Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Kollektivität
Eine Veranstaltungsreihe der Innenrevision Kulturbetrieb fragt nach antisemitischen Weltbildern in gegenwärtigen Kunstdiskursen. Die Auftaktveranstaltung findet am 03.05.2023, 19.30 Uhr im BARBONCINO zwölphi statt.
Im September 2022 traten zwei Vertreter des indonesischen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruangrupa eine Gastprofessur an der Hamburger HfbK an. Seitdem ist die Auseinandersetzung über die von Ruangrupa verantwortete antisemitische Kunstschau auch zu einem Streit in Hamburg geworden. Bisher gab es zwar verdienstvolle, aber vereinzelte Proteste, zurückhaltende Ermahnungen aus der Landespolitik sowie einige wenig ergiebige Interviews und Veranstaltungen mit den Ruangrupa-Leuten. Insgesamt aber ist von Betroffenheit oder gar (Selbst-)Kritik innerhalb des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs wenig zu vernehmen. Woran liegt das – auch und gerade jenseits des offensichtlich unverbesserlichen Ruangrupa-Kollektivs?
Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Hamburg eine „Innenrevision Kulturbetrieb“ gegründet. In ihr haben sich in Kunst und Kultur Tätige zusammengeschlossen, die mit einer Veranstaltungsreihe in das beredte Hamburger Schweigen intervenieren wollen. Die Reihe untersucht anhand dreier für den gegenwärtigen Kunstbetrieb zentraler Begriffe – Kollektivität, Widerstand und Solidarität – über welche Einfallstore sich antisemitische Weltbilder im Kunstdiskurs immer wieder verbreiten können.
Die Reihe beginnt am 03.05. mit einer Veranstaltung zu „Kollektivität“.
Die Redaktion Untiefen unterstützt diese Intervention (wie auch der Bagrut e.V., die Untüchtigen sowie der Textem-Verlag) und dokumentiert im Folgenden den Ankündigungstext der Veranstaltung.
Weitere Informationen zu den folgenden Veranstaltungen werden zu gegebener Zeit hier auf Untiefen und auf dem Instagramaccount der Innenrevision Kulturbetrieb veröffentlicht.
Zahlreiche antisemitische Darstellungen auf der Documenta 15 haben einen seit Jahren schwelenden Konflikt in die breite Öffentlichkeit geholt – und altbekannte Frontbildungen verschärft. Mittlerweile kann ohne Übertreibung von einem Kulturkampf gesprochen werden. Gestritten wird über eine vermeintliche Konkurrenz zwischen der Erinnerung an die Shoah und der Erinnerung an deutsche Kolonialverbrechen. Gestritten wird nicht zuletzt auch über das jeweilige Verhältnis zu Israel. Spätestens durch die Berufung zweier Mitglieder des Künstlerkollektivs Ruangrupa an die HFBK ist dies auch ein Hamburger Streit. Gerade im Kunstfeld wird er vehement geführt. Das lässt die Frage aufkommen, ob zentrale Begriffe in der aktuellen Selbstbeschreibung künstlerischer Praxis nicht selbst ideologische Elemente enthalten, die gewollt oder ungewollt antisemitische Weltbilder reproduzieren. Anhand der Begriffe Kollektivität, Solidarität und Widerstand stellen sich die Gäste unserer dreiteiligen Veranstaltungsreihe dieser wichtigen, aber in der bisherigen Debatte vernachlässigten Frage.
Soviel steht fest: Kollektivität liegt im Trend. Noch nie gab es so viele künstlerische Kollektive wie heute. Sie gewinnen renommierte Preise, leiten Theater, Biennalen und Großereignisse wie die Documenta 15. Ihre Popularität verdanken sie einem Versprechen: Basisdemokratisch und anti-hierarchisch, gerecht und inklusiv sollen sie sein, nahbar und zum Mitmachen anregend. Über globale Grenzen hinweg und gleichzeitig lokal verbunden gelten sie als Wegweiser zu einer neuen solidarischen Sharing-Ökonomie, von der alle profitieren. Auf grundlegende Veränderungen der Gesellschaft – so die verbreitete Vorstellung – reagieren heutige Kollektive mit einer grundlegenden Veränderung der Kunst. Sie integrieren politischen Aktivismus, um gesellschaftlichen Fortschritt anzustoßen. Aber geht diese Rechnung auf? Welches Weltbild entwirft die Idee des Kollektivs in der zeitgenössischen Kunst? Was sind die problematischen Implikationen der damit verbundenen Vorstellung von Gemeinschaft und kultureller Identität?
Es diskutieren:
- Tina Turnheim (Theatermacherin, Institut für Neue Soziale Plastik)
- Ole Frahm (Bildtheoretiker, Comicexperte und Mitglied des Künstlerkollektivs Ligna)
Am 21. Dezember jährt sich der Mord an Ramazan Avcı in Hamburg. Die Gewalttat steht auch für die zugespitzten Auseinandersetzungen um Migration und Rassismus in der Bundesrepublik während der 1980er Jahre. Rassistische Straßengewalt war brutaler Ausdruck dieser Entwicklung.
Gedenkveranstaltung für Ramazan Avcı. Foto: Ramazan-Avcı-Initiative.
Am 21. Dezember 1985 wartete der Arbeiter Ramazan Avcı mit seinem Bruder und einem Freund an einer Bushaltestelle bei der S‑Bahnstation Landwehr in Hamburg. Es war Avcıs 26. Geburtstag und die drei waren auf dem Nachhauseweg. Als einige junge rechte Skinheads, die sich vor dem Eingang einer nahegelegenen Kneipe aufhielten, auf die türkischen Männer aufmerksam wurden, beschlossen sie spontan, die Wartenden anzugreifen. Die erste Attacke konnten Avcı und seine Begleiter noch mit Reizgas abwehren, doch die laut Presseberichten 30-köpfige Skinheadgruppe kehrte kurz darauf bewaffnet zurück. Während seine Begleiter sich in einen Linienbus retten konnten, rannte Avcı in Panik auf die Fahrbahn, wo ihn ein Autofahrer anfuhr. Den am Boden Liegenden traktierten die Angreifer mit Knüppeln. Er starb drei Tage später auf einer Hamburger Intensivstation an den Folgen eines Schädelbruchs.
Die Täter waren Mitglieder der berüchtigten »Lohbrügge Army«. Diese Skinheadgruppierung, benannt nach einem Hamburger Stadtteil, gehörte der Hooliganszene um den HSV an. Für viele Beobachter:innen war sofort klar, dass es sich um eine rassistische Gewalttat handelte. Der Vorfall war nicht der erste rechte Mord in Hamburg und Umgebung. Im August 1980 hatten neonazistische Terrorist:innen bei einem Brandanschlag in der Halskestraße zwei Geflüchtete aus Vietnam getötet. In Norderstedt, einem Vorort Hamburgs, hatte am 19. Juni 1982 ein rassistischer Mob den 26-jährigen Tevfik Gürel angegriffen und tödlich verletzt. Wiederum rechte Skinheads hatten am 24. Juli 1985 in Hamburg-Langenhorn den jungen Bauarbeiter Mehmet Kaymakçı auf brutale Weise erschlagen.
Ramazan Avcı. Foto: Ramazan-Avcı-Initiative.
Indes folgte erst auf den Mord an Ramazan Avcı im Dezember 1985 eine aufbrausende öffentliche Reaktion. Intensive Presseberichterstattung, Bürgerschaftsdebatten und eine Demonstration anlässlich des Todes Avcıs deuten darauf hin, dass die Auseinandersetzungen um Migration und Rassismus eine neue Qualität erlangt hatten. Tatsächlich brodelte es in Hamburg und der Bundesrepublik der 1980er Jahre um diese Themen, während rassistische Gewalttaten zunahmen. Im weiteren Verlauf des Jahrzehnts spitzte sich dieser widersprüchliche Diskurs zu, zumal die Zugewanderten mit ihren Stimmen gesellschaftlich mehr und mehr empordrängten und ihre Rechte einforderten.
Die doppelte Transformation der Bundesrepublik
Seit der ersten Hälfte der 1970er machten die westlichen Länder eine krisenhafte Wandlung durch, die den Beginn der neoliberalen Epoche markierte. Mit der Abwicklung weiter Teile der Industrie galten die Arbeitskräfte, die die Bundesregierung seit den 1950ern und 1960ern vor allem aus der Türkei, Griechenland und Italien angeworben hatte, als wirtschaftlich überflüssig. Für große Teile der Öffentlichkeit schienen sie außerdem zunehmend die vermeintliche ethnische Homogenität Deutschlands zu stören. »Überfremdung« war das rassistische Schlagwort der Stunde. Die Regierungen Helmut Schmidts und Helmut Kohls versuchten daher, die »Gastarbeiter:innen« mit Geldprämien zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu bewegen. Diese Rückführungspolitik verkehrte Kohls Parole »Deutschland ist kein Einwanderungsland« jedoch in ihr Gegenteil. Vor die Wahl gestellt, machten die meisten Arbeitsmigrant:innen die Bundesrepublik zu ihrem dauerhaften Zuhause und holten ihre Familien nach. Hinzu kam eine wachsende Zahl von Asylsuchenden. Allein 1985 waren es 100.000 Anträge, auch wenn Bonn eine immer restriktivere Asylpolitik betrieb.
Im Jahr 1986 lebten in Westdeutschland 4,5 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Sie sollten die deutsche Gesellschaft nachhaltig prägen, blieben als »Ausländer:innen« jedoch vorerst Bürger:innen zweiter Klasse. Die Rassismuswelle dieser Jahre ist also vor dem Hintergrund einer Phase der doppelten Transformation zu sehen. Erstens begann sich die Bundesrepublik zu einer neoliberalen Dienstleistungsgesellschaft zu wandeln, was starke sozioökonomische Friktionen verursachte. Von der hohen Arbeitslosigkeit waren vor allem die »Gastarbeiter:innen« betroffen. Zweitens bildete sich das Land zunehmend als pluralistische und liberale, aber widersprüchliche Einwanderungsgesellschaft heraus, die das traditionelle nationale Selbstverständnis herausforderte.
Die Baseballschlägerjahre begannen vor 1990
Die Migrationsabwehr der Bonner Regierungen konnte sich der rassistischen Zustimmung breiter Bevölkerungsteile sicher sein. Diese Konjunktur drückte sich besonders scharf in einer vielseitigen rechten Mobilisierung aus, die auch die Hansestadt erfasste. Dazu zählten die erwähnten Gewalttaten, aber auch das Auftreten verschiedener Organisationen. Im Jahr 1982 gründete sich aus dem Umfeld der NPD eine »Hamburger Liste Ausländerstopp«, die bei den Bürgerschaftswahlen antrat und ähnlichen Parteien in anderen Bundesländern als Vorbild diente. Die seit 1979 existierende rechtsextreme »Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei« (FAP) wurde 1983 vom bekannten Hamburger Neonazi Michael Kühnen und den Anhängern seiner »Aktionsfront Nationaler Sozialisten« (ANS) unterwandert. Die ANS, die die Behörden im gleichen Jahr verboten hatten, rekrutierte ihre Mitglieder wiederum in der hamburgischen Skinheadszene, der auch die Mörder Ramazan Avcıs angehörten.
Avcı, Kaymakçı und Gürel waren nicht die einzigen Opfer solcher Gewalttäter. In verschiedenen Hamburger Vierteln waren Jugendgangs aktiv, doch die Hooliganszene um den HSV ragte als stramm rechts und besonders gefährlich heraus. Eine Sonderausstellung des HSV-Museums dokumentierte 2022 eine lange Chronik rechter Übergriffe und Gewaltexzesse, für die diese männerbündischen Fangruppierungen verantwortlich waren. Die Morde an Avcı und Kaymakçı sowie die Tötung des Bremer Fußballfans Adrian Maleika bildeten traurige Höhepunkte.
Aufruf zur Gedenkdemonstration 1986. Quelle: Archiv Infoladen Schwarzmarkt.
Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Chronik nur einen Bruchteil der Taten dokumentiert. Sowohl Flugblätter antifaschistischer Gruppen als auch Berichte etablierter Medien aus den 1980er Jahren vermitteln ein Bild alltäglicher Gefahr für Menschen, die als »Ausländer:innen« identifiziert wurden. »Skinheads schlugen wieder zwei Ausländer nieder« titelte das Hamburger Abendblatt am 2. Januar 1986 und am 13. Januar: »Skinheads überfielen Türken in der S‑Bahn.« Im Archiv des Spiegels sind vergleichbare Berichte einsehbar. In den Vorjahren sah die Situation nicht anders aus. In einem »Bericht über (neo)faschistische und antifaschistische Aktivitäten in Hamburg« aus der Feder einer Antifagruppe hieß es 1984: »Hamburg-Bergedorf 20.5.: 50 Skins prügeln sich mit Türken am Bhf. Ein Türke wird mit einem Holzknüppel schwer verletzt.« Eine ähnliche Antifa-Recherche von 1983 berichtet: »29.11. Das ›Broadway‹ zeigt den Film ›Under Fire‹. Die ›Savage Army‹ lief auf, beschimpfte Ausländer und Linke und verprügelte eine chilenische Frau.«[1] Vor wenigen Jahren wurde der Begriff »Baseballschlägerjahre« geprägt, um die Hochphase rechter Straßengewalt im Deutschland der 1990er zu beschreiben. Dieser Ausdruck ist auch für Hamburg im Jahrzehnt vor der Wende angemessen.
