Volle Pulle enteignen

Volle Pulle enteignen

Der Inves­tor des Hols­ten­are­als ist finan­zi­ell stark ange­schla­gen und steht zudem unter Betrugs­ver­dacht. Jetzt hat die Stadt den Pla­nungs­stopp ver­kün­det. Für die Ent­wick­lung des Quar­tiers auf dem ehe­ma­li­gen Brauerei-Gelände in Altona-Nord ist das eine unver­hoffte Chance. Sie muss unbe­dingt ergrif­fen werden.

Lan­ger Atem: Schon im Februar 2021 gab es Pro­test vor dem Hols­ten­areal. Foto: Rasande Tys­kar, flickr.

»Ist das Kind in den Brun­nen gefal­len?«, wurde Theo Bruns, Teil der Initia­tive Knallt am dolls­ten, Anfang Februar im Hamburg1-Gespräch gefragt. Bruns wei­gerte sich, diese Frage mit ›Ja‹ zu beant­wor­ten, und bekun­dete, wei­ter für die Kom­mu­na­li­sie­rung des Hols­ten­are­als zu kämp­fen. Doch blickte man damals, vor vier Mona­ten, auf die Fak­ten­lage, schien die­ser Kampf nahezu aus­sichts­los zu sein. Im April oder Mai, so der dama­lige Stand, wollte der Bezirk den städ­te­bau­li­chen Ver­trag mit dem Inves­tor, der zur Adler Group gehö­ri­gen Con­sus Real Estate, unter­zeich­nen; Ein­wen­dun­gen gegen den Ver­trag wur­den pau­schal zurück­ge­wie­sen; und dass der Bezirk Altona es als Erfolg ver­kaufte, für 100 der ca. 1200 geplan­ten Woh­nun­gen »preis­ge­dämpfte« Net­to­kalt­mie­ten in Höhe von 12,90 bzw. 14,90 Euro pro m² aus­ge­han­delt zu haben, offen­barte den Unwil­len und die Unfä­hig­keit der poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen, gegen­über dem Inves­tor ernst­haft Stel­lung zu beziehen.

Immobilienspekulant in Schieflage

Doch nun scheint sich die Hart­nä­ckig­keit des Pro­tests von Initia­ti­ven wie Knallt am dolls­ten bezahlt zu machen. Der Mai liegt hin­ter uns und der städ­te­bau­li­che Ver­trag ist immer noch nicht unter­zeich­net. Und dazu wird es wohl so bald auch nicht kom­men, denn der Bezirk Altona hat erklärt, alle Pla­nun­gen auf Eis zu legen. Grund dafür: Die wirt­schaft­li­che Lage des in der Presse gerne als »umstrit­ten« bezeich­ne­ten Inves­tors, der ca. 30.000 Woh­nun­gen besitzt, ist so undurch­sich­tig, dass er die für eine Unter­zeich­nung gefor­derte Finan­zie­rungs­zu­sage einer Bank für das rie­sige Pro­jekt nicht vor­le­gen konnte. Der Kon­zern ist schon län­ger unter Druck, vor allem nach­dem der Inves­tor Fraser Per­ring, der bereits den sys­te­ma­ti­schen Betrug bei Wire­card auf­deckte, im ver­gan­ge­nen Herbst ähn­li­che Vor­würfe gegen die Adler Group erhob. 

Wei­ter zuge­spitzt hat sich die Situa­tion, nach­dem die Wirt­schafts­prü­fungs­ge­sell­schaft KPMG Ende April ein ent­las­ten­des Tes­tat für den Jah­res­ab­schluss des Kon­zerns ver­wei­gerte, wor­auf­hin die Adler-Aktie abstürzte und meh­rere Mit­glie­der des Manage­ments zurück­tra­ten. Das Han­dels­blatt berich­tete Ende Mai zudem von Ermitt­lun­gen der Staats­an­walt­schaft Frank­furt und davon, dass der Finanzaufsichts-Chef Mark Bran­son den Finanz­aus­schuss des Bun­des­tags am 18. Mai eigens in streng gehei­mer Sit­zung über die Vor­würfe gegen Adler informierte.

Wenn nun neues Leben in die Ange­le­gen­heit Hols­ten­quar­tier kommt, ist das also kei­nes­wegs das Ver­dienst der Poli­tik. Der Bezirk Altona näm­lich hat lange immer noch auf Consus/Adler gesetzt und auf der ein­mal getrof­fe­nen Ent­schei­dung beharrt – trotz der immer grö­ße­ren Vor­würfe gegen den Inves­tor. Anstatt das Schei­tern des bis­he­ri­gen Plans ein­zu­be­ken­nen, erklärte die Bezirks­amts­lei­te­rin Ste­fa­nie von Berg noch vor zwei Wochen gegen­über dem Ham­bur­ger Abend­blatt, die Ver­hand­lun­gen lägen »auf Eis«, bis eine Finan­zie­rungs­zu­sage vor­liege: »Wir haben dazu auch keine Frist gesetzt, son­dern war­ten ab.«

Dass nicht alle in der Stadt­po­li­tik so gedul­dig sind, zeigte sich aber Anfang Mai, als der Lan­des­be­trieb Immo­bi­li­en­ma­nage­ment und Grund­ver­mö­gen (LIG) die Con­sus ange­schrie­ben und um Ver­kaufs­ver­hand­lun­gen bat. Aller­dings drängt sich der Ein­druck auf, dass es sich hier um bloße Sym­bol­po­li­tik han­delt. Die Nach­richt führte zu mar­ki­gen Schlag­zei­len wie »Ham­burg macht Ernst: Stadt will Holsten-Quartier kau­fen« (Abend­blatt). Im ›Klein­ge­druck­ten‹ erfuhr man dann aber: Die Stadt würde die Flä­che nur »zu einem ange­mes­se­nen Preis« erwer­ben und nur dann, wenn der Inves­tor über­haupt ver­kau­fen will. Noch am 1. Juni, also nach dem offi­zi­el­len Pla­nungs­stopp, ver­kün­dete Ste­fa­nie von Berg: Wenn die Adler Group das Grund­stück nicht zum Ver­kauf anbiete, »kann auch die Stadt nichts machen«.1Das Ham­bur­ger Abend­blatt schreibt trotz­dem und ent­ge­gen aller Fak­ten von einem »har­ten Kurs« der Stadt »gegen die Adler Group«. 

Kurz: Die Krise bei Adler/Consus hat die Chance eröff­net, doch noch eine öko­lo­gi­sche und soziale Ent­wick­lung des Quar­tiers zu ermög­li­chen, – aber die Ham­bur­ger Poli­tik macht den Ein­druck, damit so gar nicht glück­lich zu sein. Davon könnte man über­rascht sein, hätte man die Slo­gans von Grü­nen (»Für Mie­ten ohne Wahn­sinn«) und SPD (»Wachs­tum ja, aber nicht bei den Mie­ten«) zu den Bür­ger­schafts­wah­len 2020 für bare Münze genom­men. Blickt man aller­dings auf das Vor­ge­hen des SPD-geführten Senats und des unter grü­nem Vor­sitz ste­hen­den Bezirks Altona in Sachen Hols­ten­areal, wird deut­lich: Hier wurde von Beginn an alles unter­las­sen, was die­sen Slo­gans auch nur ein klein wenig Sub­stanz ver­lie­hen hätte.

Hamburger Investorenmonopoly

Das begann schon 2015. Damals ent­schied die Holsten-Brauerei, ihren bis­he­ri­gen Stand­ort an der Hols­ten­straße auf­zu­ge­ben. Der Senat unter dem dama­li­gen Bür­ger­meis­ter Olaf Scholz hätte sein Vor­kaufs­recht nut­zen und das Gelände für ca. 55 Mil­lio­nen Euro kau­fen kön­nen – doch er hat es unter­las­sen (was inzwi­schen selbst die CDU anpran­gert). Statt­des­sen wurde das Gelände höchst­bie­tend ver­kauft, womit ein kaum fass­ba­res Inves­to­ren­mo­no­poly in Gang gesetzt wurde. 150 Mil­lio­nen Euro betrug der anfäng­li­che Kauf­preis der Düs­sel­dor­fer Gerch-Gruppe. Seit­her wurde das Grund­stück vier­mal in soge­nann­ten share deals mit Gewinn wei­ter­ver­kauft – bis Con­sus es schließ­lich 2019 für 320 Mil­lio­nen Euro übernahm. 

Die­ser Bebau­ungs­plan (Stand: Novem­ber 2019) ist jetzt hof­fent­lich Geschichte. Quelle: hamburg.de

Ange­sichts die­ses hor­ren­den Kauf­prei­ses war klar: Um die von einem bör­sen­no­tier­ten Immo­bi­li­en­kon­zern erwar­te­ten Pro­fite zu erwirt­schaf­ten, müsste hier extrem dicht bebaut und extrem teuer ver­kauft bzw. ver­mie­tet wer­den. Zur Ver­deut­li­chung: Nicht-profitorientierte Genos­sen­schaf­ten hat­ten der Kam­pa­gne »So geht Stadt« zufolge für den Erwerb des Grund­stücks maxi­mal 50 Mil­lio­nen Euro gebo­ten, weil sie bei einem höhe­ren Preis keine sozi­al­ver­träg­li­chen Miet­preise mehr mög­lich sahen. Dem­entspre­chend hoch fal­len die nun erwar­te­ten Mie­ten – sowohl für Gewerbe als auch für Woh­nen – aus: Für die frei ver­mie­te­ten zwei Drit­tel der Woh­nun­gen sei mit einer Net­to­kalt­miete von 23 Euro pro m² zu rech­nen, schätzte die Initia­tive Knallt am dolls­ten im Dezem­ber 2021.

Adler: Immobilienspekulation als Geschäftsmodell

Das Hols­ten­areal ist bei wei­tem nicht das ein­zige Pro­jekt der Adler Group. Ins­ge­samt 47 soge­nannte ›Ent­wick­lungs­pro­jekte‹, fünf davon in Ham­burg, hat der Inves­tor aktu­ell am Lau­fen – oder eben nicht. Denn bei der Mehr­zahl der Pro­jekte gibt es aktu­ell keine Bau­fort­schritte. Wie beim Hols­ten­areal, wo kürz­lich zumin­dest lang­sam mit den Abriss­ar­bei­ten begon­nen wurde, eigent­lich aber schon längst hätte gebaut wer­den sol­len, sieht es auch woan­ders aus. In Ber­lin etwa tut sich beim Hoch­haus Ste­glit­zer Krei­sel schon seit Mona­ten nichts – der Roh­bau wirkt wie eine sizi­lia­ni­sche Bau­ruine (und gibt so einen Vor­ge­schmack davon, was mit dem Elb­tower pas­sie­ren könnte). Das brach­lie­gende Neu­län­der Quar­ree in Har­burg hatte Adler letz­tes Jahr an eine dubiose Fonds­ge­sell­schaft mit Sitz auf Guern­sey ver­kauft – und nun vor weni­gen Wochen wie­der zurück­ge­kauft. Der Ver­dacht, dass es sich hier­bei um einen Schein­ver­kauf han­delte, um die Bilan­zen auf­zu­bes­sern, liegt nahe. 

Daran, die erwor­be­nen Grund­stü­cke tat­säch­lich zu bebauen, zeigt der Inves­tor jeden­falls gar kein Inter­esse. Und warum auch: Die Grund­stü­cke stei­gen ange­sichts der immer noch wach­sen­den Immo­bi­li­en­blase suk­zes­sive im Wert, und die zuletzt stark gestie­ge­nen Bau­kos­ten machen das Bauen weni­ger ren­ta­bel. Es über­rascht nicht, dass auch Von­o­via, Deutsch­lands größ­ter Wohn-Immobilienkonzern und Ent­eig­nungs­kan­di­dat Num­mer eins, mit mehr als 20% an der Adler Group betei­ligt ist, und dass ihr Ver­wal­tungs­rats­vor­sit­zende Ste­fan Kirs­ten vor­her CFO bei Von­o­via war.

Viele offene Fragen

Doch wie kann es nun wei­ter­ge­hen? Die Initia­tive Knallt am dolls­ten for­dert die Kom­mu­na­li­sie­rung des Are­als, denn sie wäre die Grund­vor­aus­set­zung dafür, dass dort ein sozia­les, inklu­si­ves, öko­lo­gi­sches Quar­tier ent­ste­hen kann. Damit das mög­lich ist, müsste die Stadt nun eine städ­te­bau­li­che Ent­wick­lungs­maß­nahme nach § 165 Bau­ge­setz­buch für das Hols­ten­areal beschlie­ßen. »Sie ist das wich­tigste Instru­ment, mit dem effek­ti­ver Druck auf den Inves­tor aus­ge­übt wer­den kann. Als ultima ratio schließt sie sogar eine Ent­eig­nung nicht aus«, erklärte Theo Bruns gegen­über Untie­fen. Nur so könnte ver­hin­dert wer­den, dass das Areal ein­fach an den nächs­ten Inves­tor ver­kauft wird. 

Dass das gang­bar ist, zei­gen andere Bei­spiele: In Düs­sel­dorf etwa hat die regie­rende Mehr­heit aus CDU und Grü­nen einen Antrag auf Ein­lei­tung einer städ­te­bau­li­chen Ent­wick­lungs­maß­nahme beschlos­sen – mit Zustim­mung der Links­par­tei und selbst der FDP. In Har­burg sind vor­be­rei­tende Unter­su­chun­gen für die bei­den Adler/Consus-Pro­jekte (neben dem Neu­län­der Quar­ree noch die New York-Hamburger Gum­mi­waa­ren­fa­brik) ein­ge­lei­tet wor­den. Der Bezirk Altona lehnt das­selbe mit der abstru­sen Begrün­dung ab, es han­dele sich beim Hols­ten­areal nicht um einen »Stadt­teil mit her­aus­ge­ho­be­ner Bedeu­tung«. Theo Bruns ver­mu­tet andere Gründe: Neben dem feh­len­den poli­ti­schen Inter­esse und der Wei­ge­rung, Feh­ler ein­zu­ge­ste­hen, vor allem »Man­gel an Cou­rage und Gestal­tungs­wil­len«. Eine städ­te­bau­li­che Ent­wick­lungs­maß­nahme wäre für die Bezirks­ver­wal­tung näm­lich eine äußerst zeit- und arbeits­auf­wen­dige Ange­le­gen­heit. Aber selbst wenn die in Bezirk und Stadt maß­geb­li­chen rot-grünen Mehr­hei­ten sich trotz­dem (und d.h. vor allem wegen des öffent­li­chen Drucks) für solch ein Vor­ge­hen ent­schie­den, blie­ben noch einige offene Fragen.

Die größte wäre natür­lich der Preis: Das Grund­stück steht mitt­ler­weile mit einem Wert von 364 Mil­lio­nen Euro in den Bilan­zen der Adler Group – ein völ­lig unrea­lis­ti­scher, durch Spe­ku­la­tion in die Höhe getrie­be­ner Preis. Knallt am dolls­ten for­dert dage­gen, die Kal­ku­la­tion umzu­dre­hen und einen »sozial ver­träg­li­chen Ver­kehrs­wert« für den Rück­kauf anzu­le­gen. Das heißt, nicht der Grund­stücks­preis soll die Mie­ten bestim­men, son­dern umge­kehrt: Aus­ge­hend von einer ange­streb­ten (Maximal-)Miete soll der Grund­stücks­preis berech­net werden. 

Aber auch die Frage, wie viel Zeit für all das noch bleibt, ist unge­klärt. Adler hat eine Insol­venz der Con­sus Real Estate zwar noch Mitte Mai offi­zi­ell aus­ge­schlos­sen, aber es erscheint nicht unwahr­schein­lich, dass bald ein Insol­venz­ver­fah­ren eröff­net wird. Für eine städ­te­bau­li­che Ent­wick­lungs­maß­nahme wäre es dann wohl zu spät – als Teil der Insol­venz­masse müsste das Hols­ten­areal höchst­bie­tend wei­ter­ver­kauft werden.

Für einen radikalen Neuanfang

Der­weil hat Knallt am dolls­ten gemein­sam mit ande­ren Initia­ti­ven aber schon demons­tra­tiv einen Neu­start ein­ge­läu­tet. Am 25. Mai ver­sam­mel­ten sich dut­zende Teilnehmer:innen vor dem Alto­naer Rat­haus zu einer »Bezirks­ver­samm­lung von unten«. »Adler ist Geschichte, dar­über muss man jetzt nicht mehr reden. Wir kön­nen jetzt einen Schritt wei­ter gehen«, sagte Theo Bruns in einem Rede­bei­trag. Es gehe jetzt darum, das Quar­tier neu zu den­ken und die Bürger:innen an der Pla­nung zu betei­li­gen, so wie das im Falle der Esso-Häuser in St. Pauli mit der Plan­bude prak­ti­ziert wurde und wird.2Frei­lich sind die Esso-Häuser alles andere als ein gutes Bei­spiel für einen gelun­ge­nen Pla­nungs­pro­zess. An ›zu viel Bürger:innenbeteiligung‹ liegt das aber nicht – und es ist eine inter­es­sierte Falsch­be­haup­tung, wenn die Welt das in einem jüngst erschie­ne­nen Arti­kel so dar­stellt. Zu den For­de­run­gen, die am offe­nen Mikro­fon und an den auf­ge­stell­ten Pinn­wän­den gesam­melt wur­den, zäh­len: gerin­gere Ver­dich­tung und Ver­sie­ge­lung, bezahl­bare Mie­ten, mehr bar­rie­re­freie Woh­nun­gen (die aktu­elle Pla­nung sieht sechs (!) roll­stuhl­ge­rechte Woh­nun­gen im gesam­ten Hols­ten­quar­tier vor), Raum für neue Wohn­for­men und die Ver­wen­dung öko­lo­gi­scher Baumaterialien.

Wäh­rend die ›Bezirks­ver­samm­lung von unten‹ vor dem Alto­naer Rat­haus Druck auf die Entscheider:innen auf­baute und Ideen für ein lebens­wer­tes Quar­tier ent­wi­ckelte, unter­nahm die zeit­gleich statt­fin­dende Bezirks­ver­samm­lung im Rat­haus – nichts. Da sich die Situa­tion nicht ver­än­dert habe, gebe es auch nichts zu ent­schei­den. Man scheint dort auf wei­tere Winke des ›Schick­sals‹ (d.h. des Mark­tes) zu war­ten. Dabei gälte es, jetzt umge­hend zu han­deln: den »Cha­os­in­ves­tor« Adler/Consus ent­eig­nen, das Hols­ten­areal ver­ge­sell­schaf­ten und es anschlie­ßend von gemein­wohl­ori­en­tier­ten Genos­sen­schaf­ten und Bau­ge­mein­schaf­ten bebauen las­sen. Die Bewohner:innen Alto­nas hät­ten dafür jeden­falls schon einige Ideen.

Lukas Betz­ler

Der Autor ist Teil der Untie­fen-Redak­tion und schrieb hier bereits über das als Stadt­ma­ga­zin fir­mie­rende Anzei­gen­blatt SZENE Ham­burg.

  • 1
    Das Ham­bur­ger Abend­blatt schreibt trotz­dem und ent­ge­gen aller Fak­ten von einem »har­ten Kurs« der Stadt »gegen die Adler Group«. 
  • 2
    Frei­lich sind die Esso-Häuser alles andere als ein gutes Bei­spiel für einen gelun­ge­nen Pla­nungs­pro­zess. An ›zu viel Bürger:innenbeteiligung‹ liegt das aber nicht – und es ist eine inter­es­sierte Falsch­be­haup­tung, wenn die Welt das in einem jüngst erschie­ne­nen Arti­kel so darstellt.

Ein Ohr für die Forschung

Ein Ohr für die Forschung

Für nur ein Wochen­ende im März war in Ham­burg eine Aus­stel­lung des Künst­lers Ger­rit Frohne-Brinkmann zu sehen. Seine Instal­la­tio­nen waren der Vacanti-Maus gewid­met. Hätte man die­sem skur­ri­len Hybrid­we­sen nur bes­ser gelauscht: Wäh­rend nur wenige Meter ent­fernt die Impfgegner:innen mar­schier­ten, ließ sich von den Mäu­sen etwas von fal­scher Wis­sen­schafts­feind­schaft erfahren.

Detail aus Ger­rit Frohne-Brinkmanns Aus­stel­lung »Ear­mouse«, März 2022. Foto: Hein­rich Holtgreve

1997 ver­öf­fent­lichte eine For­schungs­gruppe aus Mas­sa­chu­setts um den Medi­zi­ner Joseph P. Vacanti die Ergeb­nisse ihrer mehr­jäh­ri­gen For­schung. Dem Team war es gelun­gen, auf dem Rücken von Mäu­sen Knor­pel­ge­webe in Form einer mensch­li­chen Ohr­mu­schel zu züch­ten. Das war eine wis­sen­schaft­li­che, vor allem aber auch eine öffent­li­che Sen­sa­tion: Denn die Ear­mouse, auch unter dem Namen Vacanti-Maus bekannt (es war wohl eine ganze Schar sol­cher Mäuse von­nö­ten, des­halb hat die Maus kei­nen Eigen­na­men wie das Klon­schaf Dolly), bot einen bizar­ren, ja ver­stö­ren­den Anblick.

Unheim­lich und ver­stö­rend war diese Maus, weil da ein nor­mal gro­ßes mensch­li­ches Ohr auf dem Rücken einer klei­nen, nack­ten, rot­äu­gi­gen Maus ›wuchs‹. Die­ses Gewächs, über dem sich die dünne Mau­se­haut spannte, konnte nicht hören, war aber unver­kenn­bar eine hoch­ar­ti­fi­zi­ell geformte mensch­li­che Ohr­mu­schel. Die Maus fun­gierte als Bio­re­ak­tor für die­ses nicht­hö­rende Ohr – ein leben­des Medium, das ein ›Ersatz­teil‹ bis zu sei­ner Ent­nahme spa­zie­ren trägt. Die Ent­nahme des gezüch­te­ten Knor­pel­ge­we­bes ließe sich zwar auch ohne eine Tötung des Medi­ums durch­füh­ren, doch ging es der Vacanti-Maus wie allen ande­ren Labor­mäu­sen auch: Sie wurde ver­braucht bzw. »geop­fert«, wie es in einem Paper der For­schungs­gruppe hieß.[1]

Die Ear­mice und das an ihnen erst­mals erfolg­reich ange­wandte Ver­fah­ren bevöl­kern seit­dem das kol­lek­tive Ima­gi­näre auf der gan­zen Welt. So ließ etwa Stel­arc, ein zypriotisch-australischer Künst­ler, ab 2006 über zehn Jahre lang, von eini­gen Ope­ra­tio­nen beglei­tet, ein lin­kes mensch­li­ches Ohr auf sei­nem Arm wach­sen. Stel­arcs Absicht war es, das Ohr mit dem Inter­net zu ver­bin­den und es so welt­weit ›sen­den‹ zu las­sen, was es an dem Ort ›hört‹, an dem sich sein Medium – der Künst­ler Stel­arc – auf­hält. Auch die­ses knor­pe­lige künst­li­che Ohr konnte natür­lich nicht eigen­stän­dig hören, aber es war mit einem tech­ni­schen Auf­nah­me­ge­rät aus­ge­stat­tet. Das Ohr darum herum war ›nur‹ Kunst.

Der Künst­ler Stel­arc 2011 mit sei­nem künst­li­chen ›drit­ten Ohr‹. Foto: Alt­Sylt Lizenz: CC BY-SA 2.0

Ohrmäuse aus Keramik

25 Jahre nach­dem die Vacanti-Maus zur welt­wei­ten Sen­sa­tion wurde, wid­mete der Ham­bur­ger Künst­ler Ger­rit Frohne-Brinkmann ihr nun eine Aus­stel­lung im Pro­jekt­raum ABC. Benannt nach der gleich­na­mi­gen Straße in der Neu­stadt, ist der Ort ABC – wie so viele Pro­jekt­räume – eine Zwi­schen­raum­nut­zung. Das Gebäude, ein Com­merz­bank-Investment-Piece aus den Neun­zi­gern, passt zeit­lich gut zur Vacanti-Maus. Am 12. und 13. März tum­melte sich dort eine große Fami­lie kera­mi­scher Mäuse auf dem Fuß­bo­den. Sie sind haar­los und rosa wie die nack­ten Vacanti-Mäuse. Und wie die Vacanti-Mäuse tra­gen sie alle ein mensch­li­ches Ohr auf dem Kör­per. Es scheint sie nicht zu stören.

Drei der Mäuse sit­zen in über­gro­ßen Muscheln, kera­mi­schen Fan­ta­sien von Mee­res­schne­cken­ge­häu­sen, an der Wand. Von dort tönt ein wei­ßes Rau­schen. Es sind jedoch nicht die Muscheln, die hier rau­schen, son­dern die Mäuse, bes­ser wohl: die mensch­li­chen Ohr­mu­scheln auf ihren Rücken. Die Mäuse sind ver­ka­belt, so dass sie ent­ge­gen ihrer übli­chen Auf­gabe – und in ent­ge­gen­ge­setz­ter Rich­tung zum ›Ohr‹ auf Stel­arcs Arm – Schall sen­den. Sie emp­fan­gen nichts. Mit der­lei Gangart- und Rich­tungs­wech­seln ist bei Aus­stel­lun­gen des 1990 gebo­re­nen Frohne-Brinkmann, der an der HFBK stu­dierte, stets zu rechnen.

Kera­mi­sche For­men, die stark unter­schnit­tig sind, also nega­tiv, kon­kav nach innen gewölbt, las­sen sich nur mit gro­ßem Geschick model­lie­ren. Das mensch­li­che Ohr ist eine maxi­mal kom­pli­zierte Form, sei es als Skulp­tur oder als gezüch­te­tes Ersatz­ohr (Ohren wer­den, weil sie so kom­pli­ziert zu model­lie­ren sind, mitt­ler­weile tat­säch­lich wie bei Stel­arc an unauf­fäl­li­ger Stelle am Kör­per der Patient:innen nach­wach­sen gelas­sen, nach­dem sie zuvor im Labor initial ange­züch­tet wurden).

Genauso wie das nach­ge­züch­tete gehör­lose Ohr ist auch die Form einer Mee­res­schne­cke nur mühe­voll zu model­lie­ren, eben wegen ihrer Unter­schnit­tig­kei­ten. Als kera­mi­scher Hohl­kör­per erzeugt die Form dann aber zwei­fel­los auch ohne Ver­ka­be­lung und künst­li­che Schall­quelle das bekannte ›Mee­res­rau­schen‹, das man hört, wenn man ein Mee­res­schne­cken­ge­häuse oder eine Muschel an sein Ohr legt. Die­ses Rau­schen ist aller­dings weder die ein­ge­fan­gene Auf­nahme eines Süd­see­ur­laubs noch das akus­tisch ver­stärkte Fließ­ge­räusch des eige­nen Bluts, wie häu­fig ange­nom­men wird. Viel­mehr ent­steht es, weil die Muschel die Umge­bungs­ge­räu­sche auf­nimmt, ver­stärkt und als undif­fe­ren­zier­tes Rau­schen wie­der nach drau­ßen sen­det (also wie­der in umge­kehr­ter Rich­tung zur mensch­li­chen Ohr­mu­schel, die den Schall auf­nimmt und ihn, wenn sie denn hören kann, über das Trom­mel­fell nach innen ans Gehirn weitergibt).

Die Maus als Schnittstelle zwischen Mensch und Natur

Die kera­mi­schen Ohr­mäuse, die in den Mee­res­schne­cken sit­zen und das weiße Rau­schen ver­sen­den, sind über ihre sehr lan­gen Schwänze an die Kabel­age hin­ter der Fuß­leiste ange­schlos­sen. Auch die ande­ren Mäuse haben einen Kabel-Schwanz, bei ihnen ist er aller­dings in nor­ma­ler Mäu­se­länge abge­schnit­ten. Damit erin­nern die Mäuse an eine der wohl wich­tigs­ten Schnitt­stel­len zwi­schen Mensch und Maschine seit der Erfin­dung des Per­so­nal Com­pu­ter: die Com­pu­ter­maus. Zu Earmouse-Zeiten hatte sich die heute auf bei­nahe jedem Schreib­tisch zu fin­dende Funk­tech­no­lo­gie noch nicht durch­ge­setzt. Die meiste Zeit seit ihrer Erfin­dung in den 1960er Jah­ren hat­ten alle Mäuse einen ›Kabel­schwanz‹, und so haben schon die Erfinder:innen der »X‑Y-Positionsanzeige für ein Anzei­ge­sys­tem« (so die Bezeich­nung der Patent­an­mel­dung 1963) sie »Maus« getauft. Wäre sie damals bereits durch eine Funk­ver­bin­dung ohne Schwanz aus­ge­kom­men, hätte man sie ver­mut­lich Hams­ter genannt.

Wäh­rend die Com­pu­ter­maus als Schnitt­stelle zwi­schen Mensch und Maschine dient, bewe­gen sich medi­zi­ni­sche For­schun­gen mit Labor­tie­ren an einer Schnitt­stelle zwi­schen Mensch und Tier. Seit Jahr­zehn­ten forscht die Trans­plan­ta­ti­ons­me­di­zin an den Mög­lich­kei­ten, wie Tiere zu Bio­re­ak­to­ren für funk­tio­nie­rende Organe wer­den kön­nen, also wie sie mehr sein kön­nen als Trä­ger tau­ber Ohren aus Knor­pel­zel­len. So tra­gen inzwi­schen spe­zi­elle, gene­tisch mani­pu­lierte Schweine trans­plan­tier­bare Her­zen spa­zie­ren – mit dem im Ver­gleich zur Ohr­maus ent­schei­den­den Unter­schied, dass die­ses Herz zuerst für das Schwein arbei­tet und nicht irgendwo auf sei­nem Rücken als Extra­pos­ten wächst.

Die mit gro­ßer öffent­li­cher Auf­merk­sam­keit ver­folgte Trans­plan­ta­tion eines Schwei­ne­her­zens in einen mensch­li­chen Pati­en­ten am 7. Januar 2022 schien zuerst geglückt zu sein. Zwei Monate nach dem Ein­griff jedoch starb der Mann, der das Implan­tat erhal­ten hatte. Vor­erst ist das Expe­ri­ment also geschei­tert. Den­noch wer­fen der­ar­tige Xeno­trans­plan­ta­tio­nen für die For­schen­den und für die Patient:innen schon jetzt die irrs­ten Fra­gen auf. Nicht zuletzt: Was bedeu­tet es, den Tod eines Säu­ge­tiers zu bil­li­gen, um selbst wei­ter­le­ben zu kön­nen? Anders als bei Men­schen, die einen Organ­spen­de­aus­weis besit­zen, sich im Fall ihres Todes also bereit­erklä­ren Organe abzu­ge­ben, wer­den diese Schweine dezi­diert als Organ­spen­der gezüch­tet. Die an mensch­li­chen Zwe­cken aus­ge­rich­tete Schwei­ne­züch­tung ist dabei kein Skan­dal, sie dient seit Jahr­hun­der­ten der Kotelett- und Wurst­pro­duk­tion. Bemer­kens­wert ist aber der Trans­fer leben­di­ger Organe vom Tier zum Men­schen – nicht als Nah­rung, son­dern als funk­tio­nale Inkor­po­ra­tion eines lebens­wich­ti­gen Organs. In Vor­be­rei­tung der Xeno­trans­plan­ta­tion vom Januar 2022 wur­den etli­che Gesprä­che mit reli­giö­sen Ober­häup­tern diver­ser Kon­fes­sio­nen geführt. Sie alle stell­ten das geret­tete Men­schen­le­ben über das Tierwohl.

Aufklärungsfeindschaft gestern und heute 

Die Ear­mouse des Jah­res 1997 brachte viele erbit­terte Wissenschaftsgegner:innen auf den Plan, die »Got­tes Schöp­fung« in Gefahr sahen. Eine große Anzeige des Tur­ning Point Pro­ject, eines Zusam­men­schlus­ses von mehr als 60 NGOs, warnte mit einem Foto der Ear­mouse vor (roter) Gen­tech­nik und titelte: »Who plays God in the 21st Cen­tury?« Sie sug­ge­rierte fälsch­li­cher­weise, dass die abge­bil­dete Maus gene­tisch modi­fi­ziert sei, und setzte ganz auf den scho­ckie­ren­den Effekt ihres Frankenstein-haften Aus­se­hens. In einem mensch­li­chen Ohr auf dem Rücken einer Maus meinte man den Inbe­griff der zom­bi­fi­ca­tion, der mons­trö­sen Selbst­über­schät­zung der Medi­zin erken­nen zu kön­nen. Auch ohne groß­for­ma­tige Anzei­gen ver­brei­tete sich das Bild der Ear­mouse daher wahn­sin­nig schnell – dank ihrer ver­ka­bel­ten Ver­wand­ten, der Com­pu­ter­maus. Internetnutzer:innen ver­schick­ten das Bild mas­sen­haft und häu­fig gänz­lich dekon­tex­tua­li­siert per E‑Mail.

Eine ver­zerrte Spie­ge­lung durch die Jahr­zehnte zeigt uns eben diese Men­schen heute als soge­nannte »Impfgegner:innen«. Ihnen erscheint das (weiße) Rau­schen des Inter­nets als Rau­schen ihres Bluts, ihres eige­nen, hei­li­gen, gesun­den Kör­pers. Diese Über­zeu­gung ver­sen­den sie, mit einer mitt­ler­weile kabel­lo­sen Com­pu­ter­maus im WWW her­um­kli­ckend, gerne nach außen – nur noch sel­ten via E‑Mail, umso öfter aber in den Echo­kam­mern von Tele­gram-Grup­pen und You­tube-Kanä­len. Sie tun das im Glau­ben, es sei ihr eige­ner Gedanke, der da tönt, dabei sind sie nur eine die Außen­ge­räu­sche ver­stär­kende Hohl­form – leere Muscheln (oder ein­fach Hohlköpfe).

Die Imp­fung wird von die­sen Men­schen abge­lehnt, weil sie in die ein­zel­nen Kör­per ein­dringt. In die­ser Hin­sicht gleicht die Impf­geg­ner­schaft der Ableh­nung von Xeno­trans­plan­ta­tio­nen oder eben der Trans­plan­ta­tion eines auf dem Rücken einer Maus gezüch­te­ten Ohrs. Dabei lässt sich beob­ach­ten, dass der Wider­stand gegen der­ar­tige Ope­ra­tio­nen nicht aus ethi­schen Über­le­gun­gen, aus Sorge um das Tier­wohl erwächst, son­dern aus Angst um die Inte­gri­tät des eige­nen Kör­pers; im Fall der Imp­fun­gen oben­drein abge­mischt mit Sor­gen um Selbst­be­stim­mung, Miss­trauen gegen­über Behör­den und der Sehn­sucht nach einer soli­den Volks‑, also Infek­ti­ons­ge­mein­schaft, die, so die Wunsch­vor­stel­lung, als Herde ins­ge­samt immun wer­den möge. Wir hal­ten uns da lie­ber an die Mäuse: Sie sind zwar durch­aus gesel­lig, aber Her­den­tiere sind sie nicht – ob mit oder ohne Ohr auf dem Rücken. 

Nora Sdun, April 2022

Die Autorin grün­dete vor 18 Jah­ren zusam­men mit Gus­tav Mechlen­burg den Tex­tem Ver­lag. Im Dezem­ber 2016 erschien dort der Band All in, der eine Aus­wahl per­for­ma­ti­ver Arbei­ten Ger­rit Frohne-Brinkmanns dokumentiert.


[1] In Nowo­si­birsk wurde 2013 ein Denk­mal ent­hüllt, das den Labor­mäu­sen und ‑rat­ten, die­sen so unsicht­ba­ren wie uner­müd­li­chen Streiter:innen für Auf­klä­rung und wis­sen­schaft­li­chen Fort­schritt, gewid­met ist.

Die Leerstelle Bornplatzsynagoge

Die Leerstelle Bornplatzsynagoge

Die Born­platz­syn­agoge im Grin­del­vier­tel soll wie­der auf­ge­baut wer­den. Das beschloss die Bür­ger­schaft im Januar 2020. Über die genaue Umset­zung aller­dings wird seit­her hef­tig gestrit­ten. Das für Mitte des Jah­res ange­kün­dig­ten Ergeb­nis einer Mach­bar­keits­stu­die wird die nächste Runde der Debatte ein­läu­ten. Aber was steht hier eigent­lich zur Diskussion?

Die Syn­agoge am Born­platz als Post­kar­ten­mo­tiv, 1906. Foto: Knack­stedt & Näther, Quelle: Stif­tung His­to­ri­sche Museen Hamburg

Die Born­platz­syn­agoge im Ham­bur­ger Grin­del­vier­tel wurde 1906 vom ortho­do­xen Syn­ago­gen­ver­band in einer Zeit zuneh­men­der poli­ti­scher und juris­ti­scher Par­ti­zi­pa­tion von Jüdin­nen und Juden als Haupt­syn­agoge eröff­net. 1939, als die sys­te­ma­ti­sche Ver­trei­bung der deut­schen Juden ein­setzte, erzwan­gen die Nazis ihren Abriss. Seit bald drei Jah­ren wird nun über die Form, den Ort und mög­li­che Fol­gen eines Wie­der­auf­baus dis­ku­tiert. Dabei geht es um weit mehr als Archi­tek­tur: Zur Debatte steht die deut­sche Shoa-Erinnerungskultur, die Reprä­sen­ta­tion hete­ro­ge­ner, jüdi­scher Gemein­den und letzt­lich die gesell­schaft­li­che Teil­habe des deut­schen Juden­tums am Ham­bur­ger Stadtbild.

Bürokratische Zerstörung…

1938 ver­such­ten Ham­bur­ger Nazis die Born­platz­syn­agoge wäh­rend der Novem­ber­po­grome durch einen Brand­an­schlag zu zer­stö­ren, was ihnen zunächst nicht gelang. Ihr momen­ta­nes Über­le­ben ver­dankte die Syn­agoge aber nicht etwa Skru­peln oder Rück­sicht­nahme, son­dern dem Wil­len, nicht-jüdische Kul­tur­gü­ter zu ret­ten, die unweit von ihr in Holz­scheu­nen auf­be­wahrt wur­den. Die­ser Auf­schub lenkte die Zer­stö­rung in büro­kra­ti­sche Bah­nen: Im Früh­jahr 1939 lie­ßen die Nazis die beschä­digte Syn­agoge auf Kos­ten des jüdi­schen Reli­gi­ons­ver­bands Ham­burg abrei­ßen. Im April 1940 ver­merkte das Amts­ge­richt Ham­burg die Auf­las­sung des Syn­ago­gen­grund­stücks, das Gelände ging in den Besitz der Stadt über. Gegen Ende des Zwei­ten Welt­krie­ges wurde an dem nun lee­ren Platz ein Hoch­bun­ker errichtet.

1949 erhob die neu gegrün­dete Jüdi­sche Gemeinde in Ham­burg (JGHH) Anspruch auf Rück­gabe des Grund­stücks. Aller­dings führte fak­tisch die Jewish Trust Cor­po­ra­tion (JTC) die jah­re­lan­gen Ver­hand­lun­gen. Denn bei der Ham­bur­ger Gemeinde han­delte es sich zu die­ser Zeit um eine soge­nannte »Liqui­die­rungs­ge­meinde«. Ihr Ziel war nicht der Wie­der­auf­bau jüdi­scher Kul­tur­stät­ten in Deutsch­land, son­dern die Koor­di­na­tion der Aus­reise deutsch-jüdischer Per­so­nen. Für die JTC stand daher im Fokus, rück­erstat­te­tes Ver­mö­gen für den Auf­bau des jüdi­schen Staa­tes zu orga­ni­sie­ren. Auf­sei­ten der Ham­bur­ger Lie­gen­schafts­ab­tei­lung ver­han­delte unter ande­ren Hans-Joachim Rich­ter. Er war in sei­ner Posi­tion bereits vor dem Krieg für den Zwangs­ver­kauf von Grund­stü­cken der ham­bur­gi­schen jüdi­schen Gemein­den ver­ant­wort­lich gewesen.

… und bürokratische Restituierung

Auf diese per­so­nelle Kon­ti­nui­tät und die Tat­sa­che, dass die Stadt das Gelände nicht direkt an die jüdi­sche Gemeinde zurück­gab, son­dern mit einer aus­län­di­schen Orga­ni­sa­tion ver­han­delte, wird in der aktu­el­len Debatte wie­der refe­riert. Der heu­tige Vor­sit­zende der JGHH, Phil­ipp Strich­arz, betrach­tet das dama­lige Ent­schä­di­gungs­ver­fah­ren als eine zweite Ent­eig­nung. Miriam Rürup, Direk­to­rin des Pots­da­mer Moses Men­dels­sohn Zen­trums und ehe­ma­lige Lei­te­rin des Ham­bur­ger Insti­tuts für die Geschichte der deut­schen Juden (IGDJ), sieht das anders. Sie betont das dama­lige Motiv der JTC, für die Ent­eig­nung des Gelän­des zügig, wenn auch unzu­rei­chend, ent­schä­digt zu werden.

In der Debatte um einen Syn­ago­gen­bau am heu­ti­gen Joseph-Carlebach-Platz neh­men Strich­arz und Rürup oft ent­ge­gen­ge­setzte Posi­tio­nen ein. Strich­arz ver­tritt dabei die Inter­es­sen der JGHH und for­dert mehr Sicht­bar­keit für das jüdi­sche Leben, beson­ders im Grin­del­vier­tel. Rürup teilt den Wunsch nach mehr Sicht­bar­keit, spricht aber als His­to­ri­ke­rin, Mit­glied des Ver­eins Tem­pel­fo­rum e.V. und Teil der deut­lich klei­ne­ren Libe­ra­len Jüdi­schen Gemeinde Ham­burgs (LJGH).

Deut­sches Geschichts­be­wusst­sein: Bis in die 1980er Jahre hin­ein wurde der Platz der ehe­ma­li­gen Syn­agoge als Park­platz genutzt, Foto: Denk­mä­ler und Bau­denk­male der Jüdi­schen Gemeinde in Ham­burg – Kul­tur­be­hörde, Denk­mal­schutz­amt1Die Rechteinhaber:innen konn­ten trotz inten­si­ver Nach­for­schung nicht ermit­telt wer­den. Diese haben die Mög­lich­keit, sich an uns zu wenden.

Die Ver­hand­lun­gen zwi­schen dem Ham­bur­ger Senat und der JTC um das Grund­stück mün­de­ten 1953 in eines von meh­re­ren soge­nann­ten »Pau­schal­ab­kom­men«. Neben dem Born­platz betraf es elf wei­tere Ham­bur­ger Grund­stü­cke. Die Ver­gleichs­sum­men der gut gele­ge­nen Immo­bi­lien lagen weit unter ihrem Wert. In den 1960er Jah­ren wurde das gesamte Areal am Grin­del­hof von der Uni­ver­si­tät genutzt. Der Born­platz war bis in die 1980er Jahre ein schlam­mi­ger Park­platz. Pla­nungs­recht­lich war das Gelände noch bis 1985 für eine Erwei­te­rung der Uni­ver­si­tät vor­ge­se­hen. Par­al­lel wurde es seit Ende der 70er auch als mög­li­cher Ort für eine erin­ne­rungs­kul­tu­relle Nut­zung ent­deckt. Die Uni­ver­si­tät ent­schied sich schluss­end­lich gegen eine Erwei­te­rung auf dem Born­platz. Die Finan­zie­rungs­mit­tel konn­ten nicht auf­ge­bracht wer­den, hieß es in einer ent­spre­chen­den Ein­gabe der Kul­tur­se­na­to­rin Anfang der 1980er Jahre. 

Aufbereitung der Lücke

Ende der 1970er Jahre sollte eine archäo­lo­gi­sche Gra­bung am Born­platz die Grund­lage für eine Erin­ne­rungs­stätte erge­ben. Durch­ge­führt wurde sie vom Fach­be­reich Archäo­lo­gie der Uni Ham­burg, der noch heute im Hoch­bun­ker ange­sie­delt ist. Die Gra­bung offen­barte, dass das Fun­da­ment der Born­platz­syn­agoge größ­ten­teils erhal­ten ist. Aller­dings bat die Jüdi­sche Gemeinde aus Rück­sicht­nahme auf jüdi­sches Recht darum, es nicht offen­zu­le­gen. Statt­des­sen beauf­tragte die Kul­tur­be­hörde 1983 die Ham­bur­ger Künst­le­rin Mar­grit Kahl, Visua­li­sie­rungs­vor­schläge für die Auf­be­rei­tung der Lücke anzu­fer­ti­gen. Über die Vor­schläge stimm­ten auch Ver­tre­ter der Jüdi­schen Gemeinde ab. Das Syn­ago­ge­gen­mo­nu­ment sollte die Leer­stelle sicht­bar machen und damit der poli­ti­schen For­de­rung nach Erin­ne­rungs­kul­tur in der post­fa­schis­ti­schen BRD nach­kom­men. Am 50. Jah­res­tag der Novem­ber­po­grome, dem 9. Novem­ber 1988, wurde Kahls Mosaik auf dem heu­ti­gen Joseph-Carlebach-Platz ein­ge­weiht. Es befin­det sich dort bis heute.

Das 1988 ein­ge­weihte Mosaik der Künst­le­rin Mar­grit Kahl macht den Grund­riss und die Struk­tur des Decken­ge­wöl­bes der 1939 abge­ris­se­nen Syn­agoge sicht­bar. Foto: M. Kahl (Nach­lass), © 2022 Forum für Künst­ler­nach­lässe (FKN), Hamburg 

Die Stadt ver­stand die Instand­hal­tung des Monu­ments bis 2019 nicht als ihre Auf­gabe. Geden­kinitia­ti­ven nutz­ten den Ort, um sich an Jah­res­ta­gen dort zusam­men­zu­fin­den, und Schul­klas­sen küm­mer­ten sich um die Denk­mal­pflege. Stadt­tou­ren hal­ten hier, Men­schen aus dem Vier­tel und der Uni­ver­si­tät pas­sie­ren den Platz täg­lich. Man­che beto­nen die bemer­kens­werte Wir­kung der sub­ti­len Auf­be­rei­tung zu einem Raum, der sie zur Reflek­tion über die Shoa anhält. Die israe­li­sche Kunst­his­to­ri­ke­rin Galit Noga-Banai bezeich­nete das Syn­ago­gen­mounu­ment am Born­platz auf einem Sym­po­sium im Sep­tem­ber 2021 als eines von drei Gegen­denk­ma­len, die zukunfts­wei­send für die deut­sche Gedenk­kul­tur gewe­sen seien. Andere neh­men das Mosaik kaum wahr oder bezwei­feln seine mah­nende Wirkung.

»Nein zu Antisemitismus, ja zur Bornplatzsynagoge«

Am 9. Okto­ber 2019 ver­übte der rechte Ter­ro­rist Ste­phan B. einen Anschlag auf die Syn­agoge von Halle. Neben ver­harm­lo­sen­den Deu­tun­gen, dem­nach man es mit einem psy­chisch kran­ken Ein­zel­tä­ter zu tun habe, folg­ten dar­auf auch poli­ti­sche Ver­spre­chun­gen, Anti­se­mi­tis­mus stär­ker zu bekämp­fen. In der Ham­bur­ger Bür­ger­schaft brachte ein frak­ti­ons­über­grei­fen­der Antrag die Unter­stüt­zung des Wie­der­auf­baus als eine mög­li­che poli­ti­sche Ant­wort auf den Anschlag ins Spiel. Der Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus, so die im Antrag vor­ge­brachte Argu­men­ta­tion, müsse mit einer Sicht­bar­ma­chung der posi­ti­ven Aspekte jüdi­schen Lebens kom­bi­niert wer­den. Am 28. Januar 2020 beschloss die Ham­bur­ger Bür­ger­schaft ein­stim­mig, das Bau­vor­ha­ben mit dem Antrag für eine Mach­bar­keits­stu­die vom Bund zu unter­stüt­zen.2Siehe dazu auch: https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/wird-hamburgs-einst-groesste-synagoge-wieder-aufgebaut/

Der Wunsch, auf dem Joseph-Carlebach-Platz wie­der eine Syn­agoge zu errich­ten, ist aller­dings deut­lich älter. Zuletzt wurde er 2010 von Ruben Herz­berg, dem dama­li­gen Vor­sit­zen­den der JGHH, anläss­lich des fünf­zig­jäh­ri­gen Jubi­lä­ums der Syn­agoge Hohe Weide for­mu­liert: »Die Ein­wei­hung der Syn­agoge Hohe Weide war ein weit­hin sicht­ba­res kla­res Zei­chen, dass jüdi­sches Leben nicht ver­nich­tet wer­den konnte. Das Herz des jüdi­schen Ham­burg aber schlägt im Grin­del­vier­tel, dort neben der Talmud-Tora-Schule, unse­rem heu­ti­gen Gemein­de­zen­trum mit der Joseph-Carlebach-Schule […]. Wir wün­schen uns die Rück­kehr an unse­ren alten Ort, denn der leere Platz ist eine Wunde in unse­rem Leben.« Die­ser Wunsch fand damals keine poli­ti­sche Unterstützung.

Zehn Jahre spä­ter, nach dem Ter­ror­an­schlag von Halle, finan­ziert der Bund nun die Mach­bar­keits­stu­die für den Wie­der­auf­bau mit 600.000€. Zuvor star­tete unter dem Slo­gan »Nein zu Anti­se­mi­tis­mus. Ja zur Born­platz­syn­agoge« eine medi­en­wirk­same Unter­stüt­zungs­kam­pa­gne für den Bau einer neuen Syn­agoge am alten Platz. Unter den circa 107.000 Unterzeichner:innen fin­den sich nam­hafte Per­sön­lich­kei­ten vor allem aus Ham­burg, aber auch aus der Bun­des­po­li­tik und aus Israel. Neben loka­len Unternehmer:innen, Wissenschaftler:innen und Künstler:innen warb etwa auch Olaf Scholz per Video­bot­schaft für das Vorhaben.

Kritik am historisierenden Wiederaufbau

Bereits zu Beginn die­ser Kam­pa­gne wur­den öffent­lich Stim­men hör­bar, die befürch­te­ten, dass das Boden­mo­saik der Rea­li­sie­rung wei­chen müsse. Resü­mie­rend sagte Miriam Rürup im März 2021, das Syn­ago­gen­mo­nu­ment »war eine Avantgarde-Bewegung von Juden und Nicht­ju­den. Dar­auf sollte man sehr stolz sein. […] Dür­fen wir uns davon schon abwen­den?« Mit dem Mosaik würde ein wich­ti­ger Ort der Erin­ne­rungs­kul­tur in Ham­burg ver­schwin­den. Das Gegen­ar­gu­ment lau­tet: Das Boden­mo­saik habe sei­nen Zweck erfüllt, denn für wen und auf wes­sen Kos­ten solle die schmerz­hafte Lücke bei­be­hal­ten wer­den? Sie sei besetzt wor­den, bis wie­der eine Syn­agoge auf den Platz zurück­keh­ren könne. Phil­ipp Strich­arz drückte es schon im Novem­ber 2019 gegen­über der taz so aus: »Jeden Tag, an dem ich da vor­bei­komme, emp­finde ich eine große und wei­ter bestehende his­to­ri­sche Unge­rech­tig­keit. […] Da steht einer­seits ein Platz leer – da sollte aber eine Syn­agoge ste­hen. Statt­des­sen steht da die­ser soge­nannte Hoch­bun­ker«. Das Areal »wie­der jüdisch zu machen, das mag pathe­tisch klin­gen, wäre ein spä­ter Sieg«.

Als das Areal am Grin­del­hof noch jüdisch war: Blick auf das Ensem­ble von Talmud-Tora-Schule und Syn­agoge, 1914. Quelle: Ham­burg und seine Bau­ten, Band 1. Döl­ling und Galitz, Ham­burg 1914.

Gegen eben die­ses Pathos ver­weh­ren sich Rürup und andere Hamburger:innen. Das doku­men­tierte etwa eine Ver­an­stal­tung der Kör­ber Stif­tung vom Februar 2021. Zu Beginn der Debatte schürte beson­ders die Rede von »Wie­der­auf­bau« und »Rekon­struk­tion« die Sorge, der Bau könne zu his­to­ri­schem Revi­sio­nis­mus füh­ren. Rürup warnte im Rah­men einer von der Patrio­ti­schen Gesell­schaft orga­ni­sier­ten Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tung: »Wenn wir his­to­ri­sie­rend bauen, fan­ta­sie­ren wir uns in eine gute alte Zeit«. Sie fragte, wel­che unge­wollte Wir­kung der Wie­der­auf­bau noch haben könnte und befürch­tete eine »mora­li­sche Elbphilharmonie«. 

Ein Prestigeprojekt wie die Elbphilharmonie?

In Ana­lo­gie zur Elb­phil­har­mo­nie waren die ers­ten Debat­ten­bei­träge von der Kri­tik geprägt, Ham­burg ver­folge nun auch im Kampf gegen den Anti­se­mi­tis­mus ein Pres­ti­ge­pro­jekt. Mit dem Slo­gan »Nein zu Anti­se­mi­tis­mus. Ja zur Born­platz­syn­agoge« würde jede Kri­tik am Bau­vor­ha­ben als anti­se­mi­tisch dis­kre­di­tiert. Dabei gäbe es gute Gründe, kri­tisch nach­zu­fra­gen, wes­halb die neu gewon­nene Unter­stüt­zung der Öffent­lich­keit und Poli­tik sich so auf den Wie­der­auf­bau der Born­platz­syn­agoge kon­zen­triere. Der Unmut über die Miss­ach­tung ande­rer jüdi­scher Kul­tur­stät­ten in Ham­burg über­schat­tete die Freude über die poli­ti­sche Unter­stüt­zung des Synagogenbauprojekts. 

So hatte die Initia­tive Tem­pel Pool­straße bereits vor dem anti­se­mi­ti­schen Anschlag in Halle für das Jahr 2019 eine Kam­pa­gne zur Ret­tung und kul­tu­rel­len Auf­be­rei­tung der Tem­pel­ruine in der Ham­bur­ger Neu­stadt geplant. Nach dem Anschlag fand sich der dafür gegrün­dete Ver­ein Tem­pel­fo­rum e.V. in der unge­woll­ten Lage, dass sein Anlie­gen in Kon­kur­renz zu den For­de­run­gen nach einer neuen Born­platz­syn­agoge gese­hen wurde. Als Mit­glied des Ver­eins sprach Miriam Rürup sich in der ers­ten Runde der Debatte im Dezem­ber 2019 für eine Öff­nung der geplan­ten Mach­bar­keits­stu­die aus. Das Ziel sei, viele ver­schie­dene Orte in die Wider­auf­bau­pläne ein­zu­be­zie­hen. Harald Schmid von der Bür­ger­stif­tung Schleswig-Holsteinische Gedenk­stät­ten äußerte auf einem Sym­po­sium im Sep­tem­ber 2021 rück­bli­ckend, dass die früh­zei­tige Fest­le­gung der poli­ti­schen För­de­rung auf den rekon­stru­ie­ren­den Wie­der­auf­bau der Born­platz­syn­agoge für die Kon­tro­verse mit­ver­ant­wort­lich gewe­sen sein könnte.

»Für einen breiten, offenen Diskurs«

Im Dezem­ber 2020 wurde über die Patrio­ti­sche Gesell­schaft eine öffent­li­che Stel­lung­nahme mit dem Titel »Für einen brei­ten, offe­nen Dis­kurs über den Wie­der­auf­bau der Born­platz­syn­agoge« ver­öf­fent­licht. Zu den Erst­un­ter­zeich­nen­den zähl­ten neben Miriam Rürup der His­to­ri­ker und ehe­ma­lige Direk­tor des Richard-Koebner-Zentrums für deut­sche Geschichte an der Uni­ver­si­tät Jeru­sa­lem Moshe Zim­mer­mann sowie Ingrid Nümann-Seidewinkel, ehe­ma­lige Eims­büt­te­ler Bezirksamtsleiterin.

Das von Mar­grit Kahl gestal­tete Boden­mo­saik liegt im Schat­ten des Hoch­bun­kers, Foto: Privat.

Die mit der Stel­lung­nahme als ein auch inter­na­tio­na­ler Stand­punkt in der Debatte eta­blierte Kri­tik rich­tete sich gegen die Idee eines his­to­ri­sie­ren­den Wie­der­auf­baus. Die Stel­lung­nahme kri­ti­sierte die Rekon­struk­tion krie­ge­risch zer­stör­ter Bau­ten im All­ge­mei­nen und die der Born­platz­syn­agoge im Beson­de­ren. Der Vor­wurf lau­tete, mit die­ser Idee würde – wenn auch nicht inten­diert – ein his­to­ri­scher Revi­sio­nis­mus der anti­se­mi­ti­schen Zer­stö­rung im Stadt­bild betrie­ben. Zugleich werde mit dem Syn­ago­gen­mo­nu­ment von Mar­grit Kahl ein zen­tra­ler Erin­ne­rungs­ort und Teil des kul­tu­rel­len Erbes der Stadt zer­stört. Die Unter­zeich­nen­den for­der­ten statt­des­sen »eine breite Dis­kus­sion dar­über, wie jüdi­sches Leben im Grin­del­vier­tel neu gedacht und in zeit­ge­mä­ßer, zukunfts­ge­rich­te­ter Form gestal­tet wer­den kann unter Ein­be­zie­hung der vor­han­de­nen Gege­ben­hei­ten«. Denn Städ­te­bau sei »das Ergeb­nis der Inte­gra­tion vie­ler gesell­schaft­li­cher Inter­es­sen und Sichtweisen«.

Zynismus deutscher Erinnerungspolitik

Der Ton spitzte sich zu, als Nümann-Seidewinkel die Ansicht äußerte, ein his­to­ri­sie­ren­der Wie­der­auf­bau »hätte für mich etwas von Dis­ney­land«.3Der ent­spre­chende NDR-Artikel ist nur noch in einer archi­vier­ten Fas­sung erreich­bar. Sie war in ihrer Zeit als Lei­te­rin des Bezirks­amts Eims­büt­tel an der Umset­zung des Syn­ago­gen­mo­nu­ments betei­ligt und sah nun die lokale Erin­ne­rungs­po­li­tik in Gefahr. Für die Verfechter:innen einer Rekon­struk­tion wies Strich­arz diese Kri­tik als aka­de­mi­siert zurück. Er betonte, dass sie zwar bereit seien »sich eini­ges anzu­schauen«, wenn es um die archi­tek­to­ni­schen Umset­zungs­mög­lich­kei­ten geht. Den Wunsch jedoch, den Platz kom­plett leer zu belas­sen, lehnte er ab.

Schon 2019 hatte der World Jewish Con­gress 2019 ent­spre­chende Ideen als »zynisch« kri­ti­siert: »Stim­men, die for­dern, dass der Born­platz leer blei­ben müsse, um zu zei­gen, was der Jüdi­schen Gemeinde ange­tan wurde, ertei­len wir eine klare Absage. Unrecht gegen die Jüdi­sche Gemeinde zu per­p­etu­ie­ren, nur um zu zei­gen, dass es statt­fand, würde die Ham­bur­ger Jüdi­sche Gemeinde ein wei­te­res Mal zum Objekt äuße­rer Inter­es­sen machen«.

Die Rede von ›äuße­ren Inter­es­sen‹ knüpft an den Vor­wurf an, die kri­ti­schen Stim­men kämen in ers­ter Linie von nicht-jüdischen Akteur:innen. Die­ser Ansicht wurde und wird unter ande­ren von Miriam Rürup vehe­ment wider­spro­chen. Phil­ipp Strich­arz hob jedoch her­vor, dass die Gestal­tung des Plat­zes in letz­ter Kon­se­quenz die Ent­schei­dung der jüdi­schen Gemeinde sei. Den Wunsch der Gemeinde nach einem his­to­ri­sie­ren­den Syn­ago­gen­bau begrün­dete er auf dem AIT-ArchitekturSalon im Mai 2021 fol­gen­der­ma­ßen: »Wir leben jetzt in einer Zeit, in der Juden wirk­lich Beden­ken haben, sich öffent­lich auf der Straße zu zei­gen. Öffent­li­che Ver­kehrs­mit­tel, ein Fuß­weg von nach kann pro­ble­ma­tisch sein und in die­ser Zeit sehnt man sich ein biss­chen nach einem Gebäude, das nicht nur aus­drückt: Wir sind da und ihr müsst es akzep­tie­ren. Son­dern: Wir sind auf eine ganz impo­sante Art und Weise da und wir sind hier nicht irgend­wer und wir sind hier nicht gerade erst mit dem Ufo gelandet«. 

Integration durch Homogenisierung?

Ob ein ori­gi­nal­ge­treuer Wie­der­auf­bau der Born­platz­syn­agoge die­sen Effekt für alle jüdi­schen Kon­fes­si­ons­grup­pen in Ham­burg haben kann, zwei­felt Miriam Rürup aller­dings an. Was in der Debatte fehle, ist ihr zufolge die Aner­ken­nung eines hete­ro­ge­nen Juden­tums und sei­ner kul­tu­rel­len Erzeug­nisse in Ham­burg. Sie kri­ti­sierte Anfang des Jah­res, dass durch die gedachte Tren­nung zwi­schen »Ham­bur­ger Stadt­ge­sell­schaft« und »jüdi­scher Ein­heits­ge­meinde« das Jüdisch­sein an die Gemein­de­mit­glied­schaft gekop­pelt wird. Diese Auf­tei­lung werde weder den Posi­tio­nen in der Debatte, noch dem jüdi­schen Kul­tur­erbe in Ham­burg gerecht.

Dass jüdi­sche Gebets- und Kul­tur­stät­ten erst nach einem Ter­ror­an­schlag poli­ti­sche Unter­stüt­zung erhal­ten und dass diese Unter­stüt­zung zu Streit zwi­schen hete­ro­ge­nen jüdi­schen Tra­di­tio­nen um Teil­habe am Stadt­bild führt, zeigt: Den jüdi­schen Gemein­den wird heute die Rolle zuge­wie­sen, sich in eine als nicht-jüdisch ver­stan­dene Stadt­ge­sell­schaft zu inte­grie­ren. Das ist schon für sich genom­men pro­ble­ma­tisch. Dazu kommt, dass viele nicht-jüdische Hamburger:innen sowie Mit­glie­der der Bür­ger­schaft nur die jüdi­sche Ein­heits­ge­meinde ken­nen. Dabei ist Ham­burg inter­na­tio­nal auch als die Wiege des libe­ra­len Juden­tums bekannt. 

In die­ser Situa­tion lässt sich die Kri­tik am Fokus auf den Wie­der­auf­bau einer impo­san­ten Syn­agoge, die für ein ortho­do­xes Juden­tum stand4Vgl. Ina Lorenz/Jörg Ber­ke­mann, Die Ham­bur­ger Juden im NS-Staat 1933 bis 1938/39. Band 1 – Mono­gra­fie, Göt­tin­gen 2016, S. 136. Online unter: http://www.igdj-hh.de/files/IGDJ/pdf/hamburger-beitraege/lorenz-berkemann_hamburger-juden-im-ns-staat‑1.pdf, auch als die Sorge ver­ste­hen, dass Ham­burg sich zum Zweck der Inte­gra­tion eine homo­gene jüdi­sche Lokal­ge­schichte und ‑kul­tur ima­gi­niert. Wäh­rend die gewon­nene poli­ti­sche Unter­stüt­zung zu begrü­ßen ist, darf sie die Ver­nach­läs­si­gung jüdi­schen Kul­tur­er­bes in Ham­burg nicht ver­ges­sen machen. Die Befürch­tung, dass eine zu hete­ro­gen auf­tre­tende jüdi­sche Inter­es­sens­ver­tre­tung dem gemein­sa­men Wunsch nach urba­ner Teil­habe scha­den könnte, zeugt von einem besorg­nis­er­re­gen­den deut­schen Selbstverständnis.

Abkehr von der Idee eines originalgetreuen Wiederaufbaus

Spä­tes­tens 2021 änderte sich der Ton, als unter ande­rem Daniel Shef­fer, Initia­tor der Kam­pa­gne »Nein zu Anti­se­mi­tis­mus. Ja zur Born­platz­syn­agoge«, die Idee eines ori­gi­nal­ge­treuen Wie­der­auf­baus rela­ti­vierte. Mitt­ler­weile bestrei­tet er gar, dass es sie in der Form jemals gab. Für Phil­ipp Strich­arz bleibt nichts­des­to­we­ni­ger die Frage offen, wes­halb eine Voll­re­kon­struk­tion nur im Falle eines Syn­ago­gen­wie­der­auf­baus von vorn­her­ein aus­ge­schlos­sen sein soll. Er zieht eine his­to­ri­sche Linie von der Shoa bis dahin, dass jüdi­sche Bau­ten von der Ten­denz, urbane Archi­tek­tur ori­gi­nal­ge­treu zu rekon­stru­ie­ren, bis­lang aus­ge­schlos­sen wur­den. In Ham­burg erhiel­ten der Michel oder auch das Haus der Patrio­ti­schen Gesell­schaft in den 1950er Jah­ren städ­ti­sche Unter­stüt­zung für ihren Wie­der­auf­bau. Für die Born­platz­syn­agoge hin­ge­gen gab es, wie oben beschrie­ben, ledig­lich ein Pau­schal­ab­kom­men ohne Ein­be­zie­hung der Ham­bur­ger Gemeinde.

Für Strich­arz per­p­etu­iert sich darin das Unrecht der Nazis: »Hätte man sich damals den Juden gegen­über genauso ver­hal­ten wie man sich der sons­ti­gen Gesell­schaft gegen­über ver­hal­ten hat, hätte man die Syn­agoge [bereits in den 50er Jah­ren] wie­der auf­ge­baut«, sagte er im Rah­men des AIT-ArchitekturSalons. Es sei ver­kürzt, sich jüdi­sche Rekon­struk­tion als eine schlichte Kopie vor­zu­stel­len oder sie gar mit Dis­ney­land zu asso­zi­ie­ren: »Meine Mei­nung ist, dass ein nicht-historisierender Auf­bau undenk­bar ist.« Ein gelun­ge­ner Ent­wurf für die Syn­agoge müsse dem Anspruch der jüdi­schen Gemeinde Rech­nung tra­gen, zu »zei­gen, wo man her­kommt«. Und er müsse sich auf die Sicht der jüdi­schen Gemeinde als jenen, »die außen vor gelas­sen wur­den bei die­sem Wie­der­auf­bau«, ein­las­sen. Strich­arz betonte aber auch: Eine ein­fa­che Repli­ka­tion sei auf­grund prak­ti­scher Sicher­heits­an­for­de­run­gen gar nicht mög­lich. Außer­dem würde die alte Raum­auf­tei­lung im Inne­ren der Syn­agoge den gegen­wär­ti­gen Bedürf­nis­sen der »jüdi­schen Gemein­den Ham­burgs« nicht mehr ent­spre­chen. Der von Strich­arz hier ver­wen­dete Plu­ral deu­tet dar­auf hin, dass die jüdi­schen Gemein­den den Neu­bau nun als Mög­lich­keit sehen, sich urba­nen Raum gemein­sam neu anzueignen.

Zeichen der Annäherung

Shef­fer bezeich­nete es Anfang des Jah­res ent­spre­chend als kleins­ten gemein­sa­men Nen­ner, »einen Ort leben­di­gen jüdi­schen Lebens zu schaf­fen, der Raum gibt für des­sen Viel­falt, also Gebets­räume für das libe­rale und ortho­doxe Juden­tum gleich­be­rech­tig­ter Weise«. Die­ser Vision konnte Rürup sich anschlie­ßen, for­derte aller­dings eine Refle­xion über die Schwer­punkt­set­zung inner­halb die­ser Viel­falt: Wel­ches jüdi­sche Erbe würde der Neu­bau aktua­li­sie­ren, wel­che Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mög­lich­kei­ten würde er ausklammern?

Neben dem Boden­mo­saik und der Tem­pel­ruine in der Pool­straße nennt Rürup den Tem­pel­bau in der Ober­straße, der von den Nazis ent­eig­net wurde und bis heute ein NDR-Studio beher­bergt: »Wenn wir nun den Joseph-Carlebach-Platz zum zen­tra­len Ort für jüdi­sches Leben aus­wäh­len, müs­sen wir aner­ken­nen, was es bereits gibt und auch direkt an dem Ort exis­tiert«. Bliebe dies aus, lie­ßen sich die ver­nach­läs­sig­ten archi­tek­to­ni­schen Zeug­nisse jüdi­scher Ver­gan­gen­heit nicht mit dem hege­mo­nia­len Juden­tum der Gegen­wart in Ver­bin­dung brin­gen. Sie als Jüdin fühle sich dann durch die gewon­nene Reprä­sen­tanz nicht adres­siert. Ein star­kes Signal für das Juden­tum müsse des­sen Viel­falt berücksichtigen.

Ein wei­te­res Anzei­chen der Annä­he­rung der unter­schied­li­chen Posi­tio­nen ist die Tat­sa­che, dass die JGHH das Archi­tek­tur­büro Wan­del Lorch Götze Wach mit der Erstel­lung der Mach­bar­keits­stu­die beauf­tragt hat. Das spricht gegen eine unge­bro­chene Rekon­struk­tion, denn das Büro hat sowohl Erfah­run­gen mit moder­nem Syn­ago­gen­bau (Neue Syn­agoge Dres­den, Jüdi­sches Zen­trum Mün­chen) als auch mit Restau­ra­ti­ons­pro­jek­ten (Bay­reu­ther Syn­agoge), die eine Sym­biose his­to­ri­sie­ren­der Bau­art und zukunfts­ge­wand­ter Gestal­tung ver­su­chen. Mit einer Ver­öf­fent­li­chung der Ergeb­nisse der Mach­bar­keits­stu­die ist Mitte des Jah­res zu rechnen.

Von den Täter:innen keine Rede: Der am Hoch­bun­ker ange­brach­ten Gedenk­ta­fel zufolge wurde die Syn­agoge nicht von Ham­bur­ger Nazis, son­dern »durch einen Will­kür­akt« zer­stört, Foto: privat.

Erinnerungskultur im Wandel

Die Debatte der letz­ten drei Jahre zeugt somit von weit­rei­chen­den Aus­hand­lun­gen: In den Bezü­gen auf das Syn­ago­gen­mo­nu­ment wird nicht nur die genaue Form des Wie­der­auf­baus ver­han­delt, son­dern auch die Frage, an wen sich die deut­sche Erin­ne­rungs­kul­tur eigent­lich rich­tet und wer an die Shoa erin­nern soll bzw. muss. Ebenso ste­hen ihre Stra­te­gien der Erin­ne­rung auf dem Prüf­stand. Damit sind soge­nannte authen­ti­sche Orte des Grau­ens, wie KZ-Gedenkstätten, aber eben auch Orte der zer­stör­ten Reprä­sen­ta­tio­nen gemeint. 

Die Debatte um den Bau einer Syn­agoge am Joseph-Carlebach-Platz stellt in die­ser Hin­sicht und durch seine Reich­weite ein Novum dar: Wie geht eine Stadt­ge­sell­schaft damit um, wenn sich die Stra­te­gien der Erin­ne­rung mit den Wün­schen jüdi­scher Reprä­sen­tanz um ein- und den­sel­ben Platz strei­ten? Für Phil­ipp Strich­arz kann das Syn­ago­gen­mo­nu­ment, wenn die deut­sche Erin­ne­rungs­kul­tur die Ver­drän­gung jüdi­scher Reprä­sen­tanz nicht per­p­etu­ie­ren wolle, nur als Platz­hal­ter ver­stan­den wer­den. Denn sonst blo­ckiere das Bedürf­nis der Ham­bur­ger Stadt­ge­sell­schaft, sich noch ein­mal zur deut­schen Schuld zu beken­nen, den ein­mal anti­se­mi­tisch ent­eig­ne­ten Ort ein wei­te­res Mal – wenn auch mit guten Absich­ten: »Das ist dann sozu­sa­gen mein inne­rer Impuls: Ja dann macht das doch, aber doch nicht auf unse­rem Grund und Boden. Und das ist glaube ich auch eine Erklä­rung für diese Auf­ge­bracht­heit die viel­leicht in der Dis­kus­sion ein Stück weit vor­han­den war. Von allen Sei­ten wollte man sozu­sa­gen das Rich­tige, aber es fühlt sich halt wirk­lich anders an«.

Die gesell­schaft­li­che Debatte führte neben sol­chen Erkennt­nis­sen auch zu Blü­ten, die noch eine ganz andere Art des his­to­ri­schen Revi­sio­nis­mus fürch­ten las­sen. So prä­sen­tier­ten Architekturabsolvent:innen der BTU Cottbus-Senftenberg  im Juni 2021 Ent­würfe für mög­li­che Syn­ago­gen­bau­ten am Joseph-Carlebach-Platz. Dar­un­ter fand sich auch der Vor­schlag, die Syn­agoge auf den Hoch­bun­ker zu plat­zie­ren, um die bis­he­rige Ent­wick­lung des Are­als in den Neu­bau zu inte­grie­ren. Der Ent­wurf ima­gi­niert den Hoch­bun­ker, gebaut zum Schutz »ari­scher« Bürger:innen, ver­söhn­lich als Fun­da­ment aktu­el­ler jüdi­scher Reprä­sen­tanz. Statt­des­sen sollte die Refle­xion his­to­ri­scher Bezüge auf lokale Täter­bau­ten erwei­tert wer­den. Darin tref­fen sich die sonst wider­strei­ten­den Posi­tio­nen inner­halb der Debatte: Würde der Bun­ker wei­chen, wäre mehr Platz. Den bis­lang wenig beach­te­ten, denk­mal­ge­schütz­ten Hoch­bun­ker in Frage zu stel­len, könnte die Debatte zwi­schen Erin­nern und neuer jüdi­scher Reprä­sen­tanz um eine wesent­li­che Per­spek­tive erwei­tern. Ein Abriss des Bun­kers würde den Hand­lungs­spiel­raum ver­grö­ßern und einen neuen Fokus dar­auf schaf­fen, woran erin­nert und ange­knüpft wer­den soll.

Grace Vier­ling, März 2022

Die Autorin ver­folgt die Debatte beruf­lich und aus poli­ti­schem Inter­esse. Dabei gilt ihre Auf­merk­sam­keit vor allem den deut­schen Zustän­den und denen, die unter ihnen zu lei­den haben.

Im Nebel des Krieges

Im Nebel des Krieges

Vor gut zwei Wochen begann die Inva­sion der rus­si­schen Armee in die Ukraine. Die Sach- und Infor­ma­ti­ons­lage ist unüber­sicht­lich und ver­än­dert sich stän­dig, doch jeder Tag bringt neue Schre­ckens­mel­dun­gen. Mil­lio­nen Men­schen flie­hen nach Wes­ten. Wie reagiert Ham­burgs Linke?

Die aktu­elle kon­kret, erschie­nen am Tag des rus­si­schen Über­falls auf die Ukraine, Screen­shot: www.konkret-magazin.de

»Go East!«, prangt groß auf dem Titel der März­aus­gabe von kon­kret, dar­un­ter: »Die Nato-Aggression gegen Russ­land«. Aus­ge­lie­fert wurde das Heft am sel­ben Tag, an dem Russ­land sei­nen Ein­marsch in die Ukraine begann. Auf Face­book und der kon­kret-Web­site ver­öf­fent­lichte die Redak­tion sogleich eine kurze Stel­lung­nahme, die den Eier­tanz zu voll­füh­ren ver­sucht, zäh­ne­knir­schend die Unan­ge­mes­sen­heit die­ses Titels ein­zu­ge­ste­hen und sich trotz­dem nicht vom Inhalt zu distan­zie­ren. »So war das mit dem Kreml nicht abge­spro­chen« gewe­sen, ver­laut­bart man beschämt-ironisch, um dann die eigene Fehl­ana­lyse – denn wie sicher musste man sich sein, dass Putin kei­nen Krieg beginnt, um so einen Titel zu ver­öf­fent­li­chen?! – als kri­ti­sche Äqui­di­stanz dar­zu­stel­len: kon­kret hege weder Ver­ständ­nis für den Angriffs­krieg und »Mos­kaus macht­po­li­ti­sche Ambi­tio­nen« noch sei man bereit, ein »Bekennt­nis zur freiheitlich-demokratischen Welt­ord­nung des Wes­tens« abzu­le­gen. Am 7. März ver­öf­fent­lichte kon­kret dann noch eine Pod­cast­folge, die wegen des Kriegs, mit dem man nicht gerech­net hatte, neu auf­ge­nom­men wurde (»um uns nicht kom­plett zu bla­mie­ren«). Darin ver­su­chen die Her­aus­ge­be­rin Frie­de­rike Grem­liza und der auf die strategisch-geopolitische Vogel­per­spek­tive spe­zia­li­sierte Autor Jörg Kro­nauer, der in kon­kret lange das »Erfolgs­mo­dell Putin« pries, zu erläu­tern, warum sie nun der­art falsch lagen. Kro­nau­ers kleinlaut-uneinsichtige Erklä­rung: Der Über­fall auf die Ukraine sei ein ihm noch uner­klär­li­cher voll­stän­di­ger Bruch mit der zuvor »völ­lig ratio­nal kal­ku­lier­ten« und im Ver­gleich zur west­li­chen Poli­tik »viel enger am Völ­ker­recht« ori­en­tier­ten rus­si­schen Außen­po­li­tik. Keine Rede davon, dass sich spä­tes­tens im Lichte des jet­zi­gen Kriegs auch der­lei apo­lo­ge­ti­sche Hal­tun­gen gegen­über der puti­nis­ti­schen Außen­po­li­tik der letz­ten Jahre blamieren.

Die alte Friedensbewegung in der Krise

Das Ham­bur­ger Maga­zin befin­det sich mit die­ser Ein­schät­zung in frag­wür­di­ger Gesell­schaft. Die Nach­richt von der rus­si­schen Inva­sion fuhr ins­be­son­dere der tra­di­tio­nell anti­im­pe­ria­lis­ti­schen und oft­mals anti­ame­ri­ka­ni­schen Frie­dens­be­we­gung mas­siv in die Parade. Die Ham­bur­ger DKP etwa hatte einen Krieg im Gegen­satz zu kon­kret zwar offen­bar für rea­lis­tisch gehal­ten, dabei aber in völ­li­ger Ver­ken­nung der Fak­ten die rus­si­sche Kriegs­pro­pa­ganda repro­du­ziert. In der Mitte Februar erschie­ne­nen Aus­gabe 1/2022 der Zei­tung des Lan­des­ver­bands, Ham­bur­ger Utsich­ten, ver­kün­det der Lan­des­vor­sit­zende Michael Götze: »Es ist unglaub­lich, wie ein Krieg um die Ukraine gera­dezu her­bei­ge­re­det und ‑geschrie­ben wird. Tau­sende ukrai­ni­sche Sol­da­ten mar­schier­ten zuerst an die in Minsk ver­ein­barte Grenze zu den Pro­vin­zen Donezk und Lugansk. Die Ukraine wird von den Nato-Staaten mit Waf­fen voll­ge­pumpt. Aber der Russe ist schuld. Man war­tet gera­dezu auf die Mel­dung; ›Seit 5 Uhr früh wird zurück­ge­schos­sen.‹ « Vom unsäg­li­chen NS-Vergleich ganz abge­se­hen: Ein Ein­ge­ständ­nis, dass man mit die­ser War­nung vor einer Nato-Invasion in Russ­land völ­lig falsch lag, sucht man auf der Ham­bur­ger DKP-Seite ver­geb­lich. Statt­des­sen fin­det sich dort eine Erklä­rung des Par­tei­vor­stands, die den von Russ­land seit 2014 unter­stütz­ten Bür­ger­krieg in der Ost­ukraine als einen vom »nationalistische[n] Regime der Ukraine« geführ­ten »achtjährige[n] Krieg gegen den Don­bass« bezeichnet.

Noch ekla­tan­ter war die Fehl­ein­schät­zung der Volks­in­itia­tive gegen Rüs­tungs­exporte. Am 21. Februar, drei Tage vor der rus­si­schen Inva­sion, ver­öf­fent­lichte sie einen Auf­ruf zu einer »Frie­dens­kund­ge­bung« am 26. Februar mit dem Motto »Keine Waf­fen­ex­porte in die Ukraine«. In dem Auf­ruf heißt es: »Das Säbel­ras­seln, die Feind­bild­pro­pa­ganda und Panik­ma­che um einen ver­meint­li­chen Ein­marsch Russ­lands in die Ukraine müs­sen auf­hö­ren. Jetzt müs­sen Dia­log und die ernst­hafte Dis­kus­sion über Sicher­heits­ga­ran­tien für alle Sei­ten auf der Tages­ord­nung ste­hen. Mit dem Abzug der Manö­ver­trup­pen aus der Grenz­nähe zur Ukraine hat die rus­si­sche Regie­rung erneut die Hand dazu aus­ge­streckt.« Geteilt wurde die­ser Auf­ruf unter ande­rem vom Ham­bur­ger Forum und vom frisch aus der Lin­ken aus­ge­tre­te­nen Bür­ger­schafts­ab­ge­ord­ne­ten und Quer­front­ler Meh­met Yil­diz. Die Kund­ge­bung fand, unter völ­lig neuen Bedin­gun­gen, am 26. Februar statt – doch von Ein­sicht oder gar einem Ein­ge­ständ­nis der ekla­tan­ten Fehl­ein­schät­zung über Russ­lands zur Ver­söh­nung ›aus­ge­streckte Hand‹ war den Redner:innen (unter ihnen Yil­diz und der noto­ri­sche Nor­man Paech) nichts anzu­mer­ken.

Unstimmigkeiten in der Linkspartei

Ähn­lich wie kon­kret und DKP kom­pro­mit­tierte sich die Bun­des­tags­ab­ge­ord­nete und Lan­des­spre­che­rin der Ham­bur­ger Lin­ken Żaklin Nas­tić mit ein­sei­ti­gen Schuld­zu­wei­sun­gen an den Wes­ten kurz vor Kriegs­be­ginn. In einer Pres­se­mit­tei­lung vom 20. Februar zur Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz beklagte sie, dass »der Wes­ten« nicht »auf rus­si­sche For­de­run­gen nach Sicher­heits­ga­ran­tien« ein­ge­gan­gen sei und dass »Russ­land […] als Aggres­sor und die Ukraine als Opfer dar­ge­stellt« wor­den seien. Nach­dem sich das ver­meint­li­che Zerr­bild Russ­lands als Aggres­sor in bit­tere Rea­li­tät ver­wan­delt hatte, ver­schob sich Nas­tićs Argu­men­ta­tion in Rich­tung ›it takes two to tango‹: Zusam­men mit Sahra Wagen­knecht und eini­gen ande­ren Abge­ord­ne­ten der Par­tei Die Linke ver­fasste sie eine Erklä­rung zum Angriff Russ­lands auf die Ukraine, in wel­cher der »von den USA in den letz­ten Jah­ren betrie­be­nen Poli­tik« eine »maß­geb­li­che Mit­ver­ant­wor­tung« für den jet­zi­gen Krieg zuge­schrie­ben wird.

Der Lan­des­ver­band und die Bür­ger­schafts­frak­tion der Lin­ken hin­ge­gen haben deut­lich gemacht, dass sie einem sol­chen äqui­di­stan­ten Anti­im­pe­ria­lis­mus äußerst kri­tisch gegen­über­ste­hen. Die Par­tei rief zur Teil­nahme an der von Fri­days for Future initi­ier­ten Frie­dens­de­mons­tra­tion in der Ham­bur­ger Innen­stadt am 3. März auf und mobi­li­sierte selbst zu einer anschlie­ßen­den Kund­ge­bung vor dem rus­si­schen Kon­su­lat – unter ande­rem mit dem unmiss­ver­ständ­li­chen Hash­tag #fckptn. Mediale Auf­merk­sam­keit erlangte die Par­tei vor allem mit ihrer For­de­rung, die in Ham­bur­ger Werf­ten lie­gen­den Luxus­jach­ten rus­si­scher Olig­ar­chen fest­zu­set­zen: Man müsse den »Olig­ar­chen in die Suppe spu­cken, damit sie sich gegen Putin wen­den«, zitiert die Mopo den ehe­ma­li­gen Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten der Lin­ken Fabio de Masi. Gleich­zei­tig wen­dete sich Die Linke Ham­burg aber auch gegen den geplan­ten 100-Milliarden-Euro-Sonderetat für die Bun­des­wehr und for­derte, Maß­nah­men zur Kom­pen­sa­tion der mas­si­ven Preis­stei­ge­run­gen bei Gas, Strom und Kraft­stof­fen zu ergrei­fen, von denen vor allem die Armen betrof­fen seien.

Die radikale Linke zwischen Solidarität und Kritik

Der links­ra­di­kale anti­mi­li­ta­ris­ti­sche Block ging am 5. März im blau-gelben Fah­nen­meer unter, Foto: privat

Auch große Teile der post­au­to­no­men und Bewe­gungs­lin­ken in Ham­burg ergrei­fen Par­tei gegen den rus­si­schen Ein­marsch in die Ukraine. Die Inter­ven­tio­nis­ti­sche Linke war mit einem Rede­bei­trag auf der Kund­ge­bung der Links­par­tei vor dem rus­si­schen Kon­su­lat ver­tre­ten. Die Gruppe Pro­jekt Revo­lu­tio­näre Per­spek­tive (PRP) ver­fasste einen Auf­ruf zu einem anti­mi­li­ta­ris­ti­schen Block auf der Demo am Sams­tag – gegen den Krieg und gegen die deut­schen Auf­rüs­tungs­ab­sich­ten –, dem sich meh­rere Grup­pen anschlos­sen. Die auf den Trans­pis sicht­ba­ren For­de­run­gen aus dem Reser­voir der lin­ken Anti­kriegs­be­we­gung (von »Wir wol­len eure Kriege nicht« bis »Der Haupt­feind steht im eige­nen Land«) wirk­ten eher hilf­los und der kon­kre­ten Situa­tion nicht wirk­lich ange­mes­sen. Doch immer­hin arti­ku­lierte die­ser Block den aktu­ell drin­gend not­wen­di­gen Ein­spruch gegen Auf­rüs­tung und Natio­na­lis­mus. Im blau-gelben Fah­nen­meer ging der ziem­lich in der Mitte der Demo gele­gene Block aller­dings weit­ge­hend unter. Ein sym­pto­ma­ti­sches Bild für die aktu­elle Situa­tion der Lin­ken: Jed­we­der Ver­such der Dif­fe­ren­zie­rung wird laut über­tönt. Das gilt nicht nur für die Kri­tik an der deut­schen Auf­rüs­tung und am aggres­si­ven ukrai­ni­schen Natio­na­lis­mus, son­dern auch für die War­nung vor dem Ein­fluss rechts­extre­mer Grup­pie­run­gen in der ukrai­ni­schen Armee und Gesell­schaft (der sich nicht zuletzt in der staat­li­chen Ehrung des Faschis­ten­füh­rers Ste­pan Ban­dera aus­drückt), für die Anpran­ge­rung der ras­sis­ti­schen und anti­zi­ga­nis­ti­schen Dop­pel­mo­ral, die sich in der aktu­el­len Flücht­lings­po­li­tik zeigt, und für Kri­tik an der deut­schen Öffent­lich­keit, die von all dem nichts wis­sen will und der deut­schen Mili­ta­ri­sie­rung sekun­diert.1 Etwa wenn in einem MDR-Beitrag vom 6. März die Ent­schei­dung zum Dienst in der Bun­des­wehr als patrio­ti­scher Akt beju­belt wird.

Die Frei­heit, die sie mei­nen: FDP-Block »für eine freie Ukraine« am 5. März, Foto: privat

In die­ser schwie­ri­gen Lage bie­ten die 14 Punkte, mit denen der Twitter-Account Antifa Info Ham­burg am 2. März eine mög­li­che anti­fa­schis­ti­sche Ant­wort auf die aktu­elle Situa­tion skiz­zierte, eine gute erste Ori­en­tie­rung. Einer der Punkte lau­tet: »Wider­sprü­che aus­hal­ten«. Denn durch die blau-gelbe Brille, die nahezu alle (ver­meint­li­chen) Friedensfreund:innen gerade auf­ha­ben, sind Nuan­cen kaum zu erken­nen – im Gegen­teil, taucht sie doch auch so man­chen brau­nen Gegen­stand in leuch­tende Far­ben. Zu den Wider­sprü­chen, auf die eine radi­kale Linke in die­ser Situa­tion auf­merk­sam machen muss, gehört auch, dass sich unter den Par­tei­gän­gern bei­der Kon­flikt­sei­ten Rechts­extreme und Nazis befin­den: Das Ham­bur­ger Bünd­nis gegen Rechts macht vor allem auf den Puti­nis­mus der Ham­bur­ger AfD auf­merk­sam – die Bür­ger­schafts­ab­ge­ord­nete Olga Peter­sen etwa war im Sep­tem­ber 2021 als »Wahl­be­ob­ach­te­rin« in Russ­land, wo sie die »Trans­pa­renz« der Duma-Wahl lobte. Antifa Info Ham­burg wie­derum weist auf die Sym­bo­li­ken hin, an denen man die auch in der hie­si­gen Ukraine-Solidarität mit­mi­schen­den rechts­extre­men Kräfte wie den Rech­ten Sek­tor und Asow erkennt. Dar­auf, dass sich in der Ukraine aber auch sich als links ver­ste­hende Grup­pen für einen bewaff­ne­ten Kampf gegen die rus­si­sche Armee ent­schei­den, ver­weist der Account @anarchyinHH. Andere auto­nome Grup­pen wie die Antifa Nor­der­elbe tei­len Auf­rufe, die anar­chis­ti­sche Initia­tive Ope­ra­tion Soli­da­rity zu unter­stüt­zen, die »net­works of mutual aid within Ukraine« auf­bauen möchte.

Praktische Solidarität

Der­lei Netz­werke prak­ti­scher Hilfe haben sich der­weil auch schon in Ham­burg gegrün­det. Aus der Black Com­mu­nity Ham­burgs – maß­geb­lich waren hier die Akti­vis­tin Asmara und die SPD-Bezirksabgeordnete Irene Appiah – wur­den Busse orga­ni­siert, mit denen an der ukrainisch-polnischen Grenze ras­sis­tisch dis­kri­mi­nierte Schwarze Flüch­tende nach Ham­burg gebracht wur­den.2Auch über den Haupt­bahn­hof kamen Afrorukrainer:innen nach Ham­burg. Ein auf Face­book zu sehen­des (lei­der akus­tisch sehr schlecht zu ver­ste­hen­des) Video von Twi Radio Ger­many vom 7. März etwa zeigt ein Inter­view mit einem sieb­zehn­jäh­ri­gen Schü­ler und Nach­wuchs­fuß­bal­ler aus Nige­ria, der aus Kiew geflo­hen ist und von ras­sis­ti­scher Dis­kri­mi­nie­rung wäh­rend der Flucht berich­tet. Es zir­ku­lier­ten Auf­rufe zu Geld- und Sach­spen­den (Power­banks, Ben­zin­ka­nis­ter, Taschen­wär­mer) für den Ein­satz an der ukrai­ni­schen Grenze und natür­lich Auf­rufe, Flüch­tende vor Ort mit Sach­spen­den und Unter­brin­gung zu unter­stüt­zen. Der Ber­li­ner Ver­ein quar­teera e.V., in dem sich rus­sisch­spra­chige LGBT* in Deutsch­land orga­ni­sie­ren, ruft zur Unter­stüt­zung quee­rer Geflüch­te­ter auf und ver­mit­telt Unter­künfte – auch in Ham­burg. Über Tele­gram­grup­pen, etwa die »auto­nom unter anti­na­tio­na­lem Kon­text gegründet[e]« Gruppe Ukraine Sup­port Ham­burg und Umge­bung wer­den Infor­ma­tio­nen wei­ter­ge­ge­ben und wird effi­zi­ent und soli­da­risch Hilfe orga­ni­siert. Ähn­li­che Mes­sen­ger­grup­pen für ein­zelne Vier­tel bil­den sich gerade nahezu täg­lich. Die Hilfe, die hier orga­ni­siert wird, ist wie schon 2015 ange­sichts der kata­stro­phal schlecht vor­be­rei­te­ten öffent­li­chen Anlauf­stel­len drin­gend nötig.

Vor allem über rus­sisch­spra­chige Telegram-Gruppen hat sich schon län­ger ein ehren­amt­li­ches Unter­stüt­zungs­netz­werk am Haupt­bahn­hof gebil­det. Seit Anfang März wer­den dort ankom­mende Flüch­tende in Emp­fang genom­men und bei ihrer Ankunft unter­stützt. Da sie seit dem 6. März auch durch den Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) unter­stützt wer­den, gibt es am Haupt­bahn­hof gerade häu­fig mehr frei­wil­lige Helfer:innen als nötig. Ob das aber wei­ter­hin so bleibt, ist frag­lich – die Erfah­run­gen von 2015 haben gezeigt, dass der­lei Aus­brü­che von Hilfs­be­reit­schaft in Ham­burg meist nur von kur­zer Dauer sind.

Redak­tion Untie­fen, März 2022

Die Mit­glie­der der Redak­tion hof­fen, dass ihnen der Spa­gat zwi­schen Vater­lands­ver­rat und prak­ti­scher Soli­da­ri­tät gelingt, ohne dass sie sich schwere Zer­run­gen zuziehen.

  • 1
    Etwa wenn in einem MDR-Beitrag vom 6. März die Ent­schei­dung zum Dienst in der Bun­des­wehr als patrio­ti­scher Akt beju­belt wird.
  • 2
    Auch über den Haupt­bahn­hof kamen Afrorukrainer:innen nach Ham­burg. Ein auf Face­book zu sehen­des (lei­der akus­tisch sehr schlecht zu ver­ste­hen­des) Video von Twi Radio Ger­many vom 7. März etwa zeigt ein Inter­view mit einem sieb­zehn­jäh­ri­gen Schü­ler und Nach­wuchs­fuß­bal­ler aus Nige­ria, der aus Kiew geflo­hen ist und von ras­sis­ti­scher Dis­kri­mi­nie­rung wäh­rend der Flucht berichtet.

Isolation im Knast

Isolation im Knast

Erst im Januar 2022 kam Corona so rich­tig in den Ham­bur­ger Knäs­ten an. Die Pan­de­mie­maß­nah­men der Jus­tiz ver­schlech­tern die Haft­be­din­gun­gen noch, die seit der Ära Schill ohne­hin auf einem nied­ri­gen Niveau sind. Die Pan­de­mie brachte aber auch über­ra­schende Ver­bes­se­run­gen mit sich – die indes wohl nur vor­über­ge­hend waren.

Unter­su­chungs­haft­an­stalt Hols­teng­la­cis, Foto: Privat

Es ist schon erstaun­lich, dass es so lange gedau­ert hat: Erst mit der Omikron-Welle Anfang die­ses Jah­res infi­zier­ten sich zahl­rei­che Inhaf­tierte in der Jus­tiz­voll­zugs­an­stalt (JVA) Fuhls­büt­tel. Zuvor hatte es seit Beginn der Covid-19-Pandemie nur wenige ein­zelne Infek­tio­nen in den Ham­bur­ger Knäs­ten gege­ben, die meis­ten davon im Unter­su­chungs­ge­fäng­nis Hols­teng­la­cis. Als soge­nannte Gemein­schafts­ein­rich­tun­gen sind Knäste anfäl­lig für die schnelle Ver­brei­tung von Infek­tio­nen und ihre Insass:innen gel­ten als beson­ders vul­nerable Gruppe. Den­noch ist frag­lich, wel­che Maß­nah­men zum Schutz der Inhaf­tier­ten not­wen­dig sind und bei wel­chen es sich die Jus­tiz zu ein­fach macht.

Gleich zu Beginn der Pan­de­mie bil­dete die Jus­tiz eine teil­weise mehr­mals wöchent­lich tagende Pan­de­mie­kom­mis­sion, um einer schnel­len Durch­seu­chung der Knäste ent­ge­gen­zu­wir­ken. Für Außen­ste­hende war den­noch wäh­rend der ver­gan­ge­nen zwei Jahre kaum ersicht­lich, wel­che Regeln in wel­cher JVA genau gal­ten. Für die etwa 1.800 Inhaf­tier­ten in Ham­burgs sie­ben Jus­tiz­voll­zugs­an­stal­ten bedeu­te­ten die Coro­na­maß­nah­men eine erheb­li­che Ein­schrän­kung. Betrof­fen sind wei­ter­hin vor allem jene Ange­bote, die der Reso­zia­li­sie­rung die­nen sollen.

Wäh­rend des ers­ten Lock­downs im Früh­jahr 2020 schränkte die Jus­tiz fast alles ein. Besu­che von Ange­hö­ri­gen wur­den unter­sagt, externe Sozialarbeiter:innen, etwa von Sucht­be­ra­tun­gen, erhiel­ten nur noch in Aus­nah­me­fäl­len Zutritt und selbst bei die­sen Aus­nah­men blieb zwi­schen ihnen und den Inhaf­tier­ten eine Trenn­scheibe. Die Pan­de­mie ver­schlech­terte im Knast noch ein­mal die Lebens­um­stände. Doch es gab auch einige wenige kurz­fris­tige Ver­bes­se­run­gen. Über­ra­schend erlaubte die Ham­bur­ger Jus­tiz eini­gen Inhaf­tier­ten Han­dys, um einen Aus­gleich zu schaf­fen. Dies wurde von der Straf­fäl­li­gen­hilfe schon seit Jah­ren gefor­dert, doch vor der Covid-19-Pandemie war eine Rea­li­sie­rung undenkbar.

Positive Pandemieeffekte?

470 Inhaf­tierte erhiel­ten nicht-internetfähige Pre­paid­han­dys, mit denen sie zuvor frei­ge­schal­tete Num­mern anwäh­len konn­ten, bei­spiels­weise die ihrer Partner:innen und Fami­lie oder auch die der Dro­gen­hilfe. Gegen die Auf­for­de­rung, die Han­dys Ende Sep­tem­ber 2020 wie­der abzu­ge­ben, als die Jus­tiz das strikte Besuchs­ver­bot auf­ge­ho­ben hatte, leg­ten fast alle Betrof­fe­nen Wider­spruch ein. Letzt­lich jedoch ohne Erfolg: Die Jus­tiz­be­hörde beklagte einen angeb­lich erheb­li­chen Miss­brauch. In 180 Fäl­len habe es eine Ermah­nung gege­ben oder das Handy sei ein­ge­zo­gen wor­den – aller­dings seien nur in zwei Fäl­len straf­recht­li­che Kon­se­quen­zen gezo­gen wor­den. So schlimm kann der Miss­brauch also kaum gewe­sen sein.

Nicht nur die Inhaf­tier­ten selbst, auch das externe Hel­fer­sys­tem bemerkte, dass die Han­dys den Gefan­ge­nen ermög­lich­ten, sich pro­ak­ti­ver um ihre Ent­las­sung zu küm­mern. Teil­weise stieg die Häu­fig­keit an Kon­tak­ten zu eini­gen Inhaf­tier­ten sogar trotz der iso­lie­ren­den Umstände an. Die Pas­si­vi­tät und Unselb­stän­dig­keit, die der Voll­zug lehrt, sind für das Leben drau­ßen unge­eig­net. Die Mög­lich­keit, selbst­stän­dig frei­ge­ge­bene Num­mern anzu­ru­fen, setzte die­ser erzwun­ge­nen Untä­tig­keit etwas entgegen.

JVA Fuhls­büt­tel, Foto: privat

Auch im Bereich der Ersatz­frei­heits­stra­fen, die dann zum Tra­gen kom­men, wenn jemand eine Geld­strafe nicht bezahlt, machte Corona mög­lich, was pro­gres­sive Strafrechtler:innen seit Jah­ren for­dern. Diese Art der Strafe ist die reinste Aus­prä­gung von Klas­sen­jus­tiz. Sie wurde zwar nicht abge­schafft. Jedoch wurde sie in die­sem und dem vori­gen Win­ter aus­ge­setzt, um den Durch­lauf in den Anstal­ten zu ver­rin­gern. 70 Inhaf­tierte kamen Ende Dezem­ber 2021 frei, ab April sol­len sie sich dann zurück­mel­den. Wie bereits im ver­gan­ge­nen Win­ter dürfte dadurch die Kri­mi­na­li­täts­rate in Ham­burg kaum stei­gen. Mög­li­cher­weise wird der eine oder die andere ihre Strafe doch noch abbe­zah­len oder abarbeiten.

Ab Som­mer 2021 konn­ten Besucher:innen die Haft­an­stal­ten erneut wie­der betre­ten. In den meis­ten Fäl­len blieb es jedoch bei der Trenn­scheibe zwi­schen ihnen und den Inhaf­tier­ten. Das schränkt die Akus­tik erheb­lich ein. Viele Gefan­gene woll­ten ihren Fami­lien und vor allem klei­nen Kin­dern diese Situa­tion nicht zumu­ten und ver­zich­te­ten auf Besu­che. Dazu fiel ein Groß­teil der Maß­nah­men aus, zu denen der Voll­zug auf­grund sei­nes Reso­zia­li­sie­rungs­auf­trags ver­pflich­tet ist. Aus- und Fort­bil­dun­gen fan­den häu­fig nicht statt. Die meis­ten Locke­run­gen wie Aus­füh­run­gen zur Woh­nungs­su­che oder andere beglei­tete oder unbe­glei­tete Aus­gänge fie­len aus. Frei­zeit­an­ge­bote durch Ehren­amt­li­che ent­fie­len gänz­lich. Viele Gefan­gene ver­stan­den auf­grund von Sprach­bar­rie­ren kaum, was drau­ßen los war, die Gebote des Mas­ken­tra­gens setzte der All­ge­meine Voll­zugs­dienst (AVD) gegen­über den Inhaf­tier­ten deut­lich kon­se­quen­ter um als im Kolleg:innenkreis.

Endlich Impfen

In der Impf­prio­ri­sie­rung stan­den Inhaf­tierte und Ange­stellte der Jus­tiz­voll­zugs­an­stal­ten ziem­lich weit oben, zum anfäng­li­chen Unmut der Poli­zei, die sich umge­hend eine Hoch­stu­fung erquen­gelte. Im Mai 2021 ging es dann end­lich los. Im Spät­som­mer waren etwas über 700 der 1.800 Inhaf­tier­ten geimpft. Vom AVD sol­len bis heute fast neun­zig Pro­zent geimpft sein, behaup­tet die Jus­tiz­se­na­to­rin Anna Gal­lina (Bünd­nis 90/Die Grü­nen). Wäh­rend Ange­hö­rige und externe Besucher:innen bis heute als Gefahr gel­ten, fällt der AVD nicht unter die ein­rich­tungs­be­zo­gene Impf­pflicht. Die Bun­des­ver­ei­ni­gung der Anstalts­lei­te­rin­nen und Anstalts­lei­ter im Jus­tiz­voll­zug kennt ihre Pappenheimer:innen und for­dert die Aus­wei­tung auf die Strafvollzugseinrichtungen.

Die Knast­be­völ­ke­rung ist viel krän­ker und damit vul­nerabler als die All­ge­mein­be­völ­ke­rung. Neben Sucht, Hepa­ti­tis C und schlech­ter All­ge­mein­ver­fas­sung rau­chen fast alle Inhaf­tier­ten. Viele haben COPD – für sie kann Corona ein Todes­ur­teil sein. Außer­dem ist der Bil­dungs­stand gering, das Ver­ständ­nis für Krank­hei­ten eben­falls. Ebenso gering ist die Bereit­schaft, den Vor­ga­ben des Voll­zugs zu fol­gen – selbst bei objek­tiv ver­nünf­ti­gen Regeln. Dazu kommt nun, dass alle Inhaf­tier­ten bei Haft­an­tritt seit Pan­de­mie­be­ginn zunächst im Unter­su­chungs­ge­fäng­nis am Hols­teng­la­cis qua­ran­tä­ni­siert wer­den. Qua­ran­täne im Knast bedeu­tet völ­lige Iso­la­tion, nur mini­male Rechte wie ein täg­li­cher Hof­gang wer­den gewähr­leis­tet. Die Jus­tiz stellt »zum Aus­gleich« kos­ten­los Fern­se­her und Radio – sonst müs­sen Gefan­gene Miete für der­lei Geräte entrichten.

Unter­su­chungs­haft­an­stalt Hols­teng­la­cis, Foto: Privat

Den­noch brach­ten sich in den Jah­ren 2020/2021 ins­ge­samt sechs Men­schen in der Unter­su­chungs­haft­an­stalt um, 13 wei­tere ver­such­ten es. 2019 töte­ten sich zum Ver­gleich zwei, 2018 drei Men­schen in Haft (2017 waren es jedoch acht). Diese Zah­len ver­öf­fent­licht die Jus­tiz nicht mehr auf ihrer Web­site wie noch vor eini­gen Jah­ren, son­dern nur noch auf Nach­frage. Das habe den Zweck, einen Werther-Effekt, also Nach­ah­mung in einem wei­te­ren Sinne, zu ver­mei­den. Wer sich aus­kennt, weiß, dass es dabei nicht um die all­ge­meine Ver­öf­fent­li­chung von Sui­zid­zah­len geht.

Diese Zah­len sind kein Wun­der ange­sichts enorm hoher Raten psy­chi­scher Erkran­kung. 44 Pro­zent der Inhaf­tier­ten wei­sen einen pro­ble­ma­ti­schen Dro­gen­kon­sum auf, 40 bis 70 Pro­zent andere psy­chi­sche Stö­run­gen. Dafür gibt es nur wenige Psycholog:innenstellen. In der JVA Bill­wer­der betreut ein:e Psycholog:in 172 Inhaf­tierte. Wie die Jus­tiz den im Straf­voll­zugs­ge­setz fest­ge­hal­te­nen Auf­trag, »die Gefan­ge­nen zu befä­hi­gen, künf­tig in sozia­ler Ver­ant­wor­tung ein Leben ohne Straf­ta­ten zu füh­ren«, erfül­len soll, bleibt ihr Geheim­nis. Denn viele Gefan­gene wer­den auf­grund ihrer psy­chi­schen Stö­run­gen und Sucht straf­fäl­lig. Infi­zierte Gefan­gene, die nicht arbei­ten kön­nen, haben kei­nen Anspruch auf eine Ent­schä­di­gung für den Ver­dienst­aus­fall. Der ist auch nicht beson­ders hoch. Inhaf­tierte ver­die­nen etwa 1,50 bis 2,80 Euro pro Stunde, bei einer 34-Stunden-Woche.

Grüne Justizpolitik

Trotz eini­ger über­ra­schen­der Maß­nah­men wie der kurz­zei­ti­gen Han­dy­ein­füh­rung und der Aus­set­zung der Ersatz­frei­heits­stra­fen ist die Jus­tiz­po­li­tik in Ham­burg wenig pro­gres­siv. Die Umstruk­tu­rie­rung Anfang der Nuller­jahre durch den dama­li­gen Jus­tiz­se­na­tor Roger Kusch (damals CDU) und den dama­li­gen Innen­se­na­tor Ronald Schill ging weg von klei­nen spe­zia­li­sier­ten und auf die Frei­heit aus­ge­rich­te­ten Haft­an­stal­ten hin zu rie­si­gen geschlos­se­nen Groß­an­stal­ten. Die JVA Billwerder-Moorfleet war als Ersatz für die recht offe­nen Anstal­ten auf dem ehe­ma­li­gen KZ-Gelände Neu­en­gamme geplant, die 2006 nach jah­re­lan­gem Pro­test end­lich geschlos­sen wur­den. Es sollte eine offene JVA wer­den, doch Schill änderte das Kon­zept und fügte eine hohe Mauer, einen Zaun und einen Gra­ben hinzu. Heute erhal­ten Insass:innen nur aus­nahms­weise Locke­rungs­aus­gänge. Der Frau­en­voll­zug auf der Elb­in­sel Hahn­öfer­sand wech­selte eben­falls nach Bill­wer­der und ist bau­lich kaum von den Män­nern abge­trennt. 2025 kommt noch der Jugend­voll­zug hinzu, der der­zeit eben­falls auf Hahn­öfer­sand ist.

Es han­delt sich also um eine ziem­lich geschlos­sene Groß­an­stalt für Grup­pen, die laut Gesetz mög­lichst getrennt sein soll­ten. Seit­dem änder­ten weder CDU-Justizsenatoren noch der Grüne Till Stef­fen in sei­nen drei Amts­zei­ten etwas an der Grund­struk­tur des Ham­bur­ger Voll­zugs. Kuschs Linie wird noch Jahr­zehnte, wenn nicht län­ger, Ham­burgs Knäste domi­nie­ren. Die aktu­elle Jus­tiz­se­na­to­rin Anna Gal­lina war vor ihrem Amts­an­tritt völ­lig uner­fah­ren in Jus­tiz­an­ge­le­gen­hei­ten. Pri­vat ist sie hin­ge­gen von Betrugs­er­mitt­lun­gen gegen ihren Ex-Mann betrof­fen und muss sich einer Ver­leum­dungs­klage, ange­strengt von ehe­ma­li­gen Parteifreund:innen, stel­len.

Corona geht, der Justizvollzug bleibt, wie er ist

Falls Corona dann doch end­lich bald vor­bei sein sollte, kehrt die Gesell­schaft erleich­tert zurück zur schlech­ten Nor­ma­li­tät und mit ihr der Jus­tiz­voll­zug. Trotz der viel­ge­lob­ten aber zeit­lich befris­te­ten Expe­ri­mente mit der Aus­set­zung von Ersatz­frei­heits­stra­fen oder der Ein­füh­rung von Mobil­te­le­fo­nen wird der Ham­bur­ger Voll­zug sich erleich­tert zurück­leh­nen und nichts dar­aus ler­nen wol­len. Mit der Erin­ne­rung an die Lock­downs wird das kurz­fris­tig gestie­gene öffent­li­che Inter­esse an den tat­säch­lich Ein­ge­sperr­ten ver­san­den, denen man sich plötz­lich so nahe fühlte durch die Restrik­tion auf die eige­nen 90 Qua­drat­me­ter. Wer in die­ser Zeit im Knast war, wird noch wei­ter weg von der gemein­schaft­li­chen Erin­ne­rung an leere Stra­ßen und selbst­ge­nähte Mas­ken sein.

Wie es den Inhaf­tier­ten so genau geht, weiß nie­mand – erho­ben oder erfragt wird das nicht. Ham­burg prä­sen­tiert nicht ein­mal Rück­fall­zah­len. Die gibt es zwar für alle Bun­des­län­der, sie wer­den aber in vie­len Fäl­len, so auch Ham­burg, nicht ver­öf­fent­licht. Auch sonst weiß man wenig über die da drin­nen. Abge­se­hen von Alter, Geschlecht und Natio­na­li­tät erhebt die Jus­tiz nicht ein­mal, wie viele Men­schen bei­spiels­weise jähr­lich eine Ersatz­frei­heits­strafe antre­ten. Genauere Daten könn­ten ja zei­gen, dass da über­wie­gend die unge­bil­dete, arme und kranke Unter­schicht im Knast sitzt und kaum bes­ser raus- als rein­kommt. Diese Pro­bleme sind nicht nur ein­zel­nen ver­bohr­ten Knast­lei­tern oder ahnungs­lo­sen Jus­tiz­se­na­to­rin­nen anzu­las­ten, son­dern einer Gesell­schaft, die für Kri­mi­nelle kein Geld aus­ge­ben will. Bes­sere Gesund­heits­ver­sor­gung oder Bil­dungs­maß­nah­men für Kna­ckis? Wer sitzt, sei selbst schuld.

Das scheint auch für Linke zu gel­ten, die sich nur dann für diese geschlos­sene Insti­tu­tion inter­es­sie­ren, wenn ihre eige­nen Leute hin­ein­ge­ra­ten (RAF/G 20) oder wenn es um Trans­gen­der­men­schen hin­ter Git­tern geht. Mit den gewöhn­li­chen inhaf­tier­ten Män­nern und Frauen, die mit Gen­der­stern­chen und Ähn­li­chem nichts anfan­gen kön­nen, wol­len Linke nichts zu tun haben. Denn diese Aus­ge­schlos­se­nen sind ganz über­wie­gend weder acht­sam noch links­pro­gres­siv, zwar mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund, aber ras­sis­tisch, neh­men zwar auch Dro­gen, aber aus Ver­zweif­lung und nicht aus Hedo­nis­mus, sind gewalt­tä­tig, weil selbst von Gewalt betrof­fen. Und wer über­all mehr Regeln for­dert, wird auch kei­nen Begriff dafür haben, wie Gesell­schaft, Recht, Gesetz und Frei­heits­stra­fen zusam­men­hän­gen und sich dafür auch nicht interessieren.

Han­nah Hen­nings, Februar 2022

Die Autorin hadert mit ihrem Job als Sozi­al­ar­bei­te­rin genauso wie mit ihrem Wohn­ort Hamburg.

Kritik, die nicht abreißt

Kritik, die nicht abreißt

Pau­li­haus, Schil­ler­oper und Stern­brü­cke sind Ham­burgs umstrit­tenste Abriss- und Bau­vor­ha­ben. In der Tat sind sie nicht zu befür­wor­ten. Trotz­dem über­zeugt der Pro­test dage­gen nicht. Denn: Was spricht gegen den Abriss maro­der Bau­ten? Ein klei­ner Spa­zier­gang wirft die große Frage auf: Wo sind die stadt­pla­ne­ri­schen Uto­pien der Moderne geblie­ben? (Teil I)

Antiab­riss­ti­sche Aktion. Im Hin­ter­grund: die Über­reste der Schil­ler­oper. Foto: pri­vat

Am Neuen Pfer­de­markt, Ecke Neuer Kamp, stand im Som­mer noch ein back­stei­ner­ner Flach­bau – die ehe­ma­lige Kan­tine der Rin­der­markt­halle. Das Gebäude beher­bergte zuletzt ein indi­sches Restau­rant und eine Auto­werk­statt. Der Ende Juni erfolgte Abriss soll Platz schaf­fen für ein mehr­stö­cki­ges Büro­ge­bäude: das soge­nannte Pau­li­haus. Würde es schon ste­hen, so lie­ßen sich von den obe­ren Stock­wer­ken aus die kläg­li­chen Über­reste der Schil­ler­oper erbli­cken. Sie liegt nur einige Geh­mi­nu­ten ent­fernt. Im Gegen­satz zur Kan­tine steht ihr stäh­ler­nes Gerüst unter Denk­mal­schutz. Nach Vor­stel­lung der Inves­to­rin soll hier ein drei­tei­li­ger Gebäu­de­kom­plex ent­ste­hen. Wer nun von der Schil­ler­oper aus der Stre­se­mann­straße gen Altona folgt, fin­det sich bald an der Stern­brü­cke wie­der. Eine in die Jahre gekom­mene Stahl­kon­struk­tion, die ein Hauch von Bronx in Ham­burg umweht und unter der eine Reihe von Clubs beher­bergt sind. Sie soll, man ahnt es, in ihrer bis­he­ri­gen Form abge­ris­sen wer­den und einer neuen, über­di­men­sio­nier­ten Brü­cke weichen.

Die nur wenige Geh­mi­nu­ten von­ein­an­der ent­fernt lie­gen­den Gebäude wei­sen noch eine wei­tere Gemein­sam­keit auf: Sie bil­den die Haupt­achse städ­te­bau­li­chen Pro­tests in der Han­se­stadt. Um alle Bau­ten haben sich Initia­ti­ven gegrün­det, die für ihren Erhalt ein­ste­hen, oder – im Falle der Rin­der­markt­kan­tine – Ein­spruch gegen die Neu­bau­pläne erhe­ben. Im Fokus der Kri­tik steht, aller Unter­schiede zum Trotz, der Abriss alter Bau­sub­stanz und ein Plä­doyer für den Erhalt gewach­se­ner Struk­tu­ren. So heißt es in einer 2020 ver­fass­ten Pres­se­mit­tei­lung der Initia­tive St. Pauli Code JETZT!: Die Inha­be­rin des vom Abriss bedroh­ten Restau­rants an der Rin­der­markt­halle kämpfe »für die Erhal­tung des Ortes, der so wich­tig für den Stadt­teil St. Pauli ist«. Im sel­ben Jahr schrieb die Anwohner-Initiative Schiller-Oper: »Kämpft mit uns wei­ter für den Erhalt die­ses wich­ti­gen Stück [sic] St. Pauli! Was wäre unser Vier­tel ohne sol­che prä­gen­den Gebäude?« Die Initia­tive Stern­brü­cke schreibt, dass die Neu­bau­pla­nung der Eisen­bahn­brü­cke das »kul­tu­relle Herz der Schanze« zer­stö­ren würde – vor­bei wäre es dann mit der »leben­di­gen, klei­nen und his­to­risch gewach­se­nen Kreu­zung im Her­zen von Altona Nord«.

Konservieren als Widerstand? 

In der Tat: Alle geplan­ten Neu­bau­ten an besag­ten Orten trü­gen sicher kaum zur Lebens­qua­li­tät der Bewohner:innen der betrof­fe­nen Stadt­vier­tel bei. Sie dien­ten vor allem den weni­gen Profiteur:innen einer Stadt­pla­nung, die Ham­burg seit über 20 Jah­ren als Marke begreift und Kapi­tal­in­ter­es­sen allzu gern den Vor­zug lässt. Ins­be­son­dere den Neu­bau­plä­nen an Rin­der­markt­halle und Schil­ler­oper gilt es ent­schie­de­nen Wider­stand ent­ge­gen­zu­set­zen. Nicht zuletzt, weil die an Astro­tur­fing – die Simu­la­tion einer Bürger:innenbewegung – gren­zen­den Kam­pa­gnen der Investor:innen, etwa der Schil­ler­oper Objekt GmbH, nur allzu gut zei­gen, was es bedeu­ten könnte, in einer voll­ends zur Ware gewor­de­nen Stadt zu leben. Wohn­raum ist darin nicht mehr pri­mär ein zu befrie­di­gen­des Grund­be­dürf­nis, son­dern ein für viele unbe­zahl­ba­res Lifestyleobjekt.

Die Frage ist nur: Ist das Bewah­ren des Alten die rich­tige Form des Wider­stands? Ist das »his­to­risch Gewach­sene« dem ratio­nal Geplan­ten immer vor­zu­zie­hen? Warum sollte, um bei die­sem Gebäude zu blei­ben, das, was von der Schil­ler­oper übrig­ge­blie­ben ist, nicht abge­ris­sen wer­den und Neuem – etwa bezahl­ba­rem Wohn­raum – wei­chen? Die Anwohner-Ini ver­weist auf die »ein­zig­ar­tige Stahl­kon­struk­tion« und damit den his­to­ri­schen Wert des »letz­ten fes­ten Zirkusbau[s] aus dem 19. Jahr­hun­dert in Deutsch­land«. Die Schil­ler­oper sei ein »für den Stadt­teil prä­gen­des« und »iden­ti­täts­stif­ten­des Gebäude«, »ein ein­ma­li­ges Stück St. Pauli«. Sie sei Teil des »kul­tu­rel­len Erbes der Stadt« und müsse daher erhal­ten wer­den. Etwas anders ver­hält es sich mit der Kan­tine an der Rin­der­markt­halle: In jüngs­ter Zeit rich­tete sich der Appell des Erhal­tens, nach­dem die Kan­tine nun abge­ris­sen wurde, auf die mitt­ler­weile eben­falls gefäll­ten 21 Bäume auf dem Gelände des pro­jek­tier­ten Büro­ge­bäu­des. Aber könnte nicht auch hier etwas Neues ent­ste­hen, das dem Stadt­teil dien­li­cher ist als alte Flach­bau­ten oder ein Büro­ge­bäude – und für das ein paar gefällte Bäume womög­lich kein zu gro­ßer Preis wären?

Ist also eine Kri­tik, die darin auf­geht, nicht abzu­rei­ßen, und dadurch von der Argu­men­ta­tion des Denk­mal­ver­eins nicht mehr zu unter­schei­den ist, die rich­tige Ant­wort auf die bestehen­den Ver­hält­nisse? Und wieso kon­zen­trie­ren sich linke stadt­po­li­ti­sche Bewe­gun­gen der­art auf das Erhal­ten alter Bau­sub­stanz? Eine Ant­wort lässt sich womög­lich fin­den, wenn die loka­len Ham­bur­ger Pro­tes­t­herde ver­las­sen wer­den und ein Blick in die Geschichte des 20. Jahr­hun­derts gewor­fen wird: In den 1970er Jah­ren rückte die Linke nach und nach ab von moder­nen Visio­nen groß­an­ge­leg­ter Stadt­pla­nung und besetzte dem Ver­fall preis­ge­ge­bene inner­städ­ti­sche Bau­ten. Instand­be­set­zen und Bewah­ren wur­den zur wider­stän­di­gen Pra­xis. Aus der Rück­schau ist dies ein Kipp­punkt, der genauere Betrach­tung ver­dient. Er kann womög­lich nicht nur den heu­ti­gen Hang zum Kon­ser­vie­ren erklä­ren, son­dern auch, warum die eins­ti­gen ver­kom­me­nen Stadt­vier­tel mitt­ler­weile im Zen­trum der Kapi­tal­ver­wer­tung stehen.

Könnte hier nicht etwas gänz­lich Neues ent­ste­hen? Foto: privat

Als die Linke in den Altbau zog

Die 1970er Jahre gel­ten in den Geschichts- und Sozi­al­wis­sen­schaf­ten mitt­ler­weile aus vie­ler­lei Hin­sicht als Kul­mi­na­ti­ons­punkt einer Ent­wick­lung, die nach wie vor prä­gend für die Gegen­wart ist. Sie waren eine Über­gangs­phase von der klas­si­schen Moderne zur soge­nann­ten Post- oder auch Spät­mo­derne. Sie zeich­nen sich durch öko­no­mi­sche und kul­tu­relle Trans­for­ma­tio­nen aus, die sich in weni­gen skiz­zen­haf­ten Stri­chen mit den Schlag­wör­tern Deindus­tria­li­sie­rung, strau­chelnde Wohl­fahrts­staa­ten und neo­li­be­rale Wende sowie öko­lo­gi­sche Krise beschrei­ben las­sen. Die Moderne wurde, so hat es der Sozio­loge Ulrich Beck for­mu­liert, refle­xiv: Nicht mehr unge­bro­che­ner Fort­schritt, son­dern Erkennt­nis und Bewäl­ti­gung der nega­ti­ven Fol­gen des Moder­ni­sie­rungs­pro­zes­ses selbst rück­ten in den Vor­der­grund. In der Lin­ken zeigte sich bis­wei­len Skep­sis an den einst geheg­ten revo­lu­tio­nä­ren Hoff­nun­gen und eine Hin­wen­dung zur Inner­lich­keit – so man­che Mit­glie­der ehe­ma­li­ger K‑Gruppen fan­den ihren inne­ren Frie­den bald in einer Bhagwan-Kommune.

Aus städ­te­bau­li­cher Sicht drückt sich die­ser Bruch im 20. Jahr­hun­dert auch im Phä­no­men der Haus­be­set­zun­gen aus, die ins­be­son­dere ab den 1970er und 1980er Jah­ren in vie­len west­eu­ro­päi­schen Län­dern aus­zu­ma­chen sind. Denn wäh­rend sich der Woh­nungs­bau auf große Sied­lun­gen am Stadt­rand kon­zen­trierte, ver­fie­len Alt­bau­woh­nun­gen in den Innen­städ­ten und soll­ten oft­mals Neu­bau­plä­nen wei­chen. Die moderne, geschichts­ver­ges­sene Pla­nungs­eu­pho­rie schuf jenen Raum, inner­halb des­sen sich das Bewah­ren alter Bau­sub­stanz als wider­stän­dige Pra­xis gegen eine Bau­po­li­tik nach den Maß­ga­ben von Staat und Kapi­tal formierte.

Diese Bau­po­li­tik war auch ver­küm­mer­tes Pro­dukt jener in der ers­ten Hälfte des 20. Jahr­hun­derts pro­gres­si­ven Idee, den beeng­ten inner­städ­ti­schen Wohn­ver­hält­nis­sen pro­le­ta­ri­scher Vier­tel qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­gen und erschwing­li­chen Wohn­raum ent­ge­gen­zu­set­zen. Die pla­ne­ri­schen Visio­nen und Uto­pien der Moderne waren auch eine Ant­wort auf jene Ver­wer­fun­gen, die die Indus­tria­li­sie­rung und der Sie­ges­zug der neuen Pro­duk­ti­ons­weise ins­be­son­dere in den Städ­ten hin­ter­lie­ßen. Die Ant­wort bestand in der ratio­nal ent­wor­fe­nen Stadt, die der noch zu begrün­den­den ega­li­tä­ren Mas­sen­ge­sell­schaft Raum geben sollte. In den Bau­ten der Nach­kriegs­mo­derne, für die der Archi­tek­tur­his­to­ri­ker Hein­rich Klotz den Begriff des »Bau­wirt­schafts­funk­tio­na­lis­mus« prägte, war davon nicht mehr allzu viel übrig. Zu uni­form erschie­nen die Wohn­si­los wie die Groß­wohn­sied­lung im Ham­bur­ger Stadt­teil Steil­shoop oder das Neue Zen­trum Kreuz­berg in Ber­lin, die in den 1970er Jah­ren ent­stan­den. Zudem lagen die meis­ten die­ser Bau­ten – ent­ge­gen den ursprüng­li­chen Inten­tio­nen moder­ner Stadt­pla­nung – an den Stadt­gren­zen. Haus­be­set­zun­gen waren inso­fern immer auch mehr als nur prag­ma­ti­sche Poli­tik, um güns­ti­gen inner­städ­ti­schen Wohn­raum zu erhal­ten. Sie waren ein Labor alter­na­ti­ver Lebens­for­men, die sich der Nor­mie­rung und Regu­la­tion durch Staat und Kapi­tal widersetzten.

Das Allgemeine und das Besondere 

Die öko­no­mi­schen und kul­tu­rel­len Trans­for­ma­tio­nen der 1970er Jahre hat der Sozio­loge Andreas Reck­witz jüngst als Wen­dung vom All­ge­mei­nen zum Beson­de­ren beschrie­ben. Die sich ab dem 18. Jahr­hun­dert for­mie­rende klas­si­sche Moderne sei geprägt durch eine soziale Logik des All­ge­mei­nen: For­ma­li­sie­rung, Gene­ra­li­sie­rung und Stan­dar­di­sie­rung. Die Spät­mo­derne hin­ge­gen folge einer ent­ge­gen­ge­setz­ten Logik des Beson­de­ren: Sin­gu­la­ri­sie­rung. Diese Ana­lyse ist nicht nur eine wei­tere Erklä­rung für jene Pro­zesse der 1970er Jahre und damit auch für die Pra­xis des Beset­zens und Bewah­rens. Sie ver­mag auch zu zei­gen, warum die einst wider­stän­dige Pra­xis heute Gefahr läuft, sich in ihr Gegen­teil zu verkehren.

Denn was einst auch als Pro­test gegen die Logik des All­ge­mei­nen begann, steht heute längst im Zen­trum der Ver­wer­tung. Um wie­der auf den loka­len Pro­test um die Schil­ler­oper zu kom­men: Sowohl die Investor:innen als auch der sich gegen deren Pläne for­mie­rende Pro­test ope­rie­ren, aller Unter­schiede in der Ziel­set­zung zum Trotz, im sel­ben stra­te­gi­schen Feld. Die Schil­ler­oper Objekt GmbH spricht von der »besondere[n] Bedeu­tung im Quar­tier des Stadt­teils St. Pauli« und von einem »traditionelle[n] Areal«. Die GmbH imi­tiert hier nicht nur den Sound der Anwohner:innen-Ini: Viel­mehr ste­hen das Sin­gu­läre und Ein­zig­ar­tige des Ortes im Zen­trum von des­sen Ver­mark­tung und Ver­kauf. Und auf der ande­ren Seite unter­schei­det sich der vom Archi­tek­ten Dirk Anders gemein­sam mit der Schilleroper-Ini vor­ge­legte Alter­na­tiv­ent­wurf kaum von ähn­li­chen städ­te­bau­li­chen Stra­te­gien, his­to­ri­sche Bau­sub­stanz als deko­ra­ti­ves Ele­ment zu bewah­ren, um dem Neuen ein »his­to­ri­sches Flair« zu ver­schaf­fen. Ein flüch­ti­ger Blick in die Expo­sés von Immo­bi­li­en­fir­men reicht aus: Das »andere Leben«, die »gewach­se­nen Vier­tel«, Sub­kul­tur und alter­na­tive Urba­ni­tät sind offen­bar gute Argu­mente, um über­teu­erte Eigen­tums­woh­nun­gen zu verkaufen.

Auch das Pau­li­haus – oder bes­ser: das Areal, auf dem es gebaut wer­den soll – weist in diese Rich­tung. Bis zum Jahr 2010 beher­bergte die heu­tige Rin­der­markt­halle noch die Filiale einer gro­ßen Super­markt­kette. Das Back­stein­ge­bäude war weit­ge­hend mit wei­ßem Tra­pez­blech ver­klei­det. Es hätte in die­ser Form auch an jeder ande­ren Ecke die­ser oder in einer belie­bi­gen Stadt ste­hen kön­nen. Es war, wie sein Inhalt, aus­tausch­bar. Nach dem Aus­zug des Super­mark­tes ent­stand eine Debatte um die Nut­zung der Flä­che. Gegen die Abriss­pläne der Stadt – es sollte eine Kon­zert­hallte ent­ste­hen – ent­stand so gro­ßer Wider­stand, dass man sie schließ­lich ver­warf. Das Tra­pez­blech wurde ent­fernt, das Back­stein­ge­bäude saniert, die alten Reli­efs wie­der­her­ge­stellt. Nun war es nicht mehr irgend­ein belie­bi­ges Gebäude, son­dern es hatte Wie­der­erken­nungs­wert. Die Rin­der­markt­halle St. Pauli ist nun ›ein­zig­ar­tig‹, mit ›Tra­di­tion‹ und ›Geschichte‹. So wer­den sie und die sich in ihr mitt­ler­weile zu fin­den­den Geschäfte auch ver­mark­tet. Die »ganze Viel­falt St. Pau­lis auf einem Fleck«, heißt es auf der Web­seite. Gemeint sind Einkaufsmöglichkeiten.

Bis 2011 mit Tra­pez­blech ver­hüllt: die his­to­ri­sche Fas­sade der Rin­der­markt­halle. Foto: GeorgD­er­Rei­sende / Wiki­me­dia Com­mons, Lizenz: CC BY 4.0

Das Beson­dere, das Erhal­ten des his­to­risch Gewach­se­nen, die Beto­nung von Iden­ti­tät, sind zu den Koor­di­na­ten eines kul­tu­rel­len Sys­tems gewor­den, das nicht mehr das Andere kapi­ta­lis­ti­scher Ver­wer­tung sucht, son­dern mitt­ler­weile in ihrem Zen­trum steht. Jene Räume, in denen auch eine wider­stän­dige, sich nicht fügen wol­lende Sub­kul­tur ent­stand, ver­lie­ren nach und nach jeg­li­ches Moment von Nicht­iden­ti­tät und wer­den sowohl zur Bühne als auch zum kon­su­mier­ba­ren Bei­fang des Erwerbs von Eigen­tums­woh­nun­gen – oder hand­ge­mach­ter Back­wa­ren. Und nun? Zurück zu Tra­pez­blech und Beton?

Womög­lich wäre es ein Weg, einen Teil der nicht­ein­ge­lös­ten Ver­spre­chen der Moderne, auch in Stadt­pla­nung und Archi­tek­tur, frei­zu­le­gen und sie auf den Trüm­mern abge­ris­se­ner Stahl­kon­struk­tio­nen und Flach­bau­ten ent­ste­hen zu las­sen. -Fort­set­zung folgt-

Johan­nes Rad­c­zinski, Januar 2022 

Der Autor plä­dierte auf Untie­fen bereits für den Abriss (oder zumin­dest die Umge­stal­tung) des Bis­marck­denk­mals und dafür, das Hei­li­gen­geist­feld ganz­jäh­rig als Frei­flä­che den Bewohner:innen die­ser Stadt zur Ver­fü­gung zu stellen.

Wie bürgerlich ist »Querdenken«?

Wie bürgerlich ist »Querdenken«?

In den letz­ten Wochen des Jah­res 2021 erhielt der Ham­bur­ger »Quer­den­ken«-Able­ger Auf­trieb und orga­ni­sierte zeit­weise die größ­ten Pro­teste der Bun­des­re­pu­blik. Lokal­presse und manch anti­fa­schis­ti­sche Gruppe spre­chen der Bewe­gung ab, bür­ger­lich zu sein – womög­lich soll­ten Kri­tik und Gegen­pro­test jedoch genau das fokussieren.

Nicht zu fas­sen eine merk­wür­dige Melange aus Kar­ne­val, Neo­na­zis, Hip­pies, Eso­te­rik­messe und Evan­ge­li­ka­len. Foto: privat

Die ste­tig stei­gende Zahl der Teilnehmer:innen bei den soge­nann­ten Querdenken-Demonstrationen im vor­weih­nacht­li­chen Ham­burg hat bei der Lokal­presse Ver­un­si­che­rung aus­ge­löst. Sams­tag für Sams­tag for­mierte sich ein immer grö­ßer wer­den­der Pro­test­zug. Am 18. Dezem­ber waren es dann laut Poli­zei 11.500 Men­schen, die dem Auf­ruf zum »Marsch durch Ham­burg« unter dem Motto »Frei sein« folg­ten. Das Abend­blatt berich­tete und zitierte eine »Ein­schät­zung der Behör­den«, der­zu­folge der Pro­test einen »ins­ge­samt bür­ger­li­chen Cha­rak­ter« habe. »Tat­säch­lich«, wie es mit eini­gem Erstau­nen im Arti­kel wei­ter hieß, sahen die Pro­tes­tie­ren­den auch wirk­lich so aus. Für die Ham­bur­ger Mor­gen­post passte die schmerz­hafte Erkennt­nis, dass »aus­ge­rech­net Ham­burg, die Stadt des nüch­ter­nen Prag­ma­tis­mus, jetzt zur Haupt­stadt der deut­schen Corona-Proteste« gewor­den sei, »kein Stück ins Bild«. Wäh­rend das Abend­blatt hin­ter die Fas­sade blickte und meinte, dass die Paro­len alles »andere als bür­ger­lich« seien, ließ die Mopo einen Hirn­for­scher zu Wort kom­men. So als sei die auf die Straße getra­gene Irra­tio­na­li­tät nicht Aus­druck gesell­schaft­li­cher Ver­hält­nisse, son­dern tief in die Natur des Men­schen eingeschrieben.

Ver­un­si­chert ist offen­sicht­lich auch die links­ra­di­kale Szene der Han­se­stadt: Der Gegen­pro­test fällt bis­lang nicht nur über­ra­schend klein aus, son­dern hat schein­bar auch nur die gegen tat­säch­li­che Nazi­auf­mär­sche erprob­ten Akti­ons­for­men und Paro­len parat.

In der Tat ist es ver­un­si­chernd, was dort Sams­tag für Sams­tag in einem immer grö­ßer wer­den­den Umzug durch die Stra­ßen der Ham­bur­ger Innen­stadt zieht. Eine merk­wür­dige Melange aus Kar­ne­val und Eso­te­rik­messe, aus Neo­na­zis und Hip­pies, Evan­ge­li­ka­len und Kleinunternehmer:innen. Die noch grö­ßere Merk­wür­dig­keit besteht jedoch darin, dass der Pro­test gerade auch das ist, was er nach Ansicht der Ham­bur­ger Lokal­presse und Tei­len der anti­fa­schis­ti­schen Grup­pie­run­gen nicht sein soll: bür­ger­lich. Der Sozio­loge Oli­ver Nachtwey hat mit Kolleg:innen im Jahr 2020 eine Stu­die zu den Coro­na­pro­tes­ten in Deutsch­land und der Schweiz ver­öf­fent­licht. Dem­nach ord­ne­ten sich die Teilnehmer:innen zu einem Groß­teil der Mit­tel­schicht zu, sind berufs­tä­tig und wei­sen über­durch­schnitt­lich hohe Bil­dungs­ab­schlüsse auf. Einem Beob­ach­ter des Ham­bur­ger Querdenker:innenmilieus zufolge, den die Redak­tion Untie­fen befragte, las­sen sich diese Ergeb­nisse recht gut auf die hie­si­gen Pro­teste über­tra­gen. Wer selbst ein­mal am Rand besag­ter Pro­test­um­züge gestan­den hat, wird das bestä­ti­gen kön­nen. So waren Untie­fen-Redak­ti­ons­mit­glie­der, die seit mehr als einem Jahr die Coro­na­pro­teste beob­ach­ten (und gegen sie demons­trie­ren), über­rascht, dass die Selbst­be­zeich­nung des Pro­tes­tes als »bunt« nicht nur eine Wort­hülse war.

Am 18. Dezem­ber folg­ten laut Poli­zei 11.500 Men­schen dem Auf­ruf zum »Marsch durch Ham­burg« unter dem Motto »Frei sein«. Foto: pri­vat

Es sind also durch­aus Teile der viel beschwo­re­nen Mitte der Gesell­schaft, die sich hier im »Wider­stand« wäh­nen – als »rote Linie« gegen die »Corona-Diktatur«. Der Kri­tik und dem Gegen­pro­test ist somit offen­bar wenig gehol­fen, wenn die Pro­teste ohne Wei­te­res als rechts­extre­mes Phä­no­men ver­stan­den wer­den. Skur­ril wurde es etwa am 18. Dezem­ber, als nicht nur wie­der ein­mal Querdenker:innen den anti­fa­schis­ti­schen Gegendemonstrant:innen ihr »Nazis raus!« zurück­ga­ben, son­dern vom Laut­spre­cher­wa­gen dröhnte, dass die Antifa durch ihren Ver­gleich die NS-Verbrechen rela­ti­viere. Die Querdenker:innen grund­sätz­lich als »Nazis« oder »Faschos« anzu­spre­chen trifft weder sie sel­ber noch die Sache. 

Die Bezeich­nung »bür­ger­lich« hin­ge­gen ver­harm­lost die Pro­teste nicht zwangs­läu­fig. Rich­tig ver­stan­den weist sie auf ihren Kern hin: auto­ri­täre Ideo­lo­gien, die in der deut­schen Gesell­schaft weit ver­brei­tet sind. Ent­ge­gen der poli­ti­schen Idea­li­sie­rung der »Mitte« als Sta­bi­li­täts­an­ker der Demo­kra­tie ist es ange­zeigt, immer wie­der den »Rechts­extre­mis­mus der Mitte« (Oli­ver Decker) zu benen­nen, der sich anläss­lich der staat­li­chen Corona-Politik nun neu for­miert. Dass die aller­meis­ten Teilnehmer:innen nicht rechts­extrem orga­ni­siert sind und das wohl auch nicht mit sich ver­ein­ba­ren könn­ten, hin­dert sie nicht daran, omi­nöse Welt­re­gie­run­gen, Phar­ma­lob­bys oder bestimmte Mil­li­ar­däre kryp­to­an­ti­se­mi­tisch für die Pan­de­mie, Bevöl­ke­rungs­kon­trolle und gar geziel­ten Mas­sen­mord ver­ant­wort­lich zu machen. Der Mobi­li­sie­rung hilft es viel­mehr, dass für die Ham­bur­ger Querdenker:innen nicht anstö­ßige ras­sis­ti­sche oder natio­na­lis­ti­sche The­sen zen­tral sind.

Statt­des­sen steht neben Kri­tik an den Ein­schrän­kun­gen für Unge­impfte und der sich abzeich­nen­den Impf­pflicht (»Frie­den, Frei­heit, Selbst­be­stim­mung«) der Schutz von Kin­dern vor der ver­meint­lich unsi­che­ren Corona-Impfung im Vor­der­grund (»Hände weg von unse­ren Kin­dern«). Dafür sind laut unse­rem Beob­ach­ter unter ande­rem Grup­pen des ver­schwö­rungs­theo­re­ti­schen Netz­wer­kes »Eltern ste­hen auf« ver­ant­wort­lich, die schon 2020 gegen die Mas­ken­pflicht an Schu­len mobi­li­sier­ten, teil­weise mit haar­sträu­ben­den Gru­sel­ge­schich­ten von Atem­not und Ersti­ckungs­tod. Kin­der­schutz ist in der BRD schon lange ein Thema, mit dem auto­ri­täre Straf­be­dürf­nisse mobi­li­siert wer­den kön­nen (»Todes­strafe für Kin­der­schän­der«; gegen »Früh­sexua­li­sie­rung«). So über­rascht es nicht, dass auch bei »Eltern ste­hen auf« aus dis­ku­ta­blen Beden­ken gegen­über den staat­li­chen Corona-Maßnahmen schnell ein all­ge­mei­ner Vor­wurf der »Kin­des­miss­hand­lung« wird, die auf sata­ni­sche und pädo­phile Eli­ten oder gleich einen »neuen Faschis­mus« hin­deute – gegen des­sen Scher­gen natür­lich auch hand­greif­li­cher Wider­stand als legi­tim gilt. Die beglei­ten­den kon­ser­va­ti­ven Vor­stel­lun­gen von unschul­di­ger Kind­heit, natür­li­chen Geschlech­ter­rol­len, Mut­ter­in­stink­ten und männ­li­chen Beschüt­zern kön­nen weit über das klas­si­sche rechte Publi­kum hin­aus mobi­li­sie­ren, wie Larissa Denk vom Bera­tungs­netz­werk Ham­burg in einer jüngst erschie­ne­nen Exper­tise (S. 26) herausarbeitet.

Die sicht­bare Kri­tik an den staat­li­chen Corona-Maßnahmen wird so an vie­len Stel­len mit alt­be­kann­ten und weit ver­brei­te­ten auto­ri­tä­ren Ideo­lo­gien arti­ku­liert. Das ist nicht allein die Folge des lin­ken Ver­sa­gens, eine über­zeu­gende Kri­tik der staat­li­chen Pan­de­mie­po­li­tik zu ent­wi­ckeln. Viel­mehr begüns­tigt das ideo­lo­gi­sche Feld selbst die Regres­sion. Den Corona-Protesten gelingt etwas, das eman­zi­pa­to­ri­scher Orga­ni­sa­tion grund­sätz­lich ver­wehrt ist. Mit ihren Ver­schwö­rungs­my­then spre­chen sie anti­mo­derne und anti­auf­klä­re­ri­sche Bedürf­nisse an und brin­gen so Men­schen zusam­men, die objek­tiv ver­schie­dene Inter­es­sen und oft sogar auch kon­träre poli­ti­sche Ansich­ten haben. Diese ermu­ti­gende Erfah­rung, Teil einer wach­sen­den Bewe­gung zu sein, öff­net poli­tisch uner­fah­rene und unor­ga­ni­sierte Kleinbürger:innen für die Mobi­li­sie­rung durch rechte Struk­tu­ren (Telegram-Gruppen, Verschwörungsideologie-Netzwerke, AfD).

Das kann womög­lich auch den nur ver­hal­te­nen Gegen­pro­test erklä­ren. Denn dass von den Querdenken-Demonstrationen ähn­lich unmit­tel­bare Gefahr wie von Nazi-Aufmärschen aus­geht, glau­ben wohl nur wenige. Gegen die über­ra­schend hete­ro­ge­nen Milieus, in denen sich das Auto­ri­täre der­zeit for­miert, sind jedoch noch keine über­zeu­gen­den poli­ti­schen Stra­te­gien zur Hand. Dazu kommt die mitt­ler­weile empi­ri­sche Gewiss­heit, dass die Querdenker:innen mit ihrer Leug­nung der Pan­de­mie und der Geg­ner­schaft zur Imp­fung eine abso­lute Min­der­heit dar­stel­len und man also mit der Mehr­heits­ge­sell­schaft im Rücken demons­triert. Das wird man­che dazu füh­ren, gegen den geschla­ge­nen Geg­ner gar nicht erst los­zu­zie­hen – ande­ren mag die fak­ti­sche Gemein­sam­keit mit dem Staat unbe­quem sein.

Teilt man die Ein­schät­zung, dass die Corona-Pandemie nur als Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkt für auto­ri­täre Ideo­lo­gie fun­giert, könnte eine anti­fa­schis­ti­sche Ant­wort sein, diese Ideo­lo­gien und die ent­spre­chen­den Netz­werke – von »Eltern ste­hen auf«, über die »Ärzte für Auf­klä­rung« bis hin zu »QAnon« – stär­ker in den Blick zu neh­men. Es hieße, die Kri­tik näher an das beob­acht­bare Phä­no­men her­an­zu­rü­cken und den Gegen­pro­test nicht mit den alt­her­ge­brach­ten Paro­len und Trans­pa­ren­ten zu gestal­ten. Im glei­chen Atem­zug müsste diese Kri­tik den bür­ger­li­chen Stim­men, wie sie in Mopo und Abend­blatt zu fin­den sind, vor­füh­ren, dass die Exter­na­li­sie­rung des Pro­tests als unbür­ger­lich, patho­lo­gisch oder Ähn­li­ches wie­derum ein iden­ti­tä­res Ticket dar­stellt. Es gibt nicht nur das trü­ge­ri­sche Gefühl, auf der rich­ti­gen Seite zu ste­hen, son­dern ver­schlei­ert dar­über hin­aus vor allem jene Ver­hält­nisse, die den Pro­tes­ten zugrunde lie­gen – die auto­ri­tä­ren Sehn­süchte der soge­nann­ten bür­ger­li­chen Mitte.

Redak­tion Untie­fen, Dezem­ber 2021.

Was kostet der Spaß?

Was kostet der Spaß?

Der Ham­bur­ger Dom ist belieb­tes Aus­flugs­ziel für kurz­zei­ti­ges Ver­gnü­gen. Der Spaß hat jedoch sei­nen Preis, und den zah­len nicht zuletzt Saisonarbeiter:innen aus dem Aus­land. Die Lokal­presse ver­brei­tet hin­ge­gen das Glücks­ver­spre­chen des größ­ten Volks­fes­tes im Nor­den. Gäbe es nicht bes­sere Ver­wen­dungs­mög­lich­kei­ten für eine Frei­flä­che mit­ten in der Stadt?

Was hin­ter den glit­zern­den Fas­sa­den des Ham­bur­ger Doms liegt, bleibt zumeist im Dun­keln. Foto: privat

Im Früh­jahr und Som­mer des Jah­res 2021 – wie auch bereits im Jahr zuvor – wurde das Hei­li­gen­geist­feld zum tat­säch­li­chen Herz von St. Pauli. Waren die Knei­pen und Clubs noch pan­de­mie­be­dingt geschlos­sen, so fan­den sich des Nachts fei­er­wü­tige Hamburger:innen mit Fla­schen­bier und Sound­sys­tem auf dem Platz ein – zumin­dest solange der Stadt­staat nicht seine Mus­keln spie­len ließ und Was­ser­wer­fer schickte. Tags­über drohte das nicht und so war das Feld häu­fig schon mit­tags Frei­flä­che für spie­lende Kin­der, Skater:innen und Son­nen­ba­dende. Im Juli began­nen dann die ers­ten Schausteller:innen den Platz mit ihren Fahr­ge­schäf­ten für sich zu rekla­mie­ren. Aus der für viele unkom­mer­zi­ell nutz­ba­ren Frei­flä­che wurde die Gated Com­mu­nity eini­ger weni­ger, die den öffent­li­chen Raum kapi­ta­li­sier­ten. »Juhu«, freute sich die BILD, »Frei­tag star­tet end­lich wie­der der Dom!«

Der jen­seits pan­de­mi­scher Lagen drei­mal jähr­lich statt­fin­dende Rie­sen­rum­mel ver­spre­che, so der Arti­kel wei­ter, »Som­mer, Sonne und viel Spaß«. Für alle, die diese Drei­fal­tig­keit der Ver­gnü­gungs­kul­tur schon zuvor auf dem Feld genos­sen hat­ten, waren die anrü­cken­den Schausteller:innen jedoch weni­ger Grund zur Freude. Zwi­schen den nach und nach zusam­men­ge­häm­mer­ten Karus­sells fan­den sich immer wie­der die vor­ma­li­gen Nutzer:innen des Hei­li­gen­geist­fel­des ein – bis der Platz Ende Juli end­gül­tig umzäunt und der Zugang streng kon­trol­liert wurde. Für viele bot sich so in die­sen Juli­wo­chen, quasi als klei­ner Aus­gleich für die genom­mene Flä­che, die Mög­lich­keit eth­no­gra­fi­scher Stu­dien über das Schausteller:innenleben.

Nicht nur in Som­mer­näch­ten begehrt – eine Frei­flä­che mit­ten in der Stadt. Wäh­rend des Coro­na­som­mers 2021 zog das Hei­li­gen­geist­feld gar so viele Men­schen an, dass die Poli­zei regel­mä­ßig die Party unter­brach. Fotos: privat

Amusement und Ausbeutung

Den neu­gie­ri­gen Bli­cken offen­barte sich jedoch nicht jener weit ver­brei­tete Mythos des Fami­li­en­be­triebs im Wohn­wa­gen. Oder wie es nach wie vor im Volks­mund und in der Pres­se­be­richt­erstat­tung heißt: des »fah­ren­den Vol­kes« (des­sen Roman­ti­sie­rung gerade in die­sem Land mit sei­ner Geschichte einige Fra­gen auf­wirft). Der real exis­tie­rende Kapi­ta­lis­mus, des­sen Fas­sade auf dem Ham­bur­ger Dom nicht nur meta­pho­risch glit­zert, zeigte hin­ter den Karus­sell­ku­lis­sen seine nur allzu gern ver­schwie­ge­nen Wider­sprü­che. Um es ein­mal zuzu­spit­zen: Das Ticket für den Ein­tritt ins Schausteller:innenleben ist offen­bar ein Mercedes-SUV; Modell­reihe irgend­et­was mit »G«. Den hohen Anschaf­fungs­preis die­ser Sta­tus­sym­bole erwirt­schaf­ten auch jene Saisonarbeiter:innen, deren Rumä­nisch bei Som­mer­hitze von den halb­fer­ti­gen Ach­ter­bah­nen über den Platz schallte. Schät­zungs­weise 90 Pro­zent der Hilfsarbeiter:innen, die auf deut­schen Jahr­märk­ten und Volks­fes­ten als »bil­lige Arbeits­kräfte« schuf­ten, kom­men aus Rumänien.

Der „Shaker“ – rumä­ni­sche Hilfsarbeiter:innen und Mer­ce­des SUV. Foto: privat

»Jede Menge Spaß auf St. Pauli«, wie es zum nun aus­lau­fen­den Win­ter­dom auf der offi­zi­el­len Seite der Stadt Ham­burg heißt, beruht eben auch auf der Aus­beu­tung impor­tier­ter Arbeits­kraft aus Nied­rig­lohn­län­dern. Das ist an sich wenig ver­wun­der­lich. Auch Amu­se­ment muss unter kapi­ta­lis­ti­schen Ver­hält­nis­sen pro­du­ziert wer­den. Was beim Ham­bur­ger Dom auf­fällt: Gespro­chen wird über diese Ver­hält­nisse höchst ungern.

Mindestlöhne…

Denn wer die Beob­ach­tun­gen zu teu­ren Autos und Saisonarbeiter:innen – sie sind in der Tat nur Beob­ach­tun­gen – bele­gen will, der fin­det nicht viel. In der hie­si­gen Presse und sei­tens der Stadt wird der Dom zumeist beju­belt und seine glit­zernde Fas­sade, der Schein im wahrs­ten Sinne des Wor­tes, als Wahr­heit ein­ge­kauft. Zur Frage nach der Unter­kunft der Saisonarbeiter:innen fin­det sich indes ein mitt­ler­weile fast 20 Jahre alter Arti­kel. Der hat es aller­dings in sich. Das Ham­bur­ger Arbeits­amt war nach der Beschwerde eines rumä­ni­schen Arbei­ters aktiv gewor­den. Der Arbei­ter hatte weni­ger Lohn als ver­ein­bart erhal­ten – musste dafür jedoch mehr Arbeits­zeit ableis­ten (105 Stun­den) als ver­trag­lich ver­ein­bart (40 Stunden). 

Das Amt rückte zur Groß­kon­trolle aus: Dabei konn­ten zwar nur wenige der erwar­te­ten Ver­stöße fest­ge­stellt wer­den, doch sei eine ganz andere Sache scho­ckie­rend gewe­sen. Die Unter­künfte der Arbei­ter erin­ner­ten die Kontrolleur:innen an die »Hal­tung von Tie­ren«. Die mit die­ser Tat­sa­che kon­fron­tier­ten Schausteller:innen nah­men zur Sache keine Stel­lung. Empört war man jedoch, dass das Arbeits­amt kurz vor der Eröff­nung des Volks­fes­tes offen­bar ihren Ruf rui­nie­ren wolle. Und wie­viel ver­die­nen Saisonarbeiter:innen nun? Wenn sie Glück haben, wird ihnen offen­bar der Min­dest­lohn aus­ge­zahlt – einem Spre­cher des Zolls zufolge gibt es hier nur wenige Verstöße.

Viel mehr fin­det sich dann aller­dings auch nicht über die Arbeits­ver­hält­nisse auf dem Ham­bur­ger Dom. Aber auch ein Nicht­be­fund ist ein Befund – die Saisonarbeiter:innen blei­ben unsicht­bar. Dies steht ers­tens im Gegen­satz zu jenen Lebe­we­sen, die Tier­hal­tung im Wort­sinne erlei­den: Für die Dom-Ponys, die dort auf engs­tem Raum trist ihre klei­nen Kreise zie­hen, konn­ten viele ihr Herz erwär­men – sie schaff­ten es etwa ins Wahl­pro­gramm der Grü­nen (S. 133/143) für die Bür­ger­schafts­wahl 2020. Das Pony-Karussell sorge »für Unbe­ha­gen bei den Besucher*innen«, heißt es dort, man wolle die Tier­hal­tung bei Volks­fes­tens abschaf­fen. Zwei­tens steht die Unsicht­bar­keit der Arbeiter:innen im kras­sen Gegen­satz zur Medi­en­prä­senz ihrer Vor­ge­setz­ten. Gerade in Zei­ten der Pan­de­mie, der Bran­che ging es ja in der Tat nicht gut, erfuh­ren die Schausteller:innen viel Auf­merk­sam­keit. Das dabei in Dau­er­schleife gespielte Lamento exis­ten­zi­el­ler Nöte erin­nert bis­wei­len an die Pres­se­ar­beit deut­scher Poli­zei­ge­werk­schaf­ten. Wie schlecht es um die Bran­che tat­säch­lich bestellt ist, ist dabei schwer zu sagen. Kon­krete Zah­len wer­den nicht genannt.

… und Millionenumsätze

Was ver­die­nen also Schausteller:innen? Genau bezif­fern lässt sich dies nicht. Aber: Der Umsatz auf Volks­fest­plät­zen, so eine Stu­die des Deut­schen Schau­stel­ler­bun­des aus dem Jahr 2018, lag bei 4,75 Mil­li­ar­den Euro. Wenn nun, wie es besag­ter Stu­die zu ent­neh­men ist, der Win­ter­dom rund zwei und der Som­mer­dom rund zwei­ein­halb Mil­lio­nen Besucher:innen anzog – wohl­ge­merkt: vor Corona – und diese im Schnitt 25 Euro aus­ga­ben, so lag der Umsatz der Fahr­ge­schäfte und Buden des Doms zwi­schen 50 und 62,5 Mil­lio­nen Euro. Was davon tat­säch­lich als Gewinn bei den Betrie­ben hän­gen­bleibt, ist eben­falls unklar. Der eth­no­gra­fi­sche Blick und der sich ihm zei­gende Fuhr­park der Schausteller:innen – die Mercedes-SUVs – las­sen jedoch ver­mu­ten, dass es zum Leben reicht.

Der­zeit neigt sich der Win­ter­dom dem Ende zu. Folgt man der Ham­bur­ger Mor­gen­post, dann war diese Aus­gabe des Volks­fes­tes die »wich­tigste aller Zei­ten«. Denn »selbst im Krieg« hät­ten die Schausteller:innen mehr ver­dient als wäh­rend der Corona-Lockdowns. Es geht also – mal wie­der – um die Exis­tenz. Wäh­rend Mopo und Co. ihre Leser:innen dazu auf­ru­fen, mit ihrem soli­da­ri­schen Besuch das Bestehen des Doms zu sichern, hätte so manche:r Anwohner:in womög­lich nichts dage­gen, wenn es der letzte Dom wäre. Die dann ganz­jäh­rig freie Flä­che (von Events wie dem »Schla­ger­move« ein­mal abge­se­hen, der doch bitte noch drin­gen­der der Pan­de­mie zum Opfer fal­len soll) haben die Hamburger:innen ja schon für sich zu nut­zen gelernt.

Johan­nes Rad­c­zinski, Dezem­ber 2021

Der eth­no­gra­fi­sche Blick auf das Leben von Schausteller:innen offen­barte sich dem Autor, der das Hei­li­gen­geist­feld im Som­mer 2021 fast täg­lich nutzte, eher unfrei­wil­lig. Zuletzt schrieb er auf Untie­fen über das nur einen Stein­wurf vom Dom ent­fernte Bis­marck­denk­mal.

Auf Affirmation getrimmt

Auf Affirmation getrimmt

Die Szene Ham­burg ist in die­ser Stadt eine Insti­tu­tion. Seit bald 50 Jah­ren erscheint das Stadt­ma­ga­zin monat­lich. Es ver­stand sich nie als Teil einer Gegen­öf­fent­lich­keit, lie­ferte aber den­noch mit­un­ter kri­ti­schen Jour­na­lis­mus. Heute, eine Insol­venz und meh­rere Eigen­tü­mer­wech­sel spä­ter, ist es kaum mehr als ein Anzei­gen­blatt. Wir haben uns das November-Heft angeschaut.

Dickie war noch ein Kind, als er die Szene »quasi im Allein­gang erfun­den« hat. Foto: Youtube-Screenshot

Aus dem seit 2013 in eini­gen Ham­bur­ger Pro­gramm­ki­nos lau­fen­den Wer­be­spot zum vier­zigs­ten Jubi­läum der Szene Ham­burg wis­sen wir: Die Idee für diese Zeit­schrift hatte Dickie Schu­bert, Betrei­ber des Inter­net­ca­fés Surf n’ Schlurf im Schan­zen­vier­tel und einer der Grün­der der Band Frak­tus. Dickie hatte sich auf »so ’nem  klei­nen Schmier­zet­tel« seine genia­len Ein­fälle notiert: »ver­schie­dene Rubri­ken wie zum Bei­spiel, was ich gut finde – Mode, Musik, Essen und so«. Dann aber ent­wen­de­ten »die Leute von der Szene« den Zet­tel – und bau­ten auf ihm das Kon­zept ihres Stadt­ma­ga­zins auf. So jeden­falls geht der von Rocko Scha­moni und Regis­seur Chris­tian Hor­nung (»Man­che hat­ten Kro­ko­dile«) prä­sen­tierte Mythos. 

Tat­säch­lich wurde die Szene Ham­burg 1973 von Klaus Hei­dorn gegrün­det, der zuvor als Tex­ter in einer Wer­be­agen­tur gear­bei­tet hatte. Ziel war ein Kultur- und Ver­an­stal­tungs­blatt, das den bis dahin ver­nach­läs­sig­ten Bereich zwi­schen eta­blier­tem Kul­tur­be­trieb und lin­ker Sub­kul­tur abdeckt. Er wolle »alle Unter­neh­mungs­lus­ti­gen zwi­schen 14 und 40, in Anzug und Jeans« errei­chen, wird Hei­dorn 1974 vom Spie­gel zitiert. Damit unter­schei­det sich die Szene Ham­burg von den aller­meis­ten ande­ren Stadt­ma­ga­zi­nen in der BRD, die sich häu­fig auch als »Statt­zei­tun­gen« bezeich­ne­ten. Denn egal ob Tip und Zitty in Ber­lin, der Pflas­ter­strand in Frank­furt oder die Stadt­re­vue in Köln, all diese Maga­zine grün­de­ten sich in den sieb­zi­ger Jah­ren als Organe der Gegen­öf­fent­lich­keit. Sie ver­stan­den sich – jeden­falls in ihren Anfangs­zei­ten – als nicht-kommerzielle Frei­räume für kri­ti­schen Jour­na­lis­mus und alter­na­tive Kul­tur und waren unter ande­rem für ihre wil­den Kleinanzeigen-Seiten bekannt.1Eine Samm­lung der kurio­ses­ten Klein­an­zei­gen aus die­sen und ande­ren Maga­zi­nen fin­det sich in Franz-Maria Son­ner (Hg.): Werk­tä­ti­ger sucht üppige Part­ne­rin. Die Szene der 70er Jahre in Klein­an­zei­gen, Antje Kunst­mann Ver­lag: Mün­chen 2005. 

Die Szene Ham­burg hin­ge­gen ver­hehlte nie, dass sie vor allem ein lukra­ti­ves Seg­ment des Anzei­gen­markts erschlie­ßen wollte. Das schloss jour­na­lis­ti­sche Qua­li­tät nicht unbe­dingt aus: Hei­dorn bezeich­nete die Zeit­schrift gerne als »den Spie­gel unter den Stadt­ma­ga­zi­nen«. In einer For­schungs­ar­beit von 1994 wurde der Szene attes­tiert, sie gehöre »zu den intel­lek­tu­ells­ten und geist­reichs­ten Stadt­ma­ga­zi­nen Deutsch­lands«.2 Chris­tian Sei­denabel: Der Wan­del von Stadt­zei­tun­gen. ›Was wider­steht, darf über­le­ben nur, indem es sich ein­glie­dert‹. Rode­rer: Regens­burg 1994, S. 58. René Mar­tens, zeit­wei­lig Redak­ti­ons­lei­ter der Szene schrieb 2015 in der taz: »Was die Szene schrieb, hatte Gewicht im (Sub-)Kulturbetrieb, und das Blatt stand für eine poli­ti­sche Hal­tung, die sich abhob von der der eta­blier­ten Medien in der Stadt.« Und Chris­toph Twi­ckel, von 2000 bis 2003 Chef­re­dak­teur der Szene, meinte: »Die Szene Ham­burg war für viele, die sich nicht nur für Main­stream­kul­tur inter­es­sier­ten, überlebenswichtig.«

Über­le­ben durch Anpassung

Zu die­sem Zeit­punkt, im März 2015, stand die Szene Ham­burg aller­dings kurz vorm Aus, nach­dem sie bereits lange von Krise zu Krise gehan­gelt war: Im Jahr 2000 hatte der laut Twi­ckel »dau­er­be­trun­kene« Hei­dorn, kurz vor dem Kon­kurs ste­hend, die Zeit­schrift ver­kauft und sich das Leben genom­men. 2004 wurde bekannt, dass die Szene sys­te­ma­tisch die Auf­la­ge­zah­len geschönt hatte, und sie wurde an eine Consulting-Firma ver­kauft. 2015 kam dann die zuvor mehr­fach soeben noch ver­hin­derte Insol­venz. Die Szene war damit aber noch nicht Geschichte: Die Ver­mark­tungs­ge­sell­schaft VKM sicherte sich die Namens­rechte und konnte die Szene auf diese Weise »vor dem schein­bar siche­ren Tod […] ret­ten«, wie es auf der Unter­neh­mens­home­page heißt. Inzwi­schen ver­zeich­net das Stadt­ma­ga­zin eine ver­gleichs­weise sta­bile Auf­la­gen­zahl in Höhe von ca. 15.000 ver­kauf­ten Exem­pla­ren, dar­über hin­aus gibt es ein gutes Dut­zend Son­der­hefte, vom »Uni-Extra« bis zum »Sum­mer Guide«.

Mit der Über­nahme durch VKM wurde eine Ent­wick­lung zum Abschluss gebracht, die Twi­ckel zufolge schon län­ger im Gange gewe­sen war. Auf der orga­ni­sa­to­ri­schen Ebene lau­tete sie: weni­ger Lohn, weni­ger feste Mitarbeiter:innen, mehr unbe­zahlte Praktikant:innen.3Die im Impres­sum der Aus­gabe 11/2021 genannte Prak­ti­kan­tin hat tat­säch­lich einen beträcht­li­chen Teil der Bei­träge ver­fasst. Und dass das Schluss­lek­to­rat, wie Twi­ckel berich­tet, schon vor eini­ger Zeit gestri­chen wurde, macht sich auch bemerk­bar: Ein Bei­trag zu den Ham­bur­ger Weih­nachts­märk­ten bricht mit­ten im Satz ab. Die Ent­wick­lung auf der inhalt­li­chen Ebene wird von Twi­ckel mit einer Anek­dote beschrie­ben: »Nach­dem ein Ver­riss des Musi­cals König der Löwen erschie­nen war, stand die kla­gende Anzei­gen­ver­kaufs­lei­te­rin vor mei­nem Schreib­tisch: ›Du setzt unsere Arbeits­plätze aufs Spiel!‹ Die Musi­cal­be­trei­ber hat­ten nach dem Ver­riss sämt­li­che Anzei­gen stor­niert.«4Tat­säch­lich wurde Chris­toph Twi­ckel 2003 wohl vor allem wegen sei­ner unbe­que­men, nicht zu Kom­pro­mis­sen zuguns­ten von Anzeigenkund:innen berei­ten Hal­tung als Chef­re­dak­teur gefeu­ert. Dar­über berich­tete damals unter ande­rem Tino Han­ekamp (Link).

Groß­spu­rig und unscharf: Das Novem­ber­heft der SZENE Ham­burg. Foto: privat

Ein posi­ti­ves Anzeigenumfeld

Der Ver­riss eines Musi­cals der Stage Enter­tain­ment GmbH wäre in der Szene heute undenk­bar. Das zeigt auch ein Blick in die November-Ausgabe. Zwi­schen redak­tio­nel­len Bei­trä­gen und Anzei­gen ist hier kei­ner­lei Wider­spruch zu spü­ren. In der gemein­sam mit dem Ham­bur­ger Sport­bund (HSB) ver­ant­wor­te­ten Sport-Beilage etwa inse­rie­ren alle Sponsoring-Partner des HSB. Zu den Anzeigenkund:innen gehö­ren natür­lich auch die Kul­tur­ein­rich­tun­gen, die im Heft mit Inter­views und Arti­keln bedacht wer­den. Das Mehr! Thea­ter am Groß­markt etwa revan­chiert sich für eine aal­glatte Bespre­chung über sein Harry-Potter-Musical (ein »magi­sches Spek­ta­kel«, das »natür­lich nicht nur etwas für Harry-Potter-Anhänger, son­dern für alle« sei) mit einer ganz­sei­ti­gen Anzeige auf der Rück­seite des Hefts. Und selbst beim Titel­thema »Tod« steht das Anzei­gen­ge­schäft nicht hintan. Redak­tio­nelle Bei­träge zum Bestat­tungs­un­ter­neh­men trost­werk und zu den Erin­ne­rungs­gär­ten, einer öko­lo­gi­schen Bestat­tungs­an­lage, wer­den von Anzei­gen eben­die­ser Unter­neh­men flan­kiert (aber nicht auf der­sel­ben Seite, sonst könnte es ja wie Content-Marketing aus­se­hen). Dass VKM in den Redak­ti­ons­räu­men der Szene auch »einige Handelskammer-Magazine« pro­du­ziert, ist ein Sinn­bild dafür, wie sym­bio­tisch die Bezie­hung zwi­schen der Zeit­schrift und ihren Anzeigenkund:innen ist.5Gera­dezu gro­tesk wirkt ange­sichts die­ses offen­kun­di­gen quid-pro-quo-Prin­zips ein bier­erns­tes Plä­doyer für die Presse des Redak­teurs Marco Arel­lano Gomes, das im August 2020 in der Szene erschien. »Die Welt droht eine zu wer­den, in der das Ich mehr zählt als das Wir«, klagt der Autor ange­sichts von Social Media und Con­tent Mar­ke­ting, und for­dert die Ein­hal­tung der »jour­na­lis­ti­schen Grund­re­geln«, zu denen auch gehöre, »Bei­träge nicht im Aus­tausch gegen Anzei­gen­bu­chun­gen [zu] lan­cie­ren«. Ob er wohl mal eine Aus­gabe der Szene in der Hand gehabt hat?

Anzeige im Novem­ber­heft: „Dein Leben ver­dient ein happy END…!“ – Und was ist mit der Szene? Foto: privat

Selbst­ver­ständ­lich hat die Szene auch zahl­rei­che »Koope­ra­ti­ons­part­ner«, u.a. HVV switch, Lotto Ham­burg und MINI Ham­burg. Die Marke MINI baut hoch­prei­sige Klein­wa­gen und ist Teil der BMW AG, womit sie natür­lich prä­de­sti­niert dafür ist, eine im Nachhaltigkeits-Kostüm daher­kom­mende Online-Veranstaltung »über die Zukunft der Stadt« aus­zu­rich­ten. Mit dabei: Tanya Kumst, Geschäfts­füh­re­rin der Szene Ham­burg, und der Gas­tro­nom Sebas­tian Junge. Moment, ken­nen wir den nicht? Ach ja, der hat den u.a. von MINI Ham­burg gespon­sor­ten »Nach­hal­tig­keits­preis« der Szene gewon­nen, wie wir in der Rubrik »Essen+Trinken« erfah­ren. Er setze sich für eine »wert­schät­zende Genuss­kul­tur« ein, heißt es in der von der Szene ange­führ­ten Begrün­dung: »›Alles grün bei uns!‹ ist hier keine leere Wort­hülse, son­dern geleb­ter All­tag. Bei­spiele gefäl­lig? Sebas­tian Junge bezeich­net sich selbst als Akti­vist für nach­hal­tige sowie umwelt­ge­rechte Genuss­kul­tur und kre­iert mit sei­nem Team hand­ge­machte Gerichte aus regio­na­len Zuta­ten, die von Pro­du­zen­ten stam­men, mit denen das Restau­rant eng und teil­weise freund­schaft­lich ver­bun­den ist.«

Rekla­me­spra­che auf der Höhe der Zeit

Man merkt: Hier sind die Wort­hül­sen nicht leer, son­dern prall gefüllt mit gut ange­dick­tem Dis­kurs­brei. Denn es fin­den sich in der Szene nicht nur die übli­chen Phra­sen vom »schnu­cke­li­gen Café« und vom Ster­ben als dem »letz­ten Stre­cken­ab­schnitt des Lebens« oder tau­to­lo­gi­scher Sprach­müll wie der vom Restau­rant, das durch über­zeu­gende Koch­kunst über­zeugt. Nein, so wie MINI Ham­burg ist auch die Szene auf dem aktu­el­len Stand der Rekla­me­spra­che: Alles hier ist ›nach­hal­tig‹ und ›regio­nal‹, ›divers‹ und ›facet­ten­reich‹. Das ist kein Zufall, kom­men doch viele der Beiträger:innen aus Wer­bung und Mar­ke­ting und schrei­ben daher nicht, son­dern »tex­ten« oder »erstel­len content«.

Einer die­ser Tex­ter schreibt bei­spiels­weise eine lau­nige Glosse über den Tod, die wit­zig sein soll, aber so arm an Witz wie reich an schie­fen Meta­phern ist (»Da nimmt der eine oder andere die Unsterb­lich­keit ein­fach in die eigene Hand, bevor sie kalt ist.«). Am Schluss weiß man zumin­dest, in wel­chem Zustand der Autor die­sen Stuss geschrie­ben hat: »Ich sage: Lebe so, dass deine Stamm­kneipe nach dei­nem Able­ben dicht­ma­chen kann.«

All das heißt nicht, dass das Heft nicht auch man­ches Inter­es­san­tes ent­hält. Ein Bei­trag über den Schrift­stel­ler Mesut Bay­raktar etwa, des­sen Gast­ar­bei­ter­mo­no­loge am 25. Novem­ber am Schau­spiel­haus urauf­ge­führt wur­den, ist zwar eine Gefäl­lig­keits­ar­beit (der Autor des Bei­trags ist wie Bay­raktar Teil des Lite­ra­tur­kol­lek­tivs nous – kon­fron­ta­tive Lite­ra­tur), aber eine lesens­werte; Diver­si­tät ist in dem Heft, etwa bei der Aus­wahl der Interviewpartner:innen, mehr als nur eine Phrase; und die Film­kri­ti­ken (v.a. die­je­ni­gen von Res­sort­lei­ter Marco Arel­lano Gomes) sind trotz ihrer Kürze gehalt­voll und genau.

Auf Affir­ma­tion getrimmt

Wollte man das Heft aber auf einen Nen­ner brin­gen, wäre es ein­deu­tig: Affir­ma­tion. Egal ob es um Gas­tro­no­mie geht oder um den Tod, nichts möchte hier schlechte Laune machen, für Irri­ta­tion oder Zwei­fel sor­gen. Wenn einer der vie­len als ›Inter­view‹ bezeich­ne­ten Wer­be­bei­träge mit einem kur­siv gesetz­ten »(lacht fröh­lich)« endet, ist das für die Stim­mung in die­sem Heft sym­pto­ma­tisch. Auch die Tes­ti­mo­ni­als von drei Hamburger:innen in der Rubrik »SZE­NE­zei­gen« sind weit­ge­hend auf Affir­ma­tion getrimmt. »Für mich ist Ham­burg die schönste Stadt der Welt«, sagt ein­gangs etwa die in Rother­baum auf­ge­wach­sene Nata­scha. Und der Bei­trag von John, der sein Geld als Taxi­fah­rer ver­dient, schließt mit dem Satz: »Manch­mal gucke ich aus dem Fens­ter und sage mir: Du bist im Paradies.«

Um ein gutes Anzei­gen­um­feld dar­zu­stel­len (die Inha­ber­firma ver­spricht »maß­ge­schnei­der­tes Mar­ke­ting in einem pas­sen­den Rah­men«), sen­det die Zeit­schrift stets eine posi­tive ›Mes­sage‹ aus. Damit das gewähr­leis­tet ist, muss manch­mal etwas her­um­ge­wurs­telt wer­den. Etwa wenn die ehe­ma­lige FDP-Landesvorsitzende Katja Suding in der Rubrik »Gude Leude« von ihrem schwie­ri­gen Quer­ein­stieg in die Poli­tik erzählt und davon, »wie ich dann aber auch Fuß gefasst habe und es gut lief, es mir aber nicht so wirk­lich gut ging«. Viel­leicht, denkt man dann, ist die­ser ver­un­glückte Satz nicht nur in sprach­li­cher Hin­sicht cha­rak­te­ris­tisch für diese Zeit­schrift, son­dern auch in inhalt­li­cher: Es läuft gut bei der Szene, sie ver­kauft Hefte und Anzei­gen. Aber misst man sie an ihrem Anspruch, über »gesell­schaft­li­che The­men und stadt­po­li­ti­sche Ent­wick­lun­gen in Ham­burg« zu berich­ten, also jour­na­lis­tisch zu arbei­ten, muss man kon­sta­tie­ren: Es geht ihr nicht so wirk­lich gut.

Lukas Betz­ler

Der Autor freut sich trotz allem jedes Mal wie­der, wenn er den Szene-Wer­be­spot im Kino sieht.


  • 1
    Eine Samm­lung der kurio­ses­ten Klein­an­zei­gen aus die­sen und ande­ren Maga­zi­nen fin­det sich in Franz-Maria Son­ner (Hg.): Werk­tä­ti­ger sucht üppige Part­ne­rin. Die Szene der 70er Jahre in Klein­an­zei­gen, Antje Kunst­mann Ver­lag: Mün­chen 2005. 
  • 2
    Chris­tian Sei­denabel: Der Wan­del von Stadt­zei­tun­gen. ›Was wider­steht, darf über­le­ben nur, indem es sich ein­glie­dert‹. Rode­rer: Regens­burg 1994, S. 58. 
  • 3
    Die im Impres­sum der Aus­gabe 11/2021 genannte Prak­ti­kan­tin hat tat­säch­lich einen beträcht­li­chen Teil der Bei­träge ver­fasst. Und dass das Schluss­lek­to­rat, wie Twi­ckel berich­tet, schon vor eini­ger Zeit gestri­chen wurde, macht sich auch bemerk­bar: Ein Bei­trag zu den Ham­bur­ger Weih­nachts­märk­ten bricht mit­ten im Satz ab.
  • 4
    Tat­säch­lich wurde Chris­toph Twi­ckel 2003 wohl vor allem wegen sei­ner unbe­que­men, nicht zu Kom­pro­mis­sen zuguns­ten von Anzeigenkund:innen berei­ten Hal­tung als Chef­re­dak­teur gefeu­ert. Dar­über berich­tete damals unter ande­rem Tino Han­ekamp (Link).
  • 5
    Gera­dezu gro­tesk wirkt ange­sichts die­ses offen­kun­di­gen quid-pro-quo-Prin­zips ein bier­erns­tes Plä­doyer für die Presse des Redak­teurs Marco Arel­lano Gomes, das im August 2020 in der Szene erschien. »Die Welt droht eine zu wer­den, in der das Ich mehr zählt als das Wir«, klagt der Autor ange­sichts von Social Media und Con­tent Mar­ke­ting, und for­dert die Ein­hal­tung der »jour­na­lis­ti­schen Grund­re­geln«, zu denen auch gehöre, »Bei­träge nicht im Aus­tausch gegen Anzei­gen­bu­chun­gen [zu] lan­cie­ren«. Ob er wohl mal eine Aus­gabe der Szene in der Hand gehabt hat?

Untiefen goes Booky McBookface

Untiefen goes Booky McBookface

Die Untie­fen stel­len sich vor: Am kom­men­den Sonn­tag, den 5. Dezem­ber 2021, um 19 Uhr spre­chen wir im Rah­men des Bücher­ba­sars Booky McBook­face mit Textem-Verlegerin Nora Sdun über unser Projekt.

Schon 32 Bände hat Tex­tem in der Reihe Klei­ner Stimmungs-Atlas in Ein­zel­bän­den publi­ziert. Foto: privat

Bald ist es wie­der so weit: Der Textem-Verlag lädt zur Booky McBook­face, der tra­di­tio­nel­len vor- und unweih­nacht­li­chen Mini-Buchmesse, in die Ver­lags­räume in der Schä­fer­straße 26. Vom 2.–5. Dezem­ber kann man dort nicht nur schöne Bücher kau­fen (von Tex­tem, adocs, Mon­tez Press und eeclec­tic), son­dern auch tolle Ver­an­stal­tun­gen besu­chen. Auch wir wer­den dort sein, unse­ren Blog vor­stel­len und gemein­sam mit Nora von Tex­tem dar­über spre­chen, warum es ein Stadt­ma­ga­zin gegen Ham­burg braucht. Am 5. Dezem­ber, 19 Uhr. See you there! 

Mehr Infos: https://textem-verlag.de/termine

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