Das hanseatische Gesicht des Bestehenden

Das hanseatische Gesicht des Bestehenden

Zwei neue Bücher über Olaf Scholz schrei­ben ihm han­sea­ti­sche Tugen­den zu und emp­feh­len ihn als Ver­wal­ter des neo­li­be­ra­len Sta­tus Quo. Was wirk­lich über Scholz zu sagen wäre, fällt in die­ser staats­jour­na­lis­ti­schen Image­pflege unter den Tisch.

„Frei von Empa­thie“ und „ohne jedes Cha­risma“: Olaf Scholz laut zwei Hof­be­richt­erstat­tern. Foto: privat.

In der reprä­sen­ta­ti­ven bür­ger­li­chen Demo­kra­tie erfül­len poli­ti­sche Eli­ten immer auch eine sym­bo­li­sche Funk­tion. Sie sol­len den Staat bezie­hungs­weise „das Volk“ reprä­sen­tie­ren, den Bürger:innen ein Bild ihres Gemein­we­sens ver­kör­pern. Im Gegen­satz zum könig­li­chen Kör­per, der im Ancien Régime qua Geburt und gött­li­cher Aus­er­wählt­heit unfrag­lich die Ein­heit des Staa­tes sym­bo­li­sierte, müs­sen die wech­seln­den demo­kra­ti­schen Repräsentant:innen sich dem anpas­sen, was die Bevöl­ke­rung sich wünscht und was sie zu akzep­tie­ren bereit ist. Sie müs­sen, zumal in der hoch­gra­dig media­li­sier­ten Demo­kra­tie der Gegen­wart, ihr Image her­stel­len als Pro­jek­ti­ons­flä­che für staats­tra­gende Tugenden.

Ange­sichts der zuneh­men­den Per­so­na­li­sie­rung von Par­tei­po­li­tik ist sol­che Image­pflege ein nicht zu ver­nach­läs­si­gen­der Bestand­teil der Her­stel­lung von poli­ti­scher Hege­mo­nie, also der Zustim­mung der Beherrsch­ten zu ihrer Beherr­schung. Jour­na­lis­ten staats­na­her Medien ver­su­chen von die­ser Not­wen­dig­keit zu pro­fi­tie­ren und über­neh­men dabei unauf­ge­for­dert diese Image­pflege, indem sie die ver­meint­lich bedeut­same „Per­sön­lich­keit“ füh­ren­der Politiker:innen in den Fokus rücken und ihre posi­ti­ven Qua­li­tä­ten beschrei­ben bzw. eben erfinden.

Eben so ist es im Fall Olaf Scholz. Zwar eig­net Scholz sich denk­bar schlecht für Image­pflege, ver­kör­pert er doch der all­ge­mei­nen Wahr­neh­mung nach vor allem Lan­ge­weile. Aber das hin­dert Journalist:innen nicht, die es ja gewohnt sind, aus wenig Mate­rial viel leicht ver­dau­li­chen Text zu machen. Und nun, da er Kanz­ler ist, lässt sich so etwas auch verkaufen.

Bei­spiele die­ser Art von kos­ten­lo­ser PR sind die bei­den bis­her über Olaf Scholz erschie­ne­nen Bücher: „Olaf Scholz: Der Weg zur Macht. Das Por­trät“ (Klar­text, Dezem­ber 2021) vom Chef­re­dak­teur des Ham­bur­ger Abend­blatts, Lars Hai­der, und „Olaf Scholz – Wer ist unser Kanz­ler?“ (S. Fischer, Februar 2022) von Mark Schie­r­itz, wirt­schafts­po­li­ti­scher Kor­re­spon­dent im Haupststadt-Büro der ZEIT.

Natür­lich kön­nen auch Hai­der und Schie­r­itz zu Scholz nichts wirk­lich Inter­es­san­tes berich­ten. Beide Bücher sind bür­ger­li­che bun­des­deut­sche Hof­be­richt­erstat­tung ohne jede Gesell­schafts­kri­tik. Neben Lan­ge­weile kön­nen sie höchs­tens schau­dern las­sen, etwa, wenn Hai­der anbie­dernd erzählt, wie oft er Scholz schon in Hin­ter­grund­ge­sprä­chen oder zu Inter­views getrof­fen habe. Kurz: Sie gehö­ren zu denen, die selbst in 7 lan­gen Leben kei­nen Platz auf der Lese­liste ver­dient hät­ten. Aber es ist inter­es­sant, wel­che Qua­li­tä­ten sie Scholz im Sinne der genann­ten staats­tra­gen­den Image­pflege anzu­dich­ten versuchen.

Bei Hai­der sind Scholz‘ han­sea­ti­sche Qua­li­tä­ten, ins Poli­ti­sche gewen­det, im Kern eine Affir­ma­tion des gegen­wär­ti­gen neo­li­be­ra­len Regimes. Was die Bürger:innen in Scholz sehen sol­len, ist „Kom­pe­tenz“, „Nüch­tern­heit“ und „Erfah­rung“ – also Poli­tik unter dem Dik­tat des tris­ten Rea­lis­mus, streng an den Sach­zwän­gen ori­en­tiert, ohne ver­derb­li­che Uto­pie, Visio­nen (Hel­mut Schmidt ist für Scholz nicht ohne Grund ein „Gigant“) oder auch nur ein erkenn­ba­res Pro­gramm. Sicher, hier darf es auch mal Zuge­ständ­nisse geben – aber was nötig und mög­lich ist und was nicht, das ent­schei­det das Kapi­tal. Er habe „das Geld zusam­men­ge­hal­ten“ und in Ham­burg „gut und solide“ regiert. Natür­lich ist er ein „Macht­mensch“ – denn anders geht es schließ­lich in den Kom­man­do­hö­hen des Staa­tes nicht. Hai­der stellt sich die Bezie­hung zu den Wähler:innen so vor: Sie bestel­len „Füh­rungs­leis­tung“ und Scholz lie­fert sie.

Solch mar­kige Management-Macherrhetorik soll beru­hi­gen, sug­ge­riert sie doch, dass der_die Ein­zelne noch etwas aus­rich­ten kann. Dabei ver­ne­belt sie natür­lich, dass das polit­öko­no­mi­sche Wohl oder Ver­der­ben in kapi­ta­lis­ti­schen Staa­ten kaum von ein­zel­nen Politiker:innen abhängt, selbst von Kanz­lern nicht. Bei Scholz wird nun diese Per­so­na­li­sie­rung der Poli­tik auf einen Kanz­ler gepresst, der sie man­gels nen­nens­wer­ter Per­sön­lich­keit bei­nahe schon ad absur­dum führt. Wer das schlu­cken kann, hofft wohl kaum noch, dass irgend­wer den Irr­sinn die­ser Gesell­schaft doch noch rich­ten könnte. Hai­der offen­bart genau den capi­ta­list rea­lism, den Mark Fisher beschrieb: Es ist nichts Ande­res vor­stell­bar als ein ewi­ges „wei­ter so“, also ist es doch bes­ser, jeman­dem die Sache zu über­las­sen, der genau das und auch nicht mehr will.

Die Per­son Scholz beschreibt Hai­der als „frei von Empa­thie“ und „ohne jedes Cha­risma“. Das ist nicht nega­tiv gemeint, son­dern soll wohl Sach­kennt­nis und Kom­pe­tenz noch ein­mal unter­strei­chen: Scholz hat keine Gefühle, er hat Ahnung. Über sein Leben gibt Scholz wenig preis, aber was man wis­sen kann, lässt ahnen: Er ist genauso lang­wei­lig und durch­schnitt­lich, wie er erscheint. Gebo­ren in Osna­brück in eine Mit­tel­schichts­fa­mi­lie, poli­ti­sche Sozia­li­sie­rung bei den Jusos, Jura­stu­dium, Selbst­stän­dig­keit als Anwalt für Arbeits­recht, SPD-Parteikarriere.

Hai­ders Scholz „arbei­tet hart“, ist „ehr­gei­zig“, man kann ihm ver­trauen, denn „er kann was“. Er ist hart im Neh­men – aber auch hart zu sich selbst. Er stu­diert tage­lang Akten, ohne zu ermü­den. Er ist von sich über­zeugt, aber auch zu Recht. Er hat zwar kein Cha­risma, aber denkt ana­ly­tisch und ist ein „Arbeits­tier“. Er ist höf­lich und nicht arrogant.

Schließ­lich auch noch ein Schuss Sozi­al­de­mo­kra­tie: Er ist ein „Auf­stei­ger, der an soziale Gerech­tig­keit glaubt“, ja, ein „Außen­sei­ter“. Hai­der wid­met gar sein Buch „allen Außen­sei­tern“. Was einen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Juris­ten mit jahr­zehn­te­lan­ger erfolg­rei­cher Polit­kar­riere zum Außen­sei­ter macht, bleibt frei­lich Hai­ders Geheim­nis. Viel­leicht die Kind­heit in Rahl­stedt? Ähn­lich dünn ist der Ver­such, Scholz als „Femi­nis­ten“ dazu­stel­len. Er hätte sich schon immer für Gleich­be­rech­ti­gung ein­ge­setzt, etwa in der Aus­wahl sei­ner Senator:innen und Minister:innen, und sei all­er­gisch, wenn in Inter­views die Berufs­tä­tig­keit sei­ner Frau in Frage gestellt wird. Fair enough – aber das ist genau die Art Staats­fe­mi­nis­mus, mit dem man heute wirk­lich nir­gendswo mehr Wider­spruch hervorruft.

Jetzt setzt’s aber Respekt: Olaf Scholz im Wahl­kampf 2021. Foto: Michael Lucan CC BY-SA 3.0

Schie­r­itz’ Buch ord­net anders als Hai­ders Mach­werk Scholz auch poli­tisch ein. Dass er schon unter Ger­hard Schrö­der als Gene­ral­se­kre­tär an der Neo­li­be­ra­li­sie­rung der SPD mit­ge­ar­bei­tet hat und die Agenda 2010 flei­ßig ver­tei­digte, wird hier zumin­dest nicht ver­schwie­gen. Ebenso, dass Scholz damals den Begriff „demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus“ aus dem Par­tei­pro­gramm der SPD strei­chen las­sen wollte.

Aber für Schie­r­itz begrün­det das kei­nen Vor­wurf, son­dern für ihn zeigt es, wie „geer­det“ Scholz heute im Ver­gleich zu sei­ner links­ra­di­ka­len Zeit in den 1970ern ist. Vor allem der Anwalts­be­ruf habe ihn zu einem „Mann der Mitte“ gemacht. Auch der von Scholz ver­ant­wor­tete Brech­mit­tel­ein­satz, der 2001 Ach­idi John das Leben kos­tete, kann die­sem Bild nichts anha­ben. Schie­r­itz ver­han­delt den Skan­dal unter fer­ner lie­fen, bei Hai­der taucht er erst gar nicht auf. Scholz ist für Schie­r­itz „den Her­aus­for­de­run­gen des 21. Jahr­hun­derts gewach­sen“, denn er ist kein Ideo­loge, son­dern „je nach den Umstän­den aus­ge­rich­tet“. Er ist ein Ver­hand­ler, „will alle Mei­nun­gen hören“, umgibt sich mit „Leu­ten die etwas bewe­gen wollen“.

Sogar ein biss­chen weni­ger Neo­li­be­ra­lis­mus will er neu­er­dings. Denn statt Leis­tungs­ge­rech­tig­keit wie in der Sozi­al­de­mo­kra­tie des Drit­ten Weges à la Blair und Schrö­der stellt Scholz die „Bei­trags­ge­rech­tig­keit“ in den Mit­tel­punkt. Der Ser­mon vom „Respekt“ ist wohl allen noch aus dem letz­ten Bun­des­tags­wahl­kampf im Ohr. „Respekt“ soll für not­wen­dige Lohn­hier­ar­chien ent­schä­di­gen. „Respekt“ soll es für Erwerbs­ar­beit jeder Art geben, egal ob hoch- oder nied­rig qua­li­fi­ziert. Das aber hat natür­lich nur wenig mit Gerech­tig­keit zu tun. Denn „Respekt“, man ahnt es, ist, was von der Sozi­al­de­mo­kra­tie übrig­bleibt, wenn sie nicht umver­tei­len will. Mit Scholz soll der neo­li­be­rale Wahn­sinn des Bestehen­den huma­ni­siert wer­den. Wie eng begrenzt diese rhe­to­ri­schen Zuge­ständ­nisse sind, zeigt schon jetzt, wie wenig wir uns davon ver­spre­chen dür­fen. Wer Scholz’ Weg in Ham­burg ver­folgt hat, weiß, dass er Ansprü­che auf mehr als „Respekt“ auch abzu­weh­ren weiß: die Law&Order-Rhetorik im Wahl­kampf gegen Schill, die Brech­mit­tel­ein­sätze, sein Ein­satz gegen die Rekom­mu­na­li­sie­rung der Ener­gie­netze und für Olym­pia, die Gefah­ren­ge­biete, seine absurde Ver­leug­nung poli­zei­li­cher Gewalt beim G20-Treffen und jüngst sein beun­ru­hi­gend schlech­tes Gedächt­nis bezüg­lich Kor­rup­tion mit der Warburg-Bank zei­gen, wozu ein ideo­lo­gisch fle­xi­bler Par­tei­sol­dat wie Scholz fähig ist. Scholz ist kein wirk­li­cher Böse­wicht, auto­ri­täre Res­sen­ti­ments und per­sön­li­che Berei­che­rung sind ihm sicher fremd. Aber er ist eben ein typi­scher Sozi­al­de­mo­krat des neo­li­be­ra­len Zeit­al­ters. James Jack­son hat das im Jaco­bin Maga­zin schön zusam­men­ge­fasst: Scholz ver­bin­det höhere Min­dest­löhne mit kapi­tal­freund­li­cher Kli­ma­po­li­tik, Law & Order-Maßnahmen mit dem Kampf gegen Rechts­po­pu­lis­mus. Er steht für „Sta­bi­li­tät statt Vision, Manage­ment statt Trans­for­ma­tion, und wahrt die Inter­es­sen der Mäch­ti­gen – wäh­rend er gerade genug refor­miert, um den Kohle-getriebenen Koloss deut­sche Indus­trie am Lau­fen zu hal­ten.“ Auf Bun­des­ebene setzt Scholz somit fort, was seine Poli­tik als Ers­ter Bür­ger­meis­ter Ham­burgs aus­zeich­nete – und was ihn popu­lär machte. Und wer weiß, viel­leicht räumt die ZEIT ihm nach der nächs­ten Bun­des­tags­wahl ja Hel­mut Schmidts altes Büro frei.

Felix Jacob

Der Autor schrieb auf Untie­fen zuletzt über den Ham­bur­ger Auf­stand 1921.

Ein Ohr für die Forschung

Ein Ohr für die Forschung

Für nur ein Wochen­ende im März war in Ham­burg eine Aus­stel­lung des Künst­lers Ger­rit Frohne-Brinkmann zu sehen. Seine Instal­la­tio­nen waren der Vacanti-Maus gewid­met. Hätte man die­sem skur­ri­len Hybrid­we­sen nur bes­ser gelauscht: Wäh­rend nur wenige Meter ent­fernt die Impfgegner:innen mar­schier­ten, ließ sich von den Mäu­sen etwas von fal­scher Wis­sen­schafts­feind­schaft erfahren.

Detail aus Ger­rit Frohne-Brinkmanns Aus­stel­lung »Ear­mouse«, März 2022. Foto: Hein­rich Holtgreve

1997 ver­öf­fent­lichte eine For­schungs­gruppe aus Mas­sa­chu­setts um den Medi­zi­ner Joseph P. Vacanti die Ergeb­nisse ihrer mehr­jäh­ri­gen For­schung. Dem Team war es gelun­gen, auf dem Rücken von Mäu­sen Knor­pel­ge­webe in Form einer mensch­li­chen Ohr­mu­schel zu züch­ten. Das war eine wis­sen­schaft­li­che, vor allem aber auch eine öffent­li­che Sen­sa­tion: Denn die Ear­mouse, auch unter dem Namen Vacanti-Maus bekannt (es war wohl eine ganze Schar sol­cher Mäuse von­nö­ten, des­halb hat die Maus kei­nen Eigen­na­men wie das Klon­schaf Dolly), bot einen bizar­ren, ja ver­stö­ren­den Anblick.

Unheim­lich und ver­stö­rend war diese Maus, weil da ein nor­mal gro­ßes mensch­li­ches Ohr auf dem Rücken einer klei­nen, nack­ten, rot­äu­gi­gen Maus ›wuchs‹. Die­ses Gewächs, über dem sich die dünne Mau­se­haut spannte, konnte nicht hören, war aber unver­kenn­bar eine hoch­ar­ti­fi­zi­ell geformte mensch­li­che Ohr­mu­schel. Die Maus fun­gierte als Bio­re­ak­tor für die­ses nicht­hö­rende Ohr – ein leben­des Medium, das ein ›Ersatz­teil‹ bis zu sei­ner Ent­nahme spa­zie­ren trägt. Die Ent­nahme des gezüch­te­ten Knor­pel­ge­we­bes ließe sich zwar auch ohne eine Tötung des Medi­ums durch­füh­ren, doch ging es der Vacanti-Maus wie allen ande­ren Labor­mäu­sen auch: Sie wurde ver­braucht bzw. »geop­fert«, wie es in einem Paper der For­schungs­gruppe hieß.[1]

Die Ear­mice und das an ihnen erst­mals erfolg­reich ange­wandte Ver­fah­ren bevöl­kern seit­dem das kol­lek­tive Ima­gi­näre auf der gan­zen Welt. So ließ etwa Stel­arc, ein zypriotisch-australischer Künst­ler, ab 2006 über zehn Jahre lang, von eini­gen Ope­ra­tio­nen beglei­tet, ein lin­kes mensch­li­ches Ohr auf sei­nem Arm wach­sen. Stel­arcs Absicht war es, das Ohr mit dem Inter­net zu ver­bin­den und es so welt­weit ›sen­den‹ zu las­sen, was es an dem Ort ›hört‹, an dem sich sein Medium – der Künst­ler Stel­arc – auf­hält. Auch die­ses knor­pe­lige künst­li­che Ohr konnte natür­lich nicht eigen­stän­dig hören, aber es war mit einem tech­ni­schen Auf­nah­me­ge­rät aus­ge­stat­tet. Das Ohr darum herum war ›nur‹ Kunst.

Der Künst­ler Stel­arc 2011 mit sei­nem künst­li­chen ›drit­ten Ohr‹. Foto: Alt­Sylt Lizenz: CC BY-SA 2.0

Ohrmäuse aus Keramik

25 Jahre nach­dem die Vacanti-Maus zur welt­wei­ten Sen­sa­tion wurde, wid­mete der Ham­bur­ger Künst­ler Ger­rit Frohne-Brinkmann ihr nun eine Aus­stel­lung im Pro­jekt­raum ABC. Benannt nach der gleich­na­mi­gen Straße in der Neu­stadt, ist der Ort ABC – wie so viele Pro­jekt­räume – eine Zwi­schen­raum­nut­zung. Das Gebäude, ein Com­merz­bank-Investment-Piece aus den Neun­zi­gern, passt zeit­lich gut zur Vacanti-Maus. Am 12. und 13. März tum­melte sich dort eine große Fami­lie kera­mi­scher Mäuse auf dem Fuß­bo­den. Sie sind haar­los und rosa wie die nack­ten Vacanti-Mäuse. Und wie die Vacanti-Mäuse tra­gen sie alle ein mensch­li­ches Ohr auf dem Kör­per. Es scheint sie nicht zu stören.

Drei der Mäuse sit­zen in über­gro­ßen Muscheln, kera­mi­schen Fan­ta­sien von Mee­res­schne­cken­ge­häu­sen, an der Wand. Von dort tönt ein wei­ßes Rau­schen. Es sind jedoch nicht die Muscheln, die hier rau­schen, son­dern die Mäuse, bes­ser wohl: die mensch­li­chen Ohr­mu­scheln auf ihren Rücken. Die Mäuse sind ver­ka­belt, so dass sie ent­ge­gen ihrer übli­chen Auf­gabe – und in ent­ge­gen­ge­setz­ter Rich­tung zum ›Ohr‹ auf Stel­arcs Arm – Schall sen­den. Sie emp­fan­gen nichts. Mit der­lei Gangart- und Rich­tungs­wech­seln ist bei Aus­stel­lun­gen des 1990 gebo­re­nen Frohne-Brinkmann, der an der HFBK stu­dierte, stets zu rechnen.

Kera­mi­sche For­men, die stark unter­schnit­tig sind, also nega­tiv, kon­kav nach innen gewölbt, las­sen sich nur mit gro­ßem Geschick model­lie­ren. Das mensch­li­che Ohr ist eine maxi­mal kom­pli­zierte Form, sei es als Skulp­tur oder als gezüch­te­tes Ersatz­ohr (Ohren wer­den, weil sie so kom­pli­ziert zu model­lie­ren sind, mitt­ler­weile tat­säch­lich wie bei Stel­arc an unauf­fäl­li­ger Stelle am Kör­per der Patient:innen nach­wach­sen gelas­sen, nach­dem sie zuvor im Labor initial ange­züch­tet wurden).

Genauso wie das nach­ge­züch­tete gehör­lose Ohr ist auch die Form einer Mee­res­schne­cke nur mühe­voll zu model­lie­ren, eben wegen ihrer Unter­schnit­tig­kei­ten. Als kera­mi­scher Hohl­kör­per erzeugt die Form dann aber zwei­fel­los auch ohne Ver­ka­be­lung und künst­li­che Schall­quelle das bekannte ›Mee­res­rau­schen‹, das man hört, wenn man ein Mee­res­schne­cken­ge­häuse oder eine Muschel an sein Ohr legt. Die­ses Rau­schen ist aller­dings weder die ein­ge­fan­gene Auf­nahme eines Süd­see­ur­laubs noch das akus­tisch ver­stärkte Fließ­ge­räusch des eige­nen Bluts, wie häu­fig ange­nom­men wird. Viel­mehr ent­steht es, weil die Muschel die Umge­bungs­ge­räu­sche auf­nimmt, ver­stärkt und als undif­fe­ren­zier­tes Rau­schen wie­der nach drau­ßen sen­det (also wie­der in umge­kehr­ter Rich­tung zur mensch­li­chen Ohr­mu­schel, die den Schall auf­nimmt und ihn, wenn sie denn hören kann, über das Trom­mel­fell nach innen ans Gehirn weitergibt).

Die Maus als Schnittstelle zwischen Mensch und Natur

Die kera­mi­schen Ohr­mäuse, die in den Mee­res­schne­cken sit­zen und das weiße Rau­schen ver­sen­den, sind über ihre sehr lan­gen Schwänze an die Kabel­age hin­ter der Fuß­leiste ange­schlos­sen. Auch die ande­ren Mäuse haben einen Kabel-Schwanz, bei ihnen ist er aller­dings in nor­ma­ler Mäu­se­länge abge­schnit­ten. Damit erin­nern die Mäuse an eine der wohl wich­tigs­ten Schnitt­stel­len zwi­schen Mensch und Maschine seit der Erfin­dung des Per­so­nal Com­pu­ter: die Com­pu­ter­maus. Zu Earmouse-Zeiten hatte sich die heute auf bei­nahe jedem Schreib­tisch zu fin­dende Funk­tech­no­lo­gie noch nicht durch­ge­setzt. Die meiste Zeit seit ihrer Erfin­dung in den 1960er Jah­ren hat­ten alle Mäuse einen ›Kabel­schwanz‹, und so haben schon die Erfinder:innen der »X‑Y-Positionsanzeige für ein Anzei­ge­sys­tem« (so die Bezeich­nung der Patent­an­mel­dung 1963) sie »Maus« getauft. Wäre sie damals bereits durch eine Funk­ver­bin­dung ohne Schwanz aus­ge­kom­men, hätte man sie ver­mut­lich Hams­ter genannt.

Wäh­rend die Com­pu­ter­maus als Schnitt­stelle zwi­schen Mensch und Maschine dient, bewe­gen sich medi­zi­ni­sche For­schun­gen mit Labor­tie­ren an einer Schnitt­stelle zwi­schen Mensch und Tier. Seit Jahr­zehn­ten forscht die Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin an den Mög­lich­kei­ten, wie Tiere zu Bio­re­ak­to­ren für funk­tio­nie­rende Organe wer­den kön­nen, also wie sie mehr sein kön­nen als Trä­ger tau­ber Ohren aus Knor­pel­zel­len. So tra­gen inzwi­schen spe­zi­elle, gene­tisch mani­pu­lierte Schweine trans­plan­tier­bare Her­zen spa­zie­ren – mit dem im Ver­gleich zur Ohr­maus ent­schei­den­den Unter­schied, dass die­ses Herz zuerst für das Schwein arbei­tet und nicht irgendwo auf sei­nem Rücken als Extra­pos­ten wächst.

Die mit gro­ßer öffent­li­cher Auf­merk­sam­keit ver­folgte Trans­plan­ta­tion eines Schwei­ne­her­zens in einen mensch­li­chen Pati­en­ten am 7. Januar 2022 schien zuerst geglückt zu sein. Zwei Monate nach dem Ein­griff jedoch starb der Mann, der das Implan­tat erhal­ten hatte. Vor­erst ist das Expe­ri­ment also geschei­tert. Den­noch wer­fen der­ar­tige Xeno­trans­plan­ta­tio­nen für die For­schen­den und für die Patient:innen schon jetzt die irrs­ten Fra­gen auf. Nicht zuletzt: Was bedeu­tet es, den Tod eines Säu­ge­tiers zu bil­li­gen, um selbst wei­ter­le­ben zu kön­nen? Anders als bei Men­schen, die einen Organ­spen­de­aus­weis besit­zen, sich im Fall ihres Todes also bereit­erklä­ren Organe abzu­ge­ben, wer­den diese Schweine dezi­diert als Organ­spen­der gezüch­tet. Die an mensch­li­chen Zwe­cken aus­ge­rich­tete Schwei­ne­züch­tung ist dabei kein Skan­dal, sie dient seit Jahr­hun­der­ten der Kotelett- und Wurst­pro­duk­tion. Bemer­kens­wert ist aber der Trans­fer leben­di­ger Organe vom Tier zum Men­schen – nicht als Nah­rung, son­dern als funk­tio­nale Inkor­po­ra­tion eines lebens­wich­ti­gen Organs. In Vor­be­rei­tung der Xeno­trans­plan­ta­tion vom Januar 2022 wur­den etli­che Gesprä­che mit reli­giö­sen Ober­häup­tern diver­ser Kon­fes­sio­nen geführt. Sie alle stell­ten das geret­tete Men­schen­le­ben über das Tierwohl.

Aufklärungsfeindschaft gestern und heute 

Die Ear­mouse des Jah­res 1997 brachte viele erbit­terte Wissenschaftsgegner:innen auf den Plan, die »Got­tes Schöp­fung« in Gefahr sahen. Eine große Anzeige des Tur­ning Point Pro­ject, eines Zusam­men­schlus­ses von mehr als 60 NGOs, warnte mit einem Foto der Ear­mouse vor (roter) Gen­tech­nik und titelte: »Who plays God in the 21st Cen­tury?« Sie sug­ge­rierte fälsch­li­cher­weise, dass die abge­bil­dete Maus gene­tisch modi­fi­ziert sei, und setzte ganz auf den scho­ckie­ren­den Effekt ihres Frankenstein-haften Aus­se­hens. In einem mensch­li­chen Ohr auf dem Rücken einer Maus meinte man den Inbe­griff der zom­bi­fi­ca­tion, der mons­trö­sen Selbst­über­schät­zung der Medi­zin erken­nen zu kön­nen. Auch ohne groß­for­ma­tige Anzei­gen ver­brei­tete sich das Bild der Ear­mouse daher wahn­sin­nig schnell – dank ihrer ver­ka­bel­ten Ver­wand­ten, der Com­pu­ter­maus. Internetnutzer:innen ver­schick­ten das Bild mas­sen­haft und häu­fig gänz­lich dekon­tex­tua­li­siert per E‑Mail.

Eine ver­zerrte Spie­ge­lung durch die Jahr­zehnte zeigt uns eben diese Men­schen heute als soge­nannte »Impfgegner:innen«. Ihnen erscheint das (weiße) Rau­schen des Inter­nets als Rau­schen ihres Bluts, ihres eige­nen, hei­li­gen, gesun­den Kör­pers. Diese Über­zeu­gung ver­sen­den sie, mit einer mitt­ler­weile kabel­lo­sen Com­pu­ter­maus im WWW her­um­kli­ckend, gerne nach außen – nur noch sel­ten via E‑Mail, umso öfter aber in den Echo­kam­mern von Tele­gram-Grup­pen und You­tube-Kanä­len. Sie tun das im Glau­ben, es sei ihr eige­ner Gedanke, der da tönt, dabei sind sie nur eine die Außen­ge­räu­sche ver­stär­kende Hohl­form – leere Muscheln (oder ein­fach Hohlköpfe).

Die Imp­fung wird von die­sen Men­schen abge­lehnt, weil sie in die ein­zel­nen Kör­per ein­dringt. In die­ser Hin­sicht gleicht die Impf­geg­ner­schaft der Ableh­nung von Xeno­trans­plan­ta­tio­nen oder eben der Trans­plan­ta­tion eines auf dem Rücken einer Maus gezüch­te­ten Ohrs. Dabei lässt sich beob­ach­ten, dass der Wider­stand gegen der­ar­tige Ope­ra­tio­nen nicht aus ethi­schen Über­le­gun­gen, aus Sorge um das Tier­wohl erwächst, son­dern aus Angst um die Inte­gri­tät des eige­nen Kör­pers; im Fall der Imp­fun­gen oben­drein abge­mischt mit Sor­gen um Selbst­be­stim­mung, Miss­trauen gegen­über Behör­den und der Sehn­sucht nach einer soli­den Volks‑, also Infek­ti­ons­ge­mein­schaft, die, so die Wunsch­vor­stel­lung, als Herde ins­ge­samt immun wer­den möge. Wir hal­ten uns da lie­ber an die Mäuse: Sie sind zwar durch­aus gesel­lig, aber Her­den­tiere sind sie nicht – ob mit oder ohne Ohr auf dem Rücken. 

Nora Sdun, April 2022

Die Autorin grün­dete vor 18 Jah­ren zusam­men mit Gus­tav Mechlen­burg den Tex­tem Ver­lag. Im Dezem­ber 2016 erschien dort der Band All in, der eine Aus­wahl per­for­ma­ti­ver Arbei­ten Ger­rit Frohne-Brinkmanns dokumentiert.


[1] In Nowo­si­birsk wurde 2013 ein Denk­mal ent­hüllt, das den Labor­mäu­sen und ‑rat­ten, die­sen so unsicht­ba­ren wie uner­müd­li­chen Streiter:innen für Auf­klä­rung und wis­sen­schaft­li­chen Fort­schritt, gewid­met ist.

Was kostet der Spaß?

Was kostet der Spaß?

Der Ham­bur­ger Dom ist belieb­tes Aus­flugs­ziel für kurz­zei­ti­ges Ver­gnü­gen. Der Spaß hat jedoch sei­nen Preis, und den zah­len nicht zuletzt Saisonarbeiter:innen aus dem Aus­land. Die Lokal­presse ver­brei­tet hin­ge­gen das Glücks­ver­spre­chen des größ­ten Volks­fes­tes im Nor­den. Gäbe es nicht bes­sere Ver­wen­dungs­mög­lich­kei­ten für eine Frei­flä­che mit­ten in der Stadt?

Was hin­ter den glit­zern­den Fas­sa­den des Ham­bur­ger Doms liegt, bleibt zumeist im Dun­keln. Foto: privat

Im Früh­jahr und Som­mer des Jah­res 2021 – wie auch bereits im Jahr zuvor – wurde das Hei­li­gen­geist­feld zum tat­säch­li­chen Herz von St. Pauli. Waren die Knei­pen und Clubs noch pan­de­mie­be­dingt geschlos­sen, so fan­den sich des Nachts fei­er­wü­tige Hamburger:innen mit Fla­schen­bier und Sound­sys­tem auf dem Platz ein – zumin­dest solange der Stadt­staat nicht seine Mus­keln spie­len ließ und Was­ser­wer­fer schickte. Tags­über drohte das nicht und so war das Feld häu­fig schon mit­tags Frei­flä­che für spie­lende Kin­der, Skater:innen und Son­nen­ba­dende. Im Juli began­nen dann die ers­ten Schausteller:innen den Platz mit ihren Fahr­ge­schäf­ten für sich zu rekla­mie­ren. Aus der für viele unkom­mer­zi­ell nutz­ba­ren Frei­flä­che wurde die Gated Com­mu­nity eini­ger weni­ger, die den öffent­li­chen Raum kapi­ta­li­sier­ten. »Juhu«, freute sich die BILD, »Frei­tag star­tet end­lich wie­der der Dom!«

Der jen­seits pan­de­mi­scher Lagen drei­mal jähr­lich statt­fin­dende Rie­sen­rum­mel ver­spre­che, so der Arti­kel wei­ter, »Som­mer, Sonne und viel Spaß«. Für alle, die diese Drei­fal­tig­keit der Ver­gnü­gungs­kul­tur schon zuvor auf dem Feld genos­sen hat­ten, waren die anrü­cken­den Schausteller:innen jedoch weni­ger Grund zur Freude. Zwi­schen den nach und nach zusam­men­ge­häm­mer­ten Karus­sells fan­den sich immer wie­der die vor­ma­li­gen Nutzer:innen des Hei­li­gen­geist­fel­des ein – bis der Platz Ende Juli end­gül­tig umzäunt und der Zugang streng kon­trol­liert wurde. Für viele bot sich so in die­sen Juli­wo­chen, quasi als klei­ner Aus­gleich für die genom­mene Flä­che, die Mög­lich­keit eth­no­gra­fi­scher Stu­dien über das Schausteller:innenleben.

Nicht nur in Som­mer­näch­ten begehrt – eine Frei­flä­che mit­ten in der Stadt. Wäh­rend des Coro­na­som­mers 2021 zog das Hei­li­gen­geist­feld gar so viele Men­schen an, dass die Poli­zei regel­mä­ßig die Party unter­brach. Fotos: privat

Amusement und Ausbeutung

Den neu­gie­ri­gen Bli­cken offen­barte sich jedoch nicht jener weit ver­brei­tete Mythos des Fami­li­en­be­triebs im Wohn­wa­gen. Oder wie es nach wie vor im Volks­mund und in der Pres­se­be­richt­erstat­tung heißt: des »fah­ren­den Vol­kes« (des­sen Roman­ti­sie­rung gerade in die­sem Land mit sei­ner Geschichte einige Fra­gen auf­wirft). Der real exis­tie­rende Kapi­ta­lis­mus, des­sen Fas­sade auf dem Ham­bur­ger Dom nicht nur meta­pho­risch glit­zert, zeigte hin­ter den Karus­sell­ku­lis­sen seine nur allzu gern ver­schwie­ge­nen Wider­sprü­che. Um es ein­mal zuzu­spit­zen: Das Ticket für den Ein­tritt ins Schausteller:innenleben ist offen­bar ein Mercedes-SUV; Modell­reihe irgend­et­was mit »G«. Den hohen Anschaf­fungs­preis die­ser Sta­tus­sym­bole erwirt­schaf­ten auch jene Saisonarbeiter:innen, deren Rumä­nisch bei Som­mer­hitze von den halb­fer­ti­gen Ach­ter­bah­nen über den Platz schallte. Schät­zungs­weise 90 Pro­zent der Hilfsarbeiter:innen, die auf deut­schen Jahr­märk­ten und Volks­fes­ten als »bil­lige Arbeits­kräfte« schuf­ten, kom­men aus Rumänien.

Der „Shaker“ – rumä­ni­sche Hilfsarbeiter:innen und Mer­ce­des SUV. Foto: privat

»Jede Menge Spaß auf St. Pauli«, wie es zum nun aus­lau­fen­den Win­ter­dom auf der offi­zi­el­len Seite der Stadt Ham­burg heißt, beruht eben auch auf der Aus­beu­tung impor­tier­ter Arbeits­kraft aus Nied­rig­lohn­län­dern. Das ist an sich wenig ver­wun­der­lich. Auch Amu­se­ment muss unter kapi­ta­lis­ti­schen Ver­hält­nis­sen pro­du­ziert wer­den. Was beim Ham­bur­ger Dom auf­fällt: Gespro­chen wird über diese Ver­hält­nisse höchst ungern.

Mindestlöhne…

Denn wer die Beob­ach­tun­gen zu teu­ren Autos und Saisonarbeiter:innen – sie sind in der Tat nur Beob­ach­tun­gen – bele­gen will, der fin­det nicht viel. In der hie­si­gen Presse und sei­tens der Stadt wird der Dom zumeist beju­belt und seine glit­zernde Fas­sade, der Schein im wahrs­ten Sinne des Wor­tes, als Wahr­heit ein­ge­kauft. Zur Frage nach der Unter­kunft der Saisonarbeiter:innen fin­det sich indes ein mitt­ler­weile fast 20 Jahre alter Arti­kel. Der hat es aller­dings in sich. Das Ham­bur­ger Arbeits­amt war nach der Beschwerde eines rumä­ni­schen Arbei­ters aktiv gewor­den. Der Arbei­ter hatte weni­ger Lohn als ver­ein­bart erhal­ten – musste dafür jedoch mehr Arbeits­zeit ableis­ten (105 Stun­den) als ver­trag­lich ver­ein­bart (40 Stunden). 

Das Amt rückte zur Groß­kon­trolle aus: Dabei konn­ten zwar nur wenige der erwar­te­ten Ver­stöße fest­ge­stellt wer­den, doch sei eine ganz andere Sache scho­ckie­rend gewe­sen. Die Unter­künfte der Arbei­ter erin­ner­ten die Kontrolleur:innen an die »Hal­tung von Tie­ren«. Die mit die­ser Tat­sa­che kon­fron­tier­ten Schausteller:innen nah­men zur Sache keine Stel­lung. Empört war man jedoch, dass das Arbeits­amt kurz vor der Eröff­nung des Volks­fes­tes offen­bar ihren Ruf rui­nie­ren wolle. Und wie­viel ver­die­nen Saisonarbeiter:innen nun? Wenn sie Glück haben, wird ihnen offen­bar der Min­dest­lohn aus­ge­zahlt – einem Spre­cher des Zolls zufolge gibt es hier nur wenige Verstöße.

Viel mehr fin­det sich dann aller­dings auch nicht über die Arbeits­ver­hält­nisse auf dem Ham­bur­ger Dom. Aber auch ein Nicht­be­fund ist ein Befund – die Saisonarbeiter:innen blei­ben unsicht­bar. Dies steht ers­tens im Gegen­satz zu jenen Lebe­we­sen, die Tier­hal­tung im Wort­sinne erlei­den: Für die Dom-Ponys, die dort auf engs­tem Raum trist ihre klei­nen Kreise zie­hen, konn­ten viele ihr Herz erwär­men – sie schaff­ten es etwa ins Wahl­pro­gramm der Grü­nen (S. 133/143) für die Bür­ger­schafts­wahl 2020. Das Pony-Karussell sorge »für Unbe­ha­gen bei den Besucher*innen«, heißt es dort, man wolle die Tier­hal­tung bei Volks­fes­tens abschaf­fen. Zwei­tens steht die Unsicht­bar­keit der Arbeiter:innen im kras­sen Gegen­satz zur Medi­en­prä­senz ihrer Vor­ge­setz­ten. Gerade in Zei­ten der Pan­de­mie, der Bran­che ging es ja in der Tat nicht gut, erfuh­ren die Schausteller:innen viel Auf­merk­sam­keit. Das dabei in Dau­er­schleife gespielte Lamento exis­ten­zi­el­ler Nöte erin­nert bis­wei­len an die Pres­se­ar­beit deut­scher Poli­zei­ge­werk­schaf­ten. Wie schlecht es um die Bran­che tat­säch­lich bestellt ist, ist dabei schwer zu sagen. Kon­krete Zah­len wer­den nicht genannt.

… und Millionenumsätze

Was ver­die­nen also Schausteller:innen? Genau bezif­fern lässt sich dies nicht. Aber: Der Umsatz auf Volks­fest­plät­zen, so eine Stu­die des Deut­schen Schau­stel­ler­bun­des aus dem Jahr 2018, lag bei 4,75 Mil­li­ar­den Euro. Wenn nun, wie es besag­ter Stu­die zu ent­neh­men ist, der Win­ter­dom rund zwei und der Som­mer­dom rund zwei­ein­halb Mil­lio­nen Besucher:innen anzog – wohl­ge­merkt: vor Corona – und diese im Schnitt 25 Euro aus­ga­ben, so lag der Umsatz der Fahr­ge­schäfte und Buden des Doms zwi­schen 50 und 62,5 Mil­lio­nen Euro. Was davon tat­säch­lich als Gewinn bei den Betrie­ben hän­gen­bleibt, ist eben­falls unklar. Der eth­no­gra­fi­sche Blick und der sich ihm zei­gende Fuhr­park der Schausteller:innen – die Mercedes-SUVs – las­sen jedoch ver­mu­ten, dass es zum Leben reicht.

Der­zeit neigt sich der Win­ter­dom dem Ende zu. Folgt man der Ham­bur­ger Mor­gen­post, dann war diese Aus­gabe des Volks­fes­tes die »wich­tigste aller Zei­ten«. Denn »selbst im Krieg« hät­ten die Schausteller:innen mehr ver­dient als wäh­rend der Corona-Lockdowns. Es geht also – mal wie­der – um die Exis­tenz. Wäh­rend Mopo und Co. ihre Leser:innen dazu auf­ru­fen, mit ihrem soli­da­ri­schen Besuch das Bestehen des Doms zu sichern, hätte so manche:r Anwohner:in womög­lich nichts dage­gen, wenn es der letzte Dom wäre. Die dann ganz­jäh­rig freie Flä­che (von Events wie dem »Schla­ger­move« ein­mal abge­se­hen, der doch bitte noch drin­gen­der der Pan­de­mie zum Opfer fal­len soll) haben die Hamburger:innen ja schon für sich zu nut­zen gelernt.

Johan­nes Rad­c­zinski, Dezem­ber 2021

Der eth­no­gra­fi­sche Blick auf das Leben von Schausteller:innen offen­barte sich dem Autor, der das Hei­li­gen­geist­feld im Som­mer 2021 fast täg­lich nutzte, eher unfrei­wil­lig. Zuletzt schrieb er auf Untie­fen über das nur einen Stein­wurf vom Dom ent­fernte Bis­marck­denk­mal.

Auf Affirmation getrimmt

Auf Affirmation getrimmt

Die Szene Ham­burg ist in die­ser Stadt eine Insti­tu­tion. Seit bald 50 Jah­ren erscheint das Stadt­ma­ga­zin monat­lich. Es ver­stand sich nie als Teil einer Gegen­öf­fent­lich­keit, lie­ferte aber den­noch mit­un­ter kri­ti­schen Jour­na­lis­mus. Heute, eine Insol­venz und meh­rere Eigen­tü­mer­wech­sel spä­ter, ist es kaum mehr als ein Anzei­gen­blatt. Wir haben uns das November-Heft angeschaut.

Dickie war noch ein Kind, als er die Szene »quasi im Allein­gang erfun­den« hat. Foto: Youtube-Screenshot

Aus dem seit 2013 in eini­gen Ham­bur­ger Pro­gramm­ki­nos lau­fen­den Wer­be­spot zum vier­zigs­ten Jubi­läum der Szene Ham­burg wis­sen wir: Die Idee für diese Zeit­schrift hatte Dickie Schu­bert, Betrei­ber des Inter­net­ca­fés Surf n’ Schlurf im Schan­zen­vier­tel und einer der Grün­der der Band Frak­tus. Dickie hatte sich auf »so ’nem  klei­nen Schmier­zet­tel« seine genia­len Ein­fälle notiert: »ver­schie­dene Rubri­ken wie zum Bei­spiel, was ich gut finde – Mode, Musik, Essen und so«. Dann aber ent­wen­de­ten »die Leute von der Szene« den Zet­tel – und bau­ten auf ihm das Kon­zept ihres Stadt­ma­ga­zins auf. So jeden­falls geht der von Rocko Scha­moni und Regis­seur Chris­tian Hor­nung (»Man­che hat­ten Kro­ko­dile«) prä­sen­tierte Mythos. 

Tat­säch­lich wurde die Szene Ham­burg 1973 von Klaus Hei­dorn gegrün­det, der zuvor als Tex­ter in einer Wer­be­agen­tur gear­bei­tet hatte. Ziel war ein Kultur- und Ver­an­stal­tungs­blatt, das den bis dahin ver­nach­läs­sig­ten Bereich zwi­schen eta­blier­tem Kul­tur­be­trieb und lin­ker Sub­kul­tur abdeckt. Er wolle »alle Unter­neh­mungs­lus­ti­gen zwi­schen 14 und 40, in Anzug und Jeans« errei­chen, wird Hei­dorn 1974 vom Spie­gel zitiert. Damit unter­schei­det sich die Szene Ham­burg von den aller­meis­ten ande­ren Stadt­ma­ga­zi­nen in der BRD, die sich häu­fig auch als »Statt­zei­tun­gen« bezeich­ne­ten. Denn egal ob Tip und Zitty in Ber­lin, der Pflas­ter­strand in Frank­furt oder die Stadt­re­vue in Köln, all diese Maga­zine grün­de­ten sich in den sieb­zi­ger Jah­ren als Organe der Gegen­öf­fent­lich­keit. Sie ver­stan­den sich – jeden­falls in ihren Anfangs­zei­ten – als nicht-kommerzielle Frei­räume für kri­ti­schen Jour­na­lis­mus und alter­na­tive Kul­tur und waren unter ande­rem für ihre wil­den Kleinanzeigen-Seiten bekannt.1Eine Samm­lung der kurio­ses­ten Klein­an­zei­gen aus die­sen und ande­ren Maga­zi­nen fin­det sich in Franz-Maria Son­ner (Hg.): Werk­tä­ti­ger sucht üppige Part­ne­rin. Die Szene der 70er Jahre in Klein­an­zei­gen, Antje Kunst­mann Ver­lag: Mün­chen 2005. 

Die Szene Ham­burg hin­ge­gen ver­hehlte nie, dass sie vor allem ein lukra­ti­ves Seg­ment des Anzei­gen­markts erschlie­ßen wollte. Das schloss jour­na­lis­ti­sche Qua­li­tät nicht unbe­dingt aus: Hei­dorn bezeich­nete die Zeit­schrift gerne als »den Spie­gel unter den Stadt­ma­ga­zi­nen«. In einer For­schungs­ar­beit von 1994 wurde der Szene attes­tiert, sie gehöre »zu den intel­lek­tu­ells­ten und geist­reichs­ten Stadt­ma­ga­zi­nen Deutsch­lands«.2 Chris­tian Sei­denabel: Der Wan­del von Stadt­zei­tun­gen. ›Was wider­steht, darf über­le­ben nur, indem es sich ein­glie­dert‹. Rode­rer: Regens­burg 1994, S. 58. René Mar­tens, zeit­wei­lig Redak­ti­ons­lei­ter der Szene schrieb 2015 in der taz: »Was die Szene schrieb, hatte Gewicht im (Sub-)Kulturbetrieb, und das Blatt stand für eine poli­ti­sche Hal­tung, die sich abhob von der der eta­blier­ten Medien in der Stadt.« Und Chris­toph Twi­ckel, von 2000 bis 2003 Chef­re­dak­teur der Szene, meinte: »Die Szene Ham­burg war für viele, die sich nicht nur für Main­stream­kul­tur inter­es­sier­ten, überlebenswichtig.«

Über­le­ben durch Anpassung

Zu die­sem Zeit­punkt, im März 2015, stand die Szene Ham­burg aller­dings kurz vorm Aus, nach­dem sie bereits lange von Krise zu Krise gehan­gelt war: Im Jahr 2000 hatte der laut Twi­ckel »dau­er­be­trun­kene« Hei­dorn, kurz vor dem Kon­kurs ste­hend, die Zeit­schrift ver­kauft und sich das Leben genom­men. 2004 wurde bekannt, dass die Szene sys­te­ma­tisch die Auf­la­ge­zah­len geschönt hatte, und sie wurde an eine Consulting-Firma ver­kauft. 2015 kam dann die zuvor mehr­fach soeben noch ver­hin­derte Insol­venz. Die Szene war damit aber noch nicht Geschichte: Die Ver­mark­tungs­ge­sell­schaft VKM sicherte sich die Namens­rechte und konnte die Szene auf diese Weise »vor dem schein­bar siche­ren Tod […] ret­ten«, wie es auf der Unter­neh­mens­home­page heißt. Inzwi­schen ver­zeich­net das Stadt­ma­ga­zin eine ver­gleichs­weise sta­bile Auf­la­gen­zahl in Höhe von ca. 15.000 ver­kauf­ten Exem­pla­ren, dar­über hin­aus gibt es ein gutes Dut­zend Son­der­hefte, vom »Uni-Extra« bis zum »Sum­mer Guide«.

Mit der Über­nahme durch VKM wurde eine Ent­wick­lung zum Abschluss gebracht, die Twi­ckel zufolge schon län­ger im Gange gewe­sen war. Auf der orga­ni­sa­to­ri­schen Ebene lau­tete sie: weni­ger Lohn, weni­ger feste Mitarbeiter:innen, mehr unbe­zahlte Praktikant:innen.3Die im Impres­sum der Aus­gabe 11/2021 genannte Prak­ti­kan­tin hat tat­säch­lich einen beträcht­li­chen Teil der Bei­träge ver­fasst. Und dass das Schluss­lek­to­rat, wie Twi­ckel berich­tet, schon vor eini­ger Zeit gestri­chen wurde, macht sich auch bemerk­bar: Ein Bei­trag zu den Ham­bur­ger Weih­nachts­märk­ten bricht mit­ten im Satz ab. Die Ent­wick­lung auf der inhalt­li­chen Ebene wird von Twi­ckel mit einer Anek­dote beschrie­ben: »Nach­dem ein Ver­riss des Musi­cals König der Löwen erschie­nen war, stand die kla­gende Anzei­gen­ver­kaufs­lei­te­rin vor mei­nem Schreib­tisch: ›Du setzt unsere Arbeits­plätze aufs Spiel!‹ Die Musi­cal­be­trei­ber hat­ten nach dem Ver­riss sämt­li­che Anzei­gen stor­niert.«4Tat­säch­lich wurde Chris­toph Twi­ckel 2003 wohl vor allem wegen sei­ner unbe­que­men, nicht zu Kom­pro­mis­sen zuguns­ten von Anzeigenkund:innen berei­ten Hal­tung als Chef­re­dak­teur gefeu­ert. Dar­über berich­tete damals unter ande­rem Tino Han­ekamp (Link).

Groß­spu­rig und unscharf: Das Novem­ber­heft der SZENE Ham­burg. Foto: privat

Ein posi­ti­ves Anzeigenumfeld

Der Ver­riss eines Musi­cals der Stage Enter­tain­ment GmbH wäre in der Szene heute undenk­bar. Das zeigt auch ein Blick in die November-Ausgabe. Zwi­schen redak­tio­nel­len Bei­trä­gen und Anzei­gen ist hier kei­ner­lei Wider­spruch zu spü­ren. In der gemein­sam mit dem Ham­bur­ger Sport­bund (HSB) ver­ant­wor­te­ten Sport-Beilage etwa inse­rie­ren alle Sponsoring-Partner des HSB. Zu den Anzeigenkund:innen gehö­ren natür­lich auch die Kul­tur­ein­rich­tun­gen, die im Heft mit Inter­views und Arti­keln bedacht wer­den. Das Mehr! Thea­ter am Groß­markt etwa revan­chiert sich für eine aal­glatte Bespre­chung über sein Harry-Potter-Musical (ein »magi­sches Spek­ta­kel«, das »natür­lich nicht nur etwas für Harry-Potter-Anhänger, son­dern für alle« sei) mit einer ganz­sei­ti­gen Anzeige auf der Rück­seite des Hefts. Und selbst beim Titel­thema »Tod« steht das Anzei­gen­ge­schäft nicht hintan. Redak­tio­nelle Bei­träge zum Bestat­tungs­un­ter­neh­men trost­werk und zu den Erin­ne­rungs­gär­ten, einer öko­lo­gi­schen Bestat­tungs­an­lage, wer­den von Anzei­gen eben­die­ser Unter­neh­men flan­kiert (aber nicht auf der­sel­ben Seite, sonst könnte es ja wie Content-Marketing aus­se­hen). Dass VKM in den Redak­ti­ons­räu­men der Szene auch »einige Handelskammer-Magazine« pro­du­ziert, ist ein Sinn­bild dafür, wie sym­bio­tisch die Bezie­hung zwi­schen der Zeit­schrift und ihren Anzeigenkund:innen ist.5Gera­dezu gro­tesk wirkt ange­sichts die­ses offen­kun­di­gen quid-pro-quo-Prin­zips ein bier­erns­tes Plä­doyer für die Presse des Redak­teurs Marco Arel­lano Gomes, das im August 2020 in der Szene erschien. »Die Welt droht eine zu wer­den, in der das Ich mehr zählt als das Wir«, klagt der Autor ange­sichts von Social Media und Con­tent Mar­ke­ting, und for­dert die Ein­hal­tung der »jour­na­lis­ti­schen Grund­re­geln«, zu denen auch gehöre, »Bei­träge nicht im Aus­tausch gegen Anzei­gen­bu­chun­gen [zu] lan­cie­ren«. Ob er wohl mal eine Aus­gabe der Szene in der Hand gehabt hat?

Anzeige im Novem­ber­heft: „Dein Leben ver­dient ein happy END…!“ – Und was ist mit der Szene? Foto: privat

Selbst­ver­ständ­lich hat die Szene auch zahl­rei­che »Koope­ra­ti­ons­part­ner«, u.a. HVV switch, Lotto Ham­burg und MINI Ham­burg. Die Marke MINI baut hoch­prei­sige Klein­wa­gen und ist Teil der BMW AG, womit sie natür­lich prä­de­sti­niert dafür ist, eine im Nachhaltigkeits-Kostüm daher­kom­mende Online-Veranstaltung »über die Zukunft der Stadt« aus­zu­rich­ten. Mit dabei: Tanya Kumst, Geschäfts­füh­re­rin der Szene Ham­burg, und der Gas­tro­nom Sebas­tian Junge. Moment, ken­nen wir den nicht? Ach ja, der hat den u.a. von MINI Ham­burg gespon­sor­ten »Nach­hal­tig­keits­preis« der Szene gewon­nen, wie wir in der Rubrik »Essen+Trinken« erfah­ren. Er setze sich für eine »wert­schät­zende Genuss­kul­tur« ein, heißt es in der von der Szene ange­führ­ten Begrün­dung: »›Alles grün bei uns!‹ ist hier keine leere Wort­hülse, son­dern geleb­ter All­tag. Bei­spiele gefäl­lig? Sebas­tian Junge bezeich­net sich selbst als Akti­vist für nach­hal­tige sowie umwelt­ge­rechte Genuss­kul­tur und kre­iert mit sei­nem Team hand­ge­machte Gerichte aus regio­na­len Zuta­ten, die von Pro­du­zen­ten stam­men, mit denen das Restau­rant eng und teil­weise freund­schaft­lich ver­bun­den ist.«

Rekla­me­spra­che auf der Höhe der Zeit

Man merkt: Hier sind die Wort­hül­sen nicht leer, son­dern prall gefüllt mit gut ange­dick­tem Dis­kurs­brei. Denn es fin­den sich in der Szene nicht nur die übli­chen Phra­sen vom »schnu­cke­li­gen Café« und vom Ster­ben als dem »letz­ten Stre­cken­ab­schnitt des Lebens« oder tau­to­lo­gi­scher Sprach­müll wie der vom Restau­rant, das durch über­zeu­gende Koch­kunst über­zeugt. Nein, so wie MINI Ham­burg ist auch die Szene auf dem aktu­el­len Stand der Rekla­me­spra­che: Alles hier ist ›nach­hal­tig‹ und ›regio­nal‹, ›divers‹ und ›facet­ten­reich‹. Das ist kein Zufall, kom­men doch viele der Beiträger:innen aus Wer­bung und Mar­ke­ting und schrei­ben daher nicht, son­dern »tex­ten« oder »erstel­len content«.

Einer die­ser Tex­ter schreibt bei­spiels­weise eine lau­nige Glosse über den Tod, die wit­zig sein soll, aber so arm an Witz wie reich an schie­fen Meta­phern ist (»Da nimmt der eine oder andere die Unsterb­lich­keit ein­fach in die eigene Hand, bevor sie kalt ist.«). Am Schluss weiß man zumin­dest, in wel­chem Zustand der Autor die­sen Stuss geschrie­ben hat: »Ich sage: Lebe so, dass deine Stamm­kneipe nach dei­nem Able­ben dicht­ma­chen kann.«

All das heißt nicht, dass das Heft nicht auch man­ches Inter­es­san­tes ent­hält. Ein Bei­trag über den Schrift­stel­ler Mesut Bay­raktar etwa, des­sen Gast­ar­bei­ter­mo­no­loge am 25. Novem­ber am Schau­spiel­haus urauf­ge­führt wur­den, ist zwar eine Gefäl­lig­keits­ar­beit (der Autor des Bei­trags ist wie Bay­raktar Teil des Lite­ra­tur­kol­lek­tivs nous – kon­fron­ta­tive Lite­ra­tur), aber eine lesens­werte; Diver­si­tät ist in dem Heft, etwa bei der Aus­wahl der Interviewpartner:innen, mehr als nur eine Phrase; und die Film­kri­ti­ken (v.a. die­je­ni­gen von Res­sort­lei­ter Marco Arel­lano Gomes) sind trotz ihrer Kürze gehalt­voll und genau.

Auf Affir­ma­tion getrimmt

Wollte man das Heft aber auf einen Nen­ner brin­gen, wäre es ein­deu­tig: Affir­ma­tion. Egal ob es um Gas­tro­no­mie geht oder um den Tod, nichts möchte hier schlechte Laune machen, für Irri­ta­tion oder Zwei­fel sor­gen. Wenn einer der vie­len als ›Inter­view‹ bezeich­ne­ten Wer­be­bei­träge mit einem kur­siv gesetz­ten »(lacht fröh­lich)« endet, ist das für die Stim­mung in die­sem Heft sym­pto­ma­tisch. Auch die Tes­ti­mo­ni­als von drei Hamburger:innen in der Rubrik »SZE­NE­zei­gen« sind weit­ge­hend auf Affir­ma­tion getrimmt. »Für mich ist Ham­burg die schönste Stadt der Welt«, sagt ein­gangs etwa die in Rother­baum auf­ge­wach­sene Nata­scha. Und der Bei­trag von John, der sein Geld als Taxi­fah­rer ver­dient, schließt mit dem Satz: »Manch­mal gucke ich aus dem Fens­ter und sage mir: Du bist im Paradies.«

Um ein gutes Anzei­gen­um­feld dar­zu­stel­len (die Inha­ber­firma ver­spricht »maß­ge­schnei­der­tes Mar­ke­ting in einem pas­sen­den Rah­men«), sen­det die Zeit­schrift stets eine posi­tive ›Mes­sage‹ aus. Damit das gewähr­leis­tet ist, muss manch­mal etwas her­um­ge­wurs­telt wer­den. Etwa wenn die ehe­ma­lige FDP-Landesvorsitzende Katja Suding in der Rubrik »Gude Leude« von ihrem schwie­ri­gen Quer­ein­stieg in die Poli­tik erzählt und davon, »wie ich dann aber auch Fuß gefasst habe und es gut lief, es mir aber nicht so wirk­lich gut ging«. Viel­leicht, denkt man dann, ist die­ser ver­un­glückte Satz nicht nur in sprach­li­cher Hin­sicht cha­rak­te­ris­tisch für diese Zeit­schrift, son­dern auch in inhalt­li­cher: Es läuft gut bei der Szene, sie ver­kauft Hefte und Anzei­gen. Aber misst man sie an ihrem Anspruch, über »gesell­schaft­li­che The­men und stadt­po­li­ti­sche Ent­wick­lun­gen in Ham­burg« zu berich­ten, also jour­na­lis­tisch zu arbei­ten, muss man kon­sta­tie­ren: Es geht ihr nicht so wirk­lich gut.

Lukas Betz­ler

Der Autor freut sich trotz allem jedes Mal wie­der, wenn er den Szene-Wer­be­spot im Kino sieht.


  • 1
    Eine Samm­lung der kurio­ses­ten Klein­an­zei­gen aus die­sen und ande­ren Maga­zi­nen fin­det sich in Franz-Maria Son­ner (Hg.): Werk­tä­ti­ger sucht üppige Part­ne­rin. Die Szene der 70er Jahre in Klein­an­zei­gen, Antje Kunst­mann Ver­lag: Mün­chen 2005. 
  • 2
    Chris­tian Sei­denabel: Der Wan­del von Stadt­zei­tun­gen. ›Was wider­steht, darf über­le­ben nur, indem es sich ein­glie­dert‹. Rode­rer: Regens­burg 1994, S. 58. 
  • 3
    Die im Impres­sum der Aus­gabe 11/2021 genannte Prak­ti­kan­tin hat tat­säch­lich einen beträcht­li­chen Teil der Bei­träge ver­fasst. Und dass das Schluss­lek­to­rat, wie Twi­ckel berich­tet, schon vor eini­ger Zeit gestri­chen wurde, macht sich auch bemerk­bar: Ein Bei­trag zu den Ham­bur­ger Weih­nachts­märk­ten bricht mit­ten im Satz ab.
  • 4
    Tat­säch­lich wurde Chris­toph Twi­ckel 2003 wohl vor allem wegen sei­ner unbe­que­men, nicht zu Kom­pro­mis­sen zuguns­ten von Anzeigenkund:innen berei­ten Hal­tung als Chef­re­dak­teur gefeu­ert. Dar­über berich­tete damals unter ande­rem Tino Han­ekamp (Link).
  • 5
    Gera­dezu gro­tesk wirkt ange­sichts die­ses offen­kun­di­gen quid-pro-quo-Prin­zips ein bier­erns­tes Plä­doyer für die Presse des Redak­teurs Marco Arel­lano Gomes, das im August 2020 in der Szene erschien. »Die Welt droht eine zu wer­den, in der das Ich mehr zählt als das Wir«, klagt der Autor ange­sichts von Social Media und Con­tent Mar­ke­ting, und for­dert die Ein­hal­tung der »jour­na­lis­ti­schen Grund­re­geln«, zu denen auch gehöre, »Bei­träge nicht im Aus­tausch gegen Anzei­gen­bu­chun­gen [zu] lan­cie­ren«. Ob er wohl mal eine Aus­gabe der Szene in der Hand gehabt hat?

»Wanderstraßen der Kultur«

Wootton / fluid, Courtesy The Warburg Institute

»Wanderstraßen der Kultur«

Das Biblio­theks­ge­bäude, in dem der Kunst­his­to­ri­ker Aby War­burg (1866–1929) die letz­ten Jahre sei­nes Lebens forschte, steht immer noch in Ham­burg. Sein Bestand – ca. 60.000 Bände und War­burgs Auf­zeich­nun­gen – konnte 1933 nach Lon­don geret­tet wer­den. Eine Aus­stel­lung bringt War­burgs unvoll­ende­tes Haupt­werk, den Bil­der­at­las Mne­mo­syne, nun zurück.

Wan­der­stras­sen der Kul­tur. Foto: Woot­ton / fluid, Cour­tesy The War­burg Institute

In der Heil­wig­straße 116 befin­det sich in einem ansons­ten unauf­fäl­li­gen Vil­len­vier­tel Ham­burgs an einem Zufluss zur Als­ter gele­gen ein Back­stein­bau, über des­sen Ein­gang der Schrift­zug »Mne­mo­syne« prangt. Dar­über ste­hen an der back­stei­ner­nen Außen­fas­sade die drei Buch­sta­ben K, B und W, als Kür­zel für Kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Biblio­thek Warburg. 

Ihr Bau­herr Aby War­burg, der Pri­vat­ge­lehrte und Spross der bis heute bestehen­den loka­len Ban­kiers­dy­nas­tie, ließ das Gebäude 1926 erbauen, um in ihr seine wach­sende Biblio­thek unter­zu­brin­gen. Mit dem Neu­bau schuf War­burg eine für die dama­lige Zeit neu­ar­tige Insti­tu­tion, deren Inno­va­ti­ons­ge­halt sich sowohl in der infra­struk­tu­rel­len Gestal­tung als auch in der wis­sen­schaft­li­chen Aus­rich­tung nie­der­schlug – Kunst­ge­schichte sollte hier als Kul­tur­ge­schichte, mit­hin als breit ange­legte Kul­tur­wis­sen­schaft betrie­ben werden.

Das Warburg-Haus mit sei­ner auf­wen­dig gestal­te­ten Backstein-Fassade. Foto: © Ajep­bah / Wiki­me­dia Com­mons / Lizenz: CC-BY-SA‑3.0 DE

Der Bilderatlas Mnemosyne

Betritt man das Gebäude, sieht man, dass in den Sturz der Tür zum Biblio­theks­saal ein Wort in grie­chi­schen Let­tern ein­ge­mei­ßelt ist: »ΜΝΕΜΟΣΥΝΗ«. Die­ser Begriff ver­weist auf War­burgs viel beach­te­tes und zugleich unzu­gäng­lichs­tes Werk, das er an die­sem Ort mit sei­nen Mitarbeiter:innen – Ger­trud Bing und Fritz Saxl – schuf: den Bil­der­at­las Mne­mo­syne. Den Begriff der Mne­mo­syne über­nahm War­burg aus der evo­lu­ti­ons­bio­lo­gi­schen For­schung zu Anfang des 20. Jahr­hun­derts. Dort bestan­den bereits Ansätze, etwa durch Richard Semon, zur Über­tra­gung auf die Kul­tur­ge­schichte: Mneme, die grie­chi­sche Muse der Erin­ne­rung, wurde zur Namens­ge­be­rin für die Annahme eines erhal­ten­den Prin­zips erwor­be­ner Eigen­schaf­ten im Bereich der Kul­tur. War­burg knüpfte an diese Annah­men an, die er mit­samt dem Begriff in seine kunst­ge­schicht­li­che Arbeit über­trug. In sei­ner For­schungs­ar­beit wei­tete er damit das Ver­ständ­nis einer her­ge­brach­ten Kunst­ge­schichte aus und über­führte sie in eine breit­an­ge­legte Kulturwissenschaft.

Prä­sen­ta­tion der Bil­der­reihe »Urworte lei­den­schaft­li­cher Gebär­den­spra­che« im Lese­saal der Kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Biblio­thek War­burg. Foto: Cour­tesy The War­burg Institute

Mne­mo­syne bezeich­net nun das Erin­nern als gesam­ten Pro­zess. Mit den Mit­teln der Iko­no­gra­phie ver­suchte War­burg, ein geo­gra­phi­sches sowie the­ma­ti­sches Wan­dern von For­men, Mus­tern und Sti­len durch die Geschichte in Abhän­gig­keit zu den jewei­lig herr­schen­den gesell­schaft­li­chen Zustän­den nach­zu­zeich­nen. Hierzu ent­wi­ckelte er mit sei­nen Mitarbeiter:innen den Bil­der­at­las Mne­mo­syne: Auf ins­ge­samt 63 Tafeln wur­den von War­burg und sei­nen Mitarbeiter:innen auf schwar­zem Grund foto­gra­fi­sche Repro­duk­tio­nen arran­giert. Dabei han­delt es sich um Kunst­werke aus dem Nahen Osten, der euro­päi­schen Antike und der Renais­sance neben zeit­ge­nös­si­schen Zei­tungs­aus­schnit­ten sowie Wer­be­an­zei­gen. Die Tafeln des Bil­der­at­las stel­len das zen­trale Hilfs­mit­tel inner­halb des durch War­burg ent­wi­ckel­ten expe­ri­men­tel­len Ver­fah­rens zur Ver­ge­gen­wär­ti­gung der kul­tur­ge­schicht­li­chen Ent­wick­lung dar. Anhand der foto­gra­fi­schen Repro­duk­tio­nen lässt sich die Über­lie­fe­rung nach­voll­zie­hen – es las­sen sich Pro­zesse des Erin­nerns anhand der Wan­de­rung durch die Kul­tur­ge­schichte sowohl visu­ell dar­stel­len als auch nach­voll­zie­hen. Zeit­ge­nös­sisch aus­ge­drückt, rich­te­ten sich War­burgs For­schun­gen auf die Ent­wick­lung einer medi­en­theo­re­ti­schen Genea­lo­gie von Bildmotiven.

In den Dienst der Erkun­dung des Erin­ne­rungs­pro­zes­ses stellte War­burg seine in Hamburg-Eppendorf gele­gene kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Biblio­thek. Nach War­burgs Tod im Herbst 1929 von sei­nen Mitarbeiter:innen wei­ter­ge­führt, wur­den die Bestände auf der Flucht vor den Natio­nal­so­zia­lis­ten nach Lon­don ver­schifft. Dabei konnte auch das Mate­rial zu War­burgs letz­tem gro­ßem Pro­jekt, dem Bil­der­at­las, geret­tet wer­den. Zur Erhal­tung des Biblio­theks­be­stands ent­stand in Lon­don das bis heute, auch gegen kos­ten­spa­rende Ein­glie­de­rungs­ver­su­che der Uni­ver­sity of Lon­don, wei­ter­hin bestehende War­burg Insti­tute.

Wiederentdeckung des Bildmaterials

Zu Leb­zei­ten War­burgs nicht mehr abge­schlos­sen und danach mit dem Bestand der KBW von sei­nen Mitarbeiter:innen ins Lon­do­ner Exil ver­schifft, hat­ten die Ori­gi­nal­ab­bil­dun­gen vom Herbst 1929 in ihrer Mehr­zahl über­lebt. Für die Nach­welt kaum nach­voll­zieh­bar, lager­ten die ein­zel­nen Abbil­dun­gen im Bild­ar­chiv des War­burg Insti­tute. Die Wie­der­ent­de­ckung des Bild­ma­te­ri­als und die Ergeb­nisse der Rekon­struk­ti­ons­ar­bei­ten sind der­zeit in einer Aus­stel­lung in der Außen­stelle der Deich­tor­hal­len in der Samm­lung Falcken­berg in Har­burg zu besich­ti­gen. Erst­ma­lig kann damit in Ham­burg der geneig­ten Öffent­lich­keit der Bil­der­at­las voll­stän­dig rekon­stru­iert prä­sen­tiert wer­den, was nicht allein sen­sa­tio­nell ist, son­dern den mehr­fa­chen Besuch lohnt. Besucher:innen kön­nen anhand der ein­zel­nen Tafeln des Atlas das Wan­dern der Bil­der eigen­stän­dig nachverfolgen.

Bil­der­at­las Mne­mo­syne, Tafel 39, rekon­stru­iert von Roberto Ohrt und Axel Heil 2020. Foto: Woot­ton / fluid; Cour­tesy The War­burg Institute

Kura­tiert wurde die Aus­stel­lung von Axel Heil und Roberto Ohrt sowie dem War­burg Insti­tute in Zusam­men­ar­beit mit dem Ber­li­ner Haus der Kul­tu­ren der Welt. Die Aus­stel­lung ist noch bis zum 31. Okto­ber 2021 in der Samm­lung Falcken­berg in Har­burg zu besich­ti­gen. Wei­tere Infor­ma­tio­nen unter gibt es hier.

Wer es bis dahin nicht schafft, den­noch aber ein­mal mehr von dem Ham­bur­ger Kul­tur­wis­sen­schaft­ler und sei­nem Schaf­fen erfah­ren möchte, dem sei die nach­fol­gende Aus­gabe der Deutsch­land­funk Sen­dung Lange Nacht über den Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Aby War­burg anempfohlen.

Fred Stil­ler

Der Autor lebt und lohn­ar­bei­tet in Ham­burg. Er hält die Stadt und ihre Bewohner:innen im Gegen­satz zu ihrer Größe für intel­lek­tu­ell und (sub-)kulturell mit ande­ren Pro­vinz­städ­ten ver­gleich­bar. Den­noch schätzt er die näh­ren­den Brot­kru­men, durch wel­che sich die Stadt vor ande­ren ihrer Größe und Kon­sti­tu­tion auszeichnet.

Welcome to Helmut

Welcome to Helmut

Im Zen­trum Ham­burgs übt sich eine neue Aus­stel­lung der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung in Legen­den­bil­dung. Kann sie den Macher und Macht­po­li­ti­ker Schmidt zu guter Letzt doch noch als »Super­de­mo­kra­ten« prä­sen­tie­ren? Und wie geht sie mit Schmidts Zeit als Offi­zier der Wehr­macht um? Unser Autor hat ihr einen kri­ti­schen Besuch abgestattet. 

Der Ein­gang zur Aus­stel­lung in der Ham­bur­ger Innen­stadt: Wel­come to Hel­mut! Foto: privat

Mit pan­de­mie­be­dingt sie­ben­mo­na­ti­ger Ver­spä­tung wurde am 19. Juni 2021 die Dau­er­aus­stel­lung zu Ehren des fünf­ten Bun­des­kanz­lers der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land in den Räu­men der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung nahe dem Ham­bur­ger Rat­haus eröff­net. Mit der Aus­stel­lung, die über meh­rere Jahre hier zu sehen sein soll, schrei­tet die vom Spiegel-Autor und His­to­ri­ker Klaus Wieg­refe bereits im Zuge der Grün­dung der Stif­tung befürch­tete »Schmid­ti­sie­rung der Repu­blik« nun also wei­ter voran. Auch des­halb, weil die Aus­stel­lung an ihrer eige­nen Begriffs­lo­sig­keit schei­tert: Unter dem Titel »Schmidt! Demo­kra­tie leben« will sie den ehe­ma­li­gen Bun­des­kanz­ler als »Super­de­mo­kra­ten« insze­nie­ren, hat aller­dings selbst kei­nen Begriff von Demo­kra­tie. Hätte die Stif­tung sich tat­säch­lich mit dem Demo­kra­tie­ver­ständ­nis Schmidts aus­ein­an­der­ge­setzt, würde sie wohl kaum noch von ihm als »Vor­den­ker« spre­chen kön­nen. Von einer kri­ti­schen wis­sen­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung mit der Per­son ist diese Aus­stel­lung so weit ent­fernt, wie es Hel­mut Schmidt von einem Dasein als Intel­lek­tu­el­ler war.

In nur einem Raum mit einer Größe von circa 200 Qua­drat­me­tern wer­den Leben und Wir­ken Schmidts dar­ge­stellt. Wei­ter­hin wirft die Aus­stel­lung ein­zelne Schlag­lich­ter auf The­men, die nach Ansicht der Stif­tung inner­halb der west­deut­schen Gesell­schaft wäh­rend der Kanz­ler­schaft Schmidts (1974–1982) an Rele­vanz gewan­nen. Ein ambi­tio­nier­tes Vor­ha­ben! Denn viel Platz ist das nicht für die Geschichte des 20. Jahr­hun­derts und Schmidts Rolle darin: Eine nuan­cierte und detail­lierte Ver­hand­lung der The­men wurde so von vorn­her­ein aus­ge­schlos­sen. Geglie­dert ist die Aus­stel­lung in drei chro­no­lo­gisch ange­ord­nete Berei­che – das Leben vor der Kanz­ler­schaft, die Kanz­ler­schaft und die Zeit danach. Diese Berei­che heben sich visu­ell nicht von­ein­an­der ab, son­dern wer­den jeweils durch Text­ta­feln ein­ge­lei­tet. Die Unter­ka­te­go­rien, wie etwa Kind­heit und Jugend, die RAF oder Pro­test gegen die Atom­kraft, wer­den wie­derum durch Groß­fo­to­gra­fien – dar­auf jeweils Zitate Schmidts – und soge­nannte The­men­ti­sche geglie­dert. Die ins­ge­samt acht Jahre Kanz­ler­schaft neh­men dabei fast die Hälfte des Rau­mes ein und bil­den den inhalt­li­chen Schwer­punkt der Ausstellung.

100 Jahre Deutschland – 100 Jahre Helmut Schmidt

Bevor nun ein Blick in die Aus­stel­lungs­räume gewor­fen wird, ist es wich­tig, den Titel – »Demo­kra­tie leben« – zu kon­tex­tua­li­sie­ren. Denn die­ser gibt nicht nur die Marsch­rich­tung der Aus­stel­lung vor. Er sagt uns, wie wir uns an Schmidt erin­nern sol­len. Neben dem Hin­weis auf sein lan­ges Leben, immer­hin wurde er 96 Jahre alt, lau­tet die Bot­schaft: Hel­mut Schmidt war ein auf­rech­ter Demo­krat, der von der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie nicht nur über­zeugt war, son­dern diese wirk­lich »gelebt« habe. Die Aus­stel­lung erin­nert an und ehrt also auf eine emo­tio­nale Weise einen »Super­de­mo­kra­ten«. Warum die Aus­stel­lung die­sem Titel zwangs­läu­fig nicht gerecht wer­den kann, hängt mit dem hier nor­ma­tiv ver­wen­de­ten, nicht näher defi­nier­ten Demo­kra­tie­be­griff zusam­men, der neben der Per­son das bestim­mende Thema die­ser Aus­stel­lung zu sein scheint.

Wer war also Hel­mut Schmidt? Den jün­ge­ren Men­schen in der Bun­des­re­pu­blik ist er wohl als ket­ten­rau­chen­der Welt­erklä­rer in Erin­ne­rung. Schmidt hatte für alles eine Ant­wort und saß vor­nehm­lich alleine in Talk­shows, damit es bloß kei­nen Wider­spruch gab. Den Hamburger:innen mag er noch als »Herr der Flut« in Erin­ne­rung sein. Ein Mythos, an dem viele Medien und Schmidt selbst bis zu sei­nem Tod gear­bei­tet haben: Das Bild des »Machers«, der »Kri­sen­ma­na­ger«, der nicht lange schnackt, son­dern ein­fach das Rich­tige macht – und dem dabei auch mal das Grund­ge­setz egal ist. Die­ses Bild des »Machers« ist wohl das bestän­digste Erbe des 2015 Ver­stor­be­nen. Doch sei dies, so möchte die Aus­stel­lung zei­gen, zu kurz gegrif­fen. Denn natür­lich war er viel mehr: Ein Euro­päer, Prag­ma­ti­ker und Real­po­li­ti­ker, der für sein »oft weit­sich­ti­ges Han­deln im Kon­text gro­ßer inter­na­tio­na­ler Her­aus­for­de­run­gen« bekannt sei, wie es im Ein­füh­rungs­text heißt – Kri­sen­ma­na­ger, aber weltweit.

Die Wehrmacht und der Schlussstrich

Die Groß­fo­to­gra­fien sind das alles bestim­mende visu­elle Ele­ment der Aus­stel­lung. Dies lässt eine Per­spek­tive auf Hel­mut Schmidt zu, die sicher nicht im Sinne der Ausstellungsmacher:innen war. So fällt – noch bevor der eigent­li­che Aus­stel­lungs­raum betre­ten wer­den kann – ein Foto Schmidts ins Auge, das ihn im Jahr 1940 in der Uni­form der deut­schen Luft­waffe als Leut­nant der Reserve zeigt. Schmidt war Offi­zier, wurde im Laufe des Krie­ges Ober­leut­nant. An der Ost­front ein­ge­setzt, war er unter ande­rem an der Bela­ge­rung von Lenin­grad und womög­lich auch an Kriegs­ver­bre­chen betei­ligt. Nach­wei­sen konnte man ihm das nie, doch seine Selbst­ver­tei­di­gung, die bis zu der Behaup­tung reichte, er sei sogar ein Geg­ner der Nazis gewe­sen, war schon immer unglaub­wür­dig. Selbst­re­dend habe er auch von der Shoah kei­ner­lei Kennt­nis gehabt – dabei reiste er als Aus­bil­der in »Kriegs­schu­len« quer durch das Deut­sche Reich und die im Krieg besetz­ten Gebiete. Wenige Meter hin­ter die­ser Foto­gra­fie fin­det sich eine wei­tere, dies­mal von sei­ner Ver­ei­di­gung zum Bun­des­kanz­ler 1974. Von der Wehr­macht ins Kanz­ler­amt: eine (west-)deutsche Kar­riere. Eine erfolgs­bio­gra­fi­sche Illu­sion für die Schmidt wohl nur Wil­len – und Ziga­ret­ten – brauchte.

Der erste The­men­tisch zum Wehrmachts-Foto hat es in sich. Er soll das Bild kon­tex­tua­li­sie­ren, kann aber obige Erfolgs­ge­schichte kaum mehr ein­fan­gen. Auf die ekla­tan­ten Erin­ne­rungs­lü­cken Schmidts weist das bereit­ge­stellte Mate­rial zwar hin, aber es steht neben sei­ner Erzäh­lung, als ob es zwei legi­time Sicht­wei­sen wären, die sich gegen­sei­tig die Balance hal­ten. Dar­über hin­aus wird der Begriff der »Pflicht« stark gemacht. Schließ­lich sei es sol­da­ti­sche Pflicht gewe­sen, die Stadt Lenin­grad zu bela­gern. Ein fast schon amü­san­ter Euphe­mis­mus für Mit­läu­fer­tum, wenn es denn nicht so ernst wäre. Ein auf dem The­men­tisch gezeig­ter Film fasst dann die ganze Absur­di­tät zusam­men: Als Schmidt 1977 als ers­ter Kanz­ler über­haupt nach Ausch­witz zu einer Gedenk­feier anreiste, sprach er nicht über die Opfer der Shoah. Deut­sche seien die ers­ten Opfer gewe­sen! Und über­haupt hät­ten die Deut­schen 32 Jahre nach Kriegs­ende damit auch nichts mehr zu schaf­fen. Heute wäre es undenk­bar, so etwas zu sagen – damals war es das auch. Nach dem War­schauer »Knie­fall« von Willy Brandt sie­ben Jahre zuvor waren sol­che Worte aber offen­sicht­lich Bal­sam auf die geschun­dene Seele der (West-)Deutschen.

Es irri­tiert ins­be­son­dere an die­ser Stelle, dass die Stif­tung Schmidts eige­nes Nar­ra­tiv repro­du­ziert und als legi­time Hal­tung dar­stellt. Die­ser Ein­druck ver­stärkt sich durch ein eben­falls an die­sem Tisch gezeig­tes Gespräch, das zur ers­ten »Wehr­machts­aus­stel­lung« im Jahr 1995 im Zeit-Maga­zin abge­druckt wurde. So wollte Schmidt sich diese Aus­stel­lung gar nicht erst anse­hen: wie­der­holt betont er, nichts von den Ver­bre­chen der Wehr­macht an der Ost­front gewusst zu haben, was er bei einer Wie­der­auf­lage des Gesprä­ches noch ein­mal unter­strich. Natür­lich erwar­tet nun nie­mand in die­ser Aus­stel­lung eine fun­da­men­tale Kri­tik an der Per­son Schmidts oder eine Ana­lyse sei­ner nicht halt­ba­ren Ver­tei­di­gungs­stra­te­gie. Mit Begrif­fen wie Ver­nunft oder Nüch­tern­heit, die Schmidt sich selbst attes­tierte und die ihm bis­wei­len attes­tiert wer­den (siehe die ein­schlä­gi­gen Bio­gra­fien), hat das aller­dings wenig zu tun. Denn man könnte doch mei­nen, dass der kan­ti­sche Ver­nunft­be­griff die Fähig­keit zur (Selbst-)Reflexion einschließt.

Kitsch statt Kri­tik: Im Muse­ums­shop kehrt man lie­ber bei Loki und Hel­mut ein als vor der eige­nen Tür. Foto: pri­vat

Der »Herr der Flut« und die wilden 70er

Es folgt – nach der plötz­li­chen Läu­te­rung zum Sozi­al­de­mo­kra­ten 1945 – ein etwas län­ge­rer Abschnitt in Schmidts Leben (1945–1969): Schmidt war ab Dezem­ber 1961 Sena­tor der Poli­zei­be­hörde (ab Juni 1962 Innen­se­na­tor) und nahm vor allem eine pro­mi­nente Rolle in der Nacht der Ham­bur­ger Sturm­flut vom 17. auf den 18. Februar 1962 ein. Immer­hin wird in der Aus­stel­lung nicht mit dem belieb­ten Zitat gear­bei­tet, dass dem Demo­kra­ten so gar nicht zusa­gen würde (das mit dem Grund­ge­setz). Gebro­chen wird der »Macher«-Mythos aller­dings auch nicht, denn das Thema bleibt eine Rand­no­tiz. Diese Mar­gi­na­li­sie­rung ist befremd­lich: Ran­ken sich doch aller­lei Geschich­ten um die­ses Ereignis.

Der Rest der Aus­stel­lung folgt dem bekann­ten Mus­ter. Eine Groß­fo­to­gra­fie zeigt Schmidt und ein Zitat. Auf dem jewei­li­gen The­men­tisch wird die Per­spek­tive etwas gewei­tet, aber nie zu weit: Die Aus­stel­lung wird durch­zo­gen von einer kon­ti­nu­ier­li­chen Dicho­to­mie zwi­schen der Posi­tion und Argu­men­ta­tion Schmidts und dem Rest der Welt. Gebro­chen wird diese per­so­nen­zen­trierte visu­elle Erzäh­lung nur im Bereich der Kanz­ler­schaft Schmidts. Die hier gezeig­ten Foto­gra­fien zei­gen The­men der 1970er und 1980er Jahre: Ein biss­chen Wirt­schafts­krise, RAF, Anti-Atom- und Frie­dens­be­we­gung. Auf den Tischen bleibt jedoch die Her­an­ge­hens­weise: Eine his­to­ri­sche Ein­ord­nung fin­det nicht statt, die Posi­tion Schmidts wird hin­ge­gen als ver­nunft­ge­lei­tet dar­ge­stellt. Im Umkehr­schluss sind es die Gegen­po­si­tio­nen häu­fig nicht. So wird etwa am The­men­tisch »Deut­scher Herbst« erst auf einer unte­ren Film-Ebene von Hans-Jochen Vogel (1974–1981 Jus­tiz­mi­nis­ter im Kabi­nett Schmidt) zuge­ge­ben, dass der Staat eigent­lich nie wirk­lich in Gefahr war. Dabei legi­ti­mierte die­ses Bedro­hungs­sze­na­rio aller­lei Poli­ti­ken und eine Auf­rüs­tung des Poli­zei­ap­pa­rats, die in der Bun­des­re­pu­blik bis dato bei­spiel­los war. Wäh­rend die Rol­len­ver­tei­lung beim RAF-Terrorismus wenig Spiel­raum lässt, ver­hält es sich bei den in den 1970er Jah­ren auf­kom­men­den Neuen Sozia­len Bewe­gun­gen schon anders. Denn hier zeigt sich, wel­chen Demo­kra­tie­be­griff Schmidt pflegte. So konnte er zwar die Anti-AKW-Demonstrationen in Brok­dorf nicht ver­hin­dern, rief aber dazu auf, nicht auf die Straße zu gehen. Auch drohte Schmidt als Kanz­ler mehr­fach mit Rück­tritt, sollte sei­nem Wil­len – Atom­kraft­werke zu bauen – nicht nach­ge­kom­men wer­den. In Schmidts Ver­ständ­nis von Demo­kra­tie war für die Sozia­len Bewe­gun­gen kein Platz. Zuläs­sige, also von ihm aner­kannte Stim­men, gab es nur im Par­la­ment und in sei­ner Par­tei. Doch auch letz­tere und Schmidt ent­frem­de­ten sich im Laufe sei­ner Kanz­ler­schaft zuneh­mend. Ein Span­nungs­ver­hält­nis, dass bis zu sei­nem Tod nicht mehr auf­ge­löst wurde. Dass die Par­tei in der Aus­stel­lung kaum statt­fin­det, scheint fol­ge­rich­tig: Schmidt als über­par­tei­li­cher Len­ker, Den­ker und Welt­erklä­rer. Eine wei­tere Insze­nie­rung Schmidts, die hier unhin­ter­fragt wei­ter­ge­tra­gen wird.

Demokratie und Kritik

Nach­dem auf dem letz­ten Kanz­ler­tisch noch eben die The­men Europa, DDR und die rest­li­che Welt eher wacke­lig abge­han­delt wer­den, beginnt der letzte Bereich, also seine Zeit als Publi­zist und Mit-Herausgeber der Ham­bur­ger Wochen­zei­tung Die Zeit. Es ist jene Lebens­phase, in der Schmidt an sei­ner eige­nen Legende arbei­tete, wie der His­to­ri­ker Axel Schildt 2017 fest­stellte. Mit die­sen Akti­vi­tä­ten schuf Schmidt ein Bild von sich, dem diese Aus­stel­lung wei­test­ge­hend folgt.

Ent­spre­chend wird sich in die­sem Abschnitt auch nicht mit den ras­sis­ti­schen und kul­tu­ra­lis­ti­schen Posi­tio­nen Schmidts aus­ein­an­der­ge­setzt. Dabei sind diese Posi­tio­nen nicht sei­ner spä­ten Seni­li­tät geschul­det – sprach er doch bereit 1992 von einer »Über­schwem­mung« und »Ent­ar­tung« der deut­schen Gesell­schaft –, son­dern las­sen einen roten Faden in Schmidts Poli­tik­ver­ständ­nis erken­nen. Würde die­ser genauer unter­sucht, so würde sich zei­gen, dass sein Welt­bild nicht viel mit Nüch­tern­heit oder Ver­nunft zu tun hat, ja viel­mehr offen­bart sich eine regel­rechte Intel­lek­tu­el­len­feind­lich­keit. Die Mög­lich­keit, auch diese Sei­ten Schmidts zu zei­gen und zu dis­ku­tie­ren, wurde hier nicht genutzt. So kann die Aus­stel­lung einer historisch-kritischen Ein­ord­nung der Per­son nicht gerecht wer­den, eine nüch­terne Per­spek­tive auf den fünf­ten Bun­des­kanz­ler fehlt. Schmidts Poli­tik­ver­ständ­nis blieb ein eli­tä­res und exklu­si­ves. Die Aus­stel­lung folgt wei­test­ge­hend dem Bild Schmidts, das die­ser selbst instal­liert hat: ein über­par­tei­li­cher Super­de­mo­krat und Lotse (Bis­marck lässt grü­ßen!), der die Bun­des­re­pu­blik durch schwere Fahr­was­ser steu­erte und eigent­lich auch immer recht behielt – mit die­ser Dau­er­aus­stel­lung nun auch über sei­nen Tod hinaus.

Lars Engel­hardt, August 2021 

Der Autor ist stu­dier­ter Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und als der­zeit pre­kär Beschäf­tig­ter – unter ande­rem Uber-Fahrer in Teil­zeit – schon län­ger ent­täuscht von den lee­ren Ver­spre­chen der (Ham­bur­ger) Sozi­al­de­mo­kra­tie. Die Stadt Ham­burg, so meint er, ver­dient Aus­stel­lun­gen wie diese. 

Die große Welle vor Hamburg

BIld: Norika Rehfeld

Die große Welle vor Hamburg

Die Elb­phil­har­mo­nie ist nicht nur schnell zum Sym­bol für Ham­burg gewor­den, zum Tou­ris­mus­ma­gne­ten und zur Vor­lage für Hei­mat­kitsch. Sie ist auch der vor­läu­fig krö­nende Abschluss einer Stadt­ent­wick­lung nach polit-ökonomischen Erfor­der­nis­sen. Eine Ent­wick­lung, in der die Herr­schaft des Men­schen über die Natur eine wesent­li­che Rolle spielt.

Anläss­lich der Eröff­nung der Elb­phil­har­mo­nie Anfang 2017 stellte der bel­gi­sche Künst­ler Peter Bug­gen­hout eine 15 Meter hohe Skulp­tur mit dem Titel Babel Varia­tio­nen in den Ham­bur­ger Deich­tor­hal­len aus. Die­ser Bei­trag zur Aus­stel­lung Elb­phil­har­mo­nie Revi­si­ted, bestand aus gro­ßen Polyester- und Stahl­tei­len, die anmu­te­ten, als habe der Künst­ler Sperr­müll gewagt in die Höhe gesta­pelt: ein fra­gi­ler Riese, der den Ein­druck erweckte, jeder­zeit in sich zusam­men­zu­bre­chen. Die raum­grei­fende Skulp­tur kon­tras­tierte die glit­zernde Ästhe­tik des soeben fer­tig­ge­stell­ten, mas­si­ven Kon­zert­hau­ses an der Elbe. Mit dem Titel Babel Varia­tio­nen spielt Bug­gen­hout auf die alt­tes­ta­men­ta­ri­sche Erzäh­lung vom Turm­bau zu Babel (Gen 11,1–9) an und bezieht sie auf die Ham­bur­ger Elbphilharmonie.

Romantisch verklärt statt bestraft

Im 21. Jahr­hun­dert scheint die Erzäh­lung vom Turm­bau zu Babel obso­let: Die Kir­chen in Deutsch­land sind wie leer­ge­fegt und Got­tes­furcht taugt nicht mehr als Mit­tel der Poli­tik. Auch für den Namens­ge­ber des der­zeit höchs­ten Gebäu­des der Erde und gleich­zei­tige Prä­si­den­ten der Ver­ei­nig­ten Ara­bi­schen Emi­rate, Scheich Cha­lifa bin Zayid Al Nahyan blieb eine gött­li­che Strafe bis­her aus. Dem mensch­li­chen Sprach­wirr­war kann heute bequem per Han­dyapp begeg­net wer­den. Wes­halb also ein Kon­zert­haus am Fuße der Elbe zu einem neuen Turm­bau zu Babel erklären? 

In der Selbst­be­schrei­bung der Elb­phil­har­mo­nie heißt es wenig beschei­den, dass »dem tra­di­tio­nel­len Back­stein­so­ckel neues Leben« ein­ge­haucht und dass »das Kon­zert­haus als fun­kelnde Krone oben drauf« gesetzt wor­den sei. Ein Affront, nicht gegen Gott, so doch aber gegen eine dem Men­schen wie über­mäch­tig gegen­über­ste­hende Natur. In der archi­tek­to­ni­schen Ent­wick­lung der Handels- und Hafen­stadt spie­gelt sich viel­mehr das Ver­hält­nis der Men­schen zur Natur wider. Dass es sich dabei um ein durch­weg polit-ökonomisches Herr­schafts­ver­hält­nis han­delt, kann Epo­che für Epo­che nach­ge­zeich­net werden: 

In der Elb­phil­har­mo­nie wird diese Ent­wick­lung gewis­ser­ma­ßen an meh­re­ren Jah­res­rin­gen sicht­bar. Der untere Teil des Kon­zert­hau­ses besteht aus der back­stei­ner­nen Außen­mauer des 1875 errich­te­ten Kai­spei­cher A, der sei­ner­zeit auch Kai­ser­spei­cher genannt wurde. Mit Hilfe von Krä­nen konn­ten die Waren im dama­li­gen Haupt­ha­fen Ham­burgs direkt vom Schiff in das Spei­cher­ge­bäude gehievt wer­den. Das neu­go­ti­sche Spei­cher­ge­bäude wurde im 2. Welt­krieg zer­stört und in den sech­zi­ger Jah­ren in schlich­ter Form wie­der auf­ge­baut. Mit der glo­ba­len Umstel­lung des See­han­dels von Stück­gut auf den Con­tai­ner­fracht­ver­kehr fand der Schiffs­han­del zuneh­mend im rasant wach­sen­den Con­tai­ner­ha­fen statt, der der Stadt süd­west­lich vor­ge­la­gert wurde. In der Folge wurde der Lager­be­trieb im Kai­spei­cher in den neun­zi­ger Jah­ren voll­stän­dig ein­ge­stellt. Der tra­pez­för­mige Grund­riss des ers­ten Kai­spei­chers blieb erhal­ten und die schlichte Kai­mauer bil­det den Sockel des von den Hamburger:innen mitt­ler­weile Elphi genann­ten Baus. Im Ensem­ble mit der angren­zen­den denk­mal­ge­schütz­ten Spei­cher­stadt ist das Große Gras­brook genannte Gebiet, auf dem nun Elb­phil­har­mo­nie und Hafen­city ste­hen, eine roman­ti­sie­rende Remi­nis­zenz an die Geschichte der Han­se­stadt Ham­burg, die sich seit den zwan­zi­ger Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts als Tor zur Welt beschreibt und deren expan­si­ver See­han­del eine große, rei­che Ober­schicht ent­ste­hen ließ.

Der Kampf gegen die erste Natur

Die Ent­wick­lung Ham­burgs zur Metro­pole der See­schiff­fahrt war kei­nes­wegs vor­ge­zeich­net, betrach­tet man die geo­gra­phi­sche Lage und die natür­li­chen Aus­gangs­be­din­gun­gen der Region Ham­burg: Die Stadt lag, salopp gesagt, im Matsch tief im Bin­nen­land zwi­schen Nord- und Ost­see. Die Stadt­ge­schichte ist geprägt von die­ser und wei­te­ren für Land­wirt­schaft und Han­del ungüns­ti­gen Umwelt­be­din­gun­gen, die bis heute mas­sive Ein­griffe durch den Men­schen nach sich ziehen. 

Die Elb­re­gion bestand ursprüng­lich aus frucht­ba­ren, aber dau­er­haft nas­sen Böden, die für eine Bewirt­schaf­tung nicht geeig­net waren. Die vor­neu­zeit­li­chen Siedler:innen der Elb­land­schaft muss­ten sich gegen die Kräfte der Natur weh­ren: Im fla­chen, san­di­gen Fluss­bett der viel­fach ver­zweig­ten Elbe, mit ihren Zuflüs­sen Als­ter und Bille, kämpf­ten sie gegen hohe Grund­was­ser­spie­gel, täg­lich wech­selnde Pegel­stände und dro­hende Sturm­flu­ten. Sie wirk­ten auf die Natur ein, blie­ben ihr aber lange Zeit wei­test­ge­hend aus­ge­lie­fert. Um die Region siche­rer besie­deln und bewirt­schaf­ten zu kön­nen, ent­wi­ckel­ten sie tech­ni­sche Hilfs­mit­tel, zur Steue­rung der Was­ser­mas­sen: Im 12. Jahr­hun­dert instal­lier­ten Siedler:innen eine Unzahl von Ent­wäs­se­rungs­grä­ben und ‑müh­len, leg­ten künst­li­che Erd­hü­gel an, auf denen sie ihre Höfe errich­te­ten, und bau­ten Dei­che, die sie vor den Flu­ten schüt­zen soll­ten. Die heu­ti­gen Kanäle, ja sogar die Elb­in­seln und Flüsse wur­den in Folge der mas­si­ven Umge­stal­tung durch den Men­schen geschaf­fen – sie sind das Resul­tat jahr­hun­der­te­lan­ger Umstruk­tu­rie­run­gen. Zahl­lose Bau­ten wur­den als Wehre zum Schutz vor dem Was­ser der Elbe errich­tet, und zwar sol­cher­art, dass sich zugleich ein öko­no­mi­scher Nut­zen aus der Nähe zum Was­ser zie­hen ließ. Damit wurde der Grund­stein für das Wachs­tum der Ham­bur­ger Wirt­schaft gelegt. 

Wo ein Wille, da ein Wasserweg

Die Ent­wick­lung Ham­burgs zur Welt­han­dels­stadt ist das Ergeb­nis eines Wil­lens­ak­tes basie­rend auf einer öko­no­mi­schen Ent­schei­dung. Die Was­ser­straße Elbe führt zwar in die Nord­see, dies jedoch erst nach vie­len Fluss­ki­lo­me­tern. Gleich­zei­tig liegt Ham­burg in räum­li­cher Nähe zur Ost­see. Nicht trotz, son­dern gerade wegen die­ser Bin­nen­lage konnte die Stadt im 13. Jahr­hun­dert zum ent­schei­den­den Bin­de­glied zwi­schen Nord- und Ost­see auf­stei­gen, indem die Elbe in Rich­tung Nord­see ste­tig aus­ge­baut und in Rich­tung Ost­see eine sichere Stra­ßen­ver­bin­dung geschaf­fen wurde. Die Hanse sicherte sich hierzu Wege­rechte und das Recht, Han­dels­schiffe und Waren auf direk­tem Weg und zoll­frei bis nach Ham­burg zu trans­por­tie­ren – auch durch die Anwen­dung von Waf­fen­ge­walt und rechts­wid­ri­gen Mitteln. 

In dem Wirk­ge­füge zwi­schen Acker­bau, Han­del und Mili­tär wurde Natur als waren­för­mige Res­source best­mög­lich genutzt und als Wirt­schafts­grund­lage opti­miert: Dies bezeu­gen z.B. die Ver­öf­fent­li­chun­gen des Ham­bur­ger Was­ser­bau­di­rek­tors Rein­hart Wolt­man aus dem Jahr 1802. Er schreibt darin: »Inso­fern schiff­bare Kanäle Kunst­werke hydrau­li­scher Archi­tek­tur sind, müs­sen ihre Dimen­sio­nen, und die Grö­ßen ihrer ver­schie­de­nen Theile, in gewis­ser Pro­por­tion zuein­an­der ste­hen, bei wel­cher diese Kanäle die größte Zweck­mä­ßig­keit, Dau­er­haf­tig­keit und Nut­zen errei­chen.«1Wolt­mann, Rein­hard (1802): Bey­träge zur Bau­kunst schiff­ba­rer Kanäle. Mit 6 Kup­fer­ta­feln. Göt­tin­gen, S.165 [online]

Der Kanal gerät in der Vor­stel­lung Wolt­mans zu einem Leis­tungs­trä­ger, des­sen mess­bare Para­me­ter es im öko­no­mi­schen Sinne best­mög­lich zu nut­zen gilt. Die Dop­pel­deu­tig­keit des Begriffs ‘Kunst­werke’ ist bezeich­nend: Es weist nicht nur auf die Künst­lich­keit der Kanäle hin, son­dern unter­streicht gleich­zei­tig die krea­tive und schöp­fe­ri­sche Tätig­keit des Was­ser­bau­ers. Der Begriff ist Aus­druck eines Bestre­bens, die Kräfte der Natur erken­nen und beherr­schen zu wol­len. So wie die tech­no­kra­ti­sche Umfor­mung der Natur die Han­dels­stadt flo­rie­ren ließ, so formte der ver­mehrte Han­del die Archi­tek­tur. Im weit­läu­fi­gen Hafen­be­reich wurde die Nähe zum Was­ser bewusst gesucht: Bau­werke für Han­del und Gewerbe waren eng ver­zahnt mit einem dicht ver­äs­tel­ten Kanal­sys­tem. Den Anfor­de­run­gen ange­passt, wur­den sie z.B. durch Pfahl­grün­dun­gen, damit Mau­ern direkt im Was­ser errich­tet wer­den konn­ten. Andere Bau­werke wie­derum sind eigens zur Beherr­schung der Natur­kräfte ent­stan­den, etwa Schleu­sen und Hochwasser-Schutzanlagen.

Der Kampf gegen die innere Natur

Auch heute noch meint man sich in Ham­burg der Natur erweh­ren zu müs­sen: gegen die äußere, den Men­schen bedro­hende, ebenso wie gegen die innere. Beide gehö­ren jedoch zusam­men und haben ihre Ein­heit im Men­schen. Was sich an der inne­ren nicht beherr­schen lässt, wird auf die äußere pro­ji­ziert und mit den Mit­teln der instru­men­tel­len Ver­nunft und dem fort­schrei­ten­dem tech­ni­schen Ent­wick­lungs­stand immer effi­zi­en­ter den polit-ökonomischen Prä­mis­sen unter­wor­fen. Die teil­weise Auto­no­mie des Men­schen von der äuße­ren Natur führte bis­her nicht zu einer Neu­ge­stal­tung des Ver­hält­nis­ses, son­dern zu einer Fort­schrei­bung unter ideo­lo­gi­schen Vor­zei­chen.2Hierzu aus­führ­lich, siehe: Dirk Leh­mann, Die Ver­ding­li­chung der Natur. Über das Ver­hält­nis von Ver­nunft und die Unmög­lich­keit der Natur­be­herr­schung, in: Phase 2, 33 (Herbst 2009), online: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/die-verdinglichung-der-natur-255/?druck=1 

Weil die Hafen­stadt wach­sen muss, so die Ideo­lo­gie, müs­sen sich die Hamburger:innen gegen die Was­ser­mas­sen stel­len. Die Stadt­mauer aus dem 13. Jahr­hun­dert wurde der zufolge im frü­hen 17. Jahr­hun­dert erwei­tert und durch eine mas­sive stern­för­mige Fes­tungs­an­lage ersetzt, durch die der Personen- wie Waren­ver­kehr kon­trol­liert wer­den konnte. Der Hafen wurde mehr­fach aus­ge­baut und dann in Rich­tung Con­tai­ner­ter­mi­nal ver­la­gert. Das Fluss­bett der Elbe wird seit dem 19. Jahr­hun­dert fort­wäh­rend ver­tieft. All das musste gesche­hen, um den immer grö­ßer wer­den­den Schif­fen gerecht zu wer­den – um wett­be­werbs­fä­hig zu blei­ben. Nach dem gro­ßen Elb­hoch­was­ser von 1962 wur­den die Dei­che wie­der­holt erhöht. Mit die­sen Deich­er­hö­hun­gen »konnte eine hohe Sicher­heit zum Schutz der Bevöl­ke­rung und der Sach­werte erreicht wer­den« schreibt der Lan­des­be­trieb Stra­ßen, Brü­cken und Gewäs­ser (LSBG) im Rah­men sei­ner Neu­er­mitt­lung von 2012 des »Sturm­flut­be­mes­sungs­was­ser­stan­des«. Bevöl­ke­rung und Sach­werte fal­len in die­ser Beschrei­bung in eins – sind glei­cher­ma­ßen Res­source. Der LSBG prognostiziert: 

»Auf­grund des Kli­ma­wan­dels ist jedoch ein wei­te­res Anstei­gen der Was­ser­stände abseh­bar. Daher müs­sen die Anstren­gun­gen für den Küs­ten­schutz wei­ter fort­ge­setzt wer­den, um dro­hen­den Gefah­ren zu begegnen.«

Der Kli­ma­wan­del wird als Grund benannt, dafür, dass Dei­che erhöht, die Elbe ver­tieft und die Dove-Elbe als Aus­weich­flä­che für den Tiden­hub erschlos­sen wer­den müs­sen. In einer Stu­die der Inter­na­tio­na­len Bau­aus­stel­lung von 2009 mit dem bezeich­nen­den Titel Kli­ma­fol­gen­ma­nage­ment hin­ge­gen, wird kein Hehl dar­aus gemacht, dass die Ursa­chen nebst (men­schen­ge­mach­tem) Kli­ma­wan­del in loka­len polit-ökonomischen Ent­schei­dun­gen zu ver­or­ten sind: 

Es sind »die Ver­tie­fung von Elbe und Hafen­be­cken sowie die starre Siche­rung der Ufer, [die] zur Folge [haben], dass die Was­ser­schicht auf einen engen Fließ­raum begrenzt bleibt und sich nicht in die Flä­che, son­dern nur in die Höhe aus­deh­nen kann. Tiden­hub und Sedi­men­ta­tion wer­den auf diese Weise ver­stärkt, folg­lich nimmt auch der Auf­wand für die Aus­bag­ge­rung zu.« 

Die Fol­gen des Kli­ma­wan­dels könn­ten gemäß der Stu­die nur dann aus­ge­gli­chen wer­den, wenn die dyna­mi­sche Schaf­fung von wei­te­rem Schwemm­land – wie die zur­zeit dis­ku­tierte Anbin­dung der Dove-Elbe an das Tiden­ge­wäs­ser –, eine tech­no­lo­gi­sche Regu­lie­rung der Was­ser­ströme und der Bau immer mas­si­ve­rer Hoch­was­ser­schutz­an­la­gen for­ciert wür­den. All diese Maß­nah­men sind eine Reak­tion auf stei­gende Pegel­stände. Sie stel­len nicht in Frage, wes­halb die Elbe und Hafen­be­cken ver­tieft und wes­halb Ufer starr gesi­chert wer­den müs­sen. Der Schutz vor der Natur­ge­walt Was­ser erweist sich als gutes Argu­ment bei der Expan­sion von Stadt und Hafen. Nicht die Pro­duk­ti­ons­weise des Men­schen, son­dern die ihm äußere Natur erscheint als jener Wir­kungs­be­reich, den es tech­nisch zu beherr­schen gilt – qua Klimafolgenmanagement. 

Triumph über die Natur?

Die Archi­tek­tur der Elb­phil­har­mo­nie bringt das Ver­hält­nis von Herr­schern und Beherrsch­tem mit den Mit­teln moder­ner Bau­kunst über­spitzt zum Aus­druck: Der Mensch schafft die sta­bilste und größte aller Wel­len selbst, nicht weil er es muss, son­dern weil er es kann. Vor die­sem Hin­ter­grund wird Bug­gen­houts Skulp­tur mit Ver­weis auf die bibli­sche Erzäh­lung vom Turm­bau zu Babel nach­voll­zieh­bar. Ein tech­nisch hoch kom­ple­xes Orches­ter­ge­bäude bedarf kei­ner Kai­mauer. Es wurde inmit­ten der Elbe erbaut, der Aus­sage fol­gend any­thing goes. »Denn nun wird ihnen nichts mehr ver­wehrt wer­den kön­nen von allem was sie sich vor­ge­nom­men haben zu tun«. Das klingt grö­ßen­wahn­sin­nig, aber immer­hin könne nun jede:r Besucher:in ein »biss­chen Fürst« sein – schwärmt Chris­tian Mar­quart in der Archi­tek­tur­zeit­schrift Bau­welt. Die gigan­ti­schen Bau­kos­ten von 866 Mil­lio­nen Euro recht­fer­tigt das nicht. Auch die Plaza, die man wäh­rend der Öff­nungs­zei­ten der Elb­phil­har­mo­nie gegen ein Ein­tritts­geld von 2,00 Euro pro Besucher:in betre­ten darf, lässt sich schwer­lich als öffent­lich bezeichnen. 

Mar­quart sieht in der wel­len­för­mi­gen Krone ein Bild­zi­tat aus dem berühm­ten Werk Die große Welle vor Kana­gawa des japa­ni­schen Holz­schnei­ders Hoku­sai. Hoku­sais Werk jedoch erweckt Ehr­furcht ange­sichts der gewal­ti­gen Natur. Der 110 Meter hohe sta­ti­sche Wel­len­kamm der Elphi ist hin­ge­gen der­ma­ßen gigan­tisch, dass er die rea­len Was­ser­wo­gen, die die Phil­har­mo­nie umge­ben, ihrer Lächer­lich­keit preis­gibt. Das Bau­werk zwingt dem es umge­ben­den Was­ser ihren instru­men­tel­len Begriff von Natur und Natur­be­herr­schung auf. Eine sol­che Ver­keh­rung ist Aus­druck gesell­schaft­li­cher, und spe­zi­ell der Ham­bur­ger, Ver­hält­nisse. Die Rie­sen­welle bringt diese, wenn auch unfrei­wil­lig, so doch gelun­gen zum Aus­druck. Sie macht sich den Begriff des Was­sers zu eigen und kei­nen Hehl dar­aus, wer hier über die Natur tri­um­phiert. Sie ist eine Kampf­an­sage an die Natur. 

Erste Ent­würfe der Elb­phil­har­mo­nie ent­stan­den 2003 mit dem Ziel, ein neues Wahr­zei­chen für die Stadt zu erschaf­fen. Zu jener Zeit war Ger­hard Schrö­der Bun­des­kanz­ler, Ole von Beust Ham­burgs Ers­ter Bür­ger­meis­ter und in der bun­des­deut­schen Öffent­lich­keit wurde zag­haft begon­nen, über den Klimawan­del zu dis­ku­tie­ren. Das Bewusst­sein dar­über, dass es sich um eine aus­ge­wach­sene Klimakrise han­delt, folgte all­mäh­lich. So ersetzte der Guar­dian z.B. den Begriff cli­mate change durch dras­ti­sche­res Voka­bu­lar.3The Guar­dian, vom 19.10.2019: »We will use lan­guage that reco­g­ni­ses the seve­rity of the cri­sis we’re in. In May 2019, the Guar­dian updated its style guide to intro­duce terms that more accu­ra­tely describe the envi­ron­men­tal cri­ses facing the world, using ›cli­mate emer­gency, cri­sis or break­down‹ and ›glo­bal hea­ting‹ ins­tead of ›cli­mate change‹ and ›glo­bal warm­ing‹. We want to ensure that we are being sci­en­ti­fi­cally pre­cise, while also com­mu­ni­ca­ting cle­arly with rea­ders on the urgency of this issue«. Damit schien sich ein neues Bewusst­sein des Ver­hält­nis­ses von Mensch und Natur zumin­dest anzu­deu­ten, das die bis­he­rige Natur­be­herr­schung irgend­wann ein­mal ablö­sen könnte. Die Elb­phil­har­mo­nie, das tech­nisch per­fekte, hoch­kul­tu­relle Wahr­zei­chen der Stadt Ham­burg, mit inte­grier­tem Park­haus, Hotel und teu­ren Eigen­tums­woh­nun­gen wirkt dage­gen wie eine Trutz­burg der in die­sem Bei­trag nach­ge­zeich­ne­ten Ära. Ihr Bau­stil kann damit als stein­ge­wor­dene Herr­schafts­ar­chi­tek­tur bezeich­net wer­den, errich­tet in einer Zeit, in der eine unbe­herrsch­bare Flut noch nicht vor­stell­bar schien. 

Norika Reh­feld, Mai 2021 

Die Autorin ist Sozi­al­wis­sen­schaft­le­rin, arbei­tet aus Über­zeu­gung nicht im Wis­sen­schafts­be­trieb und fin­det die Kaprio­len, die in der Elb­phil­har­mo­nie zur Opti­mie­rung der Akus­tik geschla­gen wur­den, tat­säch­lich super.

  • 1
    Wolt­mann, Rein­hard (1802): Bey­träge zur Bau­kunst schiff­ba­rer Kanäle. Mit 6 Kup­fer­ta­feln. Göt­tin­gen, S.165 [online]
  • 2
    Hierzu aus­führ­lich, siehe: Dirk Leh­mann, Die Ver­ding­li­chung der Natur. Über das Ver­hält­nis von Ver­nunft und die Unmög­lich­keit der Natur­be­herr­schung, in: Phase 2, 33 (Herbst 2009), online: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/die-verdinglichung-der-natur-255/?druck=1
  • 3
    The Guar­dian, vom 19.10.2019: »We will use lan­guage that reco­g­ni­ses the seve­rity of the cri­sis we’re in. In May 2019, the Guar­dian updated its style guide to intro­duce terms that more accu­ra­tely describe the envi­ron­men­tal cri­ses facing the world, using ›cli­mate emer­gency, cri­sis or break­down‹ and ›glo­bal hea­ting‹ ins­tead of ›cli­mate change‹ and ›glo­bal warm­ing‹. We want to ensure that we are being sci­en­ti­fi­cally pre­cise, while also com­mu­ni­ca­ting cle­arly with rea­ders on the urgency of this issue«.