Migrantische Selbstorganisierung gegen Rassismus
Gegenüber der migrationsfeindlichen Politik sowie dem Straßenterror regte sich jedoch zunehmend Widerstand. Auf Sankt Pauli hatte sich am 26. Mai 1982 die türkische Arbeiterin und Dichterin Semra Ertan aus Protest gegen diesen Rassismus selbst entzündet. Ein weniger tragischer Ausdruck des Aufbegehrens war die Avcı-Demo am 11. Januar 1986, zu der ein breites Bündnis von 23 deutsch-türkischen Organisationen und Gewerkschaften aufgerufen hatte. Je nach Quelle folgten zwischen 10.000 und 15.000 Menschen dem Aufruf, was ebenfalls auf den großen gesellschaftlichen Stellenwert des Vorfalls hinweist. Die zahlreichen türkischsprachigen Transparente und Pappschilder, die die Presse dokumentierte, bewiesen den hohen Anteil türkischer beziehungsweise migrantischer Personen an dem Protest. Dieser wandte sich gegen »Ausländerfeindlichkeit«, wie Rassismus seinerzeit genannt wurde, und forderte die generelle Gleichstellung der Immigrierten.
Migrantische Selbstorganisierung war in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren aufgekommen und spielte überdies eine wichtige Rolle in industriellen Arbeitskämpfen der neoliberalen Transformationsphase, beispielsweise bei der spektakulären Besetzung der HDW-Werft im Hamburger Hafen 1983. Diese Aneignung politischer Subjektivität erhielt nach dem Mord an Avcı neuen Schwung. Organisator:innen des Protest gründeten nun das »Bündnis Türkischer Einwanderer«, aus dem zehn Jahre später die »Türkische Gemeinde Deutschland« hervorgehen sollte. In der Tat spiegelte sich diese emanzipative Entwicklung auch im Bereich der Jugendgangs. Die »Champs« auf Sankt Pauli waren etwa stark migrantisch geprägt und setzten sich gegen die Übergriffe der Skinheadbanden zur Wehr.
Die Wahrnehmung der Betroffenen geriet nach Avcıs Tod wenigstens vorrübergehend in den Fokus der Medien. Den Zuschauer:innen des Hamburg Journals des Norddeutschen Rundfunks erklärte ein junger türkischer Mann Anfang 1986 zum Beispiel: »Ich hatte so viele Scheiben in der S‑Bahn gesehen und so, wo die da geschrieben haben, ›Scheißtürken, raus aus Deutschland‹. Also ehrlich gesagt, ich trau mich nicht … Ich habe Angst in Deutschland zu leben, denn ich habe Angst, dass wir irgendwann mal aus Deutschland rausgeschmissen werden und dass wir überhaupt keine Rechte haben wie ein Deutscher.«
Widersprüchliche Liberalisierung
Dass Reporter:innen Betroffene zu Wort kommen ließen, hing auch damit zusammen, dass die westdeutsche Gesellschaft zumindest teilweise eine neue Sensibilität gegenüber Rassismus und rechter Gewalt entwickelt hatte. Diese blieb jedoch widersprüchlich. So sammelte die Pressestelle des Hamburger Senats nach der Tat vom 21. Dezember 1985 hunderte einschlägige Presseartikel größtenteils Hamburger Zeitungen, die meisten davon aus dem Jahr 1986. Die Medien berichteten intensiv zum Vorfall, zu »Ausländerfeindlichkeit« generell sowie über Skinheads. Deren Gewalt gegen migrantische Gruppen und linke Punks framte man jedoch häufig als unpolitische Auseinandersetzungen.
Angesichts der intensiven Berichterstattung war es kein Wunder, dass sich auch die Bürgerschaft mit Avcıs Tod befasste. Die Fraktionen der »Grün-Alternativen Liste« (GAL) und der SPD beriefen in der Plenarsitzung am 15. Januar 1986 eine Aktuelle Stunde ein, in der es zu hitzigen Schlagabtäuschen kam. Es entsprach einer unter Linken und Migrant:innen weitverbreiteten Auffassung, wenn die GAL rassistische Übergriffe in direkten Zusammenhang mit der bundesdeutschen Migrationspolitik stellte: »Die Mordabsicht der Skinheads ist gegen die Lebensinteressen der Ausländer in dieser Stadt gerichtet. Das Sondergesetz für Ausländer, die Lagerhaltung von Menschen und die Abschiebepraxis sind es ebenso.« Der Erste Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) deutete die anhaltenden rassistischen Angriffe einige Tage später hingegen als Schlägereien zwischen Jugendlichen um und verharmloste sie auf diese Weise. Die Betreffenden rief er dazu auf, »diese Kette der Gewalt abzureißen. Hamburg will Frieden. Ich weiß wohl: diese Vorfälle sind nicht typisch für das Zusammenleben der Deutschen und Türken in Hamburg. […] Aber eine böse Tat droht die nächste hervorzurufen.«
Zu der erwähnten, in den 1970er Jahren einsetzenden Transformation gehörten schwere Kämpfe der Mehrheitsgesellschaft um ihr wichtiger werdendes Selbstverständnis als liberale Demokratie. So kritisierten linksliberale Stimmen die restriktive und diskriminierende Ausländerpolitik der Bundesregierung massiv. Auch für die radikale Linke wurde Rassismus und Rechtsextremismus zu bestimmenden Themen. Der Diskurs war extrem polarisiert und dominierte die Innenpolitik in der zweiten Hälfte der 1980er. Kaum zufällig fielen in diese Phase erinnerungskulturelle Wegmarken wie der »Historikerstreit« oder die Anerkennung »vergessener Opfer« des Nationalsozialismus. Ein weiterer Gradmesser ist der enorme Erfolg von Günther Walraffs Buch »Ganz unten«, das zwei Monate vor dem Überfall auf Ramazan Avcı erschienen war und die Lage türkischer Arbeitsmigrant:innen skandalisierte. Nach zwei Wochen waren 650.000, nach vier Monaten vier Millionen Exemplare verkauft. Wallraff sprach dann auch bei der Großdemo am 11. Januar 1986 in Hamburg. Weiterhin fiel der Start einer antirassistischen Kampagne des Deutschen Gewerkschaftsbundes unter der Parole »Mach‘ meinen Kumpel nicht an« in den Aufruhr um den Mord an Avcı.
Diese Liberalisierungstendenzen in Gesellschaft und Geschichtspolitik waren keineswegs eindeutig und unumstritten, sondern konkurrierten etwa mit einem erinnerungskulturellen Hype um »Preußen«. Nicht zuletzt stand die progressive Entwicklung dem alltäglichen und dem institutionellen Rassismus gegenüber, der sich auch im Urteil gegen die Mörder Ramazan Avcıs zeigte: Das Landgericht Hamburg verurteilte die Haupttäter im Juli 1986 zwar zu mehrjährigen Gefängnisstrafen wegen Totschlags, weigerte sich jedoch eine rassistisch motivierte Mordabsicht anzuerkennen. Die Folge war ein empörter Tumult im Gerichtssaal.
Auf Betreiben der Ramazan-Avcı-Initiative 2012 vom Hamburger Senat eingeweihter Gedenkstein. Foto: privat.
Trotz der intensiven Auseinandersetzung um den Mord im Frühjahr 1986, scheint diese Geschichte – wie der Terror in der Halskestraße – ebenfalls im Schatten der extrem rechten Mobilisierungen der 1990er zu stehen. In der Tat ist die rassistische Gewalt in Westdeutschland vor 1990 heute generell weitgehend verdrängt worden. In der Regel fokussiert die Geschichte des rechten Terrors in der Bundesrepublik auf die Zeit nach der »Wiedervereinigung« und die neuen Bundesländer, was erinnerungskulturell problematisch ist. So erscheinen rassistische Mobilisierungen zuvörderst als ostdeutsches Phänomen, während die Kontinuität des bundesrepublikanischen Rechtsextremismus hinter der Nebelwand der Epochengrenze verschwindet. Die westdeutsch dominierte Berliner Republik kann unangenehme Aspekte der nationalen Vergangenheit damit als Problem postsozialistischer »Ossis« externalisieren.
Auch deswegen ist eine umfassende Gedenkkultur um die Opfer rechter Gewalt umso wichtiger. Anschub, die Erinnerung an den Mord an Avcı wenigstens lokal wachzurufen, kam »von unten«, aus den Reihen eines migrantischen Zusammenhangs. Nachdem sich 2010 eine Gedenkinitiative gegründet hatte, weihte der Hamburger Senat 2012 auf deren Betreiben einen Gedenkstein ein und benannte den Platz bei der S‑Bahnstation Landwehr nach Ramazan Avcı feierlich um. Jährlich am 21. Dezember hält die Initiative eine Gedenkveranstaltung am Ort des Geschehens, bei der Angehörige von Ramazan Avcı sprechen. Auch an den Mord an Mehmet Kaymakçı erinnert seit Sommer 2021 ein Mahnmal im Kiwittsmoor-Park in Langenhorn, jedoch besuchten nur relativ wenige Menschen die Einweihungszeremonie. Das Gedenken an die Hamburger Baseballschlägerjahre erhält noch nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient.
Im August 1977 eröffnete das erste der autonomen Hamburger Frauenhäuser. Seitdem sind sie unerlässlich für den Schutz vor Gewalt. Doch die Plätze sind rar und die Finanzierung von politischem Wohlwollen abhängig. Aus einer feministischen Praxis sind prekäre Institutionen geworden. Anlässlich des Internationen Tags gegen Gewalt an Frauen fragt unsere Autorin eine Mitarbeiterin: Wie geht es den Hamburger Frauenhäusern heute?
Die Forderung bleibt bestehen. Transparent auf einer »One Billion-Rising«-Aktion gegen Gewalt an Frauen 2014 in Hamburg. Foto: www.sommer-in-hamburg.de Lizenz: CC BY-SA 2.0
Für die Frauenbewegung der 1970er-Jahre war die Organisierung gegen Gewalt gegen Frauen zentraler Bestandteil der politischen Arbeit. Gewalt in der Beziehung galt zuvor lange als »Einzelschicksal«. Die Frauen der zweiten Welle des Feminismus thematisierten diese männliche Gewalt durch Selbsterfahrungsgruppen und Organisierung als strukturelles Problem von Frauen im Patriarchat. Auch in Hamburg organisierten sich im Jahr 1976 Frauen, um gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu kämpfen. Sie gründeten den Verein Frauen helfen Frauen e.V. und erschufen innerhalb eines Jahres das erste autonome Hamburger Frauenhaus. Das Selbstverständnis damals: Das Frauenhaus ist ein Teil der Frauenbewegung und soll unabhängig sein – alle Frauen entscheiden gemeinsam, was passieren soll.
Da die Finanzierung noch nicht staatlich abgesichert war, mussten die Frauen zunächst alles selbst machen – renovieren, Möbel organisieren, Spenden sammeln, das Haus schützen. So erinnert sich auch eine Zeitzeugin in der filmischen Dokumentation »Juli 76 – Das Private ist Politisch« an die ersten Jahre des Hauses: »Selbstorganisation. Selbstbestimmung. Das ist auch eine Utopie gewesen.« Das Frauenhaus selbst war feministische Praxis.
Selbstorganisation und Professionalisierung
Die Selbstorganisation stieß jedoch auch an zeitliche, finanzielle und emotionale Grenzen, wie die ehemalige Redakteurin der Hamburger Frauenzeitung Dr. Andrea Lassalle in einer Chronik der Hamburger Frauenhäuser im digitalen deutschen Frauenarchiv nachzeichnet. Innerhalb der Frauenbewegung wurden daher Debatten um die Organisierung und Struktur der Frauenhäuser geführt, die eng verzahnt waren mit den damaligen politischen und theoretischen Analysen um (unbezahlte) Sorgearbeit, Hierarchiefreiheit und Unabhängigkeit.
Mittlerweile wurden Frauenhäuser durch bezahlte Mitarbeiterinnen aus der Sozialen Arbeit professionalisiert. Dadurch entstand ein Widerspruch zwischen Selbstwirksamkeit und Professionalität, der im Alltag der Mitarbeiterinnen und Bewohnerinnen bis heute eine Rolle spielt. Im Gespräch mit Untiefen berichtet eine Mitarbeiterin eines Frauenhauses in der Metropolregion Hamburg, die Professionalisierung sei grundsätzlich der anspruchsvollen Arbeit mit Frauen und Kindern aus akuten Gewaltsituationen angemessen. In vielen autonomen Frauenhäusern übernehmen allerdings auch die Bewohnerinnen selbst noch Teile der täglichen Arbeit, beispielsweise die nächtliche Aufnahme.
