Kühne-Preis: Kulturförderung als Schweigegeld?

Kühne-Preis: Kulturförderung als Schweigegeld?

Am 18. Sep­tem­ber wird im Rah­men des Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­vals in Ham­burg der renom­mierte Klaus-Michael Kühne-Preis ver­lie­hen. Nun haben zwei Schriftsteller:innen ihre Nomi­nie­run­gen zurück­ge­zo­gen – weil der Geld- und Namens­ge­ber die NS-Historie sei­nes Fami­li­en­un­ter­neh­mens nicht auf­ar­beite. Wir hat­ten zuvor sie und die übri­gen Nomi­nier­ten kon­tak­tiert, um über die finan­zi­elle Abhän­gig­keit des Kul­tur­be­trie­bes von pri­va­ter För­de­rung und die Image­po­li­tik pro­ble­ma­ti­scher Mäzene zu spre­chen.

Weiß wie die Unschuld: In Küh­nes Luxus­ho­tel „The Fon­tenay“ an der Als­ter soll der Klaus-Michael Kühne-Preis am 18.09. ver­lie­hen wer­den. Foto: travelswiss1 Lizenz: CC BY-NC 2.0

Im Kunst- und Kul­tur­be­trieb rumort es: Das Lon­do­ner Bri­tish Museum benennt alle nach einem Groß­spen­der benann­ten Räume um, die Video­künst­le­rin Hito Stey­erl zieht eines ihrer Werke aus einer ange­se­he­nen Samm­lung zurück, die Salz­bur­ger Fest­spiele been­den in Reak­tion auf einen offe­nen Brief des Autors Lukas Bär­fuss und der Regis­seu­rin Yana Ross die Zusam­men­ar­beit mit einem Spon­sor. All diese Aus­ein­an­der­set­zun­gen ereig­ne­ten sich in den letz­ten Mona­ten. Und bei allen ging es um ganz ähn­li­che Fra­gen: Wer finan­ziert eigent­lich Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen und Kul­tur­schaf­fende? Aus wel­chen Quel­len stam­men die Mil­li­ar­den an pri­va­ten Mit­teln, mit denen Museen, Kon­zert­häu­ser, Preise und Fes­ti­vals geför­dert wer­den? Und wie kann oder soll man sich gegen­über ›schmut­zi­gen‹ För­der­gel­dern ver­hal­ten, die aus frag­wür­di­gen Quel­len stam­men und von den Geldgeber:innen zum Rein­wa­schen des eige­nen Namens bzw. dem Ver­de­cken von Schand­ta­ten genutzt werden?

Auf die Frage nach dem prak­ti­schen Umgang haben Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen und Künstler:innen in den genann­ten drei Fäl­len klare Ant­wor­ten gefun­den. Sie zogen Kon­se­quen­zen dar­aus, dass die Mil­li­ar­därs­fa­mi­lie Sack­ler mit ihrem Unter­neh­men Pur­due Pharma maß­geb­lich für die Opio­id­krise in den USA ver­ant­wort­lich war; dar­aus, dass die Unter­neh­me­rin und Kunst­samm­le­rin Julia Sto­schek ihr Mil­li­ar­den­ver­mö­gen ihrem Nazi-Urgroßvater ver­dankt, der den Auto­mo­bil­zu­lie­fe­rer Brose grün­dete, den NS-Staat belie­ferte und als treues NSDAP-Mitglied zum Wehr­wirt­schafts­füh­rer auf­stieg; und dar­aus, dass das Berg­bau­un­ter­neh­men Sol­way nicht nur mas­sive Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen und Umwelt­zer­stö­rung ver­ant­wor­tet, son­dern zudem enge Ver­bin­dun­gen zum Kreml unter­hal­ten soll.

Die Kühne-Stiftung

Eine in Ham­burg beson­ders aktive und eben­falls frag­wür­dige Kul­tur­spon­so­rin ist die Kühne-Stiftung: Bei der Elb­phil­har­mo­nie, dem Phil­har­mo­ni­schen Staats­or­ches­ter und dem Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­val tritt die Stif­tung als Haupt­för­de­rin auf. Gegrün­det wurde sie 1976 vom Unter­neh­mer Alfred Kühne, sei­ner Frau Mer­ce­des und ihrem gemein­sa­mem Sohn Klaus-Michael Kühne. Das Stif­tungs­ka­pi­tal stammt aus den Erträ­gen der Kühne Hol­ding, also vor­ran­gig aus jenen des Unter­neh­mens Kühne + Nagel (K+N), eines der welt­weit größ­ten Transport- und Logistikunternehmen.

Damit aber ver­dankt sich das Kapi­tal zum einen dem Umstand, dass Alfred Kühne und sein Bru­der Wer­ner 1933 ihren jüdi­schen Teil­ha­ber Adolf Maass aus dem Unter­neh­men dräng­ten, und zum ande­ren der maß­geb­li­chen Betei­li­gung von K+N an der ›Ari­sie­rung‹ jüdi­schen Eigen­tums in den von Deutsch­land besetz­ten Län­dern wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs. Hinzu kommt: Klaus-Michael Kühne, der das Unter­neh­men von 1966 bis 1998 lei­tete und bis heute sowohl die Mehr­heit der Akti­en­an­teile als auch die Fäden in der Hand hält, zeigt kei­ner­lei Ver­ständ­nis dafür, dass die NS-Vergangenheit sei­nes Unter­neh­mens »immer wie­der hoch­ge­kocht wird«, und wehrt jeg­li­che Auf­ar­bei­tung die­ser – sei­ner – Familien- und Unter­neh­mens­ge­schichte vehe­ment ab.

Kulturförderung als Schweigegeld

Bis­lang scheint Klaus-Michael Küh­nes Stra­te­gie des Rela­ti­vie­rens und Ver­schwei­gens auf­zu­ge­hen. Zwar haben ins­be­son­dere aus Anlass des 125-jährigen Fir­men­ju­bi­lä­ums im Jahr 2015 viele Medien kri­tisch über die Unter­neh­mens­ge­schichte berich­tet, über die man dank der Recher­chen des ehe­ma­li­gen taz-Redak­teurs Hen­ning Bleyl und von His­to­ri­kern wie Wolf­gang Dre­ßen, Frank Bajohr und Johan­nes Beermann-Schön immer­hin eini­ges weiß. Doch einer brei­ten Öffent­lich­keit sind Klaus-Michael Kühne und sein Unter­neh­men nach wie vor nicht als NS-Profiteure bekannt. Das öffent­li­che Bild von Kühne bestimmt viel­mehr sein Enga­ge­ment als Inves­tor und Kul­tur­för­de­rer. Die Ham­bur­ger Mor­gen­post etwa ver­öf­fent­lichte in den letz­ten zwei Jah­ren 50 Arti­kel über Kühne; nur ein ein­zi­ger von ihnen behan­delt die Geschichte des Unter­neh­mens im Natio­nal­so­zia­lis­mus und seine Nach­ge­schichte. Statt­des­sen pro­du­ziert Kühne (über­wie­gend) posi­tive Schlag­zei­len mit sei­nem Enga­ge­ment beim HSV (dem er die Benen­nung des Sta­di­ons nach Uwe See­ler finan­zie­ren will), mit Inves­ti­tio­nen (er hat seine Anteile an der Luft­hansa und an der Immo­bi­li­en­ge­sell­schaft Signa Prime erhöht und Anteile am Elb­tower erwor­ben) und eben mit sei­nen Akti­vi­tä­ten in der Kulturförderung.

Es steht daher außer Frage: Klaus-Michael Küh­nes Mäze­na­ten­tum dient effek­tiv der Image­pflege des Fami­li­en­na­mens, dem Ver­schwei­gen bzw. Rein­wa­schen. ›Tue Gutes und sprich dar­über‹, sagt man; im Fall von Kühne ließe sich ergän­zen: ›damit über das Schlechte nicht gespro­chen wird‹. Dass er den von ihm gestif­te­ten Preis für das beste Roman­de­büt des Jah­res ganz unbe­schei­den nach sich selbst benannt hat, ist davon der wohl kras­seste Aus­druck. Es hat zur Folge, dass der Klaus-Michael-Kühne-Preis nicht nur eine Aus­zeich­nung für die Autor:innen dar­stellt, die ihn erhal­ten. Viel­mehr ver­schaf­fen die Preisträger:innen auch dem Mäzen, in des­sen an der Außen­als­ter gele­ge­nen Luxus­ho­tel The Fon­tenay die Preis­ver­lei­hung statt­fin­den wird, Anse­hen und Aner­ken­nung. Und sie drän­gen damit wider Wil­len die Betei­li­gung des Unter­neh­mens an der Ent­eig­nung von Jüdin­nen und Juden im NS aus dem Blick der Öffent­lich­keit. Wenn etwa, wie im Jahr 2014 mit Per Leos Roman Flut und Boden, die lite­ra­ri­sche Auf­ar­bei­tung einer deut­schen Fami­li­en­ge­schichte und Abrech­nung mit der NS-Täter:innengeneration den Klaus-Michael Kühne-Preis erhält, ohne dass die­ser zyni­sche Wider­spruch zur Spra­che kommt, dient der Preis ganz offen­kun­dig als Feigenblatt.

Suche nach dem angemessenen Umgang

Natür­lich haben fast alle deut­schen Groß­un­ter­neh­men, die vor 1945 gegrün­det wur­den, eine Ver­bre­chens­ge­schichte. Der nie­der­län­di­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler David de Jong hat das in sei­nem Buch Brau­nes Erbe kürz­lich noch ein­mal ein­drück­lich dar­ge­legt. Doch das Aus­maß der Kol­la­bo­ra­tion der Gebrü­der Alfred und Wer­ner Kühne mit dem NS-Staat, die anhal­tende Wei­ge­rung ihres Erben Klaus-Michael Kühne, diese Geschichte auf­zu­ar­bei­ten und Kon­se­quen­zen dar­aus zu zie­hen, sowie die Benen­nung des Prei­ses nach Kühne selbst machen den Klaus-Michael Kühne-Preis zu einem beson­ders her­vor­ste­chen­den Fall.

Was aber wäre ein ange­mes­se­ner Umgang mit dem pro­ble­ma­ti­schen Geld­ge­ber? Diese Frage stell­ten wir, die Redak­tion von Untie­fen, uns im Vor­feld der dies­jäh­ri­gen Ver­lei­hung des Kühne-Preises, ohne zu einer befrie­di­gen­den Ant­wort zu kom­men. Wir ver­such­ten daher im Juli, mit den acht Nomi­nier­ten des Prei­ses selbst ins Gespräch dar­über zu kom­men. In einer E‑Mail an die Autor:innen schil­der­ten wir aus­führ­lich die Ver­stri­ckung von K+N in die NS-Verbrechen und hoben vor allem die Wei­ge­rung Klaus-Michael Küh­nes her­vor, das Fir­men­ar­chiv zu öff­nen und die Unter­neh­mens­ge­schichte von unab­hän­gi­gen Historiker:innen unter­su­chen zu las­sen. In unse­rem Schrei­ben an die Nomi­nier­ten hoben wir auch die Kom­ple­xi­tät der Situa­tion her­vor und frag­ten die Autor:innen nach einem mög­li­chen Umgang:

»Klar ist einer­seits: Diese Umstände kön­nen und dür­fen nicht (wei­ter) beschwie­gen wer­den. Klar ist ande­rer­seits aber auch: Ein Lite­ra­tur­preis ist für eine Debü­tan­tin / einen Debü­tan­ten wie Sie auch über das hohe Preis­geld hin­aus von beträcht­li­cher Bedeu­tung. Hinzu kommt, dass Küh­nes eigene Ansich­ten bei der Ent­schei­dung der Jury gewiss keine Rolle spie­len wer­den. Die For­de­rung, den Preis oder gar schon die Nomi­nie­rung zurück­zu­wei­sen, wäre daher wohl­feil. Doch wir fra­gen uns – und Sie: Wenn die öffent­li­che Ableh­nung des Prei­ses keine sinn­volle Option ist, was könn­ten dann alter­na­tive Wege sein, mit dem pro­ble­ma­ti­schen Hin­ter­grund des Prei­ses und sei­nes Stif­ters den­noch einen Umgang zu fin­den? Diese Frage, auf die wir selbst bis­lang keine befrie­di­gende Ant­wort gefun­den haben, weist auch über den kon­kre­ten Fall hin­aus und zieht wei­tere, grund­sätz­li­che Fra­gen nach sich: Wie kann man sich zum Wider­spruch der Neu­tra­li­sie­rung von Kri­tik durch ihre Ver­ein­nah­mung, der auch nur die Zuspit­zung eines gene­rel­len Wider­spruchs im ›wie­der­gut­ge­wor­de­nen‹ Deutsch­land ist, ins Ver­hält­nis set­zen? Ist das Pathos etwa eines Tho­mas Brasch bei der Ver­lei­hung des Baye­ri­schen Film­prei­ses 1981 (noch) ange­mes­sen? Stellt die Lite­ra­tur selbst Mit­tel bereit, sich der Ver­ein­nah­mung zu wider­set­zen, oder ist sie ohn­mäch­tig ange­sichts der Macht­ver­hält­nisse eines Betriebs, in dem man es sich mit sei­nen Geld­ge­bern nicht ›ver­scher­zen‹ darf?«

Die Antworten der Nominierten: Zwischen Realismus…

Auf unsere Fra­gen und unsere Bitte um Aus­tausch erhiel­ten wir in den fol­gen­den Wochen von immer­hin drei der acht Autor:innen Rück­mel­dung. Dome­nico Mül­len­sie­fen, der für sei­nen Roman Aus unse­ren Feu­ern nomi­niert wurde, schreibt: »Ich denke, dass es ein gro­ßes Pro­blem ist, dass die öffent­li­che Kul­tur­för­de­rung in Deutsch­land stark ein­ge­schränkt ist.« Denn in die Lücke, die die öffent­li­che För­de­rung lässt, stie­ßen pri­vate För­de­rer. Was es bräuchte, so Mül­len­sie­fen, sei eine »breite und preis­un­ab­hän­gige För­de­rung von AutorIn­nen«. Bis dahin bleibe er auch beim Klaus-Michael Kühne-Preis „Rea­list“, denn: »Die Jury ist hoch­ka­rä­tig besetzt und frei in Ihrem Han­deln. Die nomi­nier­ten Schrift­stel­le­rIn­nen gefal­len mir sehr gut. Der Umgang mit den AutorIn­nen ist erst­klas­sig. […] Und ganz ehr­lich, wäre es mir eine sehr große Freude, mal eine Nacht in die­sem schi­cken Hotel von Herrn Kühne zu über­nach­ten.« In einem spä­te­ren State­ment gegen­über der ZEIT fügt er hinzu: »Deut­scher Reich­tum ist in vie­len, wenn nicht sogar in den meis­ten Fäl­len auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit ent­stan­den. So zu tun, als wäre alles in Ord­nung, wenn Herr Kühne die NS-Vergangenheit auf­ar­bei­ten ließe, wäre auch falsch. Wir haben ein struk­tu­rel­les Gesell­schafts­pro­blem, zu dem wir AutorIn­nen uns indi­vi­du­ell ver­hal­ten sol­len.« Und: »Und wäre es nicht an der Zeit, dass wir, und da darf DIE ZEIT gern vor­ne­weg gehen, ernst­haft über eine Umver­tei­lung der Ver­mö­gen in Deutsch­land sprechen?«

Ähn­lich ant­wor­tete Daniel Schulz, taz-Redak­teur und Autor des Romans Wir waren wie Brü­der. Er betont wie Mül­len­sie­fen: „Die Unab­hän­gig­keit und Fach­kom­pe­tenz der Jury ste­hen außer Zwei­fel. Klaus-Michael Kühne hat auf ihre Ent­schei­dun­gen kei­nen Ein­fluss“. Vor allem hält er die Autor:innen für die fal­schen Ansprechpartner:innen für die Frage nach dem Umgang mit dem NS-Erbe von Kühne + Nagel. Schließ­lich seien sie in der abhän­gigs­ten und pre­kärs­ten Lage von allen und „auf die weni­gen För­de­run­gen ange­wie­sen […], die es noch gibt“. Die Res­sour­cen und die Ver­ant­wor­tung dafür, einen Umgang mit pro­ble­ma­ti­schen För­de­rern wie Kühne zu fin­den, sieht er vor allem bei den Ver­la­gen und der Kulturpolitik.

Der Tenor die­ser Ant­wor­ten ist klar: In die­ser Gesell­schaft als Schriftsteller:in tätig zu sein bedeu­tet, in zahl­rei­che Wider­sprü­che ver­strickt und nicht weni­gen Zwän­gen unter­wor­fen zu sein. Solange die Kul­tur­för­de­rung maß­geb­lich über pri­vate Stif­tun­gen und Orga­ni­sa­tio­nen geleis­tet wird und die Autor:innen von deren Geld abhän­gig seien, müsse man letzt­lich damit leben, dass Gel­der im Kul­tur­be­trieb aus frag­wür­di­gen Quel­len stam­men Das zen­trale Pro­blem sehen die bei­den Autoren in der pri­va­ti­sier­ten Kul­tur­för­de­rung in einer post­fa­schis­ti­schen Gesell­schaft – und die Ver­ant­wor­tung auf Sei­ten der öffent­li­chen Hand.

… und Absagen

Sven Pfi­zen­maier, nomi­niert für Drau­ßen fei­ern die Leute, ist zu einem ande­ren Schluss für sei­nen indi­vi­du­el­len Umgang mit der Situa­tion gekom­men. Er hat seine Nomi­nie­rung zurück­ge­wie­sen und seine Teil­nahme am ›Debü­tan­ten­sa­lon‹ auf dem Har­bour Front Lite­ra­turfesti­val abge­sagt. In sei­ner am 29. August ver­öf­fent­lich­ten Erklä­rung schreibt er so knapp wie deut­lich: »Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dage­gen wehrt, die NS-Historie sei­nes Unter­neh­mens auf­zu­ar­bei­ten, möchte ich mei­nen Text nicht in einen Wett­be­werb um sein Geld und eine Aus­zeich­nung mit sei­nem Namen stellen.«

Andert­halb Wochen spä­ter, am 07.09., sagte auch Fran­ziska Gäns­ler, nomi­niert für Ewig Som­mer, ihre Teil­nahme am Har­bour Front Fes­ti­val ab. In ihrer Erklä­rung, die dies­mal durch die Fes­ti­val­lei­tung ver­öf­fent­licht wurde, führt sie die Nicht-Diskussion um die Absage Pfi­zen­mai­ers als Grund an:

»Mich hat der Rück­zug des mit­no­mi­nier­ten Autors Sven Pfi­zen­maier und die dar­auf fol­gende Reak­tion sehr beschäf­tigt. Ich denke, es hätte einen öffent­li­chen Dis­kurs gebraucht, der ein Ernst­neh­men sei­ner Kri­tik erkenn­bar macht und zeigt, dass es das Anlie­gen der Stif­tung ist, genau das zu för­dern – kri­ti­sche lite­ra­ri­sche Stim­men. Lei­der zeigt die Reak­tion für mich, dass dies nicht gege­ben scheint. Unter die­sen Umstän­den wei­ter auf die Aus­zeich­nung zu hof­fen erscheint mir, unab­hän­gig von der finan­zi­el­len Kom­po­nente, wie ein Weg­se­hen, das ich nicht gut mit mir und mei­nem Schrei­ben ver­ein­ba­ren kann.«

Pfi­zen­maier und Gäns­ler haben damit dras­ti­sche Schritte gewählt. Pfi­zen­maier betont in sei­ner Erklä­rung aber auch, dass er seine Ent­schei­dung »expli­zit nicht als Vor­wurf« gegen die Mit­no­mi­nier­ten und Mit­ar­bei­ten­den des Fes­ti­vals ver­stan­den wis­sen wolle: »Das Ver­hält­nis zwi­schen Geldgeber:innen und Kul­tur­schaf­fen­den in Deutsch­land ist ein der­ma­ßen kom­ple­xes Feld, dass es unzäh­lige Wege gibt, einen ange­mes­se­nen Umgang damit zu fin­den. Die­ser hier ist meiner.«

Dras­tisch sind diese Ent­schei­dun­gen nicht nur, weil beide damit auf die Mög­lich­keit ver­zich­tet, das statt­li­che Preis­geld von 10.000 Euro zu gewin­nen, son­dern auch und vor allem, weil der Debü­tan­ten­sa­lon und der Klaus-Michael Kühne-Preis in den letz­ten Jah­ren zu einem wich­ti­gen Sprung­brett für junge Autor:innen gewor­den sind. Bei Ver­la­gen, Buchhändler:innen und Autor:innen genießt der Preis ebenso hohes Anse­hen wie bei Kri­tik und Leser:innenschaft. Autor:innen, deren Debüt eine Nomi­nie­rung erhal­ten oder den Preis gar gewon­nen hat, stei­gern nicht nur die Ver­käufe ihres Romans, son­dern haben gute Aus­sich­ten, sich fest zu eta­blie­ren. Zu den bis­he­ri­gen Preisträger:innen zäh­len etwa Olga Grjas­nowa, Per Leo, Dmit­rij Kapi­tel­man, Fatma Ayd­emir und Chris­tian Baron.

Der Eklat

Pfi­zen­mai­ers und Gäns­lers Ent­schei­dung ist bis­her prä­ze­denz­los. Obwohl viele der frü­he­ren Nomi­nier­ten und Preisträger:innen als enga­gierte Stim­men in der öffent­li­chen Debatte bekannt (gewor­den) sind, hatte bis­her noch kein:e Autor:in öffent­lich Kri­tik an Kühne geübt – geschweige denn die Nomi­nie­rung oder den Preis zurückgewiesen.

Dem­entspre­chend über­for­dert und rat­los wirkt der Umgang des Har­bour Front-Fes­ti­vals mit der Situa­tion. Man glaubte dort offen­bar, Pfi­zen­mai­ers Absage ein­fach unter den Tep­pich keh­ren zu kön­nen. Am 24. August wurde in einer Pres­se­nach­richt und auf Twit­ter lapi­dar ein »Pro­gramm­up­date« ver­kün­det: Nach Sven Pfi­zen­mai­ers Absage trete Prze­mek Zybow­ski durch ein Nach­rück­ver­fah­ren an seine Stelle. Bis zur Absage Gäns­lers ging das Fes­ti­val weder auf die Gründe für Pfi­zen­mai­ers Absage ein, noch drückte es sein Bedau­ern dar­über aus. Auf der Home­page des Fes­ti­vals wurde Pfi­zen­maier still­schwei­gend ersetzt. Nach Gäns­lers Absage lässt das Fes­ti­val auf der Web­site knapp verlautbaren: 

»Wir fin­den diese Absa­gen sehr bedau­er­lich. Für die Beweg­gründe der Betref­fen­den haben wir Ver­ständ­nis – auch wir sehen Dis­kus­si­ons­be­darf in die­ser Angelegenheit.«

Vorher-Nachher Screen­shot: das Har­bour Front-Festival ersetzt auf sei­ner Home­page Pfi­zen­maier durch Zybow­ski und hofft, dass es keine:r merkt. Foto: Screen­shot https://harbourfront-hamburg.com/.

Die Reak­tion der Kühne-Stiftung aber über­trifft das anfäng­li­che Schwei­gen des Fes­ti­valsum Län­gen. Wäh­rend sie der Mopo noch kei­nen Kom­men­tar geben wollte und wohl auch hoffte, das Pro­blem löse sich von selbst auf, ging sie gegen­über der taz in die Offen­sive: Man habe »mit Vor­gän­gen, die ca. 80 Jahre zurück­lie­gen, nichts zu tun«. Und weil sich die Stif­tung »in höchs­tem Maße« unge­recht behan­delt fühlte, setzte man dort zum Gegen­an­griff gegen die undank­ba­ren Kul­tur­schaf­fen­den und ‑liebhaber:innen an: Man werde »die tra­di­tio­nelle Ver­lei­hung des Klaus-Michael Kühne-Preises jetzt über­den­ken« ließ die Kühne-Stiftung auf Anfrage der taz ver­lau­ten. Wer Kri­tik übt, erhält kein Geld – das ist die Bot­schaft, die die Kühne-Stiftung vermittelt.

Kulturförderung entprivatisieren

Die Reak­tion der Kühne-Stiftung zeigt: Man scheint sich dort sehr bewusst dar­über zu sein, wer hier am län­ge­ren Hebel sitzt. Der Kul­tur­be­trieb ist in hohem Grad abhän­gig von sei­nen (pri­va­ten) Gön­nern. Sie kön­nen den von ihnen geför­der­ten Ein­rich­tun­gen und Ver­an­stal­tun­gen ihre Bedin­gun­gen dik­tie­ren – und bei Kri­tik oder Nicht­be­fol­gen die För­de­rung been­den oder zumin­dest damit dro­hen. Die Kühne-Stiftung zeigt mit ihrem Ver­hal­ten gegen­über den Kul­tur­schaf­fen­den über­deut­lich auf, wo die Grenze(n) der Auto­no­mie der Kunst lie­gen: Don’t bite the hand that feeds you.

Die ers­ten Leid­tra­gen­den eines Rück­zugs wären die Schriftsteller:innen und Künstler:innen, also aus­ge­rech­net die schwächs­ten Glie­der in der Kette. Tat­säch­lich sind die ande­ren Nomi­nier­ten nicht zu benei­den. Durch Pfi­zen­mai­ers und Gäns­lers Absage ste­hen sie unter Druck, sich zu beken­nen, womög­lich gar, ihrem Bei­spiel zu fol­gen. Vie­les hängt davon ab, dass die Debatte soli­da­risch geführt wird, und das heißt: nicht indi­vi­dua­li­sie­rend und mora­li­sie­rend, son­dern im Bewusst­sein der Wider­sprü­che und des struk­tu­rel­len Cha­rak­ters des Problems.

Klar ist: Solange die Kul­tur den Markt­ge­set­zen unter­liegt und die För­de­rung der Kul­tur­schaf­fen­den nicht durch öffent­li­che Hand getra­gen wird, ist sie auf pri­vate Förder:innen ange­wie­sen. Denn wenn nicht allein die Markt­gän­gig­keit von Kunst, Musik oder Lite­ra­tur zäh­len soll, son­dern auch die inhä­ren­ten Maß­stäbe der Kunst, braucht es Kul­tur­spon­so­ring. An Bei­spie­len wie Kühne zeigt sich aber, zu wel­chen Pro­ble­men es füh­ren kann, wenn dies pri­vat orga­ni­siert und zwangs­läu­fig von beson­ders ver­mö­gen­den Unter­neh­men und Ein­zel­per­so­nen mit eige­nen Inter­es­sen über­nom­men wird. Des­halb muss im Sinne einer demo­kra­ti­schen Kul­tur­för­de­rung zumin­dest eine Reduk­tion des Anteils pri­va­ten Spon­so­rings durch die (Wieder-)Einführung öffent­li­cher För­de­rung durch­ge­setzt wer­den. Die Leid­tra­gen­den des pri­va­ten Kul­tur­spon­so­rings sind letzt­lich auch die Autor:innen selbst, denen in die­sem Sys­tem mit­un­ter nur eine Wahl bleibt zwi­schen Ver­zicht auf das, was ihren Unter­halt finan­ziert, oder der Annahme frag­wür­di­ger För­der­gel­der – eine infame Verantwortungsverschiebung.

In Bezug auf den aktu­el­len Eklat heißt das: Der Kühne-Preis muss umbe­nannt und öffent­lich finan­ziert wer­den. Wie wäre es etwa mit einem von der Stadt Ham­burg finan­zier­ten Peter-Rühmkorf-Preis? Wenn man sich anschaut, wie schnell die Stadt im Cum-Ex-Skandal bereit war, auf 47 Mil­lio­nen Euro an Steu­ern zuguns­ten der Warburg-Bank zu ver­zich­ten, soll­ten 10.000 Euro Preis­geld sicher­lich kein Pro­blem dar­stel­len. Und Küh­nes Geld könnte auch in einer unab­hän­gi­gen, wis­sen­schaft­li­chen Auf­ar­bei­tung der eige­nen Fir­men­ge­schichte sehr gute Ver­wen­dung finden.

Redak­tion Untie­fen, 7. Sep­tem­ber 2022

Das H steht für Herrschaft

Das H steht für Herrschaft

Wäh­rend sich Frauen immer mehr Raum erkämpft haben und geschlecht­li­che Ungleich­hei­ten ange­gan­gen wur­den, blieb die Her­bert­straße an der Ree­per­bahn für sie bis heute tabu – für einen Teil der Frauen zumin­dest. Wie kommt das und was hat das mit dem Patri­ar­chat und männ­li­chen Herr­schafts­an­sprü­chen zu tun?

Offen für alle? Blick in die Her­bert­straße bei geöff­ne­tem Tor. Foto: Hinnerk11, CC BY-SA 4.0, Wiki­pe­dia.

Ham­burg steht mit der Ree­per­bahn, der Her­bert­straße und den Bur­les­que Shows immer wie­der im Zen­trum der media­len Auf­merk­sam­keit, zum Bei­spiel durch ›kul­tige‹ Kiez-Reportagen, und geriert sich als Inbe­griff der sexu­el­len Offen­heit. Der ›ero­ti­sche‹ Humor und feucht­fröh­li­che Life­style, der durch aller­hand kul­tu­relle Prak­ti­ken rund um die »sün­digste Meile der Welt«1Diese Phrase, die mit der Umwer­tung christlich-konservativer Moral­vor­stel­lun­gen koket­tiert, ist inzwi­schen zum Marketing-Slogan geron­nen und wird auch auf der offi­zi­el­len Tourismus-Webseite der Stadt Ham­burg ver­wen­det. prä­sen­tiert wird, zieht Tourist:innen an und lässt viele Femi­nis­tin­nen auf­at­men, die sich immer wie­der um die Moral von Sex­ar­beit bezie­hungs­weise Pro­sti­tu­tion strei­ten. Die Ree­per­bahn scheint zu zei­gen: Alles ganz ent­spannt und frei – es geht um Spaß und lockere Sexua­li­tät, die kaum irgendwo sonst so frei aus­ge­lebt wer­den könne wie hier. Doch wie jede Kul­tur­in­dus­trie ist auch diese nicht frei von Ideo­lo­gie und Insze­nie­rung: Sie ver­schlei­ert den Blick für ihre sta­bi­li­sie­rende Funk­tion im Sinne der (durch den Femi­nis­mus infrage gestell­ten) männ­li­chen Herrschaftsansprüche.

Die Her­bert­straße exis­tiert in ihrer Funk­tion als Hort sexu­el­ler Dienste von Frauen für Män­ner etwa seit der Wei­ma­rer Repu­blik. Seit den 1930er Jah­ren ste­hen an bei­den Enden der nur etwa 60 Meter lan­gen Straße Sicht­schutz­wände, im Jahr der Fußball-WM 1974 wur­den Schil­der mit der Beschrif­tung »Jugend­li­che unter 18 und Frauen ver­bo­ten« auf Deutsch und Eng­lisch ange­bracht. Zwar kann nie­man­dem der Zutritt zu einer öffent­li­chen Straße, wie es die Her­bert­straße ist, recht­lich ver­bo­ten wer­den, schon gar nicht auf­grund des Geschlechts. Den­noch wird das Ver­bot für Frauen, die Straße ohne Absicht sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen anzu­bie­ten, zu betre­ten, auch von öffent­li­cher Seite repro­du­ziert. Was (angeb­lich) pas­siert, wenn man das Ver­bot miss­ach­tet, erfährt man woan­ders: Einem pri­va­ten Touristik-Anbieter zufolge ist dann »mit Beschimp­fun­gen und einem Angriff durch Was­ser­bom­ben« zu rech­nen, die SHZ warnt vor »def­tigs­ten Schimpf­wor­ten, fau­len Eiern und manch­mal auch hand­fes­ten Argumenten«.

Frauen verboten‹ – zum Schutz der Prostituierten?

Frauen von außen wer­den als stö­rende Ein­dring­linge dar­ge­stellt, die nicht nur die Män­ner am Kauf von sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen behin­dern. Das Ver­bot von sich nicht pro­sti­tu­ie­ren­den Frauen soll der Wunsch der Pro­sti­tu­ier­ten selbst sein, es soll sie vor den ande­ren Frauen schüt­zen, die als »Schau­lus­tige« die Straße besuch­ten. Ob das der tat­säch­li­che Grund für das Ver­bot ist, bleibt unklar und Thema für Spe­ku­la­tio­nen. Gleich­wohl schützt es frag­los die Geschäfts­in­ter­es­sen, wenn die Män­ner nicht durch Ehe­frauen, Freun­din­nen, Schwes­tern gestört wer­den.2Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 ver­merkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhäl­ter der Herbertstraßen-Prostituierten hät­ten sich einer Öff­nung für Frauen wider­setzt. Weib­li­che Tou­ris­ten in der No-go-Area, so das Kal­kül, könn­ten das Geschäft vermasseln.«

Akti­vis­tin­nen der kon­tro­ver­sen femi­nis­ti­schen Gruppe Femen bau­ten am 8. März 2019 die Sicht­schutz­wand am Zugang zur Her­bert­straße unter dem Slo­gan ab, die »Mauer zwi­schen Frauen« zu demon­tie­ren. Gegen die Akti­vis­tin­nen wurde damals wegen Sach­be­schä­di­gung Straf­an­zeige erho­ben. Wenn­gleich die Gruppe und vor­an­ge­gan­gene Aktio­nen durch­aus kri­tisch betrach­tet wer­den kön­nen, wer­den Femi­nis­tin­nen im gesell­schaft­li­chen Dis­kurs so zu Antagonist:innen der Pro­sti­tu­ier­ten stilisiert.

Femen über­win­det die »Mau­ern zwi­schen Frauen«. Pro­test am 8. März 2019. Screen­shot: You­tube.

Frauen in der Pro­sti­tu­tion sind einem weit­aus grö­ße­ren Risiko als andere Frauen aus­ge­setzt, Gewalt zu erfah­ren oder gar ermor­det zu wer­den. Für ihren Schutz zu sor­gen, ist daher drin­gend nötig. Aber warum sol­len sie gerade vor ande­ren Frauen geschützt wer­den? Die Aus­üben­den der Gewalt gegen­über Pro­sti­tu­ier­ten sind über­wie­gend Män­ner, die in ver­schie­de­nen Bezie­hun­gen zu den Frauen ste­hen – ins­be­son­dere durch Freier.3BMFSFJ: Lebens­si­tua­tion, Sicher­heit und Gesund­heit von Frauen in Deutsch­land. Ergeb­nisse der reprä­sen­ta­ti­ven Unter­su­chung zu Gewalt gegen Frauen in Deutsch­land, S. 26–27. Online unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf. Allein in den 20 Jah­ren seit der Ent­kri­mi­na­li­sie­rung sind in Deutsch­land mehr als hun­dert Frauen aus der Pro­sti­tu­tion ermor­det wor­den, wie die Initia­tive Sex Indus­trie Kills doku­men­tiert hat. Die Libe­ra­li­sie­rung schützt die Frauen nicht, son­dern macht Men­schen­han­del lukra­ti­ver. Es ist kaum vor­stell­bar, dass ein Anstieg des Men­schen­han­dels zu weni­ger Gewalt gegen Frauen führt. Zuletzt wurde am 14. Mai eine Frau in Hamburg-Harburg tot auf­ge­fun­den, die gele­gent­lich der Pro­sti­tu­tion nach­ging und von einem ihrer Freier erwürgt wurde. Auf­grund des mas­si­ven Dun­kel­fel­des kann jedoch von einer höhe­ren Zahl aus­ge­gan­gen wer­den. Wen oder was schüt­zen die Wände an der Her­ber­straße also eigentlich?

Homosozialer Raum und männliche Herrschaft

Der schwe­di­sche Sozio­loge Sven-Axel Måns­son beschrieb Pro­sti­tu­tion bereits in den acht­zi­ger Jah­ren als männ­li­che Pra­xis, sich der eige­nen Potenz zu ver­si­chern und Mas­ku­li­ni­tät zu kon­stru­ie­ren.4Vgl. Sven-Axel Måns­son: The man in sexual com­merce, Lund 1988, S. 39. Online unter: https://lucris.lub.lu.se/ws/portalfiles/portal/66114471/1988_2.pdf. Dies geschieht in homo­so­zia­len Räu­men, in denen Frauen ledig­lich Zutritt haben, wenn sie als Objekte der männ­li­chen Libido exis­tie­ren. Män­nern als sozia­ler Gruppe steht der weib­li­che Kör­per in die­sen Räu­men unein­ge­schränkt zur Befrie­di­gung ihrer Bedürf­nisse zur Ver­fü­gung, um die eigene Männ­lich­keit in Abgren­zung zum Weib­li­chen über die sexu­elle Domi­nanz zu bestätigen.

Es ver­wun­dert nicht, dass das expli­zite Ver­bot von Frauen in der Her­bert­straße erst in den sieb­zi­ger Jah­ren in Kraft trat. Mit der Zwei­ten Welle des Femi­nis­mus, die zu die­ser Zeit Fahrt auf­nahm, began­nen Frauen sich inten­siv mit ihren eige­nen sexu­el­len Bedürf­nis­sen aus­ein­an­der­zu­set­zen. Die Akzep­tanz der Frauen, sexu­ell von Män­nern beherrscht zu wer­den, sank rapide und stellte damit auch die Selbst­ver­ständ­lich­keit männ­li­cher Herr­schaft infrage. Pro­sti­tu­tion stellte dage­gen eine Art Zufluchts­ort für Män­ner dar und diente damit als ›Kon­ser­va­to­rium‹ von Männ­lich­keit sowie der hier­ar­chi­schen Geschlecht­er­ord­nung. Dass Pro­sti­tu­tion als ’not­wen­di­ges Übel‹  im Rah­men eines hier­ar­chi­schen Geschlech­ter­ver­hält­nis­ses gese­hen im Kon­ser­va­ti­ven fest ver­an­kert ist und nach wie vor repro­du­ziert wird, zeigt nicht zuletzt die neue Hymne der Jun­gen Union.

Fei­ert da etwa die Junge Union? Die Disco Bier­kö­nig auf Mal­lorca. Foto: O. Lipp, CC BY-SA 3.0, Wiki­pe­dia.

Die ›dop­pelte Moral‹ der Kon­ser­va­ti­ven zeigt sich darin, dass sie Frauen, die der Pro­sti­tu­tion nach­ge­hen als ›Huren‹ ent­wer­ten, wäh­rend sie andere Frauen zu ›Hei­li­gen‹ sti­li­sie­ren. Über die Ent­wer­tung der Frauen als ›Huren‹ im Gegen­satz zur ›hei­li­gen‹ Ehe­frau und Mut­ter wird die kör­per­li­che und sexu­elle Auto­no­mie der ent­wer­te­ten Frauen negiert. Gleich­zei­tig ermög­li­chen sie einen per­ma­nen­ten männ­li­chen Zugriff auf den Kör­per der Frau – häu­fig mit dem Argu­ment eines zu erfül­len­den männ­li­chen Trie­bes.5Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Kon­sum sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen, Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 2007. Solange eine patri­ar­chale Orga­ni­sa­tion der Gesell­schaft vor­herrscht, ermög­li­chen kon­ser­va­tive Kräfte in krea­ti­ven For­men, wie zum Bei­spiel mit der ›Zeit­ehe‹ im Iran, immer auch den Zugriff auf Frauenkörper.

Das Geschlech­ter­ver­hält­nis an sich ist so wie­der klar: Frauen als Die­ne­rin­nen der männ­li­chen Bedürf­nisse, der sexu­el­len wie auch der für­sorg­li­chen, die Män­ner als Her­ren. Frauen als eigen­stän­dige Sub­jekte, die Bedin­gun­gen und Gren­zen umset­zen (kön­nen), stö­ren diese Ord­nung. In der Her­bert­straße wird die homo­so­ziale Struk­tur zusätz­lich durch die Beschil­de­rung und den Sicht­schutz per­p­etu­iert. Auch nach außen wird damit die Grenze zu die­ser ande­ren Welt, in der noch nach den ›alten Regeln‹ gespielt wird, symbolisiert.

Zwischen Normalisierung…

Wie jedes Herr­schafts­ver­hält­nis braucht auch das patri­ar­chale Geschlech­ter­ver­hält­nis die Illu­sion der Natür­lich­keit, um sich auf­recht­zu­er­hal­ten. Diverse Umfra­gen unter Frei­ern legen nahe, dass der durch­schnitt­li­che Freier von einer »männ­li­chen Natur« und bio­lo­gi­schen Zwän­gen über­zeugt ist und dar­über hin­aus ein im Ver­gleich zu Män­nern, die keine sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen in Anspruch neh­men, aggres­si­ve­res Sexu­al­ver­hal­ten auf­weist.6Vgl. Clau­dine Leg­ar­di­nier: Der ›Freier‹ im Brenn­punkt der Kri­tik, in: Femi­nis­ti­sches Bünd­nis Hei­del­berg (Hg.): Was kos­tet eine Frau? Eine Kri­tik der Pro­sti­tu­tion. Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2020, 69–86. Der Wunsch nach Sexua­li­tät ohne Ver­ant­wor­tung spielt dabei eben­falls eine Rolle. Bei sich pro­sti­tu­ie­ren­den Frauen, so die Prä­misse, müsse keine Rück­sicht genom­men wer­den, da man für die Dienst­leis­tung bezahlt. ›Der Kunde ist König‹ bleibt dabei nicht bloß ein Spruch aus der Dienst­leis­tungs­bran­che, son­dern steht sinn­bild­lich für das Geschlechterverhältnis.

Die Her­bert­straße hat sich wider­spre­chende und doch zusam­men­ge­hö­rende Nor­ma­li­sie­rungs­funk­tio­nen. Auf der einen Seite kon­sti­tu­iert sich mit ihr die Selbst­ver­ständ­lich­keit männ­li­cher Räume und der Erfül­lung männ­li­cher, ver­meint­lich natür­li­cher, Bedürf­nisse. Freier wol­len Frauen, die sexu­ell wil­lig sind, aber genau das­selbe wol­len wie sie selbst: all ihre sexu­el­len Wün­sche erfül­len, ohne Gegen­leis­tung. Pro­sti­tu­tion als ›Arbeit‹ anzu­er­ken­nen steht die­ser Illu­sion aller­dings ent­ge­gen, da es sich letzt­lich auch für die Frauen um eine Dienst­leis­tung bzw. um etwas han­delt, das sie nicht frei­wil­lig, nicht ohne eine Gegen­leis­tung bzw. Kom­pen­sa­tion tun wür­den. Um sich die­ser Ver­ant­wor­tung zu ent­zie­hen, reich­ten zwei Freier gar eine Ver­fas­sungs­be­schwerde gegen ein Gesetz ein, das die Inan­spruch­nahme von sexu­el­len Dienst­leis­tun­gen bei Zwangs­pro­sti­tu­ier­ten unter Strafe stellt. Die Geschichte der sexu­ell befrei­ten, aber miss­ver­stan­de­nen Frau als ero­ti­sches Wesen, das den (unver­bind­li­chen, ein­sei­ti­gen) Sex mit frem­den Män­nern will, muss repro­du­ziert wer­den: Sie hat ›ihr Hobby zum Beruf gemacht‹.

… und Exotisierung

Zusätz­lich und ent­ge­gen der Nor­ma­li­sie­rung, braucht der Raum die Atmo­sphäre des Exo­ti­schen, des Ver­bo­te­nen und ›Sün­di­gen‹, damit sich Män­ner darin ihrer Viri­li­tät ver­si­chern kön­nen. Der ›Reiz des Ver­steck­ten‹ ist die Grund­lage die­ser männ­li­chen Fan­ta­sie, Gewalt gegen die als min­der­wer­tig mar­kier­ten ›Huren‹ ist ein Teil davon. Nicht erst die Erhe­bung Fritz Hon­kas, der in den sieb­zi­ger Jah­ren zahl­rei­che sich pro­sti­tu­ie­rende Frauen ermor­dete, zur Haupt­fi­gur in Heinz Strunks Roman Der gol­dene Hand­schuh und sei­ner Ver­fil­mung durch Fatih Akin oder die »Sex&Crime«-Rundgänge für Tourist:innen auf der Ree­per­bahn zeu­gen von der schau­ri­gen Fas­zi­na­tion, die das ›Rot­licht­mi­lieu‹ und Gewalt gegen Frauen durch Män­ner gene­rell in unse­rer Gesell­schaft ausüben.

Der Reiz des Gehei­men: Schumm­ri­ges Licht und schwere Vor­hänge. Foto: hds, CC BY 2.0, Wiki­pe­dia.

Die Atmo­sphäre des Exo­ti­schen, Sün­di­gen wird durch die Sicht­wände unter­stützt und sug­ge­riert Sub­ver­sion. Pro­sti­tu­tion ist in Deutsch­land aller­dings sowohl für die sexu­elle Hand­lun­gen anbie­ten­den Frauen als auch für die Freier seit Jahr­zehn­ten legal, die Her­bert­straße eine öffent­li­che Straße, die grund­sätz­lich jede:r betre­ten dürfte. Auch die soge­nannte »Sit­ten­wid­rig­keit«, durch die Pro­sti­tu­tion trotz Lega­li­tät mora­lisch abge­wer­tet und dis­zi­pli­niert wurde, wurde 2002 abge­schafft. Es ist mitt­ler­weile keine Sel­ten­heit, dass Verfechter:innen und Sexarbeiter:innen in Talk­shows, Pod­casts und Arti­keln über die Wich­tig­keit von Pro­sti­tu­tion und Por­no­gra­fie sprechen.

Der Wider­spruch zwi­schen der ›ver­bo­te­nen‹, ’sün­di­gen‹ und ver­meint­lich von Moral­vor­stel­lun­gen freien Sexua­li­tät und dem staat­lich geför­der­ten, gewerb­lich orga­ni­sier­ten und ver­mark­te­ten Pro­sti­tu­ti­ons­be­trieb ist offen­sicht­lich. Der Mythos, im Natio­nal­so­zia­lis­mus sei Pro­sti­tu­tion grund­sätz­lich ille­gal gewe­sen, wird auch nach wie vor im Kon­text der Her­bert­straße repro­du­ziert. Die Natio­nal­so­zia­lis­ten hät­ten die Wand auf­ge­stellt, um die Pro­sti­tu­tion aus dem »Sicht­feld der Öffent­lich­keit zu ver­ban­nen«, so eine Kiez-Seite. Es stimmt, dass Frauen für Pro­sti­tu­tion ver­folgt wur­den, doch ging es prak­tisch in ers­ter Linie um staat­li­che Kon­trolle über die Pro­sti­tu­tion und (unver­hei­ra­tete) Frauen. Frauen, die sich regel­mä­ßig unter­su­chen lie­ßen und sich staat­lich orga­ni­siert pro­sti­tu­ier­ten, ent­gin­gen der Ver­fol­gung, wenn­gleich die­ses Arran­ge­ment kein siche­res für die Frauen war.7Vgl. Robert Som­mer: Das KZ-Bordell. Sexu­elle Zwangs­ar­beit in natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, Lei­den: Brill & Schö­ningh, 2009. Die Dar­stel­lung der Pro­sti­tu­tion als sub­ver­sive, quasi eman­zi­pa­to­ri­sche Pra­xis wird durch die wie­der­holte und ver­kürzte mediale Gegen­über­stel­lung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus unter­stützt. Der Freier und die Pro­sti­tu­ierte wer­den so ideo­lo­gisch als Vor­rei­te­rin­nen gegen eine über­kom­mene Sexu­al­mo­ral und für eine befreite Sexua­li­tät verklärt.

Hamburg, die »Puffmama«

Im Juni 2021, einen Tag vor der Abschaf­fung des pan­de­mie­be­ding­ten Ver­bots kör­per­na­her Dienst­leis­tun­gen und damit auch von Pro­sti­tu­tion, demons­trier­ten Frauen aus der Her­bert­straße für die Wieder-Erlaubnis von sexu­el­len Diens­ten unter dem Namen Sexy Auf­stand Ree­per­bahn. Unter ande­rem mit Pla­ka­ten mit der Auf­schrift »Der Staat fickt uns und zahlt nicht« wie­sen die Frauen auf ihre pre­käre Situa­tion, aber auch noch auf etwas ande­res hin: Der Staat bezie­hungs­weise die Stadt Ham­burg nutzt die Frauen für den eige­nen Vor­teil – hat aber letzt­lich die Kon­trolle über sie. Ein paar Monate fand in der Her­bert­straße eine Kunst­aus­stel­lung statt, die an den »Auf­stand« erin­nern sollte. Mit der Aktion wollte man sich u.a. beim Bezirks­amt Ham­burg St. Pauli bedan­ken, das – laut Organisator:innen der Aktion – die Gewerbe in der Her­bert­straße und auf der Ree­per­bahn im Sinne der Wie­der­eröff­nung unter­stützt habe.

Der (Sex-)Tourismus in Ham­burg lebt vom Reiz, den die Her­bert­straße und die Ree­per­bahn aus­üben. Par­al­lel zu den Schrit­ten der Ent­kri­mi­na­li­sie­rung der Pro­sti­tu­tion in Deutsch­land stie­gen die Tourismus-Zahlen in Ham­burg rasant. Wäh­rend die Zahl der Tourist:innen in den neun­zi­ger Jah­ren sta­gnierte, stieg sie seit 2002 um meh­rere Mil­lio­nen an. Ham­burg pro­fi­tiert maß­geb­lich vom Sex­tou­ris­mus als wich­ti­ger öko­no­mi­scher Ein­nah­me­quelle. Der ›kul­tige‹ Kiez und das Ver­spre­chen lust­vol­ler Fri­vo­li­tät und sexu­el­ler Ver­füg­bar­keit von Frauen zie­hen Besucher:innen an. Selbst die­je­ni­gen, die ’nur‹ der Atmo­sphäre der Ree­per­bahn, des Kiezes und des Milieus nach­spü­ren wol­len, brin­gen durch ihre Besu­che Geld in die städ­ti­schen Taschen.

»Für mehr Frem­den­ver­kehr«: Dar­auf kön­nen sich in der Her­bert­straße alle eini­gen. Foto: S. McCann, flickr.

Mit dem boo­men­den (Sex-)Tourismus war Schluss, als vor zwei­ein­halb Jah­ren das Corona-Virus der Pro­sti­tu­tion und Beher­ber­gungs­bran­che für einige Monate den Gar­aus machte. Nicht ganz unei­gen­nüt­zig schei­nen da die Bemü­hun­gen der Stadt- und Bezirks­ver­wal­tung von Ham­burg Mitte, die Pro­sti­tu­ti­ons­ge­werbe wie­der ›in Betrieb‹ zu neh­men. Ein Grup­pen­foto mit Falko Droß­mann, dama­li­ger Bezirks­amts­lei­ter, das groß auf der Home­page der Gruppe Sexy Auf­stand Ree­per­bahn zu fin­den ist, weist auf die nicht unei­gen­nüt­zi­gen Motive des Bezirks hin. Die Brü­che, die staat­li­che sowie städ­ti­sche Poli­ti­ken in Bezug auf sich pro­sti­tu­ie­rende Frauen auf­wei­sen, sind geprägt vom Macht­ver­hält­nis zwi­schen patri­ar­chal orga­ni­sier­ten Kapi­tal­in­ter­es­sen und den in der Regel vul­ner­ablen Frauen, die sich für die Pro­sti­tu­tion ent­schei­den oder in diese hineinrutschen.

Uner­wünscht sind Frauen in der Her­bert­straße offen­sicht­lich nicht. Sie sind sowohl öko­no­mi­sche Grund­lage als auch kul­tu­rel­ler Bestand­teil der Tou­ris­ten­at­trak­tion und der Rituale einer sich selbst ihrer Herr­schaft ver­si­chern­den Männ­lich­keit. Dies gilt aller­dings nur für bestimmte Frauen. Wenn sie selbst als Anbie­te­rin­nen sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen und damit als durch Män­ner kon­su­mier­bare Ware auf­tre­ten, sind sie will­kom­men. Alle ande­ren müs­sen ›drau­ßen blei­ben‹ und sol­len nicht an den Wän­den der Män­ner­bün­de­lei, der kul­tu­rel­len Grund­lage patri­ar­cha­ler Gesell­schaf­ten, rütteln.

Lea Rem­mers

Die Autorin ist femi­nis­ti­sche Sozio­lo­gin und ver­misst in aktu­el­len Debat­ten um Pro­sti­tu­tion den Anspruch, das Bestehende als Aus­druck einer heterosexistisch-kapitalistisch orga­ni­sier­ten Gesell­schaft zu analysieren.

  • 1
    Diese Phrase, die mit der Umwer­tung christlich-konservativer Moral­vor­stel­lun­gen koket­tiert, ist inzwi­schen zum Marketing-Slogan geron­nen und wird auch auf der offi­zi­el­len Tourismus-Webseite der Stadt Ham­burg verwendet.
  • 2
    Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 ver­merkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhäl­ter der Herbertstraßen-Prostituierten hät­ten sich einer Öff­nung für Frauen wider­setzt. Weib­li­che Tou­ris­ten in der No-go-Area, so das Kal­kül, könn­ten das Geschäft vermasseln.«
  • 3
    BMFSFJ: Lebens­si­tua­tion, Sicher­heit und Gesund­heit von Frauen in Deutsch­land. Ergeb­nisse der reprä­sen­ta­ti­ven Unter­su­chung zu Gewalt gegen Frauen in Deutsch­land, S. 26–27. Online unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf.
  • 4
    Vgl. Sven-Axel Måns­son: The man in sexual com­merce, Lund 1988, S. 39. Online unter: https://lucris.lub.lu.se/ws/portalfiles/portal/66114471/1988_2.pdf.
  • 5
    Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Kon­sum sexu­el­ler Dienst­leis­tun­gen, Wies­ba­den: VS Ver­lag für Sozi­al­wis­sen­schaf­ten, 2007.
  • 6
    Vgl. Clau­dine Leg­ar­di­nier: Der ›Freier‹ im Brenn­punkt der Kri­tik, in: Femi­nis­ti­sches Bünd­nis Hei­del­berg (Hg.): Was kos­tet eine Frau? Eine Kri­tik der Pro­sti­tu­tion. Aschaf­fen­burg: Ali­bri Ver­lag 2020, 69–86.
  • 7
    Vgl. Robert Som­mer: Das KZ-Bordell. Sexu­elle Zwangs­ar­beit in natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern, Lei­den: Brill & Schö­ningh, 2009.

Das hanseatische Gesicht des Bestehenden

Das hanseatische Gesicht des Bestehenden

Zwei neue Bücher über Olaf Scholz schrei­ben ihm han­sea­ti­sche Tugen­den zu und emp­feh­len ihn als Ver­wal­ter des neo­li­be­ra­len Sta­tus Quo. Was wirk­lich über Scholz zu sagen wäre, fällt in die­ser staats­jour­na­lis­ti­schen Image­pflege unter den Tisch.

„Frei von Empa­thie“ und „ohne jedes Cha­risma“: Olaf Scholz laut zwei Hof­be­richt­erstat­tern. Foto: privat.

In der reprä­sen­ta­ti­ven bür­ger­li­chen Demo­kra­tie erfül­len poli­ti­sche Eli­ten immer auch eine sym­bo­li­sche Funk­tion. Sie sol­len den Staat bezie­hungs­weise „das Volk“ reprä­sen­tie­ren, den Bürger:innen ein Bild ihres Gemein­we­sens ver­kör­pern. Im Gegen­satz zum könig­li­chen Kör­per, der im Ancien Régime qua Geburt und gött­li­cher Aus­er­wählt­heit unfrag­lich die Ein­heit des Staa­tes sym­bo­li­sierte, müs­sen die wech­seln­den demo­kra­ti­schen Repräsentant:innen sich dem anpas­sen, was die Bevöl­ke­rung sich wünscht und was sie zu akzep­tie­ren bereit ist. Sie müs­sen, zumal in der hoch­gra­dig media­li­sier­ten Demo­kra­tie der Gegen­wart, ihr Image her­stel­len als Pro­jek­ti­ons­flä­che für staats­tra­gende Tugenden.

Ange­sichts der zuneh­men­den Per­so­na­li­sie­rung von Par­tei­po­li­tik ist sol­che Image­pflege ein nicht zu ver­nach­läs­si­gen­der Bestand­teil der Her­stel­lung von poli­ti­scher Hege­mo­nie, also der Zustim­mung der Beherrsch­ten zu ihrer Beherr­schung. Jour­na­lis­ten staats­na­her Medien ver­su­chen von die­ser Not­wen­dig­keit zu pro­fi­tie­ren und über­neh­men dabei unauf­ge­for­dert diese Image­pflege, indem sie die ver­meint­lich bedeut­same „Per­sön­lich­keit“ füh­ren­der Politiker:innen in den Fokus rücken und ihre posi­ti­ven Qua­li­tä­ten beschrei­ben bzw. eben erfinden.

Eben so ist es im Fall Olaf Scholz. Zwar eig­net Scholz sich denk­bar schlecht für Image­pflege, ver­kör­pert er doch der all­ge­mei­nen Wahr­neh­mung nach vor allem Lan­ge­weile. Aber das hin­dert Journalist:innen nicht, die es ja gewohnt sind, aus wenig Mate­rial viel leicht ver­dau­li­chen Text zu machen. Und nun, da er Kanz­ler ist, lässt sich so etwas auch verkaufen.

Bei­spiele die­ser Art von kos­ten­lo­ser PR sind die bei­den bis­her über Olaf Scholz erschie­ne­nen Bücher: „Olaf Scholz: Der Weg zur Macht. Das Por­trät“ (Klar­text, Dezem­ber 2021) vom Chef­re­dak­teur des Ham­bur­ger Abend­blatts, Lars Hai­der, und „Olaf Scholz – Wer ist unser Kanz­ler?“ (S. Fischer, Februar 2022) von Mark Schie­r­itz, wirt­schafts­po­li­ti­scher Kor­re­spon­dent im Haupststadt-Büro der ZEIT.

Natür­lich kön­nen auch Hai­der und Schie­r­itz zu Scholz nichts wirk­lich Inter­es­san­tes berich­ten. Beide Bücher sind bür­ger­li­che bun­des­deut­sche Hof­be­richt­erstat­tung ohne jede Gesell­schafts­kri­tik. Neben Lan­ge­weile kön­nen sie höchs­tens schau­dern las­sen, etwa, wenn Hai­der anbie­dernd erzählt, wie oft er Scholz schon in Hin­ter­grund­ge­sprä­chen oder zu Inter­views getrof­fen habe. Kurz: Sie gehö­ren zu denen, die selbst in 7 lan­gen Leben kei­nen Platz auf der Lese­liste ver­dient hät­ten. Aber es ist inter­es­sant, wel­che Qua­li­tä­ten sie Scholz im Sinne der genann­ten staats­tra­gen­den Image­pflege anzu­dich­ten versuchen.

Bei Hai­der sind Scholz‘ han­sea­ti­sche Qua­li­tä­ten, ins Poli­ti­sche gewen­det, im Kern eine Affir­ma­tion des gegen­wär­ti­gen neo­li­be­ra­len Regimes. Was die Bürger:innen in Scholz sehen sol­len, ist „Kom­pe­tenz“, „Nüch­tern­heit“ und „Erfah­rung“ – also Poli­tik unter dem Dik­tat des tris­ten Rea­lis­mus, streng an den Sach­zwän­gen ori­en­tiert, ohne ver­derb­li­che Uto­pie, Visio­nen (Hel­mut Schmidt ist für Scholz nicht ohne Grund ein „Gigant“) oder auch nur ein erkenn­ba­res Pro­gramm. Sicher, hier darf es auch mal Zuge­ständ­nisse geben – aber was nötig und mög­lich ist und was nicht, das ent­schei­det das Kapi­tal. Er habe „das Geld zusam­men­ge­hal­ten“ und in Ham­burg „gut und solide“ regiert. Natür­lich ist er ein „Macht­mensch“ – denn anders geht es schließ­lich in den Kom­man­do­hö­hen des Staa­tes nicht. Hai­der stellt sich die Bezie­hung zu den Wähler:innen so vor: Sie bestel­len „Füh­rungs­leis­tung“ und Scholz lie­fert sie.

Solch mar­kige Management-Macherrhetorik soll beru­hi­gen, sug­ge­riert sie doch, dass der_die Ein­zelne noch etwas aus­rich­ten kann. Dabei ver­ne­belt sie natür­lich, dass das polit­öko­no­mi­sche Wohl oder Ver­der­ben in kapi­ta­lis­ti­schen Staa­ten kaum von ein­zel­nen Politiker:innen abhängt, selbst von Kanz­lern nicht. Bei Scholz wird nun diese Per­so­na­li­sie­rung der Poli­tik auf einen Kanz­ler gepresst, der sie man­gels nen­nens­wer­ter Per­sön­lich­keit bei­nahe schon ad absur­dum führt. Wer das schlu­cken kann, hofft wohl kaum noch, dass irgend­wer den Irr­sinn die­ser Gesell­schaft doch noch rich­ten könnte. Hai­der offen­bart genau den capi­ta­list rea­lism, den Mark Fisher beschrieb: Es ist nichts Ande­res vor­stell­bar als ein ewi­ges „wei­ter so“, also ist es doch bes­ser, jeman­dem die Sache zu über­las­sen, der genau das und auch nicht mehr will.

Die Per­son Scholz beschreibt Hai­der als „frei von Empa­thie“ und „ohne jedes Cha­risma“. Das ist nicht nega­tiv gemeint, son­dern soll wohl Sach­kennt­nis und Kom­pe­tenz noch ein­mal unter­strei­chen: Scholz hat keine Gefühle, er hat Ahnung. Über sein Leben gibt Scholz wenig preis, aber was man wis­sen kann, lässt ahnen: Er ist genauso lang­wei­lig und durch­schnitt­lich, wie er erscheint. Gebo­ren in Osna­brück in eine Mit­tel­schichts­fa­mi­lie, poli­ti­sche Sozia­li­sie­rung bei den Jusos, Jura­stu­dium, Selbst­stän­dig­keit als Anwalt für Arbeits­recht, SPD-Parteikarriere.

Hai­ders Scholz „arbei­tet hart“, ist „ehr­gei­zig“, man kann ihm ver­trauen, denn „er kann was“. Er ist hart im Neh­men – aber auch hart zu sich selbst. Er stu­diert tage­lang Akten, ohne zu ermü­den. Er ist von sich über­zeugt, aber auch zu Recht. Er hat zwar kein Cha­risma, aber denkt ana­ly­tisch und ist ein „Arbeits­tier“. Er ist höf­lich und nicht arrogant.

Schließ­lich auch noch ein Schuss Sozi­al­de­mo­kra­tie: Er ist ein „Auf­stei­ger, der an soziale Gerech­tig­keit glaubt“, ja, ein „Außen­sei­ter“. Hai­der wid­met gar sein Buch „allen Außen­sei­tern“. Was einen sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Juris­ten mit jahr­zehn­te­lan­ger erfolg­rei­cher Polit­kar­riere zum Außen­sei­ter macht, bleibt frei­lich Hai­ders Geheim­nis. Viel­leicht die Kind­heit in Rahl­stedt? Ähn­lich dünn ist der Ver­such, Scholz als „Femi­nis­ten“ dazu­stel­len. Er hätte sich schon immer für Gleich­be­rech­ti­gung ein­ge­setzt, etwa in der Aus­wahl sei­ner Senator:innen und Minister:innen, und sei all­er­gisch, wenn in Inter­views die Berufs­tä­tig­keit sei­ner Frau in Frage gestellt wird. Fair enough – aber das ist genau die Art Staats­fe­mi­nis­mus, mit dem man heute wirk­lich nir­gendswo mehr Wider­spruch hervorruft.

Jetzt setzt’s aber Respekt: Olaf Scholz im Wahl­kampf 2021. Foto: Michael Lucan CC BY-SA 3.0

Schie­r­itz’ Buch ord­net anders als Hai­ders Mach­werk Scholz auch poli­tisch ein. Dass er schon unter Ger­hard Schrö­der als Gene­ral­se­kre­tär an der Neo­li­be­ra­li­sie­rung der SPD mit­ge­ar­bei­tet hat und die Agenda 2010 flei­ßig ver­tei­digte, wird hier zumin­dest nicht ver­schwie­gen. Ebenso, dass Scholz damals den Begriff „demo­kra­ti­schen Sozia­lis­mus“ aus dem Par­tei­pro­gramm der SPD strei­chen las­sen wollte.

Aber für Schie­r­itz begrün­det das kei­nen Vor­wurf, son­dern für ihn zeigt es, wie „geer­det“ Scholz heute im Ver­gleich zu sei­ner links­ra­di­ka­len Zeit in den 1970ern ist. Vor allem der Anwalts­be­ruf habe ihn zu einem „Mann der Mitte“ gemacht. Auch der von Scholz ver­ant­wor­tete Brech­mit­tel­ein­satz, der 2001 Ach­idi John das Leben kos­tete, kann die­sem Bild nichts anha­ben. Schie­r­itz ver­han­delt den Skan­dal unter fer­ner lie­fen, bei Hai­der taucht er erst gar nicht auf. Scholz ist für Schie­r­itz „den Her­aus­for­de­run­gen des 21. Jahr­hun­derts gewach­sen“, denn er ist kein Ideo­loge, son­dern „je nach den Umstän­den aus­ge­rich­tet“. Er ist ein Ver­hand­ler, „will alle Mei­nun­gen hören“, umgibt sich mit „Leu­ten die etwas bewe­gen wollen“.

Sogar ein biss­chen weni­ger Neo­li­be­ra­lis­mus will er neu­er­dings. Denn statt Leis­tungs­ge­rech­tig­keit wie in der Sozi­al­de­mo­kra­tie des Drit­ten Weges à la Blair und Schrö­der stellt Scholz die „Bei­trags­ge­rech­tig­keit“ in den Mit­tel­punkt. Der Ser­mon vom „Respekt“ ist wohl allen noch aus dem letz­ten Bun­des­tags­wahl­kampf im Ohr. „Respekt“ soll für not­wen­dige Lohn­hier­ar­chien ent­schä­di­gen. „Respekt“ soll es für Erwerbs­ar­beit jeder Art geben, egal ob hoch- oder nied­rig qua­li­fi­ziert. Das aber hat natür­lich nur wenig mit Gerech­tig­keit zu tun. Denn „Respekt“, man ahnt es, ist, was von der Sozi­al­de­mo­kra­tie übrig­bleibt, wenn sie nicht umver­tei­len will. Mit Scholz soll der neo­li­be­rale Wahn­sinn des Bestehen­den huma­ni­siert wer­den. Wie eng begrenzt diese rhe­to­ri­schen Zuge­ständ­nisse sind, zeigt schon jetzt, wie wenig wir uns davon ver­spre­chen dür­fen. Wer Scholz’ Weg in Ham­burg ver­folgt hat, weiß, dass er Ansprü­che auf mehr als „Respekt“ auch abzu­weh­ren weiß: die Law&Order-Rhetorik im Wahl­kampf gegen Schill, die Brech­mit­tel­ein­sätze, sein Ein­satz gegen die Rekom­mu­na­li­sie­rung der Ener­gie­netze und für Olym­pia, die Gefah­ren­ge­biete, seine absurde Ver­leug­nung poli­zei­li­cher Gewalt beim G20-Treffen und jüngst sein beun­ru­hi­gend schlech­tes Gedächt­nis bezüg­lich Kor­rup­tion mit der Warburg-Bank zei­gen, wozu ein ideo­lo­gisch fle­xi­bler Par­tei­sol­dat wie Scholz fähig ist. Scholz ist kein wirk­li­cher Böse­wicht, auto­ri­täre Res­sen­ti­ments und per­sön­li­che Berei­che­rung sind ihm sicher fremd. Aber er ist eben ein typi­scher Sozi­al­de­mo­krat des neo­li­be­ra­len Zeit­al­ters. James Jack­son hat das im Jaco­bin Maga­zin schön zusam­men­ge­fasst: Scholz ver­bin­det höhere Min­dest­löhne mit kapi­tal­freund­li­cher Kli­ma­po­li­tik, Law & Order-Maßnahmen mit dem Kampf gegen Rechts­po­pu­lis­mus. Er steht für „Sta­bi­li­tät statt Vision, Manage­ment statt Trans­for­ma­tion, und wahrt die Inter­es­sen der Mäch­ti­gen – wäh­rend er gerade genug refor­miert, um den Kohle-getriebenen Koloss deut­sche Indus­trie am Lau­fen zu hal­ten.“ Auf Bun­des­ebene setzt Scholz somit fort, was seine Poli­tik als Ers­ter Bür­ger­meis­ter Ham­burgs aus­zeich­nete – und was ihn popu­lär machte. Und wer weiß, viel­leicht räumt die ZEIT ihm nach der nächs­ten Bun­des­tags­wahl ja Hel­mut Schmidts altes Büro frei.

Felix Jacob

Der Autor schrieb auf Untie­fen zuletzt über den Ham­bur­ger Auf­stand 1921.

Ein Ohr für die Forschung

Ein Ohr für die Forschung

Für nur ein Wochen­ende im März war in Ham­burg eine Aus­stel­lung des Künst­lers Ger­rit Frohne-Brinkmann zu sehen. Seine Instal­la­tio­nen waren der Vacanti-Maus gewid­met. Hätte man die­sem skur­ri­len Hybrid­we­sen nur bes­ser gelauscht: Wäh­rend nur wenige Meter ent­fernt die Impfgegner:innen mar­schier­ten, ließ sich von den Mäu­sen etwas von fal­scher Wis­sen­schafts­feind­schaft erfahren.

Detail aus Ger­rit Frohne-Brinkmanns Aus­stel­lung »Ear­mouse«, März 2022. Foto: Hein­rich Holtgreve

1997 ver­öf­fent­lichte eine For­schungs­gruppe aus Mas­sa­chu­setts um den Medi­zi­ner Joseph P. Vacanti die Ergeb­nisse ihrer mehr­jäh­ri­gen For­schung. Dem Team war es gelun­gen, auf dem Rücken von Mäu­sen Knor­pel­ge­webe in Form einer mensch­li­chen Ohr­mu­schel zu züch­ten. Das war eine wis­sen­schaft­li­che, vor allem aber auch eine öffent­li­che Sen­sa­tion: Denn die Ear­mouse, auch unter dem Namen Vacanti-Maus bekannt (es war wohl eine ganze Schar sol­cher Mäuse von­nö­ten, des­halb hat die Maus kei­nen Eigen­na­men wie das Klon­schaf Dolly), bot einen bizar­ren, ja ver­stö­ren­den Anblick.

Unheim­lich und ver­stö­rend war diese Maus, weil da ein nor­mal gro­ßes mensch­li­ches Ohr auf dem Rücken einer klei­nen, nack­ten, rot­äu­gi­gen Maus ›wuchs‹. Die­ses Gewächs, über dem sich die dünne Mau­se­haut spannte, konnte nicht hören, war aber unver­kenn­bar eine hoch­ar­ti­fi­zi­ell geformte mensch­li­che Ohr­mu­schel. Die Maus fun­gierte als Bio­re­ak­tor für die­ses nicht­hö­rende Ohr – ein leben­des Medium, das ein ›Ersatz­teil‹ bis zu sei­ner Ent­nahme spa­zie­ren trägt. Die Ent­nahme des gezüch­te­ten Knor­pel­ge­we­bes ließe sich zwar auch ohne eine Tötung des Medi­ums durch­füh­ren, doch ging es der Vacanti-Maus wie allen ande­ren Labor­mäu­sen auch: Sie wurde ver­braucht bzw. »geop­fert«, wie es in einem Paper der For­schungs­gruppe hieß.[1]

Die Ear­mice und das an ihnen erst­mals erfolg­reich ange­wandte Ver­fah­ren bevöl­kern seit­dem das kol­lek­tive Ima­gi­näre auf der gan­zen Welt. So ließ etwa Stel­arc, ein zypriotisch-australischer Künst­ler, ab 2006 über zehn Jahre lang, von eini­gen Ope­ra­tio­nen beglei­tet, ein lin­kes mensch­li­ches Ohr auf sei­nem Arm wach­sen. Stel­arcs Absicht war es, das Ohr mit dem Inter­net zu ver­bin­den und es so welt­weit ›sen­den‹ zu las­sen, was es an dem Ort ›hört‹, an dem sich sein Medium – der Künst­ler Stel­arc – auf­hält. Auch die­ses knor­pe­lige künst­li­che Ohr konnte natür­lich nicht eigen­stän­dig hören, aber es war mit einem tech­ni­schen Auf­nah­me­ge­rät aus­ge­stat­tet. Das Ohr darum herum war ›nur‹ Kunst.

Der Künst­ler Stel­arc 2011 mit sei­nem künst­li­chen ›drit­ten Ohr‹. Foto: Alt­Sylt Lizenz: CC BY-SA 2.0

Ohrmäuse aus Keramik

25 Jahre nach­dem die Vacanti-Maus zur welt­wei­ten Sen­sa­tion wurde, wid­mete der Ham­bur­ger Künst­ler Ger­rit Frohne-Brinkmann ihr nun eine Aus­stel­lung im Pro­jekt­raum ABC. Benannt nach der gleich­na­mi­gen Straße in der Neu­stadt, ist der Ort ABC – wie so viele Pro­jekt­räume – eine Zwi­schen­raum­nut­zung. Das Gebäude, ein Com­merz­bank-Investment-Piece aus den Neun­zi­gern, passt zeit­lich gut zur Vacanti-Maus. Am 12. und 13. März tum­melte sich dort eine große Fami­lie kera­mi­scher Mäuse auf dem Fuß­bo­den. Sie sind haar­los und rosa wie die nack­ten Vacanti-Mäuse. Und wie die Vacanti-Mäuse tra­gen sie alle ein mensch­li­ches Ohr auf dem Kör­per. Es scheint sie nicht zu stören.

Drei der Mäuse sit­zen in über­gro­ßen Muscheln, kera­mi­schen Fan­ta­sien von Mee­res­schne­cken­ge­häu­sen, an der Wand. Von dort tönt ein wei­ßes Rau­schen. Es sind jedoch nicht die Muscheln, die hier rau­schen, son­dern die Mäuse, bes­ser wohl: die mensch­li­chen Ohr­mu­scheln auf ihren Rücken. Die Mäuse sind ver­ka­belt, so dass sie ent­ge­gen ihrer übli­chen Auf­gabe – und in ent­ge­gen­ge­setz­ter Rich­tung zum ›Ohr‹ auf Stel­arcs Arm – Schall sen­den. Sie emp­fan­gen nichts. Mit der­lei Gangart- und Rich­tungs­wech­seln ist bei Aus­stel­lun­gen des 1990 gebo­re­nen Frohne-Brinkmann, der an der HFBK stu­dierte, stets zu rechnen.

Kera­mi­sche For­men, die stark unter­schnit­tig sind, also nega­tiv, kon­kav nach innen gewölbt, las­sen sich nur mit gro­ßem Geschick model­lie­ren. Das mensch­li­che Ohr ist eine maxi­mal kom­pli­zierte Form, sei es als Skulp­tur oder als gezüch­te­tes Ersatz­ohr (Ohren wer­den, weil sie so kom­pli­ziert zu model­lie­ren sind, mitt­ler­weile tat­säch­lich wie bei Stel­arc an unauf­fäl­li­ger Stelle am Kör­per der Patient:innen nach­wach­sen gelas­sen, nach­dem sie zuvor im Labor initial ange­züch­tet wurden).

Genauso wie das nach­ge­züch­tete gehör­lose Ohr ist auch die Form einer Mee­res­schne­cke nur mühe­voll zu model­lie­ren, eben wegen ihrer Unter­schnit­tig­kei­ten. Als kera­mi­scher Hohl­kör­per erzeugt die Form dann aber zwei­fel­los auch ohne Ver­ka­be­lung und künst­li­che Schall­quelle das bekannte ›Mee­res­rau­schen‹, das man hört, wenn man ein Mee­res­schne­cken­ge­häuse oder eine Muschel an sein Ohr legt. Die­ses Rau­schen ist aller­dings weder die ein­ge­fan­gene Auf­nahme eines Süd­see­ur­laubs noch das akus­tisch ver­stärkte Fließ­ge­räusch des eige­nen Bluts, wie häu­fig ange­nom­men wird. Viel­mehr ent­steht es, weil die Muschel die Umge­bungs­ge­räu­sche auf­nimmt, ver­stärkt und als undif­fe­ren­zier­tes Rau­schen wie­der nach drau­ßen sen­det (also wie­der in umge­kehr­ter Rich­tung zur mensch­li­chen Ohr­mu­schel, die den Schall auf­nimmt und ihn, wenn sie denn hören kann, über das Trom­mel­fell nach innen ans Gehirn weitergibt).

Die Maus als Schnittstelle zwischen Mensch und Natur

Die kera­mi­schen Ohr­mäuse, die in den Mee­res­schne­cken sit­zen und das weiße Rau­schen ver­sen­den, sind über ihre sehr lan­gen Schwänze an die Kabel­age hin­ter der Fuß­leiste ange­schlos­sen. Auch die ande­ren Mäuse haben einen Kabel-Schwanz, bei ihnen ist er aller­dings in nor­ma­ler Mäu­se­länge abge­schnit­ten. Damit erin­nern die Mäuse an eine der wohl wich­tigs­ten Schnitt­stel­len zwi­schen Mensch und Maschine seit der Erfin­dung des Per­so­nal Com­pu­ter: die Com­pu­ter­maus. Zu Earmouse-Zeiten hatte sich die heute auf bei­nahe jedem Schreib­tisch zu fin­dende Funk­tech­no­lo­gie noch nicht durch­ge­setzt. Die meiste Zeit seit ihrer Erfin­dung in den 1960er Jah­ren hat­ten alle Mäuse einen ›Kabel­schwanz‹, und so haben schon die Erfinder:innen der »X‑Y-Positionsanzeige für ein Anzei­ge­sys­tem« (so die Bezeich­nung der Patent­an­mel­dung 1963) sie »Maus« getauft. Wäre sie damals bereits durch eine Funk­ver­bin­dung ohne Schwanz aus­ge­kom­men, hätte man sie ver­mut­lich Hams­ter genannt.

Wäh­rend die Com­pu­ter­maus als Schnitt­stelle zwi­schen Mensch und Maschine dient, bewe­gen sich medi­zi­ni­sche For­schun­gen mit Labor­tie­ren an einer Schnitt­stelle zwi­schen Mensch und Tier. Seit Jahr­zehn­ten forscht die Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin an den Mög­lich­kei­ten, wie Tiere zu Bio­re­ak­to­ren für funk­tio­nie­rende Organe wer­den kön­nen, also wie sie mehr sein kön­nen als Trä­ger tau­ber Ohren aus Knor­pel­zel­len. So tra­gen inzwi­schen spe­zi­elle, gene­tisch mani­pu­lierte Schweine trans­plan­tier­bare Her­zen spa­zie­ren – mit dem im Ver­gleich zur Ohr­maus ent­schei­den­den Unter­schied, dass die­ses Herz zuerst für das Schwein arbei­tet und nicht irgendwo auf sei­nem Rücken als Extra­pos­ten wächst.

Die mit gro­ßer öffent­li­cher Auf­merk­sam­keit ver­folgte Trans­plan­ta­tion eines Schwei­ne­her­zens in einen mensch­li­chen Pati­en­ten am 7. Januar 2022 schien zuerst geglückt zu sein. Zwei Monate nach dem Ein­griff jedoch starb der Mann, der das Implan­tat erhal­ten hatte. Vor­erst ist das Expe­ri­ment also geschei­tert. Den­noch wer­fen der­ar­tige Xeno­trans­plan­ta­tio­nen für die For­schen­den und für die Patient:innen schon jetzt die irrs­ten Fra­gen auf. Nicht zuletzt: Was bedeu­tet es, den Tod eines Säu­ge­tiers zu bil­li­gen, um selbst wei­ter­le­ben zu kön­nen? Anders als bei Men­schen, die einen Organ­spen­de­aus­weis besit­zen, sich im Fall ihres Todes also bereit­erklä­ren Organe abzu­ge­ben, wer­den diese Schweine dezi­diert als Organ­spen­der gezüch­tet. Die an mensch­li­chen Zwe­cken aus­ge­rich­tete Schwei­ne­züch­tung ist dabei kein Skan­dal, sie dient seit Jahr­hun­der­ten der Kotelett- und Wurst­pro­duk­tion. Bemer­kens­wert ist aber der Trans­fer leben­di­ger Organe vom Tier zum Men­schen – nicht als Nah­rung, son­dern als funk­tio­nale Inkor­po­ra­tion eines lebens­wich­ti­gen Organs. In Vor­be­rei­tung der Xeno­trans­plan­ta­tion vom Januar 2022 wur­den etli­che Gesprä­che mit reli­giö­sen Ober­häup­tern diver­ser Kon­fes­sio­nen geführt. Sie alle stell­ten das geret­tete Men­schen­le­ben über das Tierwohl.

Aufklärungsfeindschaft gestern und heute 

Die Ear­mouse des Jah­res 1997 brachte viele erbit­terte Wissenschaftsgegner:innen auf den Plan, die »Got­tes Schöp­fung« in Gefahr sahen. Eine große Anzeige des Tur­ning Point Pro­ject, eines Zusam­men­schlus­ses von mehr als 60 NGOs, warnte mit einem Foto der Ear­mouse vor (roter) Gen­tech­nik und titelte: »Who plays God in the 21st Cen­tury?« Sie sug­ge­rierte fälsch­li­cher­weise, dass die abge­bil­dete Maus gene­tisch modi­fi­ziert sei, und setzte ganz auf den scho­ckie­ren­den Effekt ihres Frankenstein-haften Aus­se­hens. In einem mensch­li­chen Ohr auf dem Rücken einer Maus meinte man den Inbe­griff der zom­bi­fi­ca­tion, der mons­trö­sen Selbst­über­schät­zung der Medi­zin erken­nen zu kön­nen. Auch ohne groß­for­ma­tige Anzei­gen ver­brei­tete sich das Bild der Ear­mouse daher wahn­sin­nig schnell – dank ihrer ver­ka­bel­ten Ver­wand­ten, der Com­pu­ter­maus. Internetnutzer:innen ver­schick­ten das Bild mas­sen­haft und häu­fig gänz­lich dekon­tex­tua­li­siert per E‑Mail.

Eine ver­zerrte Spie­ge­lung durch die Jahr­zehnte zeigt uns eben diese Men­schen heute als soge­nannte »Impfgegner:innen«. Ihnen erscheint das (weiße) Rau­schen des Inter­nets als Rau­schen ihres Bluts, ihres eige­nen, hei­li­gen, gesun­den Kör­pers. Diese Über­zeu­gung ver­sen­den sie, mit einer mitt­ler­weile kabel­lo­sen Com­pu­ter­maus im WWW her­um­kli­ckend, gerne nach außen – nur noch sel­ten via E‑Mail, umso öfter aber in den Echo­kam­mern von Tele­gram-Grup­pen und You­tube-Kanä­len. Sie tun das im Glau­ben, es sei ihr eige­ner Gedanke, der da tönt, dabei sind sie nur eine die Außen­ge­räu­sche ver­stär­kende Hohl­form – leere Muscheln (oder ein­fach Hohlköpfe).

Die Imp­fung wird von die­sen Men­schen abge­lehnt, weil sie in die ein­zel­nen Kör­per ein­dringt. In die­ser Hin­sicht gleicht die Impf­geg­ner­schaft der Ableh­nung von Xeno­trans­plan­ta­tio­nen oder eben der Trans­plan­ta­tion eines auf dem Rücken einer Maus gezüch­te­ten Ohrs. Dabei lässt sich beob­ach­ten, dass der Wider­stand gegen der­ar­tige Ope­ra­tio­nen nicht aus ethi­schen Über­le­gun­gen, aus Sorge um das Tier­wohl erwächst, son­dern aus Angst um die Inte­gri­tät des eige­nen Kör­pers; im Fall der Imp­fun­gen oben­drein abge­mischt mit Sor­gen um Selbst­be­stim­mung, Miss­trauen gegen­über Behör­den und der Sehn­sucht nach einer soli­den Volks‑, also Infek­ti­ons­ge­mein­schaft, die, so die Wunsch­vor­stel­lung, als Herde ins­ge­samt immun wer­den möge. Wir hal­ten uns da lie­ber an die Mäuse: Sie sind zwar durch­aus gesel­lig, aber Her­den­tiere sind sie nicht – ob mit oder ohne Ohr auf dem Rücken. 

Nora Sdun, April 2022

Die Autorin grün­dete vor 18 Jah­ren zusam­men mit Gus­tav Mechlen­burg den Tex­tem Ver­lag. Im Dezem­ber 2016 erschien dort der Band All in, der eine Aus­wahl per­for­ma­ti­ver Arbei­ten Ger­rit Frohne-Brinkmanns dokumentiert.


[1] In Nowo­si­birsk wurde 2013 ein Denk­mal ent­hüllt, das den Labor­mäu­sen und ‑rat­ten, die­sen so unsicht­ba­ren wie uner­müd­li­chen Streiter:innen für Auf­klä­rung und wis­sen­schaft­li­chen Fort­schritt, gewid­met ist.

Was kostet der Spaß?

Was kostet der Spaß?

Der Ham­bur­ger Dom ist belieb­tes Aus­flugs­ziel für kurz­zei­ti­ges Ver­gnü­gen. Der Spaß hat jedoch sei­nen Preis, und den zah­len nicht zuletzt Saisonarbeiter:innen aus dem Aus­land. Die Lokal­presse ver­brei­tet hin­ge­gen das Glücks­ver­spre­chen des größ­ten Volks­fes­tes im Nor­den. Gäbe es nicht bes­sere Ver­wen­dungs­mög­lich­kei­ten für eine Frei­flä­che mit­ten in der Stadt?

Was hin­ter den glit­zern­den Fas­sa­den des Ham­bur­ger Doms liegt, bleibt zumeist im Dun­keln. Foto: privat

Im Früh­jahr und Som­mer des Jah­res 2021 – wie auch bereits im Jahr zuvor – wurde das Hei­li­gen­geist­feld zum tat­säch­li­chen Herz von St. Pauli. Waren die Knei­pen und Clubs noch pan­de­mie­be­dingt geschlos­sen, so fan­den sich des Nachts fei­er­wü­tige Hamburger:innen mit Fla­schen­bier und Sound­sys­tem auf dem Platz ein – zumin­dest solange der Stadt­staat nicht seine Mus­keln spie­len ließ und Was­ser­wer­fer schickte. Tags­über drohte das nicht und so war das Feld häu­fig schon mit­tags Frei­flä­che für spie­lende Kin­der, Skater:innen und Son­nen­ba­dende. Im Juli began­nen dann die ers­ten Schausteller:innen den Platz mit ihren Fahr­ge­schäf­ten für sich zu rekla­mie­ren. Aus der für viele unkom­mer­zi­ell nutz­ba­ren Frei­flä­che wurde die Gated Com­mu­nity eini­ger weni­ger, die den öffent­li­chen Raum kapi­ta­li­sier­ten. »Juhu«, freute sich die BILD, »Frei­tag star­tet end­lich wie­der der Dom!«

Der jen­seits pan­de­mi­scher Lagen drei­mal jähr­lich statt­fin­dende Rie­sen­rum­mel ver­spre­che, so der Arti­kel wei­ter, »Som­mer, Sonne und viel Spaß«. Für alle, die diese Drei­fal­tig­keit der Ver­gnü­gungs­kul­tur schon zuvor auf dem Feld genos­sen hat­ten, waren die anrü­cken­den Schausteller:innen jedoch weni­ger Grund zur Freude. Zwi­schen den nach und nach zusam­men­ge­häm­mer­ten Karus­sells fan­den sich immer wie­der die vor­ma­li­gen Nutzer:innen des Hei­li­gen­geist­fel­des ein – bis der Platz Ende Juli end­gül­tig umzäunt und der Zugang streng kon­trol­liert wurde. Für viele bot sich so in die­sen Juli­wo­chen, quasi als klei­ner Aus­gleich für die genom­mene Flä­che, die Mög­lich­keit eth­no­gra­fi­scher Stu­dien über das Schausteller:innenleben.

Nicht nur in Som­mer­näch­ten begehrt – eine Frei­flä­che mit­ten in der Stadt. Wäh­rend des Coro­na­som­mers 2021 zog das Hei­li­gen­geist­feld gar so viele Men­schen an, dass die Poli­zei regel­mä­ßig die Party unter­brach. Fotos: privat

Amusement und Ausbeutung

Den neu­gie­ri­gen Bli­cken offen­barte sich jedoch nicht jener weit ver­brei­tete Mythos des Fami­li­en­be­triebs im Wohn­wa­gen. Oder wie es nach wie vor im Volks­mund und in der Pres­se­be­richt­erstat­tung heißt: des »fah­ren­den Vol­kes« (des­sen Roman­ti­sie­rung gerade in die­sem Land mit sei­ner Geschichte einige Fra­gen auf­wirft). Der real exis­tie­rende Kapi­ta­lis­mus, des­sen Fas­sade auf dem Ham­bur­ger Dom nicht nur meta­pho­risch glit­zert, zeigte hin­ter den Karus­sell­ku­lis­sen seine nur allzu gern ver­schwie­ge­nen Wider­sprü­che. Um es ein­mal zuzu­spit­zen: Das Ticket für den Ein­tritt ins Schausteller:innenleben ist offen­bar ein Mercedes-SUV; Modell­reihe irgend­et­was mit »G«. Den hohen Anschaf­fungs­preis die­ser Sta­tus­sym­bole erwirt­schaf­ten auch jene Saisonarbeiter:innen, deren Rumä­nisch bei Som­mer­hitze von den halb­fer­ti­gen Ach­ter­bah­nen über den Platz schallte. Schät­zungs­weise 90 Pro­zent der Hilfsarbeiter:innen, die auf deut­schen Jahr­märk­ten und Volks­fes­ten als »bil­lige Arbeits­kräfte« schuf­ten, kom­men aus Rumänien.

Der „Shaker“ – rumä­ni­sche Hilfsarbeiter:innen und Mer­ce­des SUV. Foto: privat

»Jede Menge Spaß auf St. Pauli«, wie es zum nun aus­lau­fen­den Win­ter­dom auf der offi­zi­el­len Seite der Stadt Ham­burg heißt, beruht eben auch auf der Aus­beu­tung impor­tier­ter Arbeits­kraft aus Nied­rig­lohn­län­dern. Das ist an sich wenig ver­wun­der­lich. Auch Amu­se­ment muss unter kapi­ta­lis­ti­schen Ver­hält­nis­sen pro­du­ziert wer­den. Was beim Ham­bur­ger Dom auf­fällt: Gespro­chen wird über diese Ver­hält­nisse höchst ungern.

Mindestlöhne…

Denn wer die Beob­ach­tun­gen zu teu­ren Autos und Saisonarbeiter:innen – sie sind in der Tat nur Beob­ach­tun­gen – bele­gen will, der fin­det nicht viel. In der hie­si­gen Presse und sei­tens der Stadt wird der Dom zumeist beju­belt und seine glit­zernde Fas­sade, der Schein im wahrs­ten Sinne des Wor­tes, als Wahr­heit ein­ge­kauft. Zur Frage nach der Unter­kunft der Saisonarbeiter:innen fin­det sich indes ein mitt­ler­weile fast 20 Jahre alter Arti­kel. Der hat es aller­dings in sich. Das Ham­bur­ger Arbeits­amt war nach der Beschwerde eines rumä­ni­schen Arbei­ters aktiv gewor­den. Der Arbei­ter hatte weni­ger Lohn als ver­ein­bart erhal­ten – musste dafür jedoch mehr Arbeits­zeit ableis­ten (105 Stun­den) als ver­trag­lich ver­ein­bart (40 Stunden). 

Das Amt rückte zur Groß­kon­trolle aus: Dabei konn­ten zwar nur wenige der erwar­te­ten Ver­stöße fest­ge­stellt wer­den, doch sei eine ganz andere Sache scho­ckie­rend gewe­sen. Die Unter­künfte der Arbei­ter erin­ner­ten die Kontrolleur:innen an die »Hal­tung von Tie­ren«. Die mit die­ser Tat­sa­che kon­fron­tier­ten Schausteller:innen nah­men zur Sache keine Stel­lung. Empört war man jedoch, dass das Arbeits­amt kurz vor der Eröff­nung des Volks­fes­tes offen­bar ihren Ruf rui­nie­ren wolle. Und wie­viel ver­die­nen Saisonarbeiter:innen nun? Wenn sie Glück haben, wird ihnen offen­bar der Min­dest­lohn aus­ge­zahlt – einem Spre­cher des Zolls zufolge gibt es hier nur wenige Verstöße.

Viel mehr fin­det sich dann aller­dings auch nicht über die Arbeits­ver­hält­nisse auf dem Ham­bur­ger Dom. Aber auch ein Nicht­be­fund ist ein Befund – die Saisonarbeiter:innen blei­ben unsicht­bar. Dies steht ers­tens im Gegen­satz zu jenen Lebe­we­sen, die Tier­hal­tung im Wort­sinne erlei­den: Für die Dom-Ponys, die dort auf engs­tem Raum trist ihre klei­nen Kreise zie­hen, konn­ten viele ihr Herz erwär­men – sie schaff­ten es etwa ins Wahl­pro­gramm der Grü­nen (S. 133/143) für die Bür­ger­schafts­wahl 2020. Das Pony-Karussell sorge »für Unbe­ha­gen bei den Besucher*innen«, heißt es dort, man wolle die Tier­hal­tung bei Volks­fes­tens abschaf­fen. Zwei­tens steht die Unsicht­bar­keit der Arbeiter:innen im kras­sen Gegen­satz zur Medi­en­prä­senz ihrer Vor­ge­setz­ten. Gerade in Zei­ten der Pan­de­mie, der Bran­che ging es ja in der Tat nicht gut, erfuh­ren die Schausteller:innen viel Auf­merk­sam­keit. Das dabei in Dau­er­schleife gespielte Lamento exis­ten­zi­el­ler Nöte erin­nert bis­wei­len an die Pres­se­ar­beit deut­scher Poli­zei­ge­werk­schaf­ten. Wie schlecht es um die Bran­che tat­säch­lich bestellt ist, ist dabei schwer zu sagen. Kon­krete Zah­len wer­den nicht genannt.

… und Millionenumsätze

Was ver­die­nen also Schausteller:innen? Genau bezif­fern lässt sich dies nicht. Aber: Der Umsatz auf Volks­fest­plät­zen, so eine Stu­die des Deut­schen Schau­stel­ler­bun­des aus dem Jahr 2018, lag bei 4,75 Mil­li­ar­den Euro. Wenn nun, wie es besag­ter Stu­die zu ent­neh­men ist, der Win­ter­dom rund zwei und der Som­mer­dom rund zwei­ein­halb Mil­lio­nen Besucher:innen anzog – wohl­ge­merkt: vor Corona – und diese im Schnitt 25 Euro aus­ga­ben, so lag der Umsatz der Fahr­ge­schäfte und Buden des Doms zwi­schen 50 und 62,5 Mil­lio­nen Euro. Was davon tat­säch­lich als Gewinn bei den Betrie­ben hän­gen­bleibt, ist eben­falls unklar. Der eth­no­gra­fi­sche Blick und der sich ihm zei­gende Fuhr­park der Schausteller:innen – die Mercedes-SUVs – las­sen jedoch ver­mu­ten, dass es zum Leben reicht.

Der­zeit neigt sich der Win­ter­dom dem Ende zu. Folgt man der Ham­bur­ger Mor­gen­post, dann war diese Aus­gabe des Volks­fes­tes die »wich­tigste aller Zei­ten«. Denn »selbst im Krieg« hät­ten die Schausteller:innen mehr ver­dient als wäh­rend der Corona-Lockdowns. Es geht also – mal wie­der – um die Exis­tenz. Wäh­rend Mopo und Co. ihre Leser:innen dazu auf­ru­fen, mit ihrem soli­da­ri­schen Besuch das Bestehen des Doms zu sichern, hätte so manche:r Anwohner:in womög­lich nichts dage­gen, wenn es der letzte Dom wäre. Die dann ganz­jäh­rig freie Flä­che (von Events wie dem »Schla­ger­move« ein­mal abge­se­hen, der doch bitte noch drin­gen­der der Pan­de­mie zum Opfer fal­len soll) haben die Hamburger:innen ja schon für sich zu nut­zen gelernt.

Johan­nes Rad­c­zinski, Dezem­ber 2021

Der eth­no­gra­fi­sche Blick auf das Leben von Schausteller:innen offen­barte sich dem Autor, der das Hei­li­gen­geist­feld im Som­mer 2021 fast täg­lich nutzte, eher unfrei­wil­lig. Zuletzt schrieb er auf Untie­fen über das nur einen Stein­wurf vom Dom ent­fernte Bis­marck­denk­mal.

Auf Affirmation getrimmt

Auf Affirmation getrimmt

Die Szene Ham­burg ist in die­ser Stadt eine Insti­tu­tion. Seit bald 50 Jah­ren erscheint das Stadt­ma­ga­zin monat­lich. Es ver­stand sich nie als Teil einer Gegen­öf­fent­lich­keit, lie­ferte aber den­noch mit­un­ter kri­ti­schen Jour­na­lis­mus. Heute, eine Insol­venz und meh­rere Eigen­tü­mer­wech­sel spä­ter, ist es kaum mehr als ein Anzei­gen­blatt. Wir haben uns das November-Heft angeschaut.

Dickie war noch ein Kind, als er die Szene »quasi im Allein­gang erfun­den« hat. Foto: Youtube-Screenshot

Aus dem seit 2013 in eini­gen Ham­bur­ger Pro­gramm­ki­nos lau­fen­den Wer­be­spot zum vier­zigs­ten Jubi­läum der Szene Ham­burg wis­sen wir: Die Idee für diese Zeit­schrift hatte Dickie Schu­bert, Betrei­ber des Inter­net­ca­fés Surf n’ Schlurf im Schan­zen­vier­tel und einer der Grün­der der Band Frak­tus. Dickie hatte sich auf »so ’nem  klei­nen Schmier­zet­tel« seine genia­len Ein­fälle notiert: »ver­schie­dene Rubri­ken wie zum Bei­spiel, was ich gut finde – Mode, Musik, Essen und so«. Dann aber ent­wen­de­ten »die Leute von der Szene« den Zet­tel – und bau­ten auf ihm das Kon­zept ihres Stadt­ma­ga­zins auf. So jeden­falls geht der von Rocko Scha­moni und Regis­seur Chris­tian Hor­nung (»Man­che hat­ten Kro­ko­dile«) prä­sen­tierte Mythos. 

Tat­säch­lich wurde die Szene Ham­burg 1973 von Klaus Hei­dorn gegrün­det, der zuvor als Tex­ter in einer Wer­be­agen­tur gear­bei­tet hatte. Ziel war ein Kultur- und Ver­an­stal­tungs­blatt, das den bis dahin ver­nach­läs­sig­ten Bereich zwi­schen eta­blier­tem Kul­tur­be­trieb und lin­ker Sub­kul­tur abdeckt. Er wolle »alle Unter­neh­mungs­lus­ti­gen zwi­schen 14 und 40, in Anzug und Jeans« errei­chen, wird Hei­dorn 1974 vom Spie­gel zitiert. Damit unter­schei­det sich die Szene Ham­burg von den aller­meis­ten ande­ren Stadt­ma­ga­zi­nen in der BRD, die sich häu­fig auch als »Statt­zei­tun­gen« bezeich­ne­ten. Denn egal ob Tip und Zitty in Ber­lin, der Pflas­ter­strand in Frank­furt oder die Stadt­re­vue in Köln, all diese Maga­zine grün­de­ten sich in den sieb­zi­ger Jah­ren als Organe der Gegen­öf­fent­lich­keit. Sie ver­stan­den sich – jeden­falls in ihren Anfangs­zei­ten – als nicht-kommerzielle Frei­räume für kri­ti­schen Jour­na­lis­mus und alter­na­tive Kul­tur und waren unter ande­rem für ihre wil­den Kleinanzeigen-Seiten bekannt.1Eine Samm­lung der kurio­ses­ten Klein­an­zei­gen aus die­sen und ande­ren Maga­zi­nen fin­det sich in Franz-Maria Son­ner (Hg.): Werk­tä­ti­ger sucht üppige Part­ne­rin. Die Szene der 70er Jahre in Klein­an­zei­gen, Antje Kunst­mann Ver­lag: Mün­chen 2005. 

Die Szene Ham­burg hin­ge­gen ver­hehlte nie, dass sie vor allem ein lukra­ti­ves Seg­ment des Anzei­gen­markts erschlie­ßen wollte. Das schloss jour­na­lis­ti­sche Qua­li­tät nicht unbe­dingt aus: Hei­dorn bezeich­nete die Zeit­schrift gerne als »den Spie­gel unter den Stadt­ma­ga­zi­nen«. In einer For­schungs­ar­beit von 1994 wurde der Szene attes­tiert, sie gehöre »zu den intel­lek­tu­ells­ten und geist­reichs­ten Stadt­ma­ga­zi­nen Deutsch­lands«.2 Chris­tian Sei­denabel: Der Wan­del von Stadt­zei­tun­gen. ›Was wider­steht, darf über­le­ben nur, indem es sich ein­glie­dert‹. Rode­rer: Regens­burg 1994, S. 58. René Mar­tens, zeit­wei­lig Redak­ti­ons­lei­ter der Szene schrieb 2015 in der taz: »Was die Szene schrieb, hatte Gewicht im (Sub-)Kulturbetrieb, und das Blatt stand für eine poli­ti­sche Hal­tung, die sich abhob von der der eta­blier­ten Medien in der Stadt.« Und Chris­toph Twi­ckel, von 2000 bis 2003 Chef­re­dak­teur der Szene, meinte: »Die Szene Ham­burg war für viele, die sich nicht nur für Main­stream­kul­tur inter­es­sier­ten, überlebenswichtig.«

Über­le­ben durch Anpassung

Zu die­sem Zeit­punkt, im März 2015, stand die Szene Ham­burg aller­dings kurz vorm Aus, nach­dem sie bereits lange von Krise zu Krise gehan­gelt war: Im Jahr 2000 hatte der laut Twi­ckel »dau­er­be­trun­kene« Hei­dorn, kurz vor dem Kon­kurs ste­hend, die Zeit­schrift ver­kauft und sich das Leben genom­men. 2004 wurde bekannt, dass die Szene sys­te­ma­tisch die Auf­la­ge­zah­len geschönt hatte, und sie wurde an eine Consulting-Firma ver­kauft. 2015 kam dann die zuvor mehr­fach soeben noch ver­hin­derte Insol­venz. Die Szene war damit aber noch nicht Geschichte: Die Ver­mark­tungs­ge­sell­schaft VKM sicherte sich die Namens­rechte und konnte die Szene auf diese Weise »vor dem schein­bar siche­ren Tod […] ret­ten«, wie es auf der Unter­neh­mens­home­page heißt. Inzwi­schen ver­zeich­net das Stadt­ma­ga­zin eine ver­gleichs­weise sta­bile Auf­la­gen­zahl in Höhe von ca. 15.000 ver­kauf­ten Exem­pla­ren, dar­über hin­aus gibt es ein gutes Dut­zend Son­der­hefte, vom »Uni-Extra« bis zum »Sum­mer Guide«.

Mit der Über­nahme durch VKM wurde eine Ent­wick­lung zum Abschluss gebracht, die Twi­ckel zufolge schon län­ger im Gange gewe­sen war. Auf der orga­ni­sa­to­ri­schen Ebene lau­tete sie: weni­ger Lohn, weni­ger feste Mitarbeiter:innen, mehr unbe­zahlte Praktikant:innen.3Die im Impres­sum der Aus­gabe 11/2021 genannte Prak­ti­kan­tin hat tat­säch­lich einen beträcht­li­chen Teil der Bei­träge ver­fasst. Und dass das Schluss­lek­to­rat, wie Twi­ckel berich­tet, schon vor eini­ger Zeit gestri­chen wurde, macht sich auch bemerk­bar: Ein Bei­trag zu den Ham­bur­ger Weih­nachts­märk­ten bricht mit­ten im Satz ab. Die Ent­wick­lung auf der inhalt­li­chen Ebene wird von Twi­ckel mit einer Anek­dote beschrie­ben: »Nach­dem ein Ver­riss des Musi­cals König der Löwen erschie­nen war, stand die kla­gende Anzei­gen­ver­kaufs­lei­te­rin vor mei­nem Schreib­tisch: ›Du setzt unsere Arbeits­plätze aufs Spiel!‹ Die Musi­cal­be­trei­ber hat­ten nach dem Ver­riss sämt­li­che Anzei­gen stor­niert.«4Tat­säch­lich wurde Chris­toph Twi­ckel 2003 wohl vor allem wegen sei­ner unbe­que­men, nicht zu Kom­pro­mis­sen zuguns­ten von Anzeigenkund:innen berei­ten Hal­tung als Chef­re­dak­teur gefeu­ert. Dar­über berich­tete damals unter ande­rem Tino Han­ekamp (Link).

Groß­spu­rig und unscharf: Das Novem­ber­heft der SZENE Ham­burg. Foto: privat

Ein posi­ti­ves Anzeigenumfeld

Der Ver­riss eines Musi­cals der Stage Enter­tain­ment GmbH wäre in der Szene heute undenk­bar. Das zeigt auch ein Blick in die November-Ausgabe. Zwi­schen redak­tio­nel­len Bei­trä­gen und Anzei­gen ist hier kei­ner­lei Wider­spruch zu spü­ren. In der gemein­sam mit dem Ham­bur­ger Sport­bund (HSB) ver­ant­wor­te­ten Sport-Beilage etwa inse­rie­ren alle Sponsoring-Partner des HSB. Zu den Anzeigenkund:innen gehö­ren natür­lich auch die Kul­tur­ein­rich­tun­gen, die im Heft mit Inter­views und Arti­keln bedacht wer­den. Das Mehr! Thea­ter am Groß­markt etwa revan­chiert sich für eine aal­glatte Bespre­chung über sein Harry-Potter-Musical (ein »magi­sches Spek­ta­kel«, das »natür­lich nicht nur etwas für Harry-Potter-Anhänger, son­dern für alle« sei) mit einer ganz­sei­ti­gen Anzeige auf der Rück­seite des Hefts. Und selbst beim Titel­thema »Tod« steht das Anzei­gen­ge­schäft nicht hintan. Redak­tio­nelle Bei­träge zum Bestat­tungs­un­ter­neh­men trost­werk und zu den Erin­ne­rungs­gär­ten, einer öko­lo­gi­schen Bestat­tungs­an­lage, wer­den von Anzei­gen eben­die­ser Unter­neh­men flan­kiert (aber nicht auf der­sel­ben Seite, sonst könnte es ja wie Content-Marketing aus­se­hen). Dass VKM in den Redak­ti­ons­räu­men der Szene auch »einige Handelskammer-Magazine« pro­du­ziert, ist ein Sinn­bild dafür, wie sym­bio­tisch die Bezie­hung zwi­schen der Zeit­schrift und ihren Anzeigenkund:innen ist.5Gera­dezu gro­tesk wirkt ange­sichts die­ses offen­kun­di­gen quid-pro-quo-Prin­zips ein bier­erns­tes Plä­doyer für die Presse des Redak­teurs Marco Arel­lano Gomes, das im August 2020 in der Szene erschien. »Die Welt droht eine zu wer­den, in der das Ich mehr zählt als das Wir«, klagt der Autor ange­sichts von Social Media und Con­tent Mar­ke­ting, und for­dert die Ein­hal­tung der »jour­na­lis­ti­schen Grund­re­geln«, zu denen auch gehöre, »Bei­träge nicht im Aus­tausch gegen Anzei­gen­bu­chun­gen [zu] lan­cie­ren«. Ob er wohl mal eine Aus­gabe der Szene in der Hand gehabt hat?

Anzeige im Novem­ber­heft: „Dein Leben ver­dient ein happy END…!“ – Und was ist mit der Szene? Foto: privat

Selbst­ver­ständ­lich hat die Szene auch zahl­rei­che »Koope­ra­ti­ons­part­ner«, u.a. HVV switch, Lotto Ham­burg und MINI Ham­burg. Die Marke MINI baut hoch­prei­sige Klein­wa­gen und ist Teil der BMW AG, womit sie natür­lich prä­de­sti­niert dafür ist, eine im Nachhaltigkeits-Kostüm daher­kom­mende Online-Veranstaltung »über die Zukunft der Stadt« aus­zu­rich­ten. Mit dabei: Tanya Kumst, Geschäfts­füh­re­rin der Szene Ham­burg, und der Gas­tro­nom Sebas­tian Junge. Moment, ken­nen wir den nicht? Ach ja, der hat den u.a. von MINI Ham­burg gespon­sor­ten »Nach­hal­tig­keits­preis« der Szene gewon­nen, wie wir in der Rubrik »Essen+Trinken« erfah­ren. Er setze sich für eine »wert­schät­zende Genuss­kul­tur« ein, heißt es in der von der Szene ange­führ­ten Begrün­dung: »›Alles grün bei uns!‹ ist hier keine leere Wort­hülse, son­dern geleb­ter All­tag. Bei­spiele gefäl­lig? Sebas­tian Junge bezeich­net sich selbst als Akti­vist für nach­hal­tige sowie umwelt­ge­rechte Genuss­kul­tur und kre­iert mit sei­nem Team hand­ge­machte Gerichte aus regio­na­len Zuta­ten, die von Pro­du­zen­ten stam­men, mit denen das Restau­rant eng und teil­weise freund­schaft­lich ver­bun­den ist.«

Rekla­me­spra­che auf der Höhe der Zeit

Man merkt: Hier sind die Wort­hül­sen nicht leer, son­dern prall gefüllt mit gut ange­dick­tem Dis­kurs­brei. Denn es fin­den sich in der Szene nicht nur die übli­chen Phra­sen vom »schnu­cke­li­gen Café« und vom Ster­ben als dem »letz­ten Stre­cken­ab­schnitt des Lebens« oder tau­to­lo­gi­scher Sprach­müll wie der vom Restau­rant, das durch über­zeu­gende Koch­kunst über­zeugt. Nein, so wie MINI Ham­burg ist auch die Szene auf dem aktu­el­len Stand der Rekla­me­spra­che: Alles hier ist ›nach­hal­tig‹ und ›regio­nal‹, ›divers‹ und ›facet­ten­reich‹. Das ist kein Zufall, kom­men doch viele der Beiträger:innen aus Wer­bung und Mar­ke­ting und schrei­ben daher nicht, son­dern »tex­ten« oder »erstel­len content«.

Einer die­ser Tex­ter schreibt bei­spiels­weise eine lau­nige Glosse über den Tod, die wit­zig sein soll, aber so arm an Witz wie reich an schie­fen Meta­phern ist (»Da nimmt der eine oder andere die Unsterb­lich­keit ein­fach in die eigene Hand, bevor sie kalt ist.«). Am Schluss weiß man zumin­dest, in wel­chem Zustand der Autor die­sen Stuss geschrie­ben hat: »Ich sage: Lebe so, dass deine Stamm­kneipe nach dei­nem Able­ben dicht­ma­chen kann.«

All das heißt nicht, dass das Heft nicht auch man­ches Inter­es­san­tes ent­hält. Ein Bei­trag über den Schrift­stel­ler Mesut Bay­raktar etwa, des­sen Gast­ar­bei­ter­mo­no­loge am 25. Novem­ber am Schau­spiel­haus urauf­ge­führt wur­den, ist zwar eine Gefäl­lig­keits­ar­beit (der Autor des Bei­trags ist wie Bay­raktar Teil des Lite­ra­tur­kol­lek­tivs nous – kon­fron­ta­tive Lite­ra­tur), aber eine lesens­werte; Diver­si­tät ist in dem Heft, etwa bei der Aus­wahl der Interviewpartner:innen, mehr als nur eine Phrase; und die Film­kri­ti­ken (v.a. die­je­ni­gen von Res­sort­lei­ter Marco Arel­lano Gomes) sind trotz ihrer Kürze gehalt­voll und genau.

Auf Affir­ma­tion getrimmt

Wollte man das Heft aber auf einen Nen­ner brin­gen, wäre es ein­deu­tig: Affir­ma­tion. Egal ob es um Gas­tro­no­mie geht oder um den Tod, nichts möchte hier schlechte Laune machen, für Irri­ta­tion oder Zwei­fel sor­gen. Wenn einer der vie­len als ›Inter­view‹ bezeich­ne­ten Wer­be­bei­träge mit einem kur­siv gesetz­ten »(lacht fröh­lich)« endet, ist das für die Stim­mung in die­sem Heft sym­pto­ma­tisch. Auch die Tes­ti­mo­ni­als von drei Hamburger:innen in der Rubrik »SZE­NE­zei­gen« sind weit­ge­hend auf Affir­ma­tion getrimmt. »Für mich ist Ham­burg die schönste Stadt der Welt«, sagt ein­gangs etwa die in Rother­baum auf­ge­wach­sene Nata­scha. Und der Bei­trag von John, der sein Geld als Taxi­fah­rer ver­dient, schließt mit dem Satz: »Manch­mal gucke ich aus dem Fens­ter und sage mir: Du bist im Paradies.«

Um ein gutes Anzei­gen­um­feld dar­zu­stel­len (die Inha­ber­firma ver­spricht »maß­ge­schnei­der­tes Mar­ke­ting in einem pas­sen­den Rah­men«), sen­det die Zeit­schrift stets eine posi­tive ›Mes­sage‹ aus. Damit das gewähr­leis­tet ist, muss manch­mal etwas her­um­ge­wurs­telt wer­den. Etwa wenn die ehe­ma­lige FDP-Landesvorsitzende Katja Suding in der Rubrik »Gude Leude« von ihrem schwie­ri­gen Quer­ein­stieg in die Poli­tik erzählt und davon, »wie ich dann aber auch Fuß gefasst habe und es gut lief, es mir aber nicht so wirk­lich gut ging«. Viel­leicht, denkt man dann, ist die­ser ver­un­glückte Satz nicht nur in sprach­li­cher Hin­sicht cha­rak­te­ris­tisch für diese Zeit­schrift, son­dern auch in inhalt­li­cher: Es läuft gut bei der Szene, sie ver­kauft Hefte und Anzei­gen. Aber misst man sie an ihrem Anspruch, über »gesell­schaft­li­che The­men und stadt­po­li­ti­sche Ent­wick­lun­gen in Ham­burg« zu berich­ten, also jour­na­lis­tisch zu arbei­ten, muss man kon­sta­tie­ren: Es geht ihr nicht so wirk­lich gut.

Lukas Betz­ler

Der Autor freut sich trotz allem jedes Mal wie­der, wenn er den Szene-Wer­be­spot im Kino sieht.


  • 1
    Eine Samm­lung der kurio­ses­ten Klein­an­zei­gen aus die­sen und ande­ren Maga­zi­nen fin­det sich in Franz-Maria Son­ner (Hg.): Werk­tä­ti­ger sucht üppige Part­ne­rin. Die Szene der 70er Jahre in Klein­an­zei­gen, Antje Kunst­mann Ver­lag: Mün­chen 2005. 
  • 2
    Chris­tian Sei­denabel: Der Wan­del von Stadt­zei­tun­gen. ›Was wider­steht, darf über­le­ben nur, indem es sich ein­glie­dert‹. Rode­rer: Regens­burg 1994, S. 58. 
  • 3
    Die im Impres­sum der Aus­gabe 11/2021 genannte Prak­ti­kan­tin hat tat­säch­lich einen beträcht­li­chen Teil der Bei­träge ver­fasst. Und dass das Schluss­lek­to­rat, wie Twi­ckel berich­tet, schon vor eini­ger Zeit gestri­chen wurde, macht sich auch bemerk­bar: Ein Bei­trag zu den Ham­bur­ger Weih­nachts­märk­ten bricht mit­ten im Satz ab.
  • 4
    Tat­säch­lich wurde Chris­toph Twi­ckel 2003 wohl vor allem wegen sei­ner unbe­que­men, nicht zu Kom­pro­mis­sen zuguns­ten von Anzeigenkund:innen berei­ten Hal­tung als Chef­re­dak­teur gefeu­ert. Dar­über berich­tete damals unter ande­rem Tino Han­ekamp (Link).
  • 5
    Gera­dezu gro­tesk wirkt ange­sichts die­ses offen­kun­di­gen quid-pro-quo-Prin­zips ein bier­erns­tes Plä­doyer für die Presse des Redak­teurs Marco Arel­lano Gomes, das im August 2020 in der Szene erschien. »Die Welt droht eine zu wer­den, in der das Ich mehr zählt als das Wir«, klagt der Autor ange­sichts von Social Media und Con­tent Mar­ke­ting, und for­dert die Ein­hal­tung der »jour­na­lis­ti­schen Grund­re­geln«, zu denen auch gehöre, »Bei­träge nicht im Aus­tausch gegen Anzei­gen­bu­chun­gen [zu] lan­cie­ren«. Ob er wohl mal eine Aus­gabe der Szene in der Hand gehabt hat?

»Wanderstraßen der Kultur«

Wootton / fluid, Courtesy The Warburg Institute

»Wanderstraßen der Kultur«

Das Biblio­theks­ge­bäude, in dem der Kunst­his­to­ri­ker Aby War­burg (1866–1929) die letz­ten Jahre sei­nes Lebens forschte, steht immer noch in Ham­burg. Sein Bestand – ca. 60.000 Bände und War­burgs Auf­zeich­nun­gen – konnte 1933 nach Lon­don geret­tet wer­den. Eine Aus­stel­lung bringt War­burgs unvoll­ende­tes Haupt­werk, den Bil­der­at­las Mne­mo­syne, nun zurück.

Wan­der­stras­sen der Kul­tur. Foto: Woot­ton / fluid, Cour­tesy The War­burg Institute

In der Heil­wig­straße 116 befin­det sich in einem ansons­ten unauf­fäl­li­gen Vil­len­vier­tel Ham­burgs an einem Zufluss zur Als­ter gele­gen ein Back­stein­bau, über des­sen Ein­gang der Schrift­zug »Mne­mo­syne« prangt. Dar­über ste­hen an der back­stei­ner­nen Außen­fas­sade die drei Buch­sta­ben K, B und W, als Kür­zel für Kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Biblio­thek Warburg. 

Ihr Bau­herr Aby War­burg, der Pri­vat­ge­lehrte und Spross der bis heute bestehen­den loka­len Ban­kiers­dy­nas­tie, ließ das Gebäude 1926 erbauen, um in ihr seine wach­sende Biblio­thek unter­zu­brin­gen. Mit dem Neu­bau schuf War­burg eine für die dama­lige Zeit neu­ar­tige Insti­tu­tion, deren Inno­va­ti­ons­ge­halt sich sowohl in der infra­struk­tu­rel­len Gestal­tung als auch in der wis­sen­schaft­li­chen Aus­rich­tung nie­der­schlug – Kunst­ge­schichte sollte hier als Kul­tur­ge­schichte, mit­hin als breit ange­legte Kul­tur­wis­sen­schaft betrie­ben werden.

Das Warburg-Haus mit sei­ner auf­wen­dig gestal­te­ten Backstein-Fassade. Foto: © Ajep­bah / Wiki­me­dia Com­mons / Lizenz: CC-BY-SA‑3.0 DE

Der Bilderatlas Mnemosyne

Betritt man das Gebäude, sieht man, dass in den Sturz der Tür zum Biblio­theks­saal ein Wort in grie­chi­schen Let­tern ein­ge­mei­ßelt ist: »ΜΝΕΜΟΣΥΝΗ«. Die­ser Begriff ver­weist auf War­burgs viel beach­te­tes und zugleich unzu­gäng­lichs­tes Werk, das er an die­sem Ort mit sei­nen Mitarbeiter:innen – Ger­trud Bing und Fritz Saxl – schuf: den Bil­der­at­las Mne­mo­syne. Den Begriff der Mne­mo­syne über­nahm War­burg aus der evo­lu­ti­ons­bio­lo­gi­schen For­schung zu Anfang des 20. Jahr­hun­derts. Dort bestan­den bereits Ansätze, etwa durch Richard Semon, zur Über­tra­gung auf die Kul­tur­ge­schichte: Mneme, die grie­chi­sche Muse der Erin­ne­rung, wurde zur Namens­ge­be­rin für die Annahme eines erhal­ten­den Prin­zips erwor­be­ner Eigen­schaf­ten im Bereich der Kul­tur. War­burg knüpfte an diese Annah­men an, die er mit­samt dem Begriff in seine kunst­ge­schicht­li­che Arbeit über­trug. In sei­ner For­schungs­ar­beit wei­tete er damit das Ver­ständ­nis einer her­ge­brach­ten Kunst­ge­schichte aus und über­führte sie in eine breit­an­ge­legte Kulturwissenschaft.

Prä­sen­ta­tion der Bil­der­reihe »Urworte lei­den­schaft­li­cher Gebär­den­spra­che« im Lese­saal der Kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Biblio­thek War­burg. Foto: Cour­tesy The War­burg Institute

Mne­mo­syne bezeich­net nun das Erin­nern als gesam­ten Pro­zess. Mit den Mit­teln der Iko­no­gra­phie ver­suchte War­burg, ein geo­gra­phi­sches sowie the­ma­ti­sches Wan­dern von For­men, Mus­tern und Sti­len durch die Geschichte in Abhän­gig­keit zu den jewei­lig herr­schen­den gesell­schaft­li­chen Zustän­den nach­zu­zeich­nen. Hierzu ent­wi­ckelte er mit sei­nen Mitarbeiter:innen den Bil­der­at­las Mne­mo­syne: Auf ins­ge­samt 63 Tafeln wur­den von War­burg und sei­nen Mitarbeiter:innen auf schwar­zem Grund foto­gra­fi­sche Repro­duk­tio­nen arran­giert. Dabei han­delt es sich um Kunst­werke aus dem Nahen Osten, der euro­päi­schen Antike und der Renais­sance neben zeit­ge­nös­si­schen Zei­tungs­aus­schnit­ten sowie Wer­be­an­zei­gen. Die Tafeln des Bil­der­at­las stel­len das zen­trale Hilfs­mit­tel inner­halb des durch War­burg ent­wi­ckel­ten expe­ri­men­tel­len Ver­fah­rens zur Ver­ge­gen­wär­ti­gung der kul­tur­ge­schicht­li­chen Ent­wick­lung dar. Anhand der foto­gra­fi­schen Repro­duk­tio­nen lässt sich die Über­lie­fe­rung nach­voll­zie­hen – es las­sen sich Pro­zesse des Erin­nerns anhand der Wan­de­rung durch die Kul­tur­ge­schichte sowohl visu­ell dar­stel­len als auch nach­voll­zie­hen. Zeit­ge­nös­sisch aus­ge­drückt, rich­te­ten sich War­burgs For­schun­gen auf die Ent­wick­lung einer medi­en­theo­re­ti­schen Genea­lo­gie von Bildmotiven.

In den Dienst der Erkun­dung des Erin­ne­rungs­pro­zes­ses stellte War­burg seine in Hamburg-Eppendorf gele­gene kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Biblio­thek. Nach War­burgs Tod im Herbst 1929 von sei­nen Mitarbeiter:innen wei­ter­ge­führt, wur­den die Bestände auf der Flucht vor den Natio­nal­so­zia­lis­ten nach Lon­don ver­schifft. Dabei konnte auch das Mate­rial zu War­burgs letz­tem gro­ßem Pro­jekt, dem Bil­der­at­las, geret­tet wer­den. Zur Erhal­tung des Biblio­theks­be­stands ent­stand in Lon­don das bis heute, auch gegen kos­ten­spa­rende Ein­glie­de­rungs­ver­su­che der Uni­ver­sity of Lon­don, wei­ter­hin bestehende War­burg Insti­tute.

Wiederentdeckung des Bildmaterials

Zu Leb­zei­ten War­burgs nicht mehr abge­schlos­sen und danach mit dem Bestand der KBW von sei­nen Mitarbeiter:innen ins Lon­do­ner Exil ver­schifft, hat­ten die Ori­gi­nal­ab­bil­dun­gen vom Herbst 1929 in ihrer Mehr­zahl über­lebt. Für die Nach­welt kaum nach­voll­zieh­bar, lager­ten die ein­zel­nen Abbil­dun­gen im Bild­ar­chiv des War­burg Insti­tute. Die Wie­der­ent­de­ckung des Bild­ma­te­ri­als und die Ergeb­nisse der Rekon­struk­ti­ons­ar­bei­ten sind der­zeit in einer Aus­stel­lung in der Außen­stelle der Deich­tor­hal­len in der Samm­lung Falcken­berg in Har­burg zu besich­ti­gen. Erst­ma­lig kann damit in Ham­burg der geneig­ten Öffent­lich­keit der Bil­der­at­las voll­stän­dig rekon­stru­iert prä­sen­tiert wer­den, was nicht allein sen­sa­tio­nell ist, son­dern den mehr­fa­chen Besuch lohnt. Besucher:innen kön­nen anhand der ein­zel­nen Tafeln des Atlas das Wan­dern der Bil­der eigen­stän­dig nachverfolgen.

Bil­der­at­las Mne­mo­syne, Tafel 39, rekon­stru­iert von Roberto Ohrt und Axel Heil 2020. Foto: Woot­ton / fluid; Cour­tesy The War­burg Institute

Kura­tiert wurde die Aus­stel­lung von Axel Heil und Roberto Ohrt sowie dem War­burg Insti­tute in Zusam­men­ar­beit mit dem Ber­li­ner Haus der Kul­tu­ren der Welt. Die Aus­stel­lung ist noch bis zum 31. Okto­ber 2021 in der Samm­lung Falcken­berg in Har­burg zu besich­ti­gen. Wei­tere Infor­ma­tio­nen unter gibt es hier.

Wer es bis dahin nicht schafft, den­noch aber ein­mal mehr von dem Ham­bur­ger Kul­tur­wis­sen­schaft­ler und sei­nem Schaf­fen erfah­ren möchte, dem sei die nach­fol­gende Aus­gabe der Deutsch­land­funk Sen­dung Lange Nacht über den Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Aby War­burg anempfohlen.

Fred Stil­ler

Der Autor lebt und lohn­ar­bei­tet in Ham­burg. Er hält die Stadt und ihre Bewohner:innen im Gegen­satz zu ihrer Größe für intel­lek­tu­ell und (sub-)kulturell mit ande­ren Pro­vinz­städ­ten ver­gleich­bar. Den­noch schätzt er die näh­ren­den Brot­kru­men, durch wel­che sich die Stadt vor ande­ren ihrer Größe und Kon­sti­tu­tion auszeichnet.

Welcome to Helmut

Welcome to Helmut

Im Zen­trum Ham­burgs übt sich eine neue Aus­stel­lung der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung in Legen­den­bil­dung. Kann sie den Macher und Macht­po­li­ti­ker Schmidt zu guter Letzt doch noch als »Super­de­mo­kra­ten« prä­sen­tie­ren? Und wie geht sie mit Schmidts Zeit als Offi­zier der Wehr­macht um? Unser Autor hat ihr einen kri­ti­schen Besuch abgestattet. 

Der Ein­gang zur Aus­stel­lung in der Ham­bur­ger Innen­stadt: Wel­come to Hel­mut! Foto: privat

Mit pan­de­mie­be­dingt sie­ben­mo­na­ti­ger Ver­spä­tung wurde am 19. Juni 2021 die Dau­er­aus­stel­lung zu Ehren des fünf­ten Bun­des­kanz­lers der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land in den Räu­men der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung nahe dem Ham­bur­ger Rat­haus eröff­net. Mit der Aus­stel­lung, die über meh­rere Jahre hier zu sehen sein soll, schrei­tet die vom Spiegel-Autor und His­to­ri­ker Klaus Wieg­refe bereits im Zuge der Grün­dung der Stif­tung befürch­tete »Schmid­ti­sie­rung der Repu­blik« nun also wei­ter voran. Auch des­halb, weil die Aus­stel­lung an ihrer eige­nen Begriffs­lo­sig­keit schei­tert: Unter dem Titel »Schmidt! Demo­kra­tie leben« will sie den ehe­ma­li­gen Bun­des­kanz­ler als »Super­de­mo­kra­ten« insze­nie­ren, hat aller­dings selbst kei­nen Begriff von Demo­kra­tie. Hätte die Stif­tung sich tat­säch­lich mit dem Demo­kra­tie­ver­ständ­nis Schmidts aus­ein­an­der­ge­setzt, würde sie wohl kaum noch von ihm als »Vor­den­ker« spre­chen kön­nen. Von einer kri­ti­schen wis­sen­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung mit der Per­son ist diese Aus­stel­lung so weit ent­fernt, wie es Hel­mut Schmidt von einem Dasein als Intel­lek­tu­el­ler war.

In nur einem Raum mit einer Größe von circa 200 Qua­drat­me­tern wer­den Leben und Wir­ken Schmidts dar­ge­stellt. Wei­ter­hin wirft die Aus­stel­lung ein­zelne Schlag­lich­ter auf The­men, die nach Ansicht der Stif­tung inner­halb der west­deut­schen Gesell­schaft wäh­rend der Kanz­ler­schaft Schmidts (1974–1982) an Rele­vanz gewan­nen. Ein ambi­tio­nier­tes Vor­ha­ben! Denn viel Platz ist das nicht für die Geschichte des 20. Jahr­hun­derts und Schmidts Rolle darin: Eine nuan­cierte und detail­lierte Ver­hand­lung der The­men wurde so von vorn­her­ein aus­ge­schlos­sen. Geglie­dert ist die Aus­stel­lung in drei chro­no­lo­gisch ange­ord­nete Berei­che – das Leben vor der Kanz­ler­schaft, die Kanz­ler­schaft und die Zeit danach. Diese Berei­che heben sich visu­ell nicht von­ein­an­der ab, son­dern wer­den jeweils durch Text­ta­feln ein­ge­lei­tet. Die Unter­ka­te­go­rien, wie etwa Kind­heit und Jugend, die RAF oder Pro­test gegen die Atom­kraft, wer­den wie­derum durch Groß­fo­to­gra­fien – dar­auf jeweils Zitate Schmidts – und soge­nannte The­men­ti­sche geglie­dert. Die ins­ge­samt acht Jahre Kanz­ler­schaft neh­men dabei fast die Hälfte des Rau­mes ein und bil­den den inhalt­li­chen Schwer­punkt der Ausstellung.

100 Jahre Deutschland – 100 Jahre Helmut Schmidt

Bevor nun ein Blick in die Aus­stel­lungs­räume gewor­fen wird, ist es wich­tig, den Titel – »Demo­kra­tie leben« – zu kon­tex­tua­li­sie­ren. Denn die­ser gibt nicht nur die Marsch­rich­tung der Aus­stel­lung vor. Er sagt uns, wie wir uns an Schmidt erin­nern sol­len. Neben dem Hin­weis auf sein lan­ges Leben, immer­hin wurde er 96 Jahre alt, lau­tet die Bot­schaft: Hel­mut Schmidt war ein auf­rech­ter Demo­krat, der von der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie nicht nur über­zeugt war, son­dern diese wirk­lich »gelebt« habe. Die Aus­stel­lung erin­nert an und ehrt also auf eine emo­tio­nale Weise einen »Super­de­mo­kra­ten«. Warum die Aus­stel­lung die­sem Titel zwangs­läu­fig nicht gerecht wer­den kann, hängt mit dem hier nor­ma­tiv ver­wen­de­ten, nicht näher defi­nier­ten Demo­kra­tie­be­griff zusam­men, der neben der Per­son das bestim­mende Thema die­ser Aus­stel­lung zu sein scheint.

Wer war also Hel­mut Schmidt? Den jün­ge­ren Men­schen in der Bun­des­re­pu­blik ist er wohl als ket­ten­rau­chen­der Welt­erklä­rer in Erin­ne­rung. Schmidt hatte für alles eine Ant­wort und saß vor­nehm­lich alleine in Talk­shows, damit es bloß kei­nen Wider­spruch gab. Den Hamburger:innen mag er noch als »Herr der Flut« in Erin­ne­rung sein. Ein Mythos, an dem viele Medien und Schmidt selbst bis zu sei­nem Tod gear­bei­tet haben: Das Bild des »Machers«, der »Kri­sen­ma­na­ger«, der nicht lange schnackt, son­dern ein­fach das Rich­tige macht – und dem dabei auch mal das Grund­ge­setz egal ist. Die­ses Bild des »Machers« ist wohl das bestän­digste Erbe des 2015 Ver­stor­be­nen. Doch sei dies, so möchte die Aus­stel­lung zei­gen, zu kurz gegrif­fen. Denn natür­lich war er viel mehr: Ein Euro­päer, Prag­ma­ti­ker und Real­po­li­ti­ker, der für sein »oft weit­sich­ti­ges Han­deln im Kon­text gro­ßer inter­na­tio­na­ler Her­aus­for­de­run­gen« bekannt sei, wie es im Ein­füh­rungs­text heißt – Kri­sen­ma­na­ger, aber weltweit.

Die Wehrmacht und der Schlussstrich

Die Groß­fo­to­gra­fien sind das alles bestim­mende visu­elle Ele­ment der Aus­stel­lung. Dies lässt eine Per­spek­tive auf Hel­mut Schmidt zu, die sicher nicht im Sinne der Ausstellungsmacher:innen war. So fällt – noch bevor der eigent­li­che Aus­stel­lungs­raum betre­ten wer­den kann – ein Foto Schmidts ins Auge, das ihn im Jahr 1940 in der Uni­form der deut­schen Luft­waffe als Leut­nant der Reserve zeigt. Schmidt war Offi­zier, wurde im Laufe des Krie­ges Ober­leut­nant. An der Ost­front ein­ge­setzt, war er unter ande­rem an der Bela­ge­rung von Lenin­grad und womög­lich auch an Kriegs­ver­bre­chen betei­ligt. Nach­wei­sen konnte man ihm das nie, doch seine Selbst­ver­tei­di­gung, die bis zu der Behaup­tung reichte, er sei sogar ein Geg­ner der Nazis gewe­sen, war schon immer unglaub­wür­dig. Selbst­re­dend habe er auch von der Shoah kei­ner­lei Kennt­nis gehabt – dabei reiste er als Aus­bil­der in »Kriegs­schu­len« quer durch das Deut­sche Reich und die im Krieg besetz­ten Gebiete. Wenige Meter hin­ter die­ser Foto­gra­fie fin­det sich eine wei­tere, dies­mal von sei­ner Ver­ei­di­gung zum Bun­des­kanz­ler 1974. Von der Wehr­macht ins Kanz­ler­amt: eine (west-)deutsche Kar­riere. Eine erfolgs­bio­gra­fi­sche Illu­sion für die Schmidt wohl nur Wil­len – und Ziga­ret­ten – brauchte.

Der erste The­men­tisch zum Wehrmachts-Foto hat es in sich. Er soll das Bild kon­tex­tua­li­sie­ren, kann aber obige Erfolgs­ge­schichte kaum mehr ein­fan­gen. Auf die ekla­tan­ten Erin­ne­rungs­lü­cken Schmidts weist das bereit­ge­stellte Mate­rial zwar hin, aber es steht neben sei­ner Erzäh­lung, als ob es zwei legi­time Sicht­wei­sen wären, die sich gegen­sei­tig die Balance hal­ten. Dar­über hin­aus wird der Begriff der »Pflicht« stark gemacht. Schließ­lich sei es sol­da­ti­sche Pflicht gewe­sen, die Stadt Lenin­grad zu bela­gern. Ein fast schon amü­san­ter Euphe­mis­mus für Mit­läu­fer­tum, wenn es denn nicht so ernst wäre. Ein auf dem The­men­tisch gezeig­ter Film fasst dann die ganze Absur­di­tät zusam­men: Als Schmidt 1977 als ers­ter Kanz­ler über­haupt nach Ausch­witz zu einer Gedenk­feier anreiste, sprach er nicht über die Opfer der Shoah. Deut­sche seien die ers­ten Opfer gewe­sen! Und über­haupt hät­ten die Deut­schen 32 Jahre nach Kriegs­ende damit auch nichts mehr zu schaf­fen. Heute wäre es undenk­bar, so etwas zu sagen – damals war es das auch. Nach dem War­schauer »Knie­fall« von Willy Brandt sie­ben Jahre zuvor waren sol­che Worte aber offen­sicht­lich Bal­sam auf die geschun­dene Seele der (West-)Deutschen.

Es irri­tiert ins­be­son­dere an die­ser Stelle, dass die Stif­tung Schmidts eige­nes Nar­ra­tiv repro­du­ziert und als legi­time Hal­tung dar­stellt. Die­ser Ein­druck ver­stärkt sich durch ein eben­falls an die­sem Tisch gezeig­tes Gespräch, das zur ers­ten »Wehr­machts­aus­stel­lung« im Jahr 1995 im Zeit-Maga­zin abge­druckt wurde. So wollte Schmidt sich diese Aus­stel­lung gar nicht erst anse­hen: wie­der­holt betont er, nichts von den Ver­bre­chen der Wehr­macht an der Ost­front gewusst zu haben, was er bei einer Wie­der­auf­lage des Gesprä­ches noch ein­mal unter­strich. Natür­lich erwar­tet nun nie­mand in die­ser Aus­stel­lung eine fun­da­men­tale Kri­tik an der Per­son Schmidts oder eine Ana­lyse sei­ner nicht halt­ba­ren Ver­tei­di­gungs­stra­te­gie. Mit Begrif­fen wie Ver­nunft oder Nüch­tern­heit, die Schmidt sich selbst attes­tierte und die ihm bis­wei­len attes­tiert wer­den (siehe die ein­schlä­gi­gen Bio­gra­fien), hat das aller­dings wenig zu tun. Denn man könnte doch mei­nen, dass der kan­ti­sche Ver­nunft­be­griff die Fähig­keit zur (Selbst-)Reflexion einschließt.

Kitsch statt Kri­tik: Im Muse­ums­shop kehrt man lie­ber bei Loki und Hel­mut ein als vor der eige­nen Tür. Foto: pri­vat

Der »Herr der Flut« und die wilden 70er

Es folgt – nach der plötz­li­chen Läu­te­rung zum Sozi­al­de­mo­kra­ten 1945 – ein etwas län­ge­rer Abschnitt in Schmidts Leben (1945–1969): Schmidt war ab Dezem­ber 1961 Sena­tor der Poli­zei­be­hörde (ab Juni 1962 Innen­se­na­tor) und nahm vor allem eine pro­mi­nente Rolle in der Nacht der Ham­bur­ger Sturm­flut vom 17. auf den 18. Februar 1962 ein. Immer­hin wird in der Aus­stel­lung nicht mit dem belieb­ten Zitat gear­bei­tet, dass dem Demo­kra­ten so gar nicht zusa­gen würde (das mit dem Grund­ge­setz). Gebro­chen wird der »Macher«-Mythos aller­dings auch nicht, denn das Thema bleibt eine Rand­no­tiz. Diese Mar­gi­na­li­sie­rung ist befremd­lich: Ran­ken sich doch aller­lei Geschich­ten um die­ses Ereignis.

Der Rest der Aus­stel­lung folgt dem bekann­ten Mus­ter. Eine Groß­fo­to­gra­fie zeigt Schmidt und ein Zitat. Auf dem jewei­li­gen The­men­tisch wird die Per­spek­tive etwas gewei­tet, aber nie zu weit: Die Aus­stel­lung wird durch­zo­gen von einer kon­ti­nu­ier­li­chen Dicho­to­mie zwi­schen der Posi­tion und Argu­men­ta­tion Schmidts und dem Rest der Welt. Gebro­chen wird diese per­so­nen­zen­trierte visu­elle Erzäh­lung nur im Bereich der Kanz­ler­schaft Schmidts. Die hier gezeig­ten Foto­gra­fien zei­gen The­men der 1970er und 1980er Jahre: Ein biss­chen Wirt­schafts­krise, RAF, Anti-Atom- und Frie­dens­be­we­gung. Auf den Tischen bleibt jedoch die Her­an­ge­hens­weise: Eine his­to­ri­sche Ein­ord­nung fin­det nicht statt, die Posi­tion Schmidts wird hin­ge­gen als ver­nunft­ge­lei­tet dar­ge­stellt. Im Umkehr­schluss sind es die Gegen­po­si­tio­nen häu­fig nicht. So wird etwa am The­men­tisch »Deut­scher Herbst« erst auf einer unte­ren Film-Ebene von Hans-Jochen Vogel (1974–1981 Jus­tiz­mi­nis­ter im Kabi­nett Schmidt) zuge­ge­ben, dass der Staat eigent­lich nie wirk­lich in Gefahr war. Dabei legi­ti­mierte die­ses Bedro­hungs­sze­na­rio aller­lei Poli­ti­ken und eine Auf­rüs­tung des Poli­zei­ap­pa­rats, die in der Bun­des­re­pu­blik bis dato bei­spiel­los war. Wäh­rend die Rol­len­ver­tei­lung beim RAF-Terrorismus wenig Spiel­raum lässt, ver­hält es sich bei den in den 1970er Jah­ren auf­kom­men­den Neuen Sozia­len Bewe­gun­gen schon anders. Denn hier zeigt sich, wel­chen Demo­kra­tie­be­griff Schmidt pflegte. So konnte er zwar die Anti-AKW-Demonstrationen in Brok­dorf nicht ver­hin­dern, rief aber dazu auf, nicht auf die Straße zu gehen. Auch drohte Schmidt als Kanz­ler mehr­fach mit Rück­tritt, sollte sei­nem Wil­len – Atom­kraft­werke zu bauen – nicht nach­ge­kom­men wer­den. In Schmidts Ver­ständ­nis von Demo­kra­tie war für die Sozia­len Bewe­gun­gen kein Platz. Zuläs­sige, also von ihm aner­kannte Stim­men, gab es nur im Par­la­ment und in sei­ner Par­tei. Doch auch letz­tere und Schmidt ent­frem­de­ten sich im Laufe sei­ner Kanz­ler­schaft zuneh­mend. Ein Span­nungs­ver­hält­nis, dass bis zu sei­nem Tod nicht mehr auf­ge­löst wurde. Dass die Par­tei in der Aus­stel­lung kaum statt­fin­det, scheint fol­ge­rich­tig: Schmidt als über­par­tei­li­cher Len­ker, Den­ker und Welt­erklä­rer. Eine wei­tere Insze­nie­rung Schmidts, die hier unhin­ter­fragt wei­ter­ge­tra­gen wird.

Demokratie und Kritik

Nach­dem auf dem letz­ten Kanz­ler­tisch noch eben die The­men Europa, DDR und die rest­li­che Welt eher wacke­lig abge­han­delt wer­den, beginnt der letzte Bereich, also seine Zeit als Publi­zist und Mit-Herausgeber der Ham­bur­ger Wochen­zei­tung Die Zeit. Es ist jene Lebens­phase, in der Schmidt an sei­ner eige­nen Legende arbei­tete, wie der His­to­ri­ker Axel Schildt 2017 fest­stellte. Mit die­sen Akti­vi­tä­ten schuf Schmidt ein Bild von sich, dem diese Aus­stel­lung wei­test­ge­hend folgt.

Ent­spre­chend wird sich in die­sem Abschnitt auch nicht mit den ras­sis­ti­schen und kul­tu­ra­lis­ti­schen Posi­tio­nen Schmidts aus­ein­an­der­ge­setzt. Dabei sind diese Posi­tio­nen nicht sei­ner spä­ten Seni­li­tät geschul­det – sprach er doch bereit 1992 von einer »Über­schwem­mung« und »Ent­ar­tung« der deut­schen Gesell­schaft –, son­dern las­sen einen roten Faden in Schmidts Poli­tik­ver­ständ­nis erken­nen. Würde die­ser genauer unter­sucht, so würde sich zei­gen, dass sein Welt­bild nicht viel mit Nüch­tern­heit oder Ver­nunft zu tun hat, ja viel­mehr offen­bart sich eine regel­rechte Intel­lek­tu­el­len­feind­lich­keit. Die Mög­lich­keit, auch diese Sei­ten Schmidts zu zei­gen und zu dis­ku­tie­ren, wurde hier nicht genutzt. So kann die Aus­stel­lung einer historisch-kritischen Ein­ord­nung der Per­son nicht gerecht wer­den, eine nüch­terne Per­spek­tive auf den fünf­ten Bun­des­kanz­ler fehlt. Schmidts Poli­tik­ver­ständ­nis blieb ein eli­tä­res und exklu­si­ves. Die Aus­stel­lung folgt wei­test­ge­hend dem Bild Schmidts, das die­ser selbst instal­liert hat: ein über­par­tei­li­cher Super­de­mo­krat und Lotse (Bis­marck lässt grü­ßen!), der die Bun­des­re­pu­blik durch schwere Fahr­was­ser steu­erte und eigent­lich auch immer recht behielt – mit die­ser Dau­er­aus­stel­lung nun auch über sei­nen Tod hinaus.

Lars Engel­hardt, August 2021 

Der Autor ist stu­dier­ter Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und als der­zeit pre­kär Beschäf­tig­ter – unter ande­rem Uber-Fahrer in Teil­zeit – schon län­ger ent­täuscht von den lee­ren Ver­spre­chen der (Ham­bur­ger) Sozi­al­de­mo­kra­tie. Die Stadt Ham­burg, so meint er, ver­dient Aus­stel­lun­gen wie diese. 

Die große Welle vor Hamburg

BIld: Norika Rehfeld

Die große Welle vor Hamburg

Die Elb­phil­har­mo­nie ist nicht nur schnell zum Sym­bol für Ham­burg gewor­den, zum Tou­ris­mus­ma­gne­ten und zur Vor­lage für Hei­mat­kitsch. Sie ist auch der vor­läu­fig krö­nende Abschluss einer Stadt­ent­wick­lung nach polit-ökonomischen Erfor­der­nis­sen. Eine Ent­wick­lung, in der die Herr­schaft des Men­schen über die Natur eine wesent­li­che Rolle spielt.

Anläss­lich der Eröff­nung der Elb­phil­har­mo­nie Anfang 2017 stellte der bel­gi­sche Künst­ler Peter Bug­gen­hout eine 15 Meter hohe Skulp­tur mit dem Titel Babel Varia­tio­nen in den Ham­bur­ger Deich­tor­hal­len aus. Die­ser Bei­trag zur Aus­stel­lung Elb­phil­har­mo­nie Revi­si­ted, bestand aus gro­ßen Polyester- und Stahl­tei­len, die anmu­te­ten, als habe der Künst­ler Sperr­müll gewagt in die Höhe gesta­pelt: ein fra­gi­ler Riese, der den Ein­druck erweckte, jeder­zeit in sich zusam­men­zu­bre­chen. Die raum­grei­fende Skulp­tur kon­tras­tierte die glit­zernde Ästhe­tik des soeben fer­tig­ge­stell­ten, mas­si­ven Kon­zert­hau­ses an der Elbe. Mit dem Titel Babel Varia­tio­nen spielt Bug­gen­hout auf die alt­tes­ta­men­ta­ri­sche Erzäh­lung vom Turm­bau zu Babel (Gen 11,1–9) an und bezieht sie auf die Ham­bur­ger Elbphilharmonie.

Romantisch verklärt statt bestraft

Im 21. Jahr­hun­dert scheint die Erzäh­lung vom Turm­bau zu Babel obso­let: Die Kir­chen in Deutsch­land sind wie leer­ge­fegt und Got­tes­furcht taugt nicht mehr als Mit­tel der Poli­tik. Auch für den Namens­ge­ber des der­zeit höchs­ten Gebäu­des der Erde und gleich­zei­tige Prä­si­den­ten der Ver­ei­nig­ten Ara­bi­schen Emi­rate, Scheich Cha­lifa bin Zayid Al Nahyan blieb eine gött­li­che Strafe bis­her aus. Dem mensch­li­chen Sprach­wirr­war kann heute bequem per Han­dyapp begeg­net wer­den. Wes­halb also ein Kon­zert­haus am Fuße der Elbe zu einem neuen Turm­bau zu Babel erklären? 

In der Selbst­be­schrei­bung der Elb­phil­har­mo­nie heißt es wenig beschei­den, dass »dem tra­di­tio­nel­len Back­stein­so­ckel neues Leben« ein­ge­haucht und dass »das Kon­zert­haus als fun­kelnde Krone oben drauf« gesetzt wor­den sei. Ein Affront, nicht gegen Gott, so doch aber gegen eine dem Men­schen wie über­mäch­tig gegen­über­ste­hende Natur. In der archi­tek­to­ni­schen Ent­wick­lung der Handels- und Hafen­stadt spie­gelt sich viel­mehr das Ver­hält­nis der Men­schen zur Natur wider. Dass es sich dabei um ein durch­weg polit-ökonomisches Herr­schafts­ver­hält­nis han­delt, kann Epo­che für Epo­che nach­ge­zeich­net werden: 

In der Elb­phil­har­mo­nie wird diese Ent­wick­lung gewis­ser­ma­ßen an meh­re­ren Jah­res­rin­gen sicht­bar. Der untere Teil des Kon­zert­hau­ses besteht aus der back­stei­ner­nen Außen­mauer des 1875 errich­te­ten Kai­spei­cher A, der sei­ner­zeit auch Kai­ser­spei­cher genannt wurde. Mit Hilfe von Krä­nen konn­ten die Waren im dama­li­gen Haupt­ha­fen Ham­burgs direkt vom Schiff in das Spei­cher­ge­bäude gehievt wer­den. Das neu­go­ti­sche Spei­cher­ge­bäude wurde im 2. Welt­krieg zer­stört und in den sech­zi­ger Jah­ren in schlich­ter Form wie­der auf­ge­baut. Mit der glo­ba­len Umstel­lung des See­han­dels von Stück­gut auf den Con­tai­ner­fracht­ver­kehr fand der Schiffs­han­del zuneh­mend im rasant wach­sen­den Con­tai­ner­ha­fen statt, der der Stadt süd­west­lich vor­ge­la­gert wurde. In der Folge wurde der Lager­be­trieb im Kai­spei­cher in den neun­zi­ger Jah­ren voll­stän­dig ein­ge­stellt. Der tra­pez­för­mige Grund­riss des ers­ten Kai­spei­chers blieb erhal­ten und die schlichte Kai­mauer bil­det den Sockel des von den Hamburger:innen mitt­ler­weile Elphi genann­ten Baus. Im Ensem­ble mit der angren­zen­den denk­mal­ge­schütz­ten Spei­cher­stadt ist das Große Gras­brook genannte Gebiet, auf dem nun Elb­phil­har­mo­nie und Hafen­city ste­hen, eine roman­ti­sie­rende Remi­nis­zenz an die Geschichte der Han­se­stadt Ham­burg, die sich seit den zwan­zi­ger Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts als Tor zur Welt beschreibt und deren expan­si­ver See­han­del eine große, rei­che Ober­schicht ent­ste­hen ließ.

Der Kampf gegen die erste Natur

Die Ent­wick­lung Ham­burgs zur Metro­pole der See­schiff­fahrt war kei­nes­wegs vor­ge­zeich­net, betrach­tet man die geo­gra­phi­sche Lage und die natür­li­chen Aus­gangs­be­din­gun­gen der Region Ham­burg: Die Stadt lag, salopp gesagt, im Matsch tief im Bin­nen­land zwi­schen Nord- und Ost­see. Die Stadt­ge­schichte ist geprägt von die­ser und wei­te­ren für Land­wirt­schaft und Han­del ungüns­ti­gen Umwelt­be­din­gun­gen, die bis heute mas­sive Ein­griffe durch den Men­schen nach sich ziehen. 

Die Elb­re­gion bestand ursprüng­lich aus frucht­ba­ren, aber dau­er­haft nas­sen Böden, die für eine Bewirt­schaf­tung nicht geeig­net waren. Die vor­neu­zeit­li­chen Siedler:innen der Elb­land­schaft muss­ten sich gegen die Kräfte der Natur weh­ren: Im fla­chen, san­di­gen Fluss­bett der viel­fach ver­zweig­ten Elbe, mit ihren Zuflüs­sen Als­ter und Bille, kämpf­ten sie gegen hohe Grund­was­ser­spie­gel, täg­lich wech­selnde Pegel­stände und dro­hende Sturm­flu­ten. Sie wirk­ten auf die Natur ein, blie­ben ihr aber lange Zeit wei­test­ge­hend aus­ge­lie­fert. Um die Region siche­rer besie­deln und bewirt­schaf­ten zu kön­nen, ent­wi­ckel­ten sie tech­ni­sche Hilfs­mit­tel, zur Steue­rung der Was­ser­mas­sen: Im 12. Jahr­hun­dert instal­lier­ten Siedler:innen eine Unzahl von Ent­wäs­se­rungs­grä­ben und ‑müh­len, leg­ten künst­li­che Erd­hü­gel an, auf denen sie ihre Höfe errich­te­ten, und bau­ten Dei­che, die sie vor den Flu­ten schüt­zen soll­ten. Die heu­ti­gen Kanäle, ja sogar die Elb­in­seln und Flüsse wur­den in Folge der mas­si­ven Umge­stal­tung durch den Men­schen geschaf­fen – sie sind das Resul­tat jahr­hun­der­te­lan­ger Umstruk­tu­rie­run­gen. Zahl­lose Bau­ten wur­den als Wehre zum Schutz vor dem Was­ser der Elbe errich­tet, und zwar sol­cher­art, dass sich zugleich ein öko­no­mi­scher Nut­zen aus der Nähe zum Was­ser zie­hen ließ. Damit wurde der Grund­stein für das Wachs­tum der Ham­bur­ger Wirt­schaft gelegt. 

Wo ein Wille, da ein Wasserweg

Die Ent­wick­lung Ham­burgs zur Welt­han­dels­stadt ist das Ergeb­nis eines Wil­lens­ak­tes basie­rend auf einer öko­no­mi­schen Ent­schei­dung. Die Was­ser­straße Elbe führt zwar in die Nord­see, dies jedoch erst nach vie­len Fluss­ki­lo­me­tern. Gleich­zei­tig liegt Ham­burg in räum­li­cher Nähe zur Ost­see. Nicht trotz, son­dern gerade wegen die­ser Bin­nen­lage konnte die Stadt im 13. Jahr­hun­dert zum ent­schei­den­den Bin­de­glied zwi­schen Nord- und Ost­see auf­stei­gen, indem die Elbe in Rich­tung Nord­see ste­tig aus­ge­baut und in Rich­tung Ost­see eine sichere Stra­ßen­ver­bin­dung geschaf­fen wurde. Die Hanse sicherte sich hierzu Wege­rechte und das Recht, Han­dels­schiffe und Waren auf direk­tem Weg und zoll­frei bis nach Ham­burg zu trans­por­tie­ren – auch durch die Anwen­dung von Waf­fen­ge­walt und rechts­wid­ri­gen Mitteln. 

In dem Wirk­ge­füge zwi­schen Acker­bau, Han­del und Mili­tär wurde Natur als waren­för­mige Res­source best­mög­lich genutzt und als Wirt­schafts­grund­lage opti­miert: Dies bezeu­gen z.B. die Ver­öf­fent­li­chun­gen des Ham­bur­ger Was­ser­bau­di­rek­tors Rein­hart Wolt­man aus dem Jahr 1802. Er schreibt darin: »Inso­fern schiff­bare Kanäle Kunst­werke hydrau­li­scher Archi­tek­tur sind, müs­sen ihre Dimen­sio­nen, und die Grö­ßen ihrer ver­schie­de­nen Theile, in gewis­ser Pro­por­tion zuein­an­der ste­hen, bei wel­cher diese Kanäle die größte Zweck­mä­ßig­keit, Dau­er­haf­tig­keit und Nut­zen errei­chen.«1Wolt­mann, Rein­hard (1802): Bey­träge zur Bau­kunst schiff­ba­rer Kanäle. Mit 6 Kup­fer­ta­feln. Göt­tin­gen, S.165 [online]

Der Kanal gerät in der Vor­stel­lung Wolt­mans zu einem Leis­tungs­trä­ger, des­sen mess­bare Para­me­ter es im öko­no­mi­schen Sinne best­mög­lich zu nut­zen gilt. Die Dop­pel­deu­tig­keit des Begriffs ‘Kunst­werke’ ist bezeich­nend: Es weist nicht nur auf die Künst­lich­keit der Kanäle hin, son­dern unter­streicht gleich­zei­tig die krea­tive und schöp­fe­ri­sche Tätig­keit des Was­ser­bau­ers. Der Begriff ist Aus­druck eines Bestre­bens, die Kräfte der Natur erken­nen und beherr­schen zu wol­len. So wie die tech­no­kra­ti­sche Umfor­mung der Natur die Han­dels­stadt flo­rie­ren ließ, so formte der ver­mehrte Han­del die Archi­tek­tur. Im weit­läu­fi­gen Hafen­be­reich wurde die Nähe zum Was­ser bewusst gesucht: Bau­werke für Han­del und Gewerbe waren eng ver­zahnt mit einem dicht ver­äs­tel­ten Kanal­sys­tem. Den Anfor­de­run­gen ange­passt, wur­den sie z.B. durch Pfahl­grün­dun­gen, damit Mau­ern direkt im Was­ser errich­tet wer­den konn­ten. Andere Bau­werke wie­derum sind eigens zur Beherr­schung der Natur­kräfte ent­stan­den, etwa Schleu­sen und Hochwasser-Schutzanlagen.

Der Kampf gegen die innere Natur

Auch heute noch meint man sich in Ham­burg der Natur erweh­ren zu müs­sen: gegen die äußere, den Men­schen bedro­hende, ebenso wie gegen die innere. Beide gehö­ren jedoch zusam­men und haben ihre Ein­heit im Men­schen. Was sich an der inne­ren nicht beherr­schen lässt, wird auf die äußere pro­ji­ziert und mit den Mit­teln der instru­men­tel­len Ver­nunft und dem fort­schrei­ten­dem tech­ni­schen Ent­wick­lungs­stand immer effi­zi­en­ter den polit-ökonomischen Prä­mis­sen unter­wor­fen. Die teil­weise Auto­no­mie des Men­schen von der äuße­ren Natur führte bis­her nicht zu einer Neu­ge­stal­tung des Ver­hält­nis­ses, son­dern zu einer Fort­schrei­bung unter ideo­lo­gi­schen Vor­zei­chen.2Hierzu aus­führ­lich, siehe: Dirk Leh­mann, Die Ver­ding­li­chung der Natur. Über das Ver­hält­nis von Ver­nunft und die Unmög­lich­keit der Natur­be­herr­schung, in: Phase 2, 33 (Herbst 2009), online: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/die-verdinglichung-der-natur-255/?druck=1 

Weil die Hafen­stadt wach­sen muss, so die Ideo­lo­gie, müs­sen sich die Hamburger:innen gegen die Was­ser­mas­sen stel­len. Die Stadt­mauer aus dem 13. Jahr­hun­dert wurde der zufolge im frü­hen 17. Jahr­hun­dert erwei­tert und durch eine mas­sive stern­för­mige Fes­tungs­an­lage ersetzt, durch die der Personen- wie Waren­ver­kehr kon­trol­liert wer­den konnte. Der Hafen wurde mehr­fach aus­ge­baut und dann in Rich­tung Con­tai­ner­ter­mi­nal ver­la­gert. Das Fluss­bett der Elbe wird seit dem 19. Jahr­hun­dert fort­wäh­rend ver­tieft. All das musste gesche­hen, um den immer grö­ßer wer­den­den Schif­fen gerecht zu wer­den – um wett­be­werbs­fä­hig zu blei­ben. Nach dem gro­ßen Elb­hoch­was­ser von 1962 wur­den die Dei­che wie­der­holt erhöht. Mit die­sen Deich­er­hö­hun­gen »konnte eine hohe Sicher­heit zum Schutz der Bevöl­ke­rung und der Sach­werte erreicht wer­den« schreibt der Lan­des­be­trieb Stra­ßen, Brü­cken und Gewäs­ser (LSBG) im Rah­men sei­ner Neu­er­mitt­lung von 2012 des »Sturm­flut­be­mes­sungs­was­ser­stan­des«. Bevöl­ke­rung und Sach­werte fal­len in die­ser Beschrei­bung in eins – sind glei­cher­ma­ßen Res­source. Der LSBG prognostiziert: 

»Auf­grund des Kli­ma­wan­dels ist jedoch ein wei­te­res Anstei­gen der Was­ser­stände abseh­bar. Daher müs­sen die Anstren­gun­gen für den Küs­ten­schutz wei­ter fort­ge­setzt wer­den, um dro­hen­den Gefah­ren zu begegnen.«

Der Kli­ma­wan­del wird als Grund benannt, dafür, dass Dei­che erhöht, die Elbe ver­tieft und die Dove-Elbe als Aus­weich­flä­che für den Tiden­hub erschlos­sen wer­den müs­sen. In einer Stu­die der Inter­na­tio­na­len Bau­aus­stel­lung von 2009 mit dem bezeich­nen­den Titel Kli­ma­fol­gen­ma­nage­ment hin­ge­gen, wird kein Hehl dar­aus gemacht, dass die Ursa­chen nebst (men­schen­ge­mach­tem) Kli­ma­wan­del in loka­len polit-ökonomischen Ent­schei­dun­gen zu ver­or­ten sind: 

Es sind »die Ver­tie­fung von Elbe und Hafen­be­cken sowie die starre Siche­rung der Ufer, [die] zur Folge [haben], dass die Was­ser­schicht auf einen engen Fließ­raum begrenzt bleibt und sich nicht in die Flä­che, son­dern nur in die Höhe aus­deh­nen kann. Tiden­hub und Sedi­men­ta­tion wer­den auf diese Weise ver­stärkt, folg­lich nimmt auch der Auf­wand für die Aus­bag­ge­rung zu.« 

Die Fol­gen des Kli­ma­wan­dels könn­ten gemäß der Stu­die nur dann aus­ge­gli­chen wer­den, wenn die dyna­mi­sche Schaf­fung von wei­te­rem Schwemm­land – wie die zur­zeit dis­ku­tierte Anbin­dung der Dove-Elbe an das Tiden­ge­wäs­ser –, eine tech­no­lo­gi­sche Regu­lie­rung der Was­ser­ströme und der Bau immer mas­si­ve­rer Hoch­was­ser­schutz­an­la­gen for­ciert wür­den. All diese Maß­nah­men sind eine Reak­tion auf stei­gende Pegel­stände. Sie stel­len nicht in Frage, wes­halb die Elbe und Hafen­be­cken ver­tieft und wes­halb Ufer starr gesi­chert wer­den müs­sen. Der Schutz vor der Natur­ge­walt Was­ser erweist sich als gutes Argu­ment bei der Expan­sion von Stadt und Hafen. Nicht die Pro­duk­ti­ons­weise des Men­schen, son­dern die ihm äußere Natur erscheint als jener Wir­kungs­be­reich, den es tech­nisch zu beherr­schen gilt – qua Klimafolgenmanagement. 

Triumph über die Natur?

Die Archi­tek­tur der Elb­phil­har­mo­nie bringt das Ver­hält­nis von Herr­schern und Beherrsch­tem mit den Mit­teln moder­ner Bau­kunst über­spitzt zum Aus­druck: Der Mensch schafft die sta­bilste und größte aller Wel­len selbst, nicht weil er es muss, son­dern weil er es kann. Vor die­sem Hin­ter­grund wird Bug­gen­houts Skulp­tur mit Ver­weis auf die bibli­sche Erzäh­lung vom Turm­bau zu Babel nach­voll­zieh­bar. Ein tech­nisch hoch kom­ple­xes Orches­ter­ge­bäude bedarf kei­ner Kai­mauer. Es wurde inmit­ten der Elbe erbaut, der Aus­sage fol­gend any­thing goes. »Denn nun wird ihnen nichts mehr ver­wehrt wer­den kön­nen von allem was sie sich vor­ge­nom­men haben zu tun«. Das klingt grö­ßen­wahn­sin­nig, aber immer­hin könne nun jede:r Besucher:in ein »biss­chen Fürst« sein – schwärmt Chris­tian Mar­quart in der Archi­tek­tur­zeit­schrift Bau­welt. Die gigan­ti­schen Bau­kos­ten von 866 Mil­lio­nen Euro recht­fer­tigt das nicht. Auch die Plaza, die man wäh­rend der Öff­nungs­zei­ten der Elb­phil­har­mo­nie gegen ein Ein­tritts­geld von 2,00 Euro pro Besucher:in betre­ten darf, lässt sich schwer­lich als öffent­lich bezeichnen. 

Mar­quart sieht in der wel­len­för­mi­gen Krone ein Bild­zi­tat aus dem berühm­ten Werk Die große Welle vor Kana­gawa des japa­ni­schen Holz­schnei­ders Hoku­sai. Hoku­sais Werk jedoch erweckt Ehr­furcht ange­sichts der gewal­ti­gen Natur. Der 110 Meter hohe sta­ti­sche Wel­len­kamm der Elphi ist hin­ge­gen der­ma­ßen gigan­tisch, dass er die rea­len Was­ser­wo­gen, die die Phil­har­mo­nie umge­ben, ihrer Lächer­lich­keit preis­gibt. Das Bau­werk zwingt dem es umge­ben­den Was­ser ihren instru­men­tel­len Begriff von Natur und Natur­be­herr­schung auf. Eine sol­che Ver­keh­rung ist Aus­druck gesell­schaft­li­cher, und spe­zi­ell der Ham­bur­ger, Ver­hält­nisse. Die Rie­sen­welle bringt diese, wenn auch unfrei­wil­lig, so doch gelun­gen zum Aus­druck. Sie macht sich den Begriff des Was­sers zu eigen und kei­nen Hehl dar­aus, wer hier über die Natur tri­um­phiert. Sie ist eine Kampf­an­sage an die Natur. 

Erste Ent­würfe der Elb­phil­har­mo­nie ent­stan­den 2003 mit dem Ziel, ein neues Wahr­zei­chen für die Stadt zu erschaf­fen. Zu jener Zeit war Ger­hard Schrö­der Bun­des­kanz­ler, Ole von Beust Ham­burgs Ers­ter Bür­ger­meis­ter und in der bun­des­deut­schen Öffent­lich­keit wurde zag­haft begon­nen, über den Klimawan­del zu dis­ku­tie­ren. Das Bewusst­sein dar­über, dass es sich um eine aus­ge­wach­sene Klimakrise han­delt, folgte all­mäh­lich. So ersetzte der Guar­dian z.B. den Begriff cli­mate change durch dras­ti­sche­res Voka­bu­lar.3The Guar­dian, vom 19.10.2019: »We will use lan­guage that reco­g­ni­ses the seve­rity of the cri­sis we’re in. In May 2019, the Guar­dian updated its style guide to intro­duce terms that more accu­ra­tely describe the envi­ron­men­tal cri­ses facing the world, using ›cli­mate emer­gency, cri­sis or break­down‹ and ›glo­bal hea­ting‹ ins­tead of ›cli­mate change‹ and ›glo­bal warm­ing‹. We want to ensure that we are being sci­en­ti­fi­cally pre­cise, while also com­mu­ni­ca­ting cle­arly with rea­ders on the urgency of this issue«. Damit schien sich ein neues Bewusst­sein des Ver­hält­nis­ses von Mensch und Natur zumin­dest anzu­deu­ten, das die bis­he­rige Natur­be­herr­schung irgend­wann ein­mal ablö­sen könnte. Die Elb­phil­har­mo­nie, das tech­nisch per­fekte, hoch­kul­tu­relle Wahr­zei­chen der Stadt Ham­burg, mit inte­grier­tem Park­haus, Hotel und teu­ren Eigen­tums­woh­nun­gen wirkt dage­gen wie eine Trutz­burg der in die­sem Bei­trag nach­ge­zeich­ne­ten Ära. Ihr Bau­stil kann damit als stein­ge­wor­dene Herr­schafts­ar­chi­tek­tur bezeich­net wer­den, errich­tet in einer Zeit, in der eine unbe­herrsch­bare Flut noch nicht vor­stell­bar schien. 

Norika Reh­feld, Mai 2021 

Die Autorin ist Sozi­al­wis­sen­schaft­le­rin, arbei­tet aus Über­zeu­gung nicht im Wis­sen­schafts­be­trieb und fin­det die Kaprio­len, die in der Elb­phil­har­mo­nie zur Opti­mie­rung der Akus­tik geschla­gen wur­den, tat­säch­lich super.

  • 1
    Wolt­mann, Rein­hard (1802): Bey­träge zur Bau­kunst schiff­ba­rer Kanäle. Mit 6 Kup­fer­ta­feln. Göt­tin­gen, S.165 [online]
  • 2
    Hierzu aus­führ­lich, siehe: Dirk Leh­mann, Die Ver­ding­li­chung der Natur. Über das Ver­hält­nis von Ver­nunft und die Unmög­lich­keit der Natur­be­herr­schung, in: Phase 2, 33 (Herbst 2009), online: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/die-verdinglichung-der-natur-255/?druck=1
  • 3
    The Guar­dian, vom 19.10.2019: »We will use lan­guage that reco­g­ni­ses the seve­rity of the cri­sis we’re in. In May 2019, the Guar­dian updated its style guide to intro­duce terms that more accu­ra­tely describe the envi­ron­men­tal cri­ses facing the world, using ›cli­mate emer­gency, cri­sis or break­down‹ and ›glo­bal hea­ting‹ ins­tead of ›cli­mate change‹ and ›glo­bal warm­ing‹. We want to ensure that we are being sci­en­ti­fi­cally pre­cise, while also com­mu­ni­ca­ting cle­arly with rea­ders on the urgency of this issue«.