei­ter) beschwie­gen wer­den. Klar ist ande­rer­seits aber auch: Ein Lite­ra­tur­preis ist für eine Debü­tan­tin / einen Debü­tan­ten wie Sie auch über das hohe Preis­geld hin­aus von beträcht­li­cher Bedeu­tung. Hinzu kommt, dass Küh­nes eigene Ansich­ten bei der Ent­schei­dung der Jury gewiss keine Rolle spie­len wer­den. Die For­de­rung, den Preis oder gar schon die Nomi­nie­rung zurück­zu­wei­sen, wäre daher wohl­feil. Doch wir fra­gen uns – und Sie: Wenn die öffent­li­che Ableh­nung des Prei­ses keine sinn­volle Option ist, was könn­ten dann alter­na­tive Wege sein, mit dem pro­ble­ma­ti­schen Hin­ter­grund des Prei­ses und sei­nes Stif­ters den­noch einen Umgang zu fin­den? Diese Frage, auf die wir selbst bis­lang keine befrie­di­gende Ant­wort gefun­den haben, weist auch über den kon­kre­ten Fall hin­aus und zieht wei­tere, grund­sätz­li­che Fra­gen nach sich: Wie kann man sich zum Wider­spruch der Neu­tra­li­sie­rung von Kri­tik durch ihre Ver­ein­nah­mung, der auch nur die Zuspit­zung eines gene­rel­len Wider­spruchs im ›wie­der­gut­ge­wor­de­nen‹ Deutsch­land ist, ins Ver­hält­nis set­zen? Ist das Pathos etwa eines Tho­mas Brasch bei der Ver­lei­hung des Baye­ri­schen Film­prei­ses 1981 (noch) ange­mes­sen? Stellt die Lite­ra­tur selbst Mit­tel bereit, sich der Ver­ein­nah­mung zu wider­set­zen, oder ist sie ohn­mäch­tig ange­sichts der Macht­ver­hält­nisse eines Betriebs, in dem man es sich mit sei­nen Geld­ge­bern nicht ›ver­scher­zen‹ darf?«

Die Antworten der Nominierten: Zwischen Realismus…

Auf unsere Fra­gen und unsere Bitte um Aus­tausch erhiel­ten wir in den fol­gen­den Wochen von immer­hin drei der acht Autor:innen Rück­mel­dung. Dome­nico Mül­len­sie­fen, der für sei­nen Roman Aus unse­ren Feu­ern nomi­niert wurde, schreibt: »Ich denke, dass es ein gro­ßes Pro­blem ist, dass die öffent­li­che Kul­tur­för­de­rung in Deutsch­land stark ein­ge­schränkt ist.« Denn in die Lücke, die die öffent­li­che För­de­rung lässt, stie­ßen pri­vate För­de­rer. Was es bräuchte, so Mül­len­sie­fen, sei eine »breite und preis­un­ab­hän­gige För­de­rung von AutorIn­nen«. Bis dahin bleibe er auch beim Klaus-Michael Kühne-Preis „Rea­list“, denn: »Die Jury ist hoch­ka­rä­tig besetzt und frei in Ihrem Han­deln. Die nomi­nier­ten Schrift­stel­le­rIn­nen gefal­len mir sehr gut. Der Umgang mit den AutorIn­nen ist erst­klas­sig. […] Und ganz ehr­lich, wäre es mir eine sehr große Freude, mal eine Nacht in die­sem schi­cken Hotel von Herrn Kühne zu über­nach­ten.« In einem spä­te­ren State­ment gegen­über der ZEIT fügt er hinzu: »Deut­scher Reich­tum ist in vie­len, wenn nicht sogar in den meis­ten Fäl­len auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit ent­stan­den. So zu tun, als wäre alles in Ord­nung, wenn Herr Kühne die NS-Vergangenheit auf­ar­bei­ten ließe, wäre auch falsch. Wir haben ein struk­tu­rel­les Gesell­schafts­pro­blem, zu dem wir AutorIn­nen uns indi­vi­du­ell ver­hal­ten sol­len.« Und: »Und wäre es nicht an der Zeit, dass wir, und da darf DIE ZEIT gern vor­ne­weg gehen, ernst­haft über eine Umver­tei­lung der Ver­mö­gen in Deutsch­land sprechen?«

Ähn­lich ant­wor­tete Daniel Schulz, taz-Redak­teur und Autor des Romans Wir waren wie Brü­der. Er betont wie Mül­len­sie­fen: „Die Unab­hän­gig­keit und Fach­kom­pe­tenz der Jury ste­hen außer Zwei­fel. Klaus-Michael Kühne hat auf ihre Ent­schei­dun­gen kei­nen Ein­fluss“. Vor allem hält er die Autor:innen für die fal­schen Ansprechpartner:innen für die Frage nach dem Umgang mit dem NS-Erbe von Kühne + Nagel. Schließ­lich seien sie in der abhän­gigs­ten und pre­kärs­ten Lage von allen und „auf die weni­gen För­de­run­gen ange­wie­sen […], die es noch gibt“. Die Res­sour­cen und die Ver­ant­wor­tung dafür, einen Umgang mit pro­ble­ma­ti­schen För­de­rern wie Kühne zu fin­den, sieht er vor allem bei den Ver­la­gen und der Kulturpolitik.

Der Tenor die­ser Ant­wor­ten ist klar: In die­ser Gesell­schaft als Schriftsteller:in tätig zu sein bedeu­tet, in zahl­rei­che Wider­sprü­che ver­strickt und nicht weni­gen Zwän­gen unter­wor­fen zu sein. Solange die Kul­tur­för­de­rung maß­geb­lich über pri­vate Stif­tun­gen und Orga­ni­sa­tio­nen geleis­tet wird und die Autor:innen von deren Geld abhän­gig seien, müsse man letzt­lich damit leben, dass Gel­der im Kul­tur­be­trieb aus frag­wür­di­gen Quel­len stam­men Das zen­trale Pro­blem sehen die bei­den Autoren in der pri­va­ti­sier­ten Kul­tur­för­de­rung in einer post­fa­schis­ti­schen Gesell­schaft – und die Ver­ant­wor­tung auf Sei­ten der öffent­li­chen Hand.

… und Absagen

Sven Pfi­zen­maier, nomi­niert für Drau­ßen fei­ern die Leute, ist zu einem ande­ren Schluss für sei­nen indi­vi­du­el­len Umgang mit der Situa­tion gekom­men. Er hat seine Nomi­nie­rung zurück­ge­wie­sen und seine Teil­nahme am ›Debü­tan­ten­sa­lon‹ auf dem Har­bour Front Lite­ra­turfesti­val abge­sagt. In sei­ner am 29. August ver­öf­fent­lich­ten Erklä­rung schreibt er so knapp wie deut­lich: »Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dage­gen wehrt, die NS-Historie sei­nes Unter­neh­mens auf­zu­ar­bei­ten, möchte ich mei­nen Text nicht in einen Wett­be­werb um sein Geld und eine Aus­zeich­nung mit sei­nem Namen stellen.«

Andert­halb Wochen spä­ter, am 07.09., sagte auch Fran­ziska Gäns­ler, nomi­niert für Ewig Som­mer, ihre Teil­nahme am Har­bour Front Fes­ti­val ab. In ihrer Erklä­rung, die dies­mal durch die Fes­ti­val­lei­tung ver­öf­fent­licht wurde, führt sie die Nicht-Diskussion um die Absage Pfi­zen­mai­ers als Grund an:

»Mich hat der Rück­zug des mit­no­mi­nier­ten Autors Sven Pfi­zen­maier und die dar­auf fol­gende Reak­tion sehr beschäf­tigt. Ich denke, es hätte einen öffent­li­chen Dis­kurs gebraucht, der ein Ernst­neh­men sei­ner Kri­tik erkenn­bar macht und zeigt, dass es das Anlie­gen der Stif­tung ist, genau das zu för­dern – kri­ti­sche lite­ra­ri­sche Stim­men. Lei­der zeigt die Reak­tion für mich, dass dies nicht gege­ben scheint. Unter die­sen Umstän­den wei­ter auf die Aus­zeich­nung zu hof­fen erscheint mir, unab­hän­gig von der finan­zi­el­len Kom­po­nente, wie ein Weg­se­hen, das ich nicht gut mit mir und mei­nem Schrei­ben ver­ein­ba­ren kann.«

Pfi­zen­maier und Gäns­ler haben damit dras­ti­sche Schritte gewählt. Pfi­zen­maier betont in sei­ner Erklä­rung aber auch, dass er seine Ent­schei­dung »expli­zit nicht als Vor­wurf« gegen die Mit­no­mi­nier­ten und Mit­ar­bei­ten­den des Fes­ti­vals ver­stan­den wis­sen wolle: »Das Ver­hält­nis zwi­schen Geldgeber:innen und Kul­tur­schaf­fen­den in Deutsch­land ist ein der­ma­ßen kom­ple­xes Feld, dass es unzäh­lige Wege gibt, einen ange­mes­se­nen Umgang damit zu fin­den. Die­ser hier ist meiner.«

Dras­tisch sind diese Ent­schei­dun­gen nicht nur, weil beide damit auf die Mög­lich­keit ver­zich­tet, das statt­li­che Preis­geld von 10.000 Euro zu gewin­nen, son­dern auch und vor allem, weil der Debü­tan­ten­sa­lon und der Klaus-Michael Kühne-Preis in den letz­ten Jah­ren zu einem wich­ti­gen Sprung­brett für junge Autor:innen gewor­den sind. Bei Ver­la­gen, Buchhändler:innen und Autor:innen genießt der Preis ebenso hohes Anse­hen wie bei Kri­tik und Leser:innenschaft. Autor:innen, deren Debüt eine Nomi­nie­rung erhal­ten oder den Preis gar gewon­nen hat, stei­gern nicht nur die Ver­käufe ihres Romans, son­dern haben gute Aus­sich­ten, sich fest zu eta­blie­ren. Zu den bis­he­ri­gen Preisträger:innen zäh­len etwa Olga Grjas­nowa, Per Leo, Dmit­rij Kapi­tel­man, Fatma Ayd­emir und Chris­tian Baron.

Der Eklat

Pfi­zen­mai­ers und Gäns­lers Ent­schei­dung ist bis­her prä­ze­denz­los. Obwohl viele der frü­he­ren Nomi­nier­ten und Preisträger:innen als enga­gierte Stim­men in der öffent­li­chen Debatte bekannt (gewor­den) sind, hatte bis­her noch kein:e Autor:in öffent­lich Kri­tik an Kühne geübt – geschweige denn die Nomi­nie­rung oder den Preis zurückgewiesen.

Dem­entspre­chend über­for­dert und rat­los wirkt der Umgang des Har­bour Front-Fes­ti­vals mit der Situa­tion. Man glaubte dort offen­bar, Pfi­zen­mai­ers Absage ein­fach unter den Tep­pich keh­ren zu kön­nen. Am 24. August wurde in einer Pres­se­nach­richt und auf Twit­ter lapi­dar ein »Pro­gramm­up­date« ver­kün­det: Nach Sven Pfi­zen­mai­ers Absage trete Prze­mek Zybow­ski durch ein Nach­rück­ver­fah­ren an seine Stelle. Bis zur Absage Gäns­lers ging das Fes­ti­val weder auf die Gründe für Pfi­zen­mai­ers Absage ein, noch drückte es sein Bedau­ern dar­über aus. Auf der Home­page des Fes­ti­vals wurde Pfi­zen­maier still­schwei­gend ersetzt. Nach Gäns­lers Absage lässt das Fes­ti­val auf der Web­site knapp verlautbaren: 

»Wir fin­den diese Absa­gen sehr bedau­er­lich. Für die Beweg­gründe der Betref­fen­den haben wir Ver­ständ­nis – auch wir sehen Dis­kus­si­ons­be­darf in die­ser Angelegenheit.«

Vorher-Nachher Screen­shot: das Har­bour Front-Festival ersetzt auf sei­ner Home­page Pfi­zen­maier durch Zybow­ski und hofft, dass es keine:r merkt. Foto: Screen­shot https://harbourfront-hamburg.com/.

Die Reak­tion der Kühne-Stiftung aber über­trifft das anfäng­li­che Schwei­gen des Fes­ti­valsum Län­gen. Wäh­rend sie der Mopo noch kei­nen Kom­men­tar geben wollte und wohl auch hoffte, das Pro­blem löse sich von selbst auf, ging sie gegen­über der taz in die Offen­sive: Man habe »mit Vor­gän­gen, die ca. 80 Jahre zurück­lie­gen, nichts zu tun«. Und weil sich die Stif­tung »in höchs­tem Maße« unge­recht behan­delt fühlte, setzte man dort zum Gegen­an­griff gegen die undank­ba­ren Kul­tur­schaf­fen­den und ‑liebhaber:innen an: Man werde »die tra­di­tio­nelle Ver­lei­hung des Klaus-Michael Kühne-Preises jetzt über­den­ken« ließ die Kühne-Stiftung auf Anfrage der taz ver­lau­ten. Wer Kri­tik übt, erhält kein Geld – das ist die Bot­schaft, die die Kühne-Stiftung vermittelt.

Kulturförderung entprivatisieren

Die Reak­tion der Kühne-Stiftung zeigt: Man scheint sich dort sehr bewusst dar­über zu sein, wer hier am län­ge­ren Hebel sitzt. Der Kul­tur­be­trieb ist in hohem Grad abhän­gig von sei­nen (pri­va­ten) Gön­nern. Sie kön­nen den von ihnen geför­der­ten Ein­rich­tun­gen und Ver­an­stal­tun­gen ihre Bedin­gun­gen dik­tie­ren – und bei Kri­tik oder Nicht­be­fol­gen die För­de­rung been­den oder zumin­dest damit dro­hen. Die Kühne-Stiftung zeigt mit ihrem Ver­hal­ten gegen­über den Kul­tur­schaf­fen­den über­deut­lich auf, wo die Grenze(n) der Auto­no­mie der Kunst lie­gen: Don’t bite the hand that feeds you.

Die ers­ten Leid­tra­gen­den eines Rück­zugs wären die Schriftsteller:innen und Künstler:innen, also aus­ge­rech­net die schwächs­ten Glie­der in der Kette. Tat­säch­lich sind die ande­ren Nomi­nier­ten nicht zu benei­den. Durch Pfi­zen­mai­ers und Gäns­lers Absage ste­hen sie unter Druck, sich zu beken­nen, womög­lich gar, ihrem Bei­spiel zu fol­gen. Vie­les hängt davon ab, dass die Debatte soli­da­risch geführt wird, und das heißt: nicht indi­vi­dua­li­sie­rend und mora­li­sie­rend, son­dern im Bewusst­sein der Wider­sprü­che und des struk­tu­rel­len Cha­rak­ters des Problems.

Klar ist: Solange die Kul­tur den Markt­ge­set­zen unter­liegt und die För­de­rung der Kul­tur­schaf­fen­den nicht durch öffent­li­che Hand getra­gen wird, ist sie auf pri­vate Förder:innen ange­wie­sen. Denn wenn nicht allein die Markt­gän­gig­keit von Kunst, Musik oder Lite­ra­tur zäh­len soll, son­dern auch die inhä­ren­ten Maß­stäbe der Kunst, braucht es Kul­tur­spon­so­ring. An Bei­spie­len wie Kühne zeigt sich aber, zu wel­chen Pro­ble­men es füh­ren kann, wenn dies pri­vat orga­ni­siert und zwangs­läu­fig von beson­ders ver­mö­gen­den Unter­neh­men und Ein­zel­per­so­nen mit eige­nen Inter­es­sen über­nom­men wird. Des­halb muss im Sinne einer demo­kra­ti­schen Kul­tur­för­de­rung zumin­dest eine Reduk­tion des Anteils pri­va­ten Spon­so­rings durch die (Wieder-)Einführung öffent­li­cher För­de­rung durch­ge­setzt wer­den. Die Leid­tra­gen­den des pri­va­ten Kul­tur­spon­so­rings sind letzt­lich auch die Autor:innen selbst, denen in die­sem Sys­tem mit­un­ter nur eine Wahl bleibt zwi­schen Ver­zicht auf das, was ihren Unter­halt finan­ziert, oder der Annahme frag­wür­di­ger För­der­gel­der – eine infame Verantwortungsverschiebung.

In Bezug auf den aktu­el­len Eklat heißt das: Der Kühne-Preis muss umbe­nannt und öffent­lich finan­ziert wer­den. Wie wäre es etwa mit einem von der Stadt Ham­burg finan­zier­ten Peter-Rühmkorf-Preis? Wenn man sich anschaut, wie schnell die Stadt im Cum-Ex-Skandal bereit war, auf 47 Mil­lio­nen Euro an Steu­ern zuguns­ten der Warburg-Bank zu ver­zich­ten, soll­ten 10.000 Euro Preis­geld sicher­lich kein Pro­blem dar­stel­len. Und Küh­nes Geld könnte auch in einer unab­hän­gi­gen, wis­sen­schaft­li­chen Auf­ar­bei­tung der eige­nen Fir­men­ge­schichte sehr gute Ver­wen­dung finden.

Redak­tion Untie­fen, 7. Sep­tem­ber 2022

Kühne + Nagel, Logistiker des NS-Staats

Kühne+Nagel: Logistiker des NS-Staats

Kühne + Nagel ist eines der größ­ten Logis­tik­un­ter­neh­men der Welt. Die ent­schei­dende Grund­lage dafür schuf die Betei­li­gung des Unter­neh­mens an NS-Verbrechen – und seine ›Ari­sie­rung‹ im Jahr 1933. Wäh­rend in Bre­men nun ein Mahn­mal ent­steht, gibt es in Ham­burg bis­lang keine Pra­xis des Erinnerns.

Kühne + Nagel sorgte für volle Lager­hal­len: Möbel aus jüdi­schem Besitz, 1943 aus den besetz­ten Län­dern West­eu­ro­pas nach Deutsch­land abtrans­por­tiert. Quelle: Stadt­ar­chiv Oberhausen.

Bre­men erhält einen neuen Gedenk­ort: ein Mahn­mal zur Erin­ne­rung an die sys­te­ma­ti­sche Aus­plün­de­rung der euro­päi­schen Jüdin­nen und Juden im Natio­nal­so­zia­lis­mus – und an die maß­geb­li­che Betei­li­gung von Bre­mer Logis­tik­un­ter­neh­men an die­sem Ver­bre­chen. Initi­iert wurde das Mahn­mal vom ehe­ma­li­gen taz-Redak­teur und heu­ti­gen Geschäfts­füh­rer der Heinrich-Böll-Stiftung Bre­men, Hen­ning Bleyl. Als 2015 auf dem Bre­mer Markt­platz mit viel Pomp das 125-jährige Bestehen des Logis­tik­un­ter­neh­mens Kühne + Nagel (K+N) gefei­ert wurde, begann er, zur NS-Geschichte des Unter­neh­mens zu recher­chie­ren und zu publi­zie­ren.1Alle seit 2015 von Bleyl und ande­ren Autor:innen in der taz erschie­ne­nen Bei­träge sind in einem umfas­sen­den Dos­sier ver­sam­melt, das einen her­vor­ra­gen­den Über­blick über die Causa Kühne + Nagel verschafft.

Bleyl und seine Mitstreiter:innen for­der­ten ein Mahn­mal für die Ver­bre­chen, an denen K+N betei­ligt war, und erzwan­gen so eine Aus­ein­an­der­set­zung der Poli­tik und der Öffent­lich­keit mit dem lange Zeit beschwie­ge­nen Thema. Nun, sie­ben Jahre spä­ter, gegen viele Wider­stände und nach lang­wie­ri­gen Aus­ein­an­der­set­zun­gen vor allem um den Stand­ort, mate­ria­li­sie­ren sich diese Bemü­hun­gen: An den Weser-Arkaden in Sicht­weite der 2020 neu errich­te­ten Deutschland-Zentrale von K+N soll in Kürze mit dem Bau des Mahn­mals nach einem Ent­wurf von Evin Oet­tings­hau­sen begon­nen wer­den. Spä­tes­tens 2023 soll das Mahn­mal ein­ge­weiht werden.

Es wird eine Lücke schlie­ßen: das Bre­mer ›Arisierungs‹-Mahnmal (Ent­wurf). © Evin Oettingshausen

Willige Vollstrecker und Profiteure der ›Arisierung

Dort, wo jetzt der Neu­bau steht, befand sich seit 1909 die Zen­trale des 1890 in Bre­men gegrün­de­ten Unter­neh­mens Kühne + Nagel. Inner­halb kur­zer Zeit war das Unter­neh­men zu einem bedeu­ten­den Transport- und Logis­tik­kon­zern auf­ge­stie­gen und hatte Nie­der­las­sun­gen in zahl­rei­chen deut­schen Städ­ten gegrün­det, dar­un­ter auch in Ham­burg. 1932 starb der Fir­men­grün­der August Kühne; seine bei­den Söhne Alfred und Wer­ner über­nah­men das Geschäft. Unter ihrer Lei­tung war das Unter­neh­men dann an NS-Verbrechen betei­ligt, ins­be­son­dere an ›Ari­sie­run­gen‹. Die von den Nazis so bezeich­ne­ten Ver­bre­chen umfass­ten nicht nur die Ver­drän­gung von Jüdin­nen und Juden aus ihren Unter­neh­men, Beru­fen und Woh­nun­gen, son­dern auch den sys­te­ma­ti­schen Raub jüdi­schen Eigen­tums in ganz Europa.

K+N war an die­sem Raub ins­be­son­dere in Frank­reich, Bel­gien und den Nie­der­lan­den in beträcht­li­chem Aus­maß betei­ligt. Das Unter­neh­men trans­por­tierte im Rah­men der soge­nann­ten ›M‑Aktion‹ der ›Dienst­stelle Wes­ten‹ Raub­gut (vor allem Möbel) aus den Woh­nun­gen depor­tier­ter oder geflo­he­ner Jüdin­nen und Juden nach Deutsch­land. In die­sem wahr­schein­lich größ­ten Raub­zug der jün­ge­ren Geschichte wur­den zwi­schen 1942 bis 1944 etwa 70.000 Woh­nun­gen geplün­dert, davon wohl etwa die Hälfte mit Hilfe von K+N. In Deutsch­land wur­den die Möbel güns­tig an ›Volks­ge­nos­sen‹ wei­ter­ver­kauft oder ver­stei­gert. »Zwi­schen 1941 und 1945 ver­ging in Ham­burg kaum ein Tag, an dem nicht Besitz von Juden öffent­lich ver­stei­gert wurde«, schrie­ben Linde Apel und Frank Bajohr 2004.

So pro­fi­tier­ten unzäh­lige ›ganz nor­male Deut­sche‹ von den sys­te­ma­ti­schen Plün­de­run­gen, die ihnen güns­tig Haus­rat ver­schaff­ten. Ganz beson­ders pro­fi­tier­ten aber der NS-Staat, der mit den Erlö­sen zur Finan­zie­rung von Krieg und Juden­ver­nich­tung bei­trug, und das Unter­neh­men K+N, das für seine Dienst­leis­tun­gen gut bezahlt wurde. K+N ver­diente somit unmit­tel­bar an der Ent­rech­tung, Ver­fol­gung und Ermor­dung der euro­päi­schen Jüdin­nen und Juden.2Auch an der erzwun­ge­nen Flucht selbst ver­diente K+N als Trans­port­dienst­leis­ter für das Hab und Gut der Aus­rei­sen­den. Davon zeugt u.a. ein Pla­kat von 1935 im Bestand des Deut­schen His­to­ri­schen Muse­ums.

Möbel für ›Volks­ge­nos­sen‹: Anzeige für eine Ver­stei­ge­rung, Bre­men 1942. Quelle DSM Bre­mer­ha­ven.

Wie der His­to­ri­ker Johan­nes Beermann-Schön betont, waren die deut­schen Logis­tik­un­ter­neh­men, unter denen K+N sich wäh­rend des NS eine Quasi-Monopolstellung erkämpfte, dabei nicht bloße Hand­lan­ger, son­dern wil­lige Voll­stre­cker. Ihr Vor­ge­hen sorgte für eine Ver­schär­fung und Beschleu­ni­gung der Ent­rech­tung und der Aus­plün­de­rung Depor­tier­ter, urteilte er in einem 2020 erschie­ne­nen Bei­trag.3Vgl. Johan­nes Beermann-Schön: Taking Advan­tage: Ger­man Freight For­war­ders and Pro­perty Theft, 1933–1945, in: Chris­toph Kreutz­mül­ler, Jona­than R. Zat­lin (Hg.): Dis­pos­ses­sion. Plun­de­ring Ger­man Jewry, 1933–1953, Ann Arbor/Michigan 2020, 127–147, 142. Ein sol­ches Enga­ge­ment wurde vom NS-Staat nicht nur gut bezahlt, son­dern auch sym­bo­lisch hono­riert: K+N erhielt 1937 und von 1939 bis zum Kriegs­ende ein »Gau­di­plom« als »Natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Musterbetrieb«.

Entrechtet, enteignet, ermordet:
Adolf und Käthe Maass

Dass Alfred und Wer­ner Kühne deut­lich mehr waren als oppor­tu­nis­ti­sche Pro­fi­teure, zeigt nicht nur ihre Kol­la­bo­ra­tion mit dem NS-Staat im Rah­men der ›M‑Aktion‹. Ihr Vater, der Unter­neh­mens­grün­der August Kühne, hatte 1902 sei­nen vor­ma­li­gen Lehr­ling Adolf Maass mit dem Auf­bau einer Ham­bur­ger Nie­der­las­sung betraut und ihn auf­grund sei­nes gro­ßen Erfolgs bei die­ser Auf­gabe schon 1910 zum Teil­ha­ber des Unter­neh­mens gemacht. Ab 1928 hielt Maass 45 Pro­zent der Anteile am Ham­bur­ger Zweig von K+N. Nach August Küh­nes Tod und der Über­nahme des Geschäfts durch seine Söhne war für den jüdi­schen Teil­ha­ber aber kein Platz mehr bei K+N. Im April 1933 wurde er von den Kühne-Brüdern mit­tels eines Kne­bel­ver­trags aus dem Unter­neh­men gedrängt. Wenige Tage nach die­ser ›Ari­sie­rung‹, am 1. Mai 1933, tra­ten Alfred und Wer­ner Kühne in die NSDAP ein.

Der vor­ma­lige Teil­ha­ber Maass blieb in Deutsch­land und wurde Gesell­schaf­ter eines Import­un­ter­neh­mens. Doch die sich ver­schär­fende anti­se­mi­ti­sche Gesetz­ge­bung drängte ihn auch hier aus dem Unter­neh­men und raubte ihm zudem einen beträcht­li­chen Teil sei­nes Ver­mö­gens. Nach­dem Maass im Gefolge der Pogrom­nacht vom 9. Novem­ber 1938 für meh­rere Wochen im KZ Sach­sen­hau­sen inter­niert wor­den war, plan­ten er und seine Frau Käthe die Emi­gra­tion. Doch der Beginn des Kriegs ver­ei­telte diese Pläne. 1942 wur­den Adolf und Käthe Maass nach The­re­si­en­stadt depor­tiert. Von dort wur­den sie 1944 nach Ausch­witz ver­bracht, wo sie ver­mut­lich Anfang 1945 ermor­det wur­den. In der Blu­men­straße in Hamburg-Winterhude, in der die bei­den wohn­ten, bis sie ihr Haus 1941 weit unter Wert ver­kau­fen muss­ten, erin­nern seit 2006 zwei Stol­per­steine an sie. In der Ham­bur­ger Öffent­lich­keit sind ihre Namen jedoch weit­ge­hend vergessen.

Der ›wundersame‹ Wiederaufstieg von
Kühne + Nagel

Alles andere als ver­ges­sen ist hin­ge­gen der Name Kühne: Dass er gerade in Ham­burg so prä­sent ist, ver­dankt sich vor allem dem öffent­li­chen Auf­tre­ten des Mul­ti­mil­li­ar­därs und heu­ti­gen K+N‑Eigentümers Klaus-Michael Kühne, dem Sohn und Allein­er­ben Alfred Küh­nes. Kühne, gebo­ren 1937 in Ham­burg, ist der Zeit­schrift For­bes zufolge die zweit­reichste Ein­zel­per­son in Deutsch­land und ver­fügt über ein Ver­mö­gen von geschätz­ten 32 Mil­li­ar­den Dollar. 

K+N, an dem Kühne die Mehr­heit der Anteile hält, ist einer der zehn umsatz­stärks­ten Logis­tik­kon­zerne der Welt. Über die Kühne Hol­ding AG hält Kühne außer­dem große Anteile an Trans­port­un­ter­neh­men wie Luft­hansa und Hapag-Lloyd sowie an Immo­bi­li­en­pro­jek­ten wie dem in Ham­burg im Bau befind­li­chen Elb­tower. Als Spon­sor der Elb­phil­har­mo­nie, der Staats­oper und des Har­bourfront Lite­ra­tur­fes­ti­vals, als lang­jäh­ri­ger Groß­in­ves­tor des HSV und als Grün­der der pri­va­ten Kühne Logi­stics Uni­ver­sity (KLU) hat er immensen Ein­fluss auf die Ham­bur­ger Poli­tik und Gesell­schaft. Seit 2010 ver­leiht außer­dem der von Kühne gestif­tete und, gewohnt unbe­schei­den, nach ihm selbst benannte Lite­ra­tur­preis für das beste deutsch­spra­chige Roman­de­büt sei­nem Namen Glanz.

Doch wie kam Kühne zu der­ar­ti­gem Ver­mö­gen, Ein­fluss und Anse­hen? Um die­ser Frage nach­zu­ge­hen, muss man die Nach­kriegs­ge­schichte der BRD in den Blick neh­men. Klaus-Michael Küh­nes Vater Alfred Kühne galt nach dem Zwei­ten Welt­krieg zunächst als belas­tet, wurde dann aller­dings unter frag­wür­di­gen Bedin­gun­gen ent­na­zi­fi­ziert. Grund dafür war offen­bar, dass sein weit­ver­zweig­tes Unter­neh­men als Tarn­firma eine Rolle bei der Eta­blie­rung des BND spie­len sollte. Durch diese Ent­las­tung konnte Alfred Kühne an seine Tätig­keit als Logis­tik­un­ter­neh­mer wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus nahezu naht­los anknüp­fen. Durch die NS-Geschäfte hatte Kühne nicht nur ein beträcht­li­ches Ver­mö­gen erwirt­schaf­tet, son­dern war auch euro­pa­weit ver­netzt. Die­sen Wett­be­werbs­vor­teil konnte das Unter­neh­men sich zunutze machen, und so wuchs es rasant.

Anders als es der etwa von der FAZ bis heute fort­ge­schrie­bene Mythos will, bil­de­ten nicht »Fleiß, For­tune und eisen­harte Dis­zi­plin« der Küh­nes die Grund­lage für den wirt­schaft­li­chen Erfolg von K+N, son­dern zual­ler­erst der durch die Betei­li­gung an den NS-Verbrechen erwor­bene Akku­mu­la­ti­ons­vor­sprung. »Das Unter­neh­men ver­dankt sei­nem Enga­ge­ment in der NS-Zeit wesent­li­che, bis heute rele­vante Ent­wick­lungs­im­pulse«, resü­miert Hen­ning Bleyl. Der Wie­der­auf­stieg von K+N ist genauso wenig ›wun­der­sam‹ wie das bun­des­re­pu­bli­ka­ni­sche ›Wirt­schafts­wun­der‹, des­sen Grund­la­gen eben­falls in einer im Krieg u.a. durch Zwangs­ar­beit und ›Ari­sie­rung‹ expan­dier­ten und nur zu gerin­gen Tei­len zer­stör­ten Indus­trie lagen. Ange­sichts die­ser Par­al­lele ist es auch nicht ver­wun­der­lich, dass Alfred Kühne in der Bun­des­re­pu­blik hohe gesell­schaft­li­che Aner­ken­nung zuteil wurde: Er erhielt das Bre­mi­sche Han­sea­ten­kreuz, wurde 1955 zum Hono­rar­kon­sul der Repu­blik Chile in Bre­men ernannt und erhielt 1960 das Große Bun­des­ver­dienst­kreuz für seine »Ver­dienste um den Wiederaufbau«.

Sein Sohn Klaus-Michael Kühne über­nahm vom Vater im Alter von 29 Jah­ren die Füh­rung des Unter­neh­mens. Unter sei­ner Lei­tung ent­wi­ckelte sich K+N zu einem der welt­weit größ­ten Logis­tik­un­ter­neh­men der Welt – im Bereich See­fracht ist es heute sogar Welt­markt­füh­rer.4In den letz­ten Jah­ren pro­fi­tierte K+N zudem von den staat­li­chen Auf­trä­gen für den Impf­stoff­trans­port sowie von den durch die Lie­fer­ket­ten­pro­bleme her­vor­ge­ru­fe­nen enor­men Preis­stei­ge­run­gen für Fracht­trans­porte. K+N gehört damit zu den größ­ten Kri­sen­ge­winn­lern der letz­ten Jahre.

Und wie sein Vater erhält auch Klaus-Michael Kühne für diese Erfolge staat­li­che Ehrun­gen – ins­be­son­dere in sei­nen bei­den ›Hei­mat­städ­ten‹ Bre­men und Ham­burg: Im Rah­men der bereits erwähn­ten 125-Jahr-Feiern im Jahr 2015 mach­ten die dama­li­gen Ers­ten Bür­ger­meis­ter der bei­den Han­se­städte, Jens Böhrn­sen und Olaf Scholz, dem Unter­neh­men und sei­nem Patri­ar­chen die Auf­war­tung. Die Stadt Ham­burg hat Kühne eine Ehren­pro­fes­sur ver­lie­hen und ihm ihr Gol­de­nes Buch vor­ge­legt. Die BILD berich­tete 2017 gar von Bestre­bun­gen, Kühne zum Ham­bur­ger Ehren­bür­ger zu machen. Alfred und Klaus-Michael Kühne ver­leg­ten den Fir­men­sitz 1969 zwar in die Schweiz, um den unter der sozi­al­li­be­ra­len Regie­rung erlas­se­nen Mit­be­stim­mungs­ge­set­zen zu ent­ge­hen, doch Bre­men und Ham­burg sind als Deutschland- bzw. Euro­pa­zen­trale des Kon­zerns nach wie vor von gro­ßer Bedeutung.

Verweigerte und sabotierte Aufarbeitung

»Wir sind eine sehr offene Firma. Wir stel­len uns dar, wir wol­len nichts ver­ste­cken«, zitiert der Weser­ku­rier den Bre­mer Nie­der­las­sungs­lei­ter anläss­lich der Eröff­nung der neuen Deutsch­land­zen­trale im Jahr 2020. Schließ­lich böten die gro­ßen Fens­ter den Passant:innen einen trans­pa­ren­ten Ein­blick – in die Fir­men­kan­tine. Ein ande­res Bild bie­tet der Geschäfts­sitz von K+N in der Schweiz. Des­sen Fas­sade besteht rundum aus ver­spie­gel­tem Glas – und kann damit sinn­bild­lich für das Ver­hält­nis des Unter­neh­mens zur Auf­ar­bei­tung sei­ner Geschichte ste­hen. Klaus-Michael Kühne wei­gert sich näm­lich beharr­lich, die Geschichte des Unter­neh­mens auf­zu­ar­bei­ten und von Historiker:innen unter­su­chen zu lassen.

Trans­pa­renz à la Klaus-Michael Kühne: Die Zen­trale von K+N am Zürich­see. Foto: Roland zh, Wiki­pe­dia.

Erst 2015, als Reak­tion auf den durch Recher­chen der taz und des Baye­ri­schen Rund­funks erzeug­ten öffent­li­chen Druck, äußerte sich das Unter­neh­men erst­mals zu sei­ner NS-Geschichte: In einer Pres­se­er­klä­rung bekun­dete K+N sein Bedau­ern, »seine Tätig­keit zum Teil im Auf­trag des Nazi-Regimes aus­ge­übt« zu haben, attes­tierte sich selbst aber groß­zü­gig mil­dernde Umstände und rühmte sich, »in dunk­len und schwie­ri­gen Zei­ten seine Exis­tenz behaupte[t]« und »die Kriegs­wir­ren unter Auf­bie­tung aller sei­ner Kräfte über­stan­den« zu haben. Einen ähn­li­chen Ton schlägt eine fir­men­in­terne Jubi­lä­ums­schrift an, aus der bis­lang nur ein­zelne Zitate an die Öffent­lich­keit gelangt sind. Über das Aus­schei­den Adolf Maass’ im Jahr 1933 heißt es darin etwa: »Herr Maass hat von sich aus in freund­schaft­li­cher Abstim­mung mit uns die Kon­se­quen­zen getra­gen, indem er bei uns ausschied.«

Dass diese Aus­sa­gen mit der Wirk­lich­keit wenig gemein haben, ist offen­sicht­lich: Nichts spricht dafür, dass Maass das Unter­neh­men nach mehr als drei­ßig Jah­ren ›frei­wil­lig‹ und ohne Abfin­dung ver­las­sen habe. Um die Details des Vor­gangs in Erfah­rung zu brin­gen, bräuchte es jedoch den Zugang zum Unter­neh­mens­ar­chiv – und der wurde bis­her nie­man­dem gewährt. Klaus-Michael Kühne behaup­tet, die­ses Archiv sei im Krieg zer­stört wor­den – dabei konnte Hen­ning Bleyl für die taz nach­wei­sen, dass die Unter­la­gen aus Bre­men und Ham­burg wohl recht­zei­tig in Sicher­heit gebracht wor­den waren. Das Ver­zeich­nis »Deut­sche Wirt­schafts­ar­chive« jeden­falls weist ein Fir­men­ar­chiv von K+N in der Stadt Kon­stanz aus: mit Bestän­den ab 1902 und der Inhalts­an­gabe »Urkun­den, Akten, Pro­to­kolle, Geschäfts­be­richte, Druck­schrif­ten, Fotos etc. Benut­zung nur mit Geneh­mi­gung der Geschäftsleitung«.

»Milliardär mit eisenharter Disziplin«

Kühne ficht das nicht an. Er bleibt bei sei­ner unglaub­wür­di­gen Behaup­tung und geriert sich als Opfer einer Kam­pa­gne: Er habe kein Ver­ständ­nis dafür, dass die NS-Vergangenheit des Unter­neh­mens »immer wie­der hoch­ge­kocht wird«, sagte er 2019 gegen­über radio bre­men. Wäh­rend andere deut­sche Unter­neh­men zumin­dest in den letz­ten Jah­ren, da die Täter:innen längst unbe­schol­ten gestor­ben sind, Historiker:innen mit der Auf­ar­bei­tung ihrer Geschichte beauf­tragt haben, ver­hin­dert Kühne dies beharr­lich. Kein Wun­der ist es daher, dass er sich mas­siv dage­gen wehrte, als die Initia­tive um Hen­ning Bleyl die For­de­rung erhob, das ›Arisierungs‹-Mahnmal direkt vor der Fir­men­zen­trale auf­zu­stel­len. Auch jetzt, wo es ein wenig abseits ent­steht, betei­li­gen sich weder K+N noch ein ande­res der in den NS ver­strick­ten Bre­mer Trans­port­un­ter­neh­men an den Kos­ten des Mahnmals.

Kühne macht kei­nen Hehl dar­aus, dass er zur Unternehmens- und Fami­li­en­ge­schichte kei­ner­lei Distanz ein­nimmt. Häu­fig betont er die starke Prä­gung durch sei­nen Vater; im Fir­men­sitz hängt das Por­trät Alfred Küh­nes auto­ri­ta­tiv über der Tür des Bespre­chungs­zim­mers.5Chris­tian Rickens: Ganz oben. Wie Deutsch­lands Mil­lio­näre wirk­lich leben. Köln 2011, S. 177 Dass auch Küh­nes Geis­tes­hal­tung mehr Kon­ti­nui­tä­ten als Brü­che mit der sei­nes Vaters auf­weist, legt eine Äuße­rung von ihm im Jahr 2008 nahe. Mit Bezug auf seine Ableh­nung einer Über­nahme der Ree­de­rei Hapag-Lloyd durch aus­län­di­sche Unter­neh­men bekun­dete er damals: »Wir wol­len uns mög­lichst rein­ras­sig deutsch halten.«

Gleich­zei­tig insze­niert sich Klaus-Michael Kühne als kunst­sin­ni­ger Mäzen, visio­nä­rer Gestal­ter und sach­kun­di­ger Poli­tik­be­ra­ter. In den Medien wird er als »Mil­li­ar­där mit eisen­har­ter Dis­zi­plin« (FAZ) bzw. »Mil­li­ar­där, der Gedichte schreibt – und nicht auf­hö­ren kann zu arbei­ten« (SPIEGEL), hofiert. In Inter­views und Homes­to­ries darf sich Kühne über den ›sehr gro­ßen Sozi­al­neid‹ in Deutsch­land bekla­gen (NZZ), seine Ableh­nung der Über­ge­winn­steuer bekun­den oder seine Pläne für ein neues Opern­hau­ses für Ham­burg aus­brei­ten. Kri­ti­sche Nach­fra­gen zur NS-Geschichte von K+N blei­ben aus.

Klaus-Michael Kühne ›bringt Opfer‹ (FAZ) und er ›ver­langt Opfer‹ (Abend­blatt). Foto: Monster4711, Wiki­pe­dia.

Auch in Hamburg: NS-Verbrechen erinnern!

Kühne ist kein Ein­zel­fall. Zahl­rei­che Unter­neh­men in Ham­burg und dar­über hin­aus mach­ten ihr Ver­mö­gen im Natio­nal­so­zia­lis­mus.6Vgl. dazu etwa Frank Bajohrs Stu­dieAri­sie­rung‹ in Ham­burg und Felix Mat­heis‹ Bei­trag ›Ari­sie­ren‹ und Aus­beu­ten bei Untie­fen. Aber Kühne ist ein Extrem­fall inso­fern, als er nicht nur dank die­sem Ver­mö­gen heute einer der reichs­ten Men­schen der Welt ist, son­dern zudem jeg­li­che Auf­ar­bei­tung der Geschichte ver­hin­dert und sei­nen Namen durch Mäze­na­ten­tum und Kul­tur­spon­so­ring weiß­wäscht.

Das ist nun kein Geheim­nis. Vor allem Hen­ning Bleyl recher­chierte und publi­zierte seit 2015 ein­ge­hend zu dem Thema; hinzu kom­men Recher­chen von His­to­ri­kern wie Wolf­gang Dre­ßen, Götz Aly, Frank Bajohr und Johan­nes Beermann-Schön. Und auch viele Medien berich­te­ten in den letz­ten Jah­ren über die NS-Verstrickungen von K+N – sogar in der Ham­bur­ger Mor­gen­post und im HSV-Fanmagazin Bah­ren­fel­der Anzei­ger konnte man schon dar­über lesen. In Ham­burg hat diese Bericht­erstat­tung jedoch offen­bar kaum Konsequenzen.

Das muss sich ändern. Die NS-Geschichte der Ham­bur­ger Handels- und Trans­port­un­ter­neh­men muss in den Blick der erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Arbeit gera­ten. Am Bei­spiel Kühne offen­bart sich ein Skan­dal, der sich mit dem Selbst­bild des ›wie­der­gut­ge­wor­de­nen‹ Deutsch­land nicht ver­trägt und doch kon­sti­tu­tiv für die­ses Land ist: Die aktive Betei­li­gung an NS-Verbrechen zahlt sich für deut­sche Unter­neh­men bis zum heu­ti­gen Tag aus. Eine kri­ti­sche Stadt­öf­fent­lich­keit sollte es als ihre Auf­gabe begrei­fen, die­sen Skan­dal ins öffent­li­che Bewusst­sein zu rufen. Und sie sollte derer geden­ken, die – wie Adolf und Käthe Maass – die­sen Ver­bre­chen zum Opfer fie­len. Ein Mahn­mal wie in Bre­men wäre ein ers­ter Schritt.

Lukas Betz­ler

Der Autor schrieb für Untie­fen bereits über das Hols­ten­areal und das Stadt­ma­ga­zin SZENE Ham­burg. Eine Umfrage in sei­nem Freun­des­kreis hat erge­ben, dass eine Mehr­heit Klaus-Michael Kühne bis­lang für den Chef des gleich­na­mi­gen Ham­bur­ger Senf- und Essig­her­stel­lers hielt.

  • 1
    Alle seit 2015 von Bleyl und ande­ren Autor:innen in der taz erschie­ne­nen Bei­träge sind in einem umfas­sen­den Dos­sier ver­sam­melt, das einen her­vor­ra­gen­den Über­blick über die Causa Kühne + Nagel verschafft.
  • 2
    Auch an der erzwun­ge­nen Flucht selbst ver­diente K+N als Trans­port­dienst­leis­ter für das Hab und Gut der Aus­rei­sen­den. Davon zeugt u.a. ein Pla­kat von 1935 im Bestand des Deut­schen His­to­ri­schen Muse­ums.
  • 3
    Vgl. Johan­nes Beermann-Schön: Taking Advan­tage: Ger­man Freight For­war­ders and Pro­perty Theft, 1933–1945, in: Chris­toph Kreutz­mül­ler, Jona­than R. Zat­lin (Hg.): Dis­pos­ses­sion. Plun­de­ring Ger­man Jewry, 1933–1953, Ann Arbor/Michigan 2020, 127–147, 142.
  • 4
    In den letz­ten Jah­ren pro­fi­tierte K+N zudem von den staat­li­chen Auf­trä­gen für den Impf­stoff­trans­port sowie von den durch die Lie­fer­ket­ten­pro­bleme her­vor­ge­ru­fe­nen enor­men Preis­stei­ge­run­gen für Fracht­trans­porte. K+N gehört damit zu den größ­ten Kri­sen­ge­winn­lern der letz­ten Jahre.
  • 5
    Chris­tian Rickens: Ganz oben. Wie Deutsch­lands Mil­lio­näre wirk­lich leben. Köln 2011, S. 177
  • 6
    Vgl. dazu etwa Frank Bajohrs Stu­dieAri­sie­rung‹ in Ham­burg und Felix Mat­heis‹ Bei­trag ›Ari­sie­ren‹ und Aus­beu­ten bei Untie­fen.

Halskestraße 1980: rassistischer Terror

Halskestraße 1980: rassistischer Terror

Am 22. August jährt sich das neo­na­zis­ti­sche Atten­tat in der Ham­bur­ger Hals­ke­straße zum 42. Mal. Eine ange­mes­sene Gele­gen­heit, sei­ner Opfer zu geden­ken und sich die wider­sprüch­li­che gesell­schaft­li­che Aus­ein­an­der­set­zung um die­sen wohl ers­ten ras­sis­ti­schen Mord­an­schlag in der Bun­des­re­pu­blik in Erin­ne­rung zu rufen.

Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu. Foto: Initia­tive zum Geden­ken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân.

In der Nacht des 22. August 1980 schli­chen sich drei Gestal­ten an das Gebäude Hals­ke­straße 72 heran, die ein abge­le­ge­nes Gewer­be­ge­biet im Stadt­teil Bill­brook im Süd­os­ten Ham­burgs durch­zieht. Es han­delte sich um Ange­hö­rige der selbst­er­nann­ten »Deut­schen Akti­ons­grup­pen«. Sie schmier­ten die Parole »Aus­län­der raus!« an die Wand und schleu­der­ten bren­nende Molotow-Cocktails durch eine Scheibe im Erd­ge­schoss. Hin­ter dem Fens­ter schlie­fen Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân. Sie waren kurz zuvor als soge­nannte »boat peo­ple« aus Viet­nam geflo­hen und gemein­sam mit wei­te­ren Geflüch­te­ten in dem Wohn­heim unter­ge­kom­men. Die Brand­sätze explo­dier­ten und setz­ten das kleine Zim­mer sofort in Flam­men. Nguyễn Ngọc Châu starb wenige Stun­den spä­ter. Đỗ Anh Lân erlag neun Tage dar­auf sei­nen schwe­ren Ver­let­zun­gen in einem Ham­bur­ger Krankenhaus.

Der bru­tale Anschlag war ein rechts­extre­mer Ter­ror­akt. Er gilt heute als ers­ter doku­men­tier­ter ras­sis­ti­scher Mord in der Geschichte der Bun­des­re­pu­blik und stellt den Beginn einer gan­zen Reihe ähn­li­cher Mord­ta­ten Rechts­extre­mer wäh­rend der acht­zi­ger Jahre dar. Allein die »Deut­schen Akti­ons­grup­pen« hat­ten in den Wochen und Mona­ten zuvor zahl­rei­che ras­sis­ti­sche und anti­se­mi­ti­sche Anschläge ver­übt. Im April 1980 explo­dierte eine Bombe vor der Janusz-Korczak-Schule, der NS-Gedenkstätte »Bul­len­hu­ser Damm«, in Rothen­burg­sort unweit der Hals­ke­straße. Es folg­ten Atta­cken auf Geflüch­te­ten­wohn­heime in Bay­ern und Baden-Württemberg sowie auf eine wei­tere NS-Ausstellung. Die Ter­ror­bande war bei wei­tem nicht die ein­zige mili­tante Neonazi-Gruppe die­ser Zeit. Beim Okto­ber­festat­ten­tat vom 26. Sep­tem­ber 1980 tötete ein jun­ger Rechts­extre­mer mit Ver­bin­dun­gen zur »Wehr­sport­gruppe Hoff­mann« zwölf Men­schen und sich selbst. Der Ter­ror­an­schlag stellt das her­aus­ra­gendste Ereig­nis die­ser bis­lang kaum erforsch­ten bun­des­deut­schen Gewalt­ge­schichte dar.

Dabei war es kei­nes­wegs so, dass die zeit­ge­nös­si­sche Öffent­lich­keit das Thema igno­rierte, wie sich anhand einer klei­nen his­to­ri­schen Pro­be­boh­rung in Ham­burg zei­gen lässt. Die Aus­ein­an­der­set­zun­gen um rechte Gewalt inten­si­vier­ten sich im Laufe der acht­zi­ger Jahre. Sie deu­ten exem­pla­risch auf die ras­sis­ti­sche Stim­mung in der Bun­des­re­pu­blik hin, die zu die­ser Zeit eine Kon­junk­tur erlebte. Die öffent­li­chen Reak­tio­nen sowohl im bür­ger­li­chen wie im lin­ken Spek­trum blie­ben indes wider­sprüch­lich und dreh­ten sich um eigene Befindlichkeiten.

Die egozentrische Empörung der Mehrheitsgesellschaft

Die ham­bur­gi­sche, aber auch die bun­des­deut­sche Öffent­lich­keit nahm den Anschlag in der Hals­ke­straße auf­merk­sam zur Kennt­nis. Das öffent­li­che Inter­esse in Ham­burg lässt sich exem­pla­risch an der Bericht­erstat­tung des Ham­bur­ger Abend­blatts nach­voll­zie­hen. Die bürgerlich-konservative Publi­ka­tion wid­mete dem Angriff und sei­nem Kon­text im August und Sep­tem­ber 1980 rund ein Dut­zend Arti­kel. Auch füh­rende Ver­tre­ter der han­se­städ­ti­schen Poli­tik nah­men öffent­lich Anteil. 

So doku­men­tierte das Ham­bur­ger Abend­blatt die Trau­er­feier für Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân auf dem Öjen­dor­fer Fried­hof, wo die bei­den am 4. Sep­tem­ber 1980 bestat­tet wur­den, sowie eine Rede, die der Erste Bür­ger­meis­ter Hans-Ulrich Klose (SPD) bei der Zere­mo­nie hielt. Dem­nach wohn­ten immer­hin 400 Per­so­nen der Ver­an­stal­tung bei, was eben­falls auf die große Anteil­nahme hin­weist. Die Dar­stel­lung der Zei­tung offen­bart dabei ein­drück­lich die dis­pa­ra­ten Sicht­wei­sen der deut­schen Mehr­heits­ge­sell­schaft. Sie beweg­ten sich zwi­schen Empö­rung über die Gewalt­tat und kul­tu­ra­lis­ti­schen Differenzkonstruktionen.

Der Repor­ter bemühte sich sehr, die ver­meint­li­che gegen­sei­tige Fremd­heit der Anwe­sen­den unmiss­ver­ständ­lich her­aus­zu­stel­len: »Der bedrü­ckende Anlaß der Trau­er­feier sollte ges­tern zugleich ein Zei­chen der Hoff­nung set­zen, sollte eine Brü­cke des Ver­ständ­nis­ses schla­gen hel­fen. Doch eher stau­nend und ver­ständ­nis­los als Seite an Seite mit den Viet­na­me­sen stan­den die Ein­hei­mi­schen unter den 400 Trau­er­gäs­ten.« Die bei­den Opfer seien ebenso wie die anschlie­ßende Gra­bespro­zes­sion »fremd und fremd­län­disch« geblie­ben. »Ver­ste­hen konnte der eine die ande­ren nicht«, so der Autor über die Gruppe von »Men­schen aus zwei Kul­tur­krei­sen«, zumal die Zere­mo­nie »die Ham­bur­ger […] mit der völ­lig frem­den Kul­tur jener Men­schen kon­fron­tierte, die als Opfer der Poli­tik plötz­lich zu Nach­barn und dann doch wie­der zu Opfern gewor­den sind«. Bloß die »Abscheu vor dem Ver­bre­chen« habe die Gäste verbunden.

Die Per­spek­ti­ven der Betrof­fe­nen blie­ben eine Rand­no­tiz. Nur knapp zitierte der Autor eine nicht nament­lich genannte Viet­na­me­sin: »Wir fra­gen die Mör­der, was sie wohl emp­fin­den mögen«. Das war zugleich der ein­zige Hin­weis auf die Täter und ihre hier unge­nannt blei­bende ras­sis­ti­sche Moti­va­tion. Zwar benannte der Teaser des Arti­kels die Tat als »Ter­ror­an­schlag«, doch die Über­be­to­nung der angeb­li­chen Dif­fe­renz zwi­schen »Ein­hei­mi­schen« und den Opfern bezie­hungs­weise der Gruppe, der sie ange­hör­ten, kon­ter­ka­riert selbst den Ver­such, »eine Brü­cke schla­gen« zu wol­len. Die Befind­lich­kei­ten eines mehr­heits­deut­schen Blicks stellte das Abend­blatt in den Vor­der­grund, echte Soli­da­ri­tät und Mit­ge­fühl mit den »Nach­barn« lie­ßen sich so nicht ausdrücken.

Der Ort des neo­na­zis­ti­schen Ter­rors – die Hals­ke­straße 72 im Jahr 2022. Foto: privat.

Dem Bür­ger­meis­ter gelang es in sei­ner Anspra­che hin­ge­gen bes­ser, empa­thi­sche Anteil­nahme ange­sichts des »bru­ta­len, heim­tü­cki­schen Anschlags« zum Aus­druck zu brin­gen. Den­noch zei­gen seine Äuße­run­gen eben­falls einen bemer­kens­wert deutsch-zentrierten Fokus. So bemühte Klose den Mythos von Ham­burg als libe­ra­ler und welt­of­fe­ner Stadt, der eine wich­tige Rolle im beschö­ni­gen­den his­to­ri­schen Selbst­bild der see­han­dels­ori­en­tier­ten Kauf­manns­me­tro­pole spielt: »Ich bin zutiefst betrof­fen, daß eine sol­che Tat in unse­rem Land gesche­hen konnte, in einer Stadt, die in ihrer Geschichte Zei­chen gesetzt hat für frei­heit­li­chen Geist und Tole­ranz. Mit die­ser Tat ist ein ande­res Zei­chen gesetzt wor­den, geprägt von Haß und Feind­se­lig­keit« Für ihn konnte es offen­bar kaum sein, dass aus­ge­rech­net in der Han­se­stadt ein – von ihm nicht als sol­cher bezeich­ne­ter – ras­sis­ti­scher Ter­ror­akt pas­sie­ren konnte. Er betonte, die Tat sei in ver­schie­de­ner Hin­sicht eine »Mah­nung«, Geflüch­tete zu unter­stüt­zen und »Kräf­ten der Into­le­ranz und des Has­ses gegen Min­der­hei­ten« entgegenzutreten.

Rechter Terror als Problem einer wiedergutgewordenen Nation

Auch in Klo­ses Rede wird deut­lich, wer die Adressat:innen der Rede waren: Ange­hö­rige des deut­schen Mehr­heits­kol­lek­tivs. Die Opfer des Brand­an­schlags bezie­hungs­weise »Min­der­hei­ten« blie­ben objek­ti­fi­zierte »Andere«, denen gegen­über sich die Deut­schen als vorbildlich-demokratisch, anstän­dig und hilfs­be­reit zu zei­gen hät­ten. Denn jene »Mah­nung«, die der Bür­ger­meis­ter aus­sprach, galt beson­ders ange­sichts der Geschichte des Natio­nal­so­zia­lis­mus, von der Klose fürch­tete, dass sie »uns«, das heißt das deut­sche natio­nale Kol­lek­tiv, »ein­holt«. Die Rede prä­sen­tierte hier den Topos von der »deut­schen his­to­ri­schen Ver­ant­wor­tung«, die im heu­ti­gen bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Dis­kurs zen­tral ist. »Gerade wir soll­ten wach und hell­hö­rig sein und blei­ben, wenn irgendwo bei uns Miß­trauen und Feind­se­lig­keit gegen­über Men­schen ande­rer Haut­farbe, Spra­che und Kul­tur auf­kei­men … Ver­ges­sen wir nie: Wir haben eine Schuld abzu­tra­gen – all jenen Men­schen gegen­über, die in deut­schem Namen ver­folgt, gede­mü­tigt, getö­tet wur­den. … Wir – gerade wir, sind zur Hilfe aufgerufen.«

Die Rede Klo­ses deu­tet dar­auf hin, dass 1980 die soge­nannte Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung im bun­des­deut­schen Dis­kurs bereits eta­bliert war. Im Vor­jahr hat­ten die Sen­der der ARD die US-amerikanische Serie »Holo­caust« aus­ge­strahlt. Sie hatte viele Zuschauer:innen gefun­den und gab der (west-)deutschen Gesell­schaft einen star­ken Anschub, sich gründ­li­cher mit der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­gan­gen­heit zu befas­sen. Diese wurde zuneh­mend in die natio­nale Basis­er­zäh­lung des nun­mehr demo­kra­ti­schen West­deutsch­land inte­griert. Ras­sis­tisch oder anti­se­mi­tisch moti­vierte Gewalt­ta­ten von Neo­na­zis konnte man vor die­sem Hin­ter­grund nicht ein­fach igno­rie­ren. Rhe­to­ri­sche Gegen­re­ak­tio­nen wie Klo­ses Rede kreis­ten jedoch vor allem um die Kon­struk­tion einer geläu­ter­ten Nation, deren mora­li­sche Wie­der­gut­wer­dung ange­sichts rechts­extre­men Ter­rors infrage gestellt schien.

Das »refugees welcome« der Konservativen…

Die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Dop­pel­mord in der Hals­ke­straße muss auch vor dem Hin­ter­grund der Dis­kus­sion um viet­na­me­si­sche »boat peo­ple« gese­hen wer­den, die um 1980 in Deutsch­land geführt wurde. In der Tat gab es seit 1979 in West­deutsch­land eine Welle der Sym­pa­thie für Men­schen, die teil­weise auf Boo­ten aus dem inzwi­schen voll­stän­dig »kom­mu­nis­tisch« regier­ten Viet­nam flo­hen. Die Bun­des­re­pu­blik nahm zahl­rei­che von ihnen auf, wobei die Unter­stüt­zung wesent­lich aus dem bür­ger­li­chen und kon­ser­va­ti­ven Spek­trum kam. Die Vietnames:innen flo­hen vor dem Kom­mu­nis­mus. Im Sinne der moder­ni­sier­ten Basis­er­zäh­lung gal­ten sie eini­gen über­dies als »Juden Asi­ens«, für die Deut­sche beson­ders ver­ant­wort­lich seien.

Denk­mal für die »boat peo­ple« auf dem Öjen­dor­fer Fried­hof. Foto: privat. 

Die kon­ser­va­tive Warm­her­zig­keit für »boat peo­ple« kühlte sich in den Fol­ge­jah­ren deut­lich ab und war ein Aspekt einer inten­si­ven und ras­sis­tisch auf­ge­la­de­nen Debatte um Migra­tion und Asyl. Diese unter­schied nicht bloß zwi­schen »Gast­ar­bei­tern« und »Asy­lan­ten«, son­dern bereits auch zwi­schen ver­meint­lich legi­ti­mer poli­ti­scher Flucht einer­seits, und soge­nann­ten »Wirt­schafts­asy­lan­ten« ande­rer­seits. Neben Vietnames:innen erreich­ten zu die­ser Zeit zahl­rei­che Men­schen Deutsch­land, die vor den Regi­men in Polen und der Tür­kei flo­hen, aber auch Flüch­tende etwa aus afri­ka­ni­schen Län­dern. Die angeb­li­che »Asyl­flut« und das gene­relle »Aus­län­der­pro­blem« waren nicht nur Rechtsterrorist:innen wie den »Deut­schen Akti­ons­grup­pen« ein Dorn im Auge. Dass die Täter:innen die Adresse in der Hals­ke­straße einem Bericht des Ham­bur­ger Abend­blatts ent­nom­men haben sol­len, ver­weist auf die Dop­pel­rolle vie­ler Medien, die einer­seits kri­tisch über Rechts­extreme berich­te­ten und ande­rer­seits die migra­ti­ons­feind­li­che Stim­mung mit anheizten.

…und die Leerstellen des linken Antifaschismus

Die Tat­sa­che, dass es sich bei der Hilfe für »boat peo­ple« um ein gleich­sam anti­kom­mu­nis­ti­sches Pro­jekt han­delte, führte dazu, dass viele bun­des­deut­sche Linke kei­nes­wegs eine empa­thi­sche Hal­tung gegen­über den zuzie­hen­den Vietnames:innen ein­nah­men. Zwar nicht alle, doch einige Links­ra­di­kale leug­ne­ten in dif­fa­mie­ren­der Weise, dass sie der Soli­da­ri­tät wür­dig seien: »Viele der Boat-People sind Schwarz­händ­ler, Zuhäl­ter und US-Kollaborateure, die sich gegen Geld Tickets für den Weg zu neuen Ufern kau­fen«, war etwa 1981 in kon­kret zu lesen. Flie­hende Vietnames:innen pass­ten kaum in die »anti­im­pe­ria­lis­ti­sche» Scha­blone zeit­ge­nös­si­scher Lin­ker, die noch wenige Jahre zuvor für eine Nie­der­lage der USA im Viet­nam­krieg gefie­bert hatten.

Das mag ein Grund dafür sein, dass die hier zugrun­de­lie­gen­den Recher­chen in lin­ken Bewe­gungs­ar­chi­ven Ham­burgs kaum Mate­rial zum Brand­an­schlag her­vor­brach­ten, obwohl Grup­pie­run­gen wie der in der Han­se­stadt gegrün­dete »Kom­mu­nis­ti­sche Bund« sich bereits seit den sieb­zi­ger Jah­ren inten­siv mit loka­len Neo­na­zis befass­ten. Über­haupt war die ver­meint­lich dro­hende »Faschi­sie­rung der BRD« zen­tral für die Gesell­schafts­kri­tik der Neuen Lin­ken. Die Frage, ob wei­tere Unter­su­chun­gen das Bild kor­ri­gie­ren oder ob die Quel­len­lage dem lin­ken Des­in­ter­esse an viet­na­me­si­schen Opfern ent­spricht, muss noch offen­blei­ben. Prin­zi­pi­ell wur­den Rechts­extre­mis­mus und Ras­sis­mus (zeit­ge­nös­sisch meist »Aus­län­der­feind­lich­keit« genannt) seit 1980 auch in Ham­burg immer stär­ker zum Thema lin­ker Mobi­li­sie­run­gen, zumal die Stadt Tat­ort wei­te­rer rechts­extre­mer Morde wer­den sollte. Auch selbst­be­wusste migran­ti­sche Orga­ni­sie­rung spielte in den Kämp­fen um Ras­sis­mus und Migra­tion eine zuneh­mende Rolle.

Die Behör­den zer­schlu­gen die »Deut­schen Akti­ons­grup­pen« im Sep­tem­ber 1980. Sie fass­ten die Täter:innen der Brand­at­ta­cke, zwei Män­ner und eine Frau, und ver­ur­teil­ten sie in Stuttgart-Stammheim zu Gefäng­nis­stra­fen. Trotz der zeit­ge­nös­si­schen Auf­merk­sam­keit für den Ham­bur­ger Ter­ror­an­schlag, schien er für Jahr­zehnte ver­ges­sen und erhält erst seit eini­gen Jah­ren wie­der Auf­merk­sam­keit. Es ist ein Fort­schritt, dass Über­le­bende und Zeit­zeu­gen 2014 in Ham­burg eine Initia­tive zum Geden­ken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân grün­de­ten. Sie rich­tet regel­mä­ßige Gedenk­ver­an­stal­tun­gen zu den Jah­res­ta­gen des Anschlags aus – in die­sem Jahr am 21. August – und for­dert, die Hals­ke­straße nach den bei­den Getö­te­ten umzu­be­nen­nen. Die Geschichte rechts­extre­mer Gewalt­ta­ten in der Bun­des­re­pu­blik steht noch am Anfang ihrer Erfor­schung und sollte auch von der anti­fa­schis­ti­schen Lin­ken stär­ker betrie­ben wer­den. Es begann nicht erst 1990 in Ost­deutsch­land: Ham­burg hat zahl­rei­che trau­rige Bei­spiele zu bieten.

Felix Mat­heis, August 2022.

Der Autor ist His­to­ri­ker in Ham­burg und arbei­tet der­zeit zu Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus in der Bun­des­re­pu­blik, his­to­risch und aktu­ell. Auf Untie­fen schrieb er bereits über die schuld­hafte Rolle Ham­bur­ger Kauf­leute im Natio­nal­so­zia­lis­mus.