In Hamburg ist dafür seit 2016 die 24/7, die zentrale Notaufnahme für die Hamburger Frauenhäuser, zuständig. Die Mitarbeiterinnen nehmen die akut betroffenen Frauen auf und vermitteln sie dann an Häuser weiter. Dies entlaste die Bewohnerinnen von den nächtlichen und wöchentlichen Notdiensten, so die Mitarbeiterin. Gleichwohl könne es den Bewohnerinnen auch Stärke zurückgeben, einen Teil beizutragen und andere Frauen zu unterstützen. Allerdings übernehmen die Bewohnerinnen diese Aufgaben nicht in erster Linie aufgrund dieser ermächtigenden Wirkung, sondern schlichtweg, weil das Personal fehle.
Kein Frauenhaus, sondern der Sitz von Frauen helfen Frauen e.V., der anderen Trägervereine der autonomen Frauenhäuser sowie der Koordinationsstelle der 24/7 in der Amandastraße. Foto: Dirtsc Lizenz: CC BY-SA 3.0
Die befürchtete Hierarchie zwischen professionalisierten und ehrenamtlich arbeitenden Frauen in den Häusern konnte trotz basisdemokratischer Struktur nicht vermieden werden. Da die Frauenhäuser mittlerweile öffentlich finanziert und tariflich gebunden sind, werden auch die Anforderungen an die Qualifikationen der Mitarbeiterinnen höher – und schließen damit viele Frauen, auch ehemalige Bewohnerinnen, aus. Doch gerade diese Frauen bringen oft sowohl eigene Erfahrung mit partnerschaftlicher Gewalt und dem Leben im Frauenhaus mit als auch Sprachkenntnisse, die dem Leben im Haus zuträglich sein könnten. Die geringe Anerkennung ausländischer Abschlüsse in der Sozialen Arbeit und die strukturelle Ungleichheit im Bildungssystem in Deutschland tragen dazu bei, dass die Mitarbeit im Frauenhaus nicht allen gleichermaßen zugänglich ist – und die Teams ihrem Anspruch an Diversität nicht immer gerecht werden können.
Feministische Debatten in der Frauenhauspraxis
Mit dem Auftreten antirassistischer Diskurse an den Universitäten und in der feministischen Szene entbrannten auch innerhalb der Frauenhäuser Debatten über Rassismus und Diskriminierung, im Zuge derer mit Quotierungen in den Teams und bei den Aufnahmen experimentiert wurde. Weniger diskutiert wurde hingegen jahrelang das hot topic der aktuellen feministischen Debatten: Was ist eine Frau? Bis vor wenigen Jahren, so eine Mitarbeiterin, war die Diskussion darum, was Geschlecht eigentlich ist, in Frauenhäuser nicht anschlussfähig. Dies ändert sich jedoch derzeit, insbesondere durch jüngere Kolleginnen.
Die etwa in der Debatte um das »Selbstbestimmungsgesetz« geäußerte Befürchtung einiger Feministinnen, Frauenschutzräume könnten unterlaufen werden, wenn Geschlecht an eine empfundene Identität statt an körperliche Merkmale geknüpft ist, erscheint angesichts des von der Mitarbeiterin beschriebenen Frauenhausalltags weniger eine praktische als vielmehr eine theoretische Frage zu sein: »Die Frau kommt – die kann mir auch irgendwas erzählen, wer sie ist – sie muss mir auch nicht ihren Perso zeigen. So arbeiten wir nicht. Die Frau erzählt, und wenn sie von häuslicher Gewalt betroffen ist, dann wird sie aufgenommen.« Der rechtliche Personenstand spielt in der Praxis keine Rolle. Jede Aufnahme ist außerdem eine Einzelfallentscheidung und berücksichtigt die Erfahrungen der Bewohnerinnen. Und: nicht jede sei für diese Art des Zusammenwohnens geeignet, auch das spielt bei den Aufnahmegesprächen eine Rolle.
In Hamburg wurde zudem vor zwei Jahren das 6. Frauenhaus gegründet, das sich explizit als Schutzraum für trans Frauen positioniert und die seit Jahren gängige Praxis untermauert. Viel wichtiger als die theoretische Definition von Geschlecht erscheint jedoch die Frage, ob in den Häusern überhaupt genug Plätze vorhanden sind. Zu Beginn der Pandemie fehlten in Hamburg rund 200 Frauenhausplätze.
Zu wenige Plätze, zu wenig Geld, zu wenig Personal
Obwohl aktuelle innerfeministische Debatten durchaus zum Thema werden, nimmt das alltägliche Rotieren, auch aufgrund fehlenden Personals, in den Häusern einen Großteil der Zeit ein. Die Art und Weise der öffentlichen Finanzierung unterscheidet sich je nach Bundesland und Gemeinde. Während in Hamburg, Schleswig-Holstein und Berlin die autonomen Frauenhäuser durch eine Pauschale pro Platz im Haus finanziert werden, ist die Finanzierung in anderen Bundesländern direkt an die betroffene Frau gekoppelt. Da sie in einigen Ländern über das Sozialhilfegesetz abgewickelt wird, sind Frauen mit eigenem Einkommen, Studentinnen und Frauen mit unsicherem Aufenthaltsstatus davon ausgeschlossen. Diese Frauen werden, wenn möglich, in Ländern mit Pauschalfinanzierung untergebracht, da sie die Plätze sonst selbst zahlen müssten – vorausgesetzt, Aufenthaltsbestimmungen oder der Job lassen einen Umzug zu und es sind freie Plätze vorhanden. Die Zentrale Informationsstelle der autonomen Frauenhäusern (ZIF) fordert dementsprechend eine bundesweite einzelfallunabhängige Finanzierung der Frauenhäuser.
Doch auch die pauschale Finanzierung bringt Schwierigkeiten mit sich. Der Erhalt sowie die Ausweitung der Plätze sind vom Wohlwollen der jeweiligen Landesregierungen abhängig. Um einer drohenden Schließung zu entgehen, wurden im Jahr 2006 das 1. und das 3. Autonome Frauenhaus zusammengelegt. Der CDU-geführte Senat hatte Kürzungen beschlossen, da die Versorgungslage in Hamburg besser sei als in anderen Großstädten.
Feministische Perfomance »Der Vergewaltiger bist du« des Kollektivs Las Tesis aus Argentinien, die mittlerweile auch in Hamburg regelmäßig zum 25. November im Rahmen von Demonstrationen aufgeführt wird. Foto: Paulo Slachevsky Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0
Männergewalt und Femizide
Laut behördlicher Auskünfte wurden in Hamburg im laufenden Jahr insgesamt 16 Frauen getötet, sechs davon von ihrem (Ex-)Partner, bei den zehn anderen ist die Einordnung unklar. Die Zahl der Femizide, also der Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts, ist in jedem Fall alarmierend. Allerdings ist Femizid im deutschen Recht kein eigener Tatbestand, er wird unter Partnerschaftsgewalt subsumiert. Studien und genaue Fallzahlen zu Femiziden fehlen entsprechend im deutschsprachigen Raum weitgehend. Die frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft Cansu Özdemir kritisierte daher jüngst den Senat für seine Weigerung, eine Untersuchung zu Femiziden in Hamburg als »nötige wissenschaftliche Basis für ein zielgerichtetes und wirkungsvolles Präventionskonzept« in Auftrag zu geben.
Bewohnerinnen und ehemaligen Bewohnerinnen von Frauenhäusern steht die Gefahr, Opfer eines Femizids zu werden, besonders deutlich vor Augen. 2018 wurde die 42-Jährige Juliet H. von ihrem Expartner ermordet. Nachdem sie in einem Hamburger Frauenhaus Schutz gesucht hatte, zog sie mit ihren Kindern in eine eigene Wohnung, wo sie von ihrem Exmann getötet wurde. Doch nicht nur für die Bewohnerinnen sind solche Fälle alarmierend. Es setzt auch die Mitarbeiterinnen enorm unter Druck, die mit knappen Ressourcen und staatlichen Hürden kämpfen, um den Frauen Schutz und eine Perspektive zu bieten.
Väterrechte stehen über dem Schutz von Frauen und ihren Kindern. Die Veränderungen im Familienrecht der letzten Jahre machen die Situation von Frauen aus Gewaltbeziehungen gefährlicher. Die Zeit unmittelbar nach der Trennung vom gewalttätigen Partner birgt das höchste Risiko, Opfer eines (versuchten) Femizids zu werden. Umso wichtiger ist dann ein unkomplizierter Zugang zu einem Frauenhaus. Dieser Schutz wird allerdings durch das familienrechtlich angestrebte Wechselmodell untergraben.
Das von der jetzigen Bundesregierung in den Mittelpunkt von Sorge- und Umgangsrecht gestellte Wechselmodell soll eigentlich zu einer gleichberechtigten Aufteilung der Erziehung und Verantwortung für gemeinsame Kinder führen. Es bedarf jedoch einer Kommunikation auf Augenhöhe, um die nötigen Absprachen für dieses Arrangement zu treffen. Übt der Vater Gewalt über die Mutter aus, ist diese Augenhöhe offensichtlich nicht gegeben. Aus der Praxis berichtet die Mitarbeiterin, dass dem Vater durch das Umgangsrecht in diesen Fällen ermöglicht wird, weiterhin Kontrolle und Gewalt auszuüben. Das Wechselmodell steht deshalb bei Feministinnen und Initiativen für Alleinerziehende Mütter in der Kritik.
Gerichte ordnen sogar bei Müttern, die im Frauenhaus leben, das Wechselmodell an. Die Mitarbeiterin des Frauenhauses beschreibt: »Wenn die [Frau] Kinder hat, geht’s sofort los mit Kontakt zu Jugendamt, Kontakt zu Anwälten, dann wird irgendwer versuchen sofort das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu beantragen, es werden Sofortumgänge in die Wege geleitet mit den gewalttätigen Vätern – und das ist krass.«
Die Gerichte gingen ohne weiteres davon aus, dass die Gewalt durch den Auszug der Mutter aufgehört habe und also bei Verfahren zum Sorge- und Umgangsrecht nicht berücksichtigt zu werden brauche. Die Mütter müssten daher irgendwie Vorkehrungen treffen, um dem gewalttätigen Mann die Kinder zu übergeben, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Durch Personalmangel ist es den Mitarbeiterinnen in den Frauenhäusern oft nicht möglich, Frauen zu diesen Übergaben zu begleiten.
Nach 45 Jahren sind autonome Frauenhäuser also zwar anerkannte Institutionen zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Aber ihre Existenz bleibt prekär und die Situation der Frauen selbst wird komplexer. Die Mitarbeiterin und ihre Kolleginnen erwarten vom Senat und der Bundesregierung eine Erhöhung der Anzahl der Plätze und eine bundesweite pauschale Finanzierung. Im Sorge- und Umgangsrecht müsse das Personal geschult werden, um den Gewaltschutz konsequenter berücksichtigen. Nicht die Frauen sollten im Haus Schutz suchen und dann um ihre Kinder kämpfen müssen, sondern die Männer sollten beweisen, dass sie nicht gefährlich sind, schließt die Mitarbeiterin.
Lea Remmers
Die Autorin schrieb für Untiefen bereits über die Herbertstraße als Symbol männlicher Herrschaft.
Kühne + Nagel: ›Arisierung‹, Sponsoring und Schweigen
Am 27.11.2022 um 19 Uhr sprechen wir mit Henning Bleyl über die NS-Geschichte von K+N, ihre Nicht-Aufarbeitung durch Klaus-Michael Kühne, über die Debatte um das ›Arisierungs‹-Mahnmal in Bremen und um den Kühne-Preis in Hamburg. Eine Veranstaltungsankündigung.
Kühne verdankt seinen Reichtum auch Möbeltransporten im NS. Er selbst steht gern im Rampenlicht, die »unschönen Dinge« aus der Vergangenheit aber sollen, geht es nach ihm, lieber im Dunkeln bleiben.
Die ursprünglich in Bremen und Hamburg beheimatete Firma Kühne + Nagel (K+N), heute drittgrößtes Logistikunternehmen der Welt, ist tief in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. 1933 drängten die Inhaber Alfred und Werner Kühne ihren jüdischen Teilhaber, den Hamburger Kaufmann Adolf Maass, aus dem Unternehmen. Später profitierte K+N von den ›Arisierungen‹ in den von Deutschland besetzten Ländern: Im Zuge der sogenannten ›M‑Aktion‹ transportierte K+N im großen Maßstab Möbel aus den Wohnungen geflohener und deportierter Jüdinnen und Juden nach Deutschland.
Das Unternehmen hat diese Verstrickung lange verschwiegen und nie aufgearbeitet; der Patriarch und Firmenerbe Klaus-Michael Kühne wehrt sich bis heute dagegen, seine Familien- und Unternehmensgeschichte öffentlich untersuchen zu lassen. In Hamburg, wo der 1944 in Auschwitz ermordete Adolf Maass tätig war und wo lange Zeit der Hauptsitz von K+N lag, erinnert nichts an die Beteiligung des Unternehmens an NS-Verbrechen. Zugleich ist Klaus-Michael Kühne in Hamburg vor allem als wohltätiger Sport- und Kulturmäzen bekannt und omnipräsent.
Eines von Kühnes Prestigeprojekten ist das Harbour Front Literaturfestival. Die Kühne-Stiftung war maßgeblich an seiner Gründung beteiligt, fungierte seither als Hauptsponsor und finanzierte den jährlich vergebenen Klaus-Michael Kühne-Preis für das beste Romandebüt. Dieses Jahr zogen zwei der für den Preis nominierten Autor:innen ihre Teilnahme zurück – mit Verweis auf die verweigerte Aufarbeitung der NS-Geschichte. Diese Rücktritte sorgten Anfang September für einen Eklat, der einige öffentliche Kritik an Kühne nach sich zog, während er und seine Stiftung keinerlei Verständnis zeigten. Mit dem Rückzug der Kühne-Stiftung aus der Finanzierung des Festivals und der Umbenennung des Preises wurde die Debatte nach wenigen Wochen vorläufig beendet.
Die entscheidenden Fragen, die der Eklat um den Kühne-Preis freigelegt hat, sind allerdings immer noch offen. Wir wollen daher mit etwas zeitlichem Abstand zu diesem Eklat diskutieren: Warum gibt es in Hamburg keinen kritischen Umgang mit der NS-Geschichte von Kühne + Nagel? Wie könnten Erinnerung, Aufklärung und Konsequenzen aussehen? Wie kann mit Klaus-Michael Kühne als Kultursponsor umgegangen werden? Welche Probleme der privatisierten Kulturförderung stehen dahinter? Und was ist in der im Hinblick auf diese Fragen in der öffentlichen Diskussion um den Kühne-Preis gut gelaufen, was blieb unterbelichtet?
Vortrag und Diskussion mit:
Henning Bleyl, Journalist und Initiator des Bremer ›Arisierungs‹-Mahnmals
Moderation: Redaktion des Blogs Untiefen – Das Stadtmagazin gegen Hamburg (www.untiefen.org)
Organisiert in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hamburg, gefördert durch die Landeszentrale für politische Bildung Hamburg.
Gestern, am 20. Oktober, wurde der ZDF-aspekte-Literaturpreis an Sven Pfizenmaier verliehen. Morgen, am 22. Oktober, endet das diesjährige Harbour Front Literaturfestival. Grund genug, auf den Eklat zurückzublicken, den Pfizenmaier mit der Zurückweisung seiner Nominierung für den Kühne-Preis auslöste. Was geschah – und was bleibt? Eine Chronik und Presseschau.
25./26. Juli 2022:
Acht Autor:innen (bzw. ihre Verlage) erhalten eine E‑Mail von der Redaktion Untiefen. Betreff: Klaus-Michael Kühne. In dieser E‑Mail schildern wir den Nominierten für den diesjährigen Klaus-Michael Kühne-Preis, der seit 2010 auf dem Harbour Front Literaturfestival vergeben wird, die Hintergründe des Geld- und Namensgebers Kühne: die tiefe Verstrickung des Unternehmens Kühne+Nagel, das damals von Klaus-Michael Kühnes Vater geleitet wurde, in den Nationalsozialismus sowie die beharrliche Weigerung Kühnes, Verantwortung für diese Geschichte zu übernehmen und sich um Aufarbeitung zu bemühen (siehe Kühne+Nagel, Logistiker des NS-Staats). Wir fragen die Autor:innen, welche Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Situation sie für sich sehen, und bitten um Antworten – sei’s off the record, sei’s als zur Veröffentlichung freigegebenes Statement.
18. August 2022:
Sven Pfizenmaier, mit seinem im März erschienenen Roman Draußen feiern die Leute für den Preis nominiert, zieht aus den Informationen über die Hintergründe Kühnes seine Konsequenz: Er teilt dem Literaturfestival intern und mit einer kurzen schriftlichen Erklärung mit, dass er seine Teilnahme am Festival zurückziehe und auf die Nominierung verzichte.1Der Zufall will es, dass am selben Tag im Neuen Deutschlandein Beitrag Berthold Seligers zur Kritik an (vermeintlich) Putin-nahen russischen Künstler:innen bzw. Sponsoren bei den Salzburger Festspielen erscheint. Seliger weist in seinem Beitrag auch auf die NS-Verbrechensgeschichte von Kühne+Nagel hin und fordert: »Wer sich über das Sponsoring russischer Konzerne echauffiert, sollte auch den Mut haben, nämliches bei Konzernen wie Audi, der Deutschen Bank, Siemens oder der Kühne-Stiftung anzuklagen.«
24. August 2022:
Das Festival reagiert auf die Absage, indem es in der denkbar knappsten Form via Twitter und Presseaussendung ein »Programm-Update« verkündet:
»Nach der Absage von Sven Pfizenmaier wurde ein sogenanntes Nachrück-Verfahren eingeleitet, so dass Przemek Zybowski nun seinen Debütroman ›Das pinke Hochzeitsbuch‹ beim 2. #Debütantensalon am 10. September vorstellen wird.«
Kein Wort des Bedauerns über Pfizenmaiers Rückzug, kein Wort dazu, warum Pfizenmaier absagte. Und auch kein:e Pressevertreter:in scheint sich über die kommentarlose Absage zu wundern und sich für ihre Gründe zu interessieren. Auf der Festivalwebsite wird Pfizenmaiers Name kommentarlos ersetzt.
29. August 2022:
Die Branchen-Website buchmarkt.de veröffentlicht die Erklärung, mit der Pfizenmaier seine Absage begründet. In ihr heißt es unter anderem:
»Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dagegen wehrt, die NS-Historie seines Unternehmens aufzuarbeiten, möchte ich meinen Text nicht in einen Wettbewerb um sein Geld und eine Auszeichnung mit seinem Namen stellen.«
Doch auch auf diese Erklärung folgt zunächst keine Reaktion. Die Strategie des Festivals, die Absage unter den Teppich zu kehren und erst gar keinen Eklat aufkommen zu lassen, scheint zunächst aufzugehen.
1. September 2022:
Das Kalkül des Festivals scheitert mit einem Knall: Die Mopo titelt Kühne-Preis: Eklat um NS-Vergangenheit des Hamburger Unternehmens und veröffentlicht einen großen doppelseitigen Beitrag. Aus Pfizenmaiers Absage wird so tatsächlich ein Eklat. Am Nachmittag desselben Tags erscheint ein Beitrag in der taz. Während die Kühne-Stiftung gegenüber der Mopo noch keinen Kommentar abgeben wollte, demonstriert sie nun gegenüber taz-Redakteur Jean-Philipp Baeck eine stupende Kombination aus gekränkter Eitelkeit, Geschichtsvergessenheit und Aggressivität:
»Die Kühne-Stiftung fühle sich ›in dieser Angelegenheit im höchsten Grade ungerecht behandelt‹. Und: ›Sie hat mit Vorgängen, die ca. 80 Jahre zurückliegen, nichts zu tun und wird die traditionelle Verleihung des Klaus-Michael Kühne-Preises jetzt überdenken.‹ «
Am selben Tag veröffentlicht Untiefen den Beitrag Kühne+Nagel, Logistiker des NS-Staats, der fordert, die NS-Geschichte von Kühne+Nagel auch in Hamburg zum Gegenstand erinnerungspolitischer Arbeit zu machen.
7. September:
Das Hamburger Abendblatt greift die Entwicklung auf. Abendblatt-Redakteur Thomas Andre zitiert nun auch das Jury-Mitglied Stephan Lohr sowie – ohne Nennung eines Namens – die Hamburger Kulturbehörde; die Behörde würdigt die Kritik an Kühne als »Beitrag zur Aufarbeitung unserer Geschichte«, lässt aber auch ihre Abhängigkeit von seiner Stiftung durchscheinen:
»[…] Die Kühne-Stiftung leistet seit vielen Jahren insbesondere für die Kultur und Wissenschaft gute und wichtige Unterstützung, die nicht ohne Weiteres durch die öffentliche Hand ersetzt werden kann.«
In einem Kommentar, der den Artikel flankiert, erklärt Abendblatt-Redakteur Andre im Einklang mit der Kulturbehörde, dass Kritik an Kühne zwar »erlaubt« sei, aber es »mehr als schade« wäre, Kühne als großzügigen Kultursponsor zu vergraulen.
Auch Franziska Gänsler erklärt nun ihren Rückzug vom Festival. Anders als Pfizenmaier, dessen Roman im selben Verlag erschienen ist wie ihr Debüt Ewig Sommer, hatte sie sich zunächst gegen einen Rücktritt entschieden. In einer Stellungnahme, die auf buchmarkt.de veröffentlicht und in der Presse vielfach zitiert wird, erklärt sie, dass der Umgang des Festivals und der Kühne-Stiftung mit Pfizenmaiers Absage sie zu ihrem Schritt bewogen haben.
Die Festivalleitung veröffentlicht eine (inzwischen nur noch via Internet Archive auffindbare) Stellungnahme zu der Debatte rund um die Absagen von Pfizenmaier und Gänsler. Sie bekundet:
»Wir finden diese Absagen sehr bedauerlich. Für die Beweggründe der Betreffenden haben wir Verständnis – auch wir sehen Diskussionsbedarf in dieser Angelegenheit.«
Dass der »Diskussionsbedarf« der Festivalleitung nicht so dringend ist, offenbart sich jedoch in der nachgeschobenen Aussage: »Wir hoffen, dass es trotz der gegenwärtigen Diskussion gelingt, die Literatur für die Zeit des Festivals in den Mittelpunkt zu rücken.« Zeitgleich mit der Stellungnahme stellt das Festival auch die beiden Stellungnahmen von Gänsler und Pfizenmaier auf seine Homepage.
Am selben Tag erscheint auf Zeit Onlineein Beitrag von Christoph Twickel. In ihm kommen auch weitere nominierte Schriftsteller:innen zu Wort: Domenico Müllensiefen und Annika Büsing. Beide heben den strukturellen Charakter des Problems hervor, das weit über den Fall Kühne hinausweise, und regen eine breite Debatte über die Mechanismen der (privaten) Kulturförderung an. In den Sozialen Medien zieht die Artikelüberschrift »Nazizeit? – Lange her!«, die sich auf die Stellungnahme der Kühne-Stiftung bezieht, rechte Kommentator:innen an. Das entsprechende Posting auf der Facebook-Seite der Zeit erhält 570 Kommentare, größtenteils von rechts: Den Kühne-Kritiker:innen werden Neid und Moralismus vorgeworfen, die Verbrechen von K+N werden relativiert. Nahezu alle Kommentare schließen sich der Forderung der Kühne-Stiftung nach einem Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit an.
Domenico Müllensiefen veröffentlicht die Stellungnahme, um die er von der Zeit gebeten worden war, in voller Länge auf seinem Blog.
Die Redaktion Untiefen veröffentlicht den Beitrag »Kühne-Preis: Kulturförderung als Schweigegeld?«. Der Beitrag rekapituliert die bisherige Debatte und zitiert die der Redaktion zugesandten Stellungnahmen von Domenico Müllensiefen (die sich zu großen Teilen mit der Stellungnahme gegenüber der Zeit deckt) und von Daniel Schulz. Junge Autor*innen seien »auf die wenigen Förderungen angewiesen […], die es noch gibt«, schreibt Schulz, und sieht daher eigentlich andere Angehörige des Kulturbetriebs in der Pflicht, gegenüber problematischen Förderern wie Kühne Stellung zu beziehen.
8. September 2022:
Die dpa veröffentlicht eine Meldung zum Eklat und zu Gänslers Rücktritt, die in zahlreichen (Online-)Medien aufgegriffen wird. Darin wird auch die Kühne-Stiftung zitiert, die – auf etwas weniger brüske Weise – ihre Stellungnahme vom 1. September bekräftigt:
»Die Kühne-Stiftung stellte klar, dass ihre Förderleistungen keinen Bezug zu einer Zeit haben, ›die weit zurück liegt und zu der ganz andere Verhältnisse herrschten‹. Das teilte sie auf Nachfrage am Donnerstag mit. ›Hierbei Zusammenhänge zu konstruieren, würden wir als eine bewusste Schädigung unserer rein philanthropischen Unterstützung des Harbour Front Literaturfestivals betrachten.‹ «
Mehrere Medien, darunter Mopo und Abendblatt, berichten, dass sich das Festival von der Kühne-Stiftung als Sponsor trennt. Die Festivalleitung bekundet, dass dieser Schritt jedoch nichts mit dem Eklat zu tun habe, sondern bereits länger geplant gewesen sei. Im Mopo-Artikel heißt es dazu:
»Auf MOPO-Anfrage erklärte Heinz Lehmann aus dem Leitungsteam: ›Dieser Schritt hat überhaupt nichts mit dem aktuellen Wirbel um die Vergangenheit der Familie Kühne zu tun, sondern war seit Monaten geplant.‹ Die Kühne-Stiftung war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.«
Am Abend des 8. September findet die Eröffnung des Festivals in der Elbphilharmonie statt. Wie das Abendblatt am 10. September berichtet, kommt der Eklat hier von Beginn an zur Sprache: Der Generalintendant der Elbphilharmonie verharmlost die Kritik an Kühne zu einem »Skandälchen« unter anderen, das zudem ja den Kartenverkäufen zuträglich sei. Die Leiterin des Festivals Petra Bamberger äußert sich unverbindlich (»Wir danken allen unseren Förderern, aber wir sind vor allem unseren Autorinnen und Autoren verpflichtet«). Der Manager und Kühne-Vertraute Michael Behrendt, Mitglied im Stiftungsrat der Kühne-Stiftung, hingegen zeigt sich »betroffen« – nicht aber von den verbrecherischen Geschäften Kühne+Nagels oder vom Schicksal des in Auschwitz ermordeten Ex-Teilhabers Adolf Maass, sondern von den »kritischen Stimmen«. Schließlich, so Behrendt, sei Klaus-Michael Kühne bei Kriegsende erst sieben Jahre alt gewesen.
14. September:
Die Festivalleitung teilt mit: Der Klaus-Michael Kühne-Preis heißt ab sofort »Debütpreis des Harbour Front Literaturfestivals« – und er wird nicht in Kühnes Luxushotel The Fontenay an der Außenalster, sondern im Nachtasyl des Thalia Theaters überreicht werden. Die Änderungen entspringen jedoch keiner souveränen Entscheidung des Festivals, sondern geschehen auf Anordnung der schmollenden Kühne-Stiftung. In der Mitteilung der Festivalleitung, die unter anderem von der Mopo zitiert wird, heißt es:
»Nach der öffentlichen Debatte um die Absage der Teilnahme zweier Autor:innen am Debütantensalon 2022 hat die Kühne-Stiftung das Harbour Front Literaturfestivalam 12. September 2022 dazu aufgefordert, den Namen des ›Klaus-Michael Kühne-Preises‹ und den Ort der Preisverleihung zu ändern.«
Die Zeit kommentiert die Umbenennung kritisch: »Sie dient bloß dazu, eine Debatte zu vermeiden, die überfällig ist. Das ist feige.« Von der im Beitrag zitierten Sprecherin der Kühne-Stiftung lässt sich etwas über die Gründe für die Umbenennung erfahren: »Format und Benennung des mit dem Festival verbundenen Preises sollen von Diskussionen frei sein.« Das also versteht der Mäzen unter Freiheit der Kunst – sie soll frei sein von Kritik und Diskussion.
15. September:
Über die Umbenennung des Preises wird in einer dpa-Meldung berichtet, die vielfach übernommen wird.
Das »Hamburger Tüddelband«, die im Rahmen des Harbour Front Festivals verliehene Auszeichnung für herausragende Kinderbuchkünstler:innen, wird in der Hauptkirche St. Katharinen an Axel Scheffler und Julia Donaldson verliehen. Schirmherrin dieses Preises ist Christine Kühne, Klaus-Michael Kühnes Ehefrau. Anders als in vergangenen Jahren ist sie aber nicht anwesend. Das Abendblatt schreibt:
»Ob es das ›Hamburger Tüddelband‹ im kommenden Jahr noch geben wird […], ließ die Festivalleitung auf Nachfrage offen.«
16. September:
Die Jury gibt den Preisträger des nun umbenannten Preises bekannt: Behzad Karim-Khani mit seinem Roman Hund, Wolf, Schakal. In ihrer Begründung geht die Jury ausführlich auf die vorhergegangene Debatte ein:
»In diesem Jahr haben zwei der acht von der Vorjury ausgewählten Nominierten ihre Teilnahme zurückgezogen. Wir hätten gerne auch über ihre Bücher diskutiert. Aber wir möchten Sven Pfizenmaier und Franziska Gänsler für ihre Entscheidung unseren Respekt aussprechen. Und wir schließen uns ihren Forderungen ausdrücklich an: Wir würden uns wünschen, dass Kühne + Nagel sein unternehmerisches Handeln in der NS-Zeit durch Historiker*innen unabhängig untersuchen lassen und die Forschungsergebnisse öffentlich machen würde.«
18. September:
Der Debütpreis wird im Nachtasyl (Thalia-Theater) verliehen. Am 19. September veröffentlich die dpa zur Preisvergabe eine Meldung, die auch auf die Stellungnahme der Jury zum Eklat eingeht und von vielen Medien übernommen wird.
20. September:
Der Literaturwissenschaftler und Kulturjournalist Johannes Franzen, der erst im Februar im Merkur über die Heteronomie der Kunst angesichts der Abhängigkeit von ihren Geldgeber:innen schrieb, greift die Debatte in seinem Newsletter Kultur und Kontroverse auf. Er kommentiert:
»Was an der Geschichte besonders interessant erscheint, ist zunächst, wie ein Milliardär einen Preis von läppischen 10.000 Euro stiften kann und dafür mit viel kulturellem Kapital belohnt wird, wie dann aber dieses kulturelle Kapital ihm plötzlich in der Hand explodieren kann. Man muss davon ausgehen, dass über die schreckliche Vergangenheit des Unternehmens Kühne + Nagel aktuell weniger stark berichtet werden würde, wenn nicht das Prestige des Literarischen auf dem Spiel stehen würde.«
27. September:
Das Magazin Oper! veröffentlicht ein Interview mit Klaus-Michael Kühne (online nur auszugsweise verfügbar), über das kurz darauf ein Artikel im Abendblatt erscheint. Kühne wirbt darin für seinen Vorschlag, ein neues Opernhaus in Hamburg zu errichten, und zeigt sich – vom Interviewer freundlich sekundiert – verständnislos über den Undank für seinen »gut gemeinten Ratschlag«.
4. Oktober:
Im Hamburg-Teil der Zeitgreift Florian Zinnecker die Debatte noch einmal auf. Er betont die enge Verzahnung des Harbour Front Literaturfestivals mit der Kühne-Stiftung und fordert, dass die Diskussionen, die sich um den Kühne-Preis entwickelt haben, weitergeführt werden müssten:
»Die große Frage aber, die durch die Eruptionen erst so richtig freigelegt wurde, ist noch offen – und sie ist um ein Vielfaches zu groß, als dass das Festival sie allein abräumen könnte. Die Kühne-Stiftung fördert die Staatsoper und die Philharmoniker; ohne Kühnes Zuwendungen wäre Kent Nagano als Generalmusikdirektor wohl weder nach Hamburg zu locken noch hier zu halten gewesen. Kühne gab 4 Millionen Euro für die Elbphilharmonie, die VIP-Lounge des Hauses ist nach ihm benannt. Das Internationale Musikfest fördert er mit einer halben Million jährlich. Und für den HSV (Fußball ist auch Kultur) wendete Kühne schon mehr als 100 Millionen Euro auf. All diese Institutionen begleiten die Debatte bislang mit vehementem Schweigen.Es wäre billig, von ihnen klare Kante zu fordern, wer vergrätzt schon gern einen Hauptsponsor. Aber zu reden wäre darüber schon. Denn sonst beantwortet sich die Frage, ob das Störgefühl groß genug ist für eine Neubewertung der Lage, von allein – mit Nein. Alles egal. Hauptsache, er zahlt.«
20. Oktober:
Auf der Frankfurter Buchmesse wird Sven Pfizenmaier der mit 10.000€ dotierte ZDF-aspekte-Literaturpreis für sein Romandebüt verliehen.
5. November:
Im Hamburger Abendblatterscheint auf einer Doppelseite ein langes Interview mit Klaus-Michael Kühne. Ganz kurz kommt der Interviewer – der stellvertretende Chefredakteur Matthias Iken – auch auf die NS-Vergangenheit von K+N und den Eklat vom September zu sprechen und lässt Kühne dabei unwidersprochen seine Schlussstrichforderung wiederholen:
»Ihr Literaturpreis heißt nicht mehr Klaus-Michael Kühne-Preis, junge Literaten verzichteten auf eine Nominierung, weil Sie die NS-Geschichte Ihres Unternehmens intensiver aufarbeiten sollen … Das hat mich persönlich getroffen. Wir wollten uns zwar aus dem Harbourfront-Literaturfestival zurückziehen, das wir maßgeblich gefördert hatten, den Nachwuchspreis aber weiter finanzieren. Das machen wir jetzt nicht mehr. Den Organisatoren habe ich verübelt, dass sie diese einseitigen Vorwürfe so übernommen und das Thema einseitig betrachtet haben.
Sie könnten ja eine Untersuchung durch Historiker beauftragen … Die Archive sind zerstört, die Fakten sind bekannt. Es wird vieles hineininterpretiert. Warum sollten wir die alten Wunden nach so langer Zeit wieder aufreißen? Das hätte man viel früher machen müssen. 2015 kam das Thema zum 125. Jubiläum zum ersten Mal hoch, das beim 100. Geburtstag keinen interessiert hatte. Wir haben die unschönen Dinge in unserer Jubiläumsschrift dargestellt und unser Bedauern darüber mehrmals öffentlich geäußert.«
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Der Zufall will es, dass am selben Tag im Neuen Deutschlandein Beitrag Berthold Seligers zur Kritik an (vermeintlich) Putin-nahen russischen Künstler:innen bzw. Sponsoren bei den Salzburger Festspielen erscheint. Seliger weist in seinem Beitrag auch auf die NS-Verbrechensgeschichte von Kühne+Nagel hin und fordert: »Wer sich über das Sponsoring russischer Konzerne echauffiert, sollte auch den Mut haben, nämliches bei Konzernen wie Audi, der Deutschen Bank, Siemens oder der Kühne-Stiftung anzuklagen.«
Am 18. September wird im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals in Hamburg der renommierte Klaus-Michael Kühne-Preis verliehen. Nun haben zwei Schriftsteller:innen ihre Nominierungen zurückgezogen – weil der Geld- und Namensgeber die NS-Historie seines Familienunternehmens nicht aufarbeite. Wir hatten zuvor sie und die übrigen Nominierten kontaktiert, um über die finanzielle Abhängigkeit des Kulturbetriebes von privater Förderung und die Imagepolitik problematischer Mäzene zu sprechen.
Weiß wie die Unschuld: In Kühnes Luxushotel „The Fontenay“ an der Alster soll der Klaus-Michael Kühne-Preis am 18.09. verliehen werden. Foto: travelswiss1 Lizenz: CC BY-NC 2.0
Im Kunst- und Kulturbetrieb rumort es: Das Londoner British Museum benennt alle nach einem Großspender benannten Räume um, die Videokünstlerin Hito Steyerl zieht eines ihrer Werke aus einer angesehenen Sammlung zurück, die Salzburger Festspiele beenden in Reaktion auf einen offenen Brief des Autors Lukas Bärfuss und der Regisseurin Yana Ross die Zusammenarbeit mit einem Sponsor. All diese Auseinandersetzungen ereigneten sich in den letzten Monaten. Und bei allen ging es um ganz ähnliche Fragen: Wer finanziert eigentlich Kulturinstitutionen und Kulturschaffende? Aus welchen Quellen stammen die Milliarden an privaten Mitteln, mit denen Museen, Konzerthäuser, Preise und Festivals gefördert werden? Und wie kann oder soll man sich gegenüber ›schmutzigen‹ Fördergeldern verhalten, die aus fragwürdigen Quellen stammen und von den Geldgeber:innen zumReinwaschen des eigenen Namens bzw. dem Verdecken von Schandtaten genutzt werden?
Auf die Frage nach dem praktischen Umgang haben Kulturinstitutionen und Künstler:innen in den genannten drei Fällen klare Antworten gefunden. Sie zogen Konsequenzen daraus, dass die Milliardärsfamilie Sackler mit ihrem Unternehmen Purdue Pharma maßgeblich für die Opioidkrise in den USA verantwortlich war; daraus, dass die Unternehmerin und Kunstsammlerin Julia Stoschek ihr Milliardenvermögen ihrem Nazi-Urgroßvater verdankt, der den Automobilzulieferer Brose gründete, den NS-Staat belieferte und als treues NSDAP-Mitglied zum Wehrwirtschaftsführer aufstieg; und daraus, dass das Bergbauunternehmen Solway nicht nur massive Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung verantwortet, sondern zudem enge Verbindungen zum Kreml unterhalten soll.
Die Kühne-Stiftung
Eine in Hamburg besonders aktive und ebenfalls fragwürdige Kultursponsorin ist die Kühne-Stiftung: Bei der Elbphilharmonie, dem Philharmonischen Staatsorchester und dem Harbour Front Literaturfestival tritt die Stiftung als Hauptförderin auf. Gegründet wurde sie 1976 vom Unternehmer Alfred Kühne, seiner Frau Mercedes und ihrem gemeinsamem Sohn Klaus-Michael Kühne. Das Stiftungskapital stammt aus den Erträgen der Kühne Holding, also vorrangig aus jenen des Unternehmens Kühne + Nagel (K+N), eines der weltweit größten Transport- und Logistikunternehmen.
Damit aber verdankt sich das Kapital zum einen dem Umstand, dass Alfred Kühne und sein Bruder Werner 1933 ihren jüdischen Teilhaber Adolf Maass aus dem Unternehmen drängten, und zum anderen der maßgeblichen Beteiligung von K+N an der ›Arisierung‹ jüdischen Eigentums in den von Deutschland besetzten Ländern während des Zweiten Weltkriegs. Hinzu kommt: Klaus-Michael Kühne, der das Unternehmen von 1966 bis 1998 leitete und bis heute sowohl die Mehrheit der Aktienanteile als auch die Fäden in der Hand hält, zeigt keinerlei Verständnis dafür, dass die NS-Vergangenheit seines Unternehmens »immer wieder hochgekocht wird«, und wehrt jegliche Aufarbeitung dieser – seiner – Familien- und Unternehmensgeschichte vehement ab.
Kulturförderung als Schweigegeld
Bislang scheint Klaus-Michael Kühnes Strategie des Relativierens und Verschweigens aufzugehen. Zwar haben insbesondere aus Anlass des 125-jährigen Firmenjubiläums im Jahr 2015 viele Medien kritisch über die Unternehmensgeschichte berichtet, über die man dank der Recherchen des ehemaligen taz-Redakteurs Henning Bleyl und von Historikern wie Wolfgang Dreßen, Frank Bajohr und Johannes Beermann-Schön immerhin einiges weiß. Doch einer breiten Öffentlichkeit sind Klaus-Michael Kühne und sein Unternehmen nach wie vor nicht als NS-Profiteure bekannt. Das öffentliche Bild von Kühne bestimmt vielmehr sein Engagement als Investor und Kulturförderer. Die Hamburger Morgenpost etwa veröffentlichte in den letzten zwei Jahren 50 Artikel über Kühne; nur ein einziger von ihnen behandelt die Geschichte des Unternehmens im Nationalsozialismus und seine Nachgeschichte. Stattdessen produziert Kühne (überwiegend) positive Schlagzeilen mit seinem Engagement beim HSV (dem er die Benennung des Stadions nach Uwe Seeler finanzieren will), mit Investitionen (er hat seine Anteile an der Lufthansa und an der Immobiliengesellschaft Signa Prime erhöht und Anteile am Elbtower erworben) und eben mit seinen Aktivitäten in der Kulturförderung.
Es steht daher außer Frage: Klaus-Michael Kühnes Mäzenatentum dient effektiv der Imagepflege des Familiennamens, dem Verschweigen bzw. Reinwaschen. ›Tue Gutes und sprich darüber‹, sagt man; im Fall von Kühne ließe sich ergänzen: ›damit über das Schlechte nicht gesprochen wird‹. Dass er den von ihm gestifteten Preis für das beste Romandebüt des Jahres ganz unbescheiden nach sich selbst benannt hat, ist davon der wohl krasseste Ausdruck. Es hat zur Folge, dass der Klaus-Michael-Kühne-Preis nicht nur eine Auszeichnung für die Autor:innen darstellt, die ihn erhalten. Vielmehr verschaffen die Preisträger:innen auch dem Mäzen, in dessen an der Außenalster gelegenen Luxushotel The Fontenay die Preisverleihung stattfinden wird, Ansehen und Anerkennung. Und sie drängen damit wider Willen die Beteiligung des Unternehmens an der Enteignung von Jüdinnen und Juden im NS aus dem Blick der Öffentlichkeit. Wenn etwa, wie im Jahr 2014 mit Per Leos Roman Flut und Boden, die literarische Aufarbeitung einer deutschen Familiengeschichte und Abrechnung mit der NS-Täter:innengeneration den Klaus-Michael Kühne-Preis erhält, ohne dass dieser zynische Widerspruch zur Sprache kommt, dient der Preis ganz offenkundig als Feigenblatt.
Suche nach dem angemessenen Umgang
Natürlich haben fast alle deutschen Großunternehmen, die vor 1945 gegründet wurden, eine Verbrechensgeschichte. Der niederländische Politikwissenschaftler David de Jong hat das in seinem Buch Braunes Erbe kürzlich noch einmal eindrücklich dargelegt. Doch das Ausmaß der Kollaboration der Gebrüder Alfred und Werner Kühne mit dem NS-Staat, die anhaltende Weigerung ihres Erben Klaus-Michael Kühne, diese Geschichte aufzuarbeiten und Konsequenzen daraus zu ziehen, sowie die Benennung des Preises nach Kühne selbst machen den Klaus-Michael Kühne-Preis zu einem besonders hervorstechenden Fall.
Was aber wäre ein angemessener Umgang mit dem problematischen Geldgeber? Diese Frage stellten wir, die Redaktion von Untiefen, uns im Vorfeld der diesjährigen Verleihung des Kühne-Preises, ohne zu einer befriedigenden Antwort zu kommen. Wir versuchten daher im Juli, mit den acht Nominierten des Preises selbst ins Gespräch darüber zu kommen. In einer E‑Mail an die Autor:innen schilderten wir ausführlich die Verstrickung von K+N in die NS-Verbrechen und hoben vor allem die Weigerung Klaus-Michael Kühnes hervor, das Firmenarchiv zu öffnen und die Unternehmensgeschichte von unabhängigen Historiker:innen untersuchen zu lassen. In unserem Schreiben an die Nominierten hoben wir auch die Komplexität der Situation hervor und fragten die Autor:innen nach einem möglichen Umgang:
»Klar ist einerseits: Diese Umstände können und dürfen nicht (weiter) beschwiegen werden. Klar ist andererseits aber auch: Ein Literaturpreis ist für eine Debütantin / einen Debütanten wie Sie auch über das hohe Preisgeld hinaus von beträchtlicher Bedeutung. Hinzu kommt, dass Kühnes eigene Ansichten bei der Entscheidung der Jury gewiss keine Rolle spielen werden. Die Forderung, den Preis oder gar schon die Nominierung zurückzuweisen, wäre daher wohlfeil. Doch wir fragen uns – und Sie: Wenn die öffentliche Ablehnung des Preises keine sinnvolle Option ist, was könnten dann alternative Wege sein, mit dem problematischen Hintergrund des Preises und seines Stifters dennoch einen Umgang zu finden? Diese Frage, auf die wir selbst bislang keine befriedigende Antwort gefunden haben, weist auch über den konkreten Fall hinaus und zieht weitere, grundsätzliche Fragen nach sich: Wie kann man sich zum Widerspruch der Neutralisierung von Kritik durch ihre Vereinnahmung, der auch nur die Zuspitzung eines generellen Widerspruchs im ›wiedergutgewordenen‹ Deutschland ist, ins Verhältnis setzen? Ist das Pathos etwa eines Thomas Brasch bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises 1981 (noch) angemessen? Stellt die Literatur selbst Mittel bereit, sich der Vereinnahmung zu widersetzen, oder ist sie ohnmächtig angesichts der Machtverhältnisse eines Betriebs, in dem man es sich mit seinen Geldgebern nicht ›verscherzen‹ darf?«
Die Antworten der Nominierten: Zwischen Realismus…
Auf unsere Fragen und unsere Bitte um Austausch erhielten wir in den folgenden Wochen von immerhin drei der acht Autor:innen Rückmeldung. Domenico Müllensiefen, der für seinen Roman Aus unseren Feuern nominiert wurde, schreibt: »Ich denke, dass es ein großes Problem ist, dass die öffentliche Kulturförderung in Deutschland stark eingeschränkt ist.« Denn in die Lücke, die die öffentliche Förderung lässt, stießen private Förderer. Was es bräuchte, so Müllensiefen, sei eine »breite und preisunabhängige Förderung von AutorInnen«. Bis dahin bleibe er auch beim Klaus-Michael Kühne-Preis „Realist“, denn: »Die Jury ist hochkarätig besetzt und frei in Ihrem Handeln. Die nominierten SchriftstellerInnen gefallen mir sehr gut. Der Umgang mit den AutorInnen ist erstklassig. […] Und ganz ehrlich, wäre es mir eine sehr große Freude, mal eine Nacht in diesem schicken Hotel von Herrn Kühne zu übernachten.« In einem späteren Statement gegenüber der ZEIT fügt er hinzu: »Deutscher Reichtum ist in vielen, wenn nicht sogar in den meisten Fällen auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit entstanden. So zu tun, als wäre alles in Ordnung, wenn Herr Kühne die NS-Vergangenheit aufarbeiten ließe, wäre auch falsch. Wir haben ein strukturelles Gesellschaftsproblem, zu dem wir AutorInnen uns individuell verhalten sollen.« Und: »Und wäre es nicht an der Zeit, dass wir, und da darf DIE ZEIT gern vorneweg gehen, ernsthaft über eine Umverteilung der Vermögen in Deutschland sprechen?«
Ähnlich antwortete Daniel Schulz, taz-Redakteur und Autor des Romans Wir waren wie Brüder. Er betont wie Müllensiefen: „Die Unabhängigkeit und Fachkompetenz der Jury stehen außer Zweifel. Klaus-Michael Kühne hat auf ihre Entscheidungen keinen Einfluss“. Vor allem hält er die Autor:innen für die falschen Ansprechpartner:innen für die Frage nach dem Umgang mit dem NS-Erbe von Kühne + Nagel. Schließlich seien sie in der abhängigsten und prekärsten Lage von allen und „auf die wenigen Förderungen angewiesen […], die es noch gibt“. Die Ressourcen und die Verantwortung dafür, einen Umgang mit problematischen Förderern wie Kühne zu finden, sieht er vor allem bei den Verlagen und der Kulturpolitik.
Der Tenor dieser Antworten ist klar: In dieser Gesellschaft als Schriftsteller:in tätig zu sein bedeutet, in zahlreiche Widersprüche verstrickt und nicht wenigen Zwängen unterworfen zu sein. Solange die Kulturförderung maßgeblich über private Stiftungen und Organisationen geleistet wird und die Autor:innen von deren Geld abhängig seien, müsse man letztlich damit leben, dass Gelder im Kulturbetrieb aus fragwürdigen Quellen stammen Das zentrale Problem sehen die beiden Autoren in der privatisierten Kulturförderung in einer postfaschistischen Gesellschaft – und die Verantwortung auf Seiten der öffentlichen Hand.
… und Absagen
Sven Pfizenmaier, nominiert für Draußen feiern die Leute, ist zu einem anderen Schluss für seinen individuellen Umgang mit der Situation gekommen. Er hat seine Nominierung zurückgewiesen und seine Teilnahme am ›Debütantensalon‹ auf dem Harbour Front Literaturfestival abgesagt. In seiner am 29. August veröffentlichten Erklärung schreibt er so knapp wie deutlich: »Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dagegen wehrt, die NS-Historie seines Unternehmens aufzuarbeiten, möchte ich meinen Text nicht in einen Wettbewerb um sein Geld und eine Auszeichnung mit seinem Namen stellen.«
Anderthalb Wochen später, am 07.09., sagte auch Franziska Gänsler, nominiert für Ewig Sommer, ihre Teilnahme am Harbour Front Festival ab. In ihrer Erklärung, die diesmal durch die Festivalleitung veröffentlicht wurde, führt sie die Nicht-Diskussion um die Absage Pfizenmaiers als Grund an:
»Mich hat der Rückzug des mitnominierten Autors Sven Pfizenmaier und die darauf folgende Reaktion sehr beschäftigt. Ich denke, es hätte einen öffentlichen Diskurs gebraucht, der ein Ernstnehmen seiner Kritik erkennbar macht und zeigt, dass es das Anliegen der Stiftung ist, genau das zu fördern – kritische literarische Stimmen. Leider zeigt die Reaktion für mich, dass dies nicht gegeben scheint. Unter diesen Umständen weiter auf die Auszeichnung zu hoffen erscheint mir, unabhängig von der finanziellen Komponente, wie ein Wegsehen, das ich nicht gut mit mir und meinem Schreiben vereinbaren kann.«
Pfizenmaier und Gänsler haben damit drastische Schritte gewählt. Pfizenmaier betont in seiner Erklärung aber auch, dass er seine Entscheidung »explizit nicht als Vorwurf« gegen die Mitnominierten und Mitarbeitenden des Festivals verstanden wissen wolle: »Das Verhältnis zwischen Geldgeber:innen und Kulturschaffenden in Deutschland ist ein dermaßen komplexes Feld, dass es unzählige Wege gibt, einen angemessenen Umgang damit zu finden. Dieser hier ist meiner.«
Drastisch sind diese Entscheidungen nicht nur, weil beide damit auf die Möglichkeit verzichtet, das stattliche Preisgeld von 10.000 Euro zu gewinnen, sondern auch und vor allem, weil der Debütantensalon und der Klaus-Michael Kühne-Preis in den letzten Jahren zu einem wichtigen Sprungbrett für junge Autor:innen geworden sind. Bei Verlagen, Buchhändler:innen und Autor:innen genießt der Preis ebenso hohes Ansehen wie bei Kritik und Leser:innenschaft. Autor:innen, deren Debüt eine Nominierung erhalten oder den Preis gar gewonnen hat, steigern nicht nur die Verkäufe ihres Romans, sondern haben gute Aussichten, sich fest zu etablieren. Zu den bisherigen Preisträger:innen zählen etwa Olga Grjasnowa, Per Leo, Dmitrij Kapitelman, Fatma Aydemir und Christian Baron.
Der Eklat
Pfizenmaiers und Gänslers Entscheidung ist bisher präzedenzlos. Obwohl viele der früheren Nominierten und Preisträger:innen als engagierte Stimmen in der öffentlichen Debatte bekannt (geworden) sind, hatte bisher noch kein:e Autor:in öffentlich Kritik an Kühne geübt – geschweige denn die Nominierung oder den Preis zurückgewiesen.
Dementsprechend überfordert und ratlos wirkt der Umgang des Harbour Front-Festivals mit der Situation. Man glaubte dort offenbar, Pfizenmaiers Absage einfach unter den Teppich kehren zu können. Am 24. August wurde in einer Pressenachricht und auf Twitter lapidar ein »Programmupdate« verkündet: Nach Sven Pfizenmaiers Absage trete Przemek Zybowski durch ein Nachrückverfahren an seine Stelle. Bis zur Absage Gänslers ging das Festival weder auf die Gründe für Pfizenmaiers Absage ein, noch drückte es sein Bedauern darüber aus. Auf der Homepage des Festivals wurde Pfizenmaier stillschweigend ersetzt. Nach Gänslers Absage lässt das Festival auf der Website knapp verlautbaren:
»Wir finden diese Absagen sehr bedauerlich. Für die Beweggründe der Betreffenden haben wir Verständnis – auch wir sehen Diskussionsbedarf in dieser Angelegenheit.«
Vorher-Nachher Screenshot: das Harbour Front-Festival ersetzt auf seiner Homepage Pfizenmaier durch Zybowski und hofft, dass es keine:r merkt. Foto: Screenshot https://harbourfront-hamburg.com/.
Die Reaktion der Kühne-Stiftung aber übertrifft das anfängliche Schweigen des Festivalsum Längen. Während sie der Mopo noch keinen Kommentar geben wollte und wohl auch hoffte, das Problem löse sich von selbst auf, ging sie gegenüber der tazin die Offensive: Man habe »mit Vorgängen, die ca. 80 Jahre zurückliegen, nichts zu tun«. Und weil sich die Stiftung »in höchstem Maße« ungerecht behandelt fühlte, setzte man dort zum Gegenangriff gegen die undankbaren Kulturschaffenden und ‑liebhaber:innen an: Man werde »die traditionelle Verleihung des Klaus-Michael Kühne-Preises jetzt überdenken« ließ die Kühne-Stiftung auf Anfrage der taz verlauten. Wer Kritik übt, erhält kein Geld – das ist die Botschaft, die die Kühne-Stiftung vermittelt.
Kulturförderung entprivatisieren
Die Reaktion der Kühne-Stiftung zeigt: Man scheint sich dort sehr bewusst darüber zu sein, wer hier am längeren Hebel sitzt. Der Kulturbetrieb ist in hohem Grad abhängig von seinen (privaten) Gönnern. Sie können den von ihnen geförderten Einrichtungen und Veranstaltungen ihre Bedingungen diktieren – und bei Kritik oder Nichtbefolgen die Förderung beenden oder zumindest damit drohen. Die Kühne-Stiftung zeigt mit ihrem Verhalten gegenüber den Kulturschaffenden überdeutlich auf, wo die Grenze(n) der Autonomie der Kunst liegen: Don’t bite the hand that feeds you.
Die ersten Leidtragenden eines Rückzugs wären die Schriftsteller:innen und Künstler:innen, also ausgerechnet die schwächsten Glieder in der Kette. Tatsächlich sind die anderen Nominierten nicht zu beneiden. Durch Pfizenmaiers und Gänslers Absage stehen sie unter Druck, sich zu bekennen, womöglich gar, ihrem Beispiel zu folgen. Vieles hängt davon ab, dass die Debatte solidarisch geführt wird, und das heißt: nicht individualisierend und moralisierend, sondern im Bewusstsein der Widersprüche und des strukturellen Charakters des Problems.
Klar ist: Solange die Kultur den Marktgesetzen unterliegt und die Förderung der Kulturschaffenden nicht durch öffentliche Hand getragen wird, ist sie auf private Förder:innen angewiesen. Denn wenn nicht allein die Marktgängigkeit von Kunst, Musik oder Literatur zählen soll, sondern auch die inhärenten Maßstäbe der Kunst, braucht es Kultursponsoring. An Beispielen wie Kühne zeigt sich aber, zu welchen Problemen es führen kann, wenn dies privat organisiert und zwangsläufig von besonders vermögenden Unternehmen und Einzelpersonen mit eigenen Interessen übernommen wird. Deshalb muss im Sinne einer demokratischen Kulturförderung zumindest eine Reduktion des Anteils privaten Sponsorings durch die (Wieder-)Einführung öffentlicher Förderung durchgesetzt werden. Die Leidtragenden des privaten Kultursponsorings sind letztlich auch die Autor:innen selbst, denen in diesem System mitunter nur eine Wahl bleibt zwischen Verzicht auf das, was ihren Unterhalt finanziert, oder der Annahme fragwürdiger Fördergelder – eine infame Verantwortungsverschiebung.
In Bezug auf den aktuellen Eklat heißt das: Der Kühne-Preis muss umbenannt und öffentlich finanziert werden. Wie wäre es etwa mit einem von der Stadt Hamburg finanzierten Peter-Rühmkorf-Preis? Wenn man sich anschaut, wie schnell die Stadt im Cum-Ex-Skandal bereit war, auf 47 Millionen Euro an Steuern zugunsten der Warburg-Bank zu verzichten, sollten 10.000 Euro Preisgeld sicherlich kein Problem darstellen. Und Kühnes Geld könnte auch in einer unabhängigen, wissenschaftlichen Aufarbeitung der eigenen Firmengeschichte sehr gute Verwendung finden.
Kühne + Nagel ist eines der größten Logistikunternehmen der Welt. Die entscheidende Grundlage dafür schuf die Beteiligung des Unternehmens an NS-Verbrechen – und seine ›Arisierung‹ im Jahr 1933. Während in Bremen nun ein Mahnmal entsteht, gibt es in Hamburg bislang keine Praxis des Erinnerns.
Kühne + Nagel sorgte für volle Lagerhallen: Möbel aus jüdischem Besitz, 1943 aus den besetzten Ländern Westeuropas nach Deutschland abtransportiert. Quelle: Stadtarchiv Oberhausen.
Bremen erhält einen neuen Gedenkort: ein Mahnmal zur Erinnerung an die systematische Ausplünderung der europäischen Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus – und an die maßgebliche Beteiligung von Bremer Logistikunternehmen an diesem Verbrechen. Initiiert wurde das Mahnmal vom ehemaligen taz-Redakteur und heutigen Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung Bremen, Henning Bleyl. Als 2015 auf dem Bremer Marktplatz mit viel Pomp das 125-jährige Bestehen des Logistikunternehmens Kühne + Nagel (K+N) gefeiert wurde, begann er, zur NS-Geschichte des Unternehmens zu recherchieren und zu publizieren.1Alle seit 2015 von Bleyl und anderen Autor:innen in der taz erschienenen Beiträge sind in einem umfassenden Dossier versammelt, das einen hervorragenden Überblick über die Causa Kühne + Nagel verschafft.
Bleyl und seine Mitstreiter:innen forderten ein Mahnmal für die Verbrechen, an denen K+N beteiligt war, und erzwangen so eine Auseinandersetzung der Politik und der Öffentlichkeit mit dem lange Zeit beschwiegenen Thema. Nun, sieben Jahre später, gegen viele Widerstände und nach langwierigen Auseinandersetzungen vor allem um den Standort, materialisieren sich diese Bemühungen: An den Weser-Arkaden in Sichtweite der 2020 neu errichteten Deutschland-Zentrale von K+N soll in Kürze mit dem Bau des Mahnmals nach einem Entwurf von Evin Oettingshausen begonnen werden. Spätestens 2023 soll das Mahnmal eingeweiht werden.
Willige Vollstrecker und Profiteure der ›Arisierung‹
Dort, wo jetzt der Neubau steht, befand sich seit 1909 die Zentrale des 1890 in Bremen gegründeten Unternehmens Kühne + Nagel. Innerhalb kurzer Zeit war das Unternehmen zu einem bedeutenden Transport- und Logistikkonzern aufgestiegen und hatte Niederlassungen in zahlreichen deutschen Städten gegründet, darunter auch in Hamburg. 1932 starb der Firmengründer August Kühne; seine beiden Söhne Alfred und Werner übernahmen das Geschäft. Unter ihrer Leitung war das Unternehmen dann an NS-Verbrechen beteiligt, insbesondere an ›Arisierungen‹. Die von den Nazis so bezeichneten Verbrechen umfassten nicht nur die Verdrängung von Jüdinnen und Juden aus ihren Unternehmen, Berufen und Wohnungen, sondern auch den systematischen Raub jüdischen Eigentums in ganz Europa.
K+N war an diesem Raub insbesondere in Frankreich, Belgien und den Niederlanden in beträchtlichem Ausmaß beteiligt. Das Unternehmen transportierte im Rahmen der sogenannten ›M‑Aktion‹ der ›Dienststelle Westen‹ Raubgut (vor allem Möbel) aus den Wohnungen deportierter oder geflohener Jüdinnen und Juden nach Deutschland. In diesem wahrscheinlich größten Raubzug der jüngeren Geschichte wurden zwischen 1942 bis 1944 etwa 70.000 Wohnungen geplündert, davon wohl etwa die Hälfte mit Hilfe von K+N. In Deutschland wurden die Möbel günstig an ›Volksgenossen‹ weiterverkauft oder versteigert. »Zwischen 1941 und 1945 verging in Hamburg kaum ein Tag, an dem nicht Besitz von Juden öffentlich versteigert wurde«, schrieben Linde Apel und Frank Bajohr 2004.
So profitierten unzählige ›ganz normale Deutsche‹ von den systematischen Plünderungen, die ihnen günstig Hausrat verschafften. Ganz besonders profitierten aber der NS-Staat, der mit den Erlösen zur Finanzierung von Krieg und Judenvernichtung beitrug, und das Unternehmen K+N, das für seine Dienstleistungen gut bezahlt wurde. K+N verdiente somit unmittelbar an der Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden.2Auch an der erzwungenen Flucht selbst verdiente K+N als Transportdienstleister für das Hab und Gut der Ausreisenden. Davon zeugt u.a. ein Plakat von 1935 im Bestand des Deutschen Historischen Museums.
Möbel für ›Volksgenossen‹: Anzeige für eine Versteigerung, Bremen 1942. Quelle DSM Bremerhaven.
Wie der Historiker Johannes Beermann-Schön betont, waren die deutschen Logistikunternehmen, unter denen K+N sich während des NS eine Quasi-Monopolstellung erkämpfte, dabei nicht bloße Handlanger, sondern willige Vollstrecker. Ihr Vorgehen sorgte für eine Verschärfung und Beschleunigung der Entrechtung und der Ausplünderung Deportierter, urteilte er in einem 2020 erschienenen Beitrag.3Vgl. Johannes Beermann-Schön: Taking Advantage: German Freight Forwarders and Property Theft, 1933–1945, in: Christoph Kreutzmüller, Jonathan R. Zatlin (Hg.): Dispossession. Plundering German Jewry, 1933–1953, Ann Arbor/Michigan 2020, 127–147, 142. Ein solches Engagement wurde vom NS-Staat nicht nur gut bezahlt, sondern auch symbolisch honoriert: K+N erhielt 1937 und von 1939 bis zum Kriegsende ein »Gaudiplom« als »Nationalsozialistischer Musterbetrieb«.
Entrechtet, enteignet, ermordet: Adolf und Käthe Maass
Dass Alfred und Werner Kühne deutlich mehr waren als opportunistische Profiteure, zeigt nicht nur ihre Kollaboration mit dem NS-Staat im Rahmen der ›M‑Aktion‹. Ihr Vater, der Unternehmensgründer August Kühne, hatte 1902 seinen vormaligen Lehrling Adolf Maass mit dem Aufbau einer Hamburger Niederlassung betraut und ihn aufgrund seines großen Erfolgs bei dieser Aufgabe schon 1910 zum Teilhaber des Unternehmens gemacht. Ab 1928 hielt Maass 45 Prozent der Anteile am Hamburger Zweig von K+N. Nach August Kühnes Tod und der Übernahme des Geschäfts durch seine Söhne war für den jüdischen Teilhaber aber kein Platz mehr bei K+N. Im April 1933 wurde er von den Kühne-Brüdern mittels eines Knebelvertrags aus dem Unternehmen gedrängt. Wenige Tage nach dieser ›Arisierung‹, am 1. Mai 1933, traten Alfred und Werner Kühne in die NSDAP ein.
Der vormalige Teilhaber Maass blieb in Deutschland und wurde Gesellschafter eines Importunternehmens. Doch die sich verschärfende antisemitische Gesetzgebung drängte ihn auch hier aus dem Unternehmen und raubte ihm zudem einen beträchtlichen Teil seines Vermögens. Nachdem Maass im Gefolge der Pogromnacht vom 9. November 1938 für mehrere Wochen im KZ Sachsenhausen interniert worden war, planten er und seine Frau Käthe die Emigration. Doch der Beginn des Kriegs vereitelte diese Pläne. 1942 wurden Adolf und Käthe Maass nach Theresienstadt deportiert. Von dort wurden sie 1944 nach Auschwitz verbracht, wo sie vermutlich Anfang 1945 ermordet wurden. In der Blumenstraße in Hamburg-Winterhude, in der die beiden wohnten, bis sie ihr Haus 1941 weit unter Wert verkaufen mussten, erinnern seit 2006 zwei Stolpersteine an sie. In der Hamburger Öffentlichkeit sind ihre Namen jedoch weitgehend vergessen.
Deutsche Erinnerungskultur: Auf dem Stolperstein für Käthe Maass ist nicht einmal ihr Name korrekt geschrieben. Fotos: Hinnerk11, Wikipedia
Der ›wundersame‹ Wiederaufstieg von Kühne + Nagel
Alles andere als vergessen ist hingegen der Name Kühne: Dass er gerade in Hamburg so präsent ist, verdankt sich vor allem dem öffentlichen Auftreten des Multimilliardärs und heutigen K+N‑Eigentümers Klaus-Michael Kühne, dem Sohn und Alleinerben Alfred Kühnes. Kühne, geboren 1937 in Hamburg, ist der Zeitschrift Forbes zufolge die zweitreichste Einzelperson in Deutschland und verfügt über ein Vermögen von geschätzten 32 Milliarden Dollar.
K+N, an dem Kühne die Mehrheit der Anteile hält, ist einer der zehn umsatzstärksten Logistikkonzerne der Welt. Über die Kühne Holding AG hält Kühne außerdem große Anteile an Transportunternehmen wie Lufthansa und Hapag-Lloyd sowie an Immobilienprojekten wie dem in Hamburg im Bau befindlichen Elbtower. Als Sponsor der Elbphilharmonie, der Staatsoper und des Harbourfront Literaturfestivals, als langjähriger Großinvestor des HSV und als Gründer der privaten Kühne Logistics University (KLU) hat er immensen Einfluss auf die Hamburger Politik und Gesellschaft. Seit 2010 verleiht außerdem der von Kühne gestiftete und, gewohnt unbescheiden, nach ihm selbst benannte Literaturpreis für das beste deutschsprachige Romandebüt seinem Namen Glanz.
Doch wie kam Kühne zu derartigem Vermögen, Einfluss und Ansehen? Um dieser Frage nachzugehen, muss man die Nachkriegsgeschichte der BRD in den Blick nehmen. Klaus-Michael Kühnes Vater Alfred Kühne galt nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als belastet, wurde dann allerdings unter fragwürdigen Bedingungen entnazifiziert. Grund dafür war offenbar, dass sein weitverzweigtes Unternehmen als Tarnfirma eine Rolle bei der Etablierung des BND spielen sollte. Durch diese Entlastung konnte Alfred Kühne an seine Tätigkeit als Logistikunternehmer während des Nationalsozialismus nahezu nahtlos anknüpfen. Durch die NS-Geschäfte hatte Kühne nicht nur ein beträchtliches Vermögen erwirtschaftet, sondern war auch europaweit vernetzt. Diesen Wettbewerbsvorteil konnte das Unternehmen sich zunutze machen, und so wuchs es rasant.
Anders als es der etwa von der FAZ bis heute fortgeschriebene Mythos will, bildeten nicht »Fleiß, Fortune und eisenharte Disziplin« der Kühnes die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg von K+N, sondern zuallererst der durch die Beteiligung an den NS-Verbrechen erworbene Akkumulationsvorsprung. »Das Unternehmen verdankt seinem Engagement in der NS-Zeit wesentliche, bis heute relevante Entwicklungsimpulse«, resümiert Henning Bleyl. Der Wiederaufstieg von K+N ist genauso wenig ›wundersam‹ wie das bundesrepublikanische ›Wirtschaftswunder‹, dessen Grundlagen ebenfalls in einer im Krieg u.a. durch Zwangsarbeit und ›Arisierung‹ expandierten und nur zu geringen Teilen zerstörten Industrie lagen. Angesichts dieser Parallele ist es auch nicht verwunderlich, dass Alfred Kühne in der Bundesrepublik hohe gesellschaftliche Anerkennung zuteil wurde: Er erhielt das Bremische Hanseatenkreuz, wurde 1955 zum Honorarkonsul der Republik Chile in Bremen ernannt und erhielt 1960 das Große Bundesverdienstkreuz für seine »Verdienste um den Wiederaufbau«.
Sein Sohn Klaus-Michael Kühne übernahm vom Vater im Alter von 29 Jahren die Führung des Unternehmens. Unter seiner Leitung entwickelte sich K+N zu einem der weltweit größten Logistikunternehmen der Welt – im Bereich Seefracht ist es heute sogar Weltmarktführer.4In den letzten Jahren profitierte K+N zudem von den staatlichen Aufträgen für den Impfstofftransport sowie von den durch die Lieferkettenprobleme hervorgerufenen enormen Preissteigerungen für Frachttransporte. K+N gehört damit zu den größten Krisengewinnlern der letzten Jahre.
Und wie sein Vater erhält auch Klaus-Michael Kühne für diese Erfolge staatliche Ehrungen – insbesondere in seinen beiden ›Heimatstädten‹ Bremen und Hamburg: Im Rahmen der bereits erwähnten 125-Jahr-Feiern im Jahr 2015 machten die damaligen Ersten Bürgermeister der beiden Hansestädte, Jens Böhrnsen und Olaf Scholz, dem Unternehmen und seinem Patriarchen die Aufwartung. Die Stadt Hamburg hat Kühne eine Ehrenprofessur verliehen und ihm ihr Goldenes Buch vorgelegt. Die BILD berichtete 2017 gar von Bestrebungen, Kühne zum Hamburger Ehrenbürger zu machen. Alfred und Klaus-Michael Kühne verlegten den Firmensitz 1969 zwar in die Schweiz, um den unter der sozialliberalen Regierung erlassenen Mitbestimmungsgesetzen zu entgehen, doch Bremen und Hamburg sind als Deutschland- bzw. Europazentrale des Konzerns nach wie vor von großer Bedeutung.
Verweigerte und sabotierte Aufarbeitung
»Wir sind eine sehr offene Firma. Wir stellen uns dar, wir wollen nichts verstecken«, zitiert der Weserkurier den Bremer Niederlassungsleiter anlässlich der Eröffnung der neuen Deutschlandzentrale im Jahr 2020. Schließlich böten die großen Fenster den Passant:innen einen transparenten Einblick – in die Firmenkantine. Ein anderes Bild bietet der Geschäftssitz von K+N in der Schweiz. Dessen Fassade besteht rundum aus verspiegeltem Glas – und kann damit sinnbildlich für das Verhältnis des Unternehmens zur Aufarbeitung seiner Geschichte stehen. Klaus-Michael Kühne weigert sich nämlich beharrlich, die Geschichte des Unternehmens aufzuarbeiten und von Historiker:innen untersuchen zu lassen.
Transparenz à la Klaus-Michael Kühne: Die Zentrale von K+N am Zürichsee. Foto: Roland zh, Wikipedia.
Erst 2015, als Reaktion auf den durch Recherchen der taz und des Bayerischen Rundfunks erzeugten öffentlichen Druck, äußerte sich das Unternehmen erstmals zu seiner NS-Geschichte: In einer Presseerklärung bekundete K+N sein Bedauern, »seine Tätigkeit zum Teil im Auftrag des Nazi-Regimes ausgeübt« zu haben, attestierte sich selbst aber großzügig mildernde Umstände und rühmte sich, »in dunklen und schwierigen Zeiten seine Existenz behaupte[t]« und »die Kriegswirren unter Aufbietung aller seiner Kräfte überstanden« zu haben. Einen ähnlichen Ton schlägt eine firmeninterne Jubiläumsschrift an, aus der bislang nur einzelne Zitate an die Öffentlichkeit gelangt sind. Über das Ausscheiden Adolf Maass’ im Jahr 1933 heißt es darin etwa: »Herr Maass hat von sich aus in freundschaftlicher Abstimmung mit uns die Konsequenzen getragen, indem er bei uns ausschied.«
Dass diese Aussagen mit der Wirklichkeit wenig gemein haben, ist offensichtlich: Nichts spricht dafür, dass Maass das Unternehmen nach mehr als dreißig Jahren ›freiwillig‹ und ohne Abfindung verlassen habe. Um die Details des Vorgangs in Erfahrung zu bringen, bräuchte es jedoch den Zugang zum Unternehmensarchiv – und der wurde bisher niemandem gewährt. Klaus-Michael Kühne behauptet, dieses Archiv sei im Krieg zerstört worden – dabei konnte Henning Bleyl für die taz nachweisen, dass die Unterlagen aus Bremen und Hamburg wohl rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden waren. Das Verzeichnis »Deutsche Wirtschaftsarchive« jedenfalls weist ein Firmenarchiv von K+N in der Stadt Konstanz aus: mit Beständen ab 1902 und der Inhaltsangabe »Urkunden, Akten, Protokolle, Geschäftsberichte, Druckschriften, Fotos etc. Benutzung nur mit Genehmigung der Geschäftsleitung«.
»Milliardär mit eisenharter Disziplin«
Kühne ficht das nicht an. Er bleibt bei seiner unglaubwürdigen Behauptung und geriert sich als Opfer einer Kampagne: Er habe kein Verständnis dafür, dass die NS-Vergangenheit des Unternehmens »immer wieder hochgekocht wird«, sagte er 2019 gegenüber radio bremen. Während andere deutsche Unternehmen zumindest in den letzten Jahren, da die Täter:innen längst unbescholten gestorben sind, Historiker:innen mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte beauftragt haben, verhindert Kühne dies beharrlich. Kein Wunder ist es daher, dass er sich massiv dagegen wehrte, als die Initiative um Henning Bleyl die Forderung erhob, das ›Arisierungs‹-Mahnmal direkt vor der Firmenzentrale aufzustellen. Auch jetzt, wo es ein wenig abseits entsteht, beteiligen sich weder K+N noch ein anderes der in den NS verstrickten Bremer Transportunternehmen an den Kosten des Mahnmals.
Kühne macht keinen Hehl daraus, dass er zur Unternehmens- und Familiengeschichte keinerlei Distanz einnimmt. Häufig betont er die starke Prägung durch seinen Vater; im Firmensitz hängt das Porträt Alfred Kühnes autoritativ über der Tür des Besprechungszimmers.5Christian Rickens: Ganz oben. Wie Deutschlands Millionäre wirklich leben. Köln 2011, S. 177 Dass auch Kühnes Geisteshaltung mehr Kontinuitäten als Brüche mit der seines Vaters aufweist, legt eine Äußerung von ihm im Jahr 2008 nahe. Mit Bezug auf seine Ablehnung einer Übernahme der Reederei Hapag-Lloyd durch ausländische Unternehmen bekundete er damals: »Wir wollen uns möglichst reinrassig deutsch halten.«
Gleichzeitig inszeniert sich Klaus-Michael Kühne als kunstsinniger Mäzen, visionärer Gestalter und sachkundiger Politikberater. In den Medien wird er als »Milliardär mit eisenharter Disziplin« (FAZ) bzw. »Milliardär, der Gedichte schreibt – und nicht aufhören kann zu arbeiten« (SPIEGEL), hofiert. In Interviews und Homestories darf sich Kühne über den ›sehr großen Sozialneid‹ in Deutschland beklagen (NZZ), seine Ablehnung der Übergewinnsteuer bekunden oder seine Pläne für ein neues Opernhauses für Hamburg ausbreiten. Kritische Nachfragen zur NS-Geschichte von K+N bleiben aus.
Klaus-Michael Kühne ›bringt Opfer‹ (FAZ) und er ›verlangt Opfer‹ (Abendblatt). Foto: Monster4711, Wikipedia.
Auch in Hamburg: NS-Verbrechen erinnern!
Kühne ist kein Einzelfall. Zahlreiche Unternehmen in Hamburg und darüber hinaus machten ihr Vermögen im Nationalsozialismus.6Vgl. dazu etwa Frank Bajohrs Studie ›Arisierung‹ in Hamburgund Felix Matheis‹ Beitrag ›Arisieren‹ und Ausbeuten bei Untiefen. Aber Kühne ist ein Extremfall insofern, als er nicht nur dank diesem Vermögen heute einer der reichsten Menschen der Welt ist, sondern zudem jegliche Aufarbeitung der Geschichte verhindert und seinen Namen durch Mäzenatentum und Kultursponsoring weißwäscht.
Das ist nun kein Geheimnis. Vor allem Henning Bleyl recherchierte und publizierte seit 2015 eingehend zu dem Thema; hinzu kommen Recherchen von Historikern wie Wolfgang Dreßen, Götz Aly, Frank Bajohr und Johannes Beermann-Schön. Und auch viele Medien berichteten in den letzten Jahren über die NS-Verstrickungen von K+N – sogar in der Hamburger Morgenpost und im HSV-Fanmagazin Bahrenfelder Anzeiger konnte man schon darüber lesen. In Hamburg hat diese Berichterstattung jedoch offenbar kaum Konsequenzen.
Das muss sich ändern. Die NS-Geschichte der Hamburger Handels- und Transportunternehmen muss in den Blick der erinnerungspolitischen Arbeit geraten. Am Beispiel Kühne offenbart sich ein Skandal, der sich mit dem Selbstbild des ›wiedergutgewordenen‹ Deutschland nicht verträgt und doch konstitutiv für dieses Land ist: Die aktive Beteiligung an NS-Verbrechen zahlt sich für deutsche Unternehmen bis zum heutigen Tag aus. Eine kritische Stadtöffentlichkeit sollte es als ihre Aufgabe begreifen, diesen Skandal ins öffentliche Bewusstsein zu rufen. Und sie sollte derer gedenken, die – wie Adolf und Käthe Maass – diesen Verbrechen zum Opfer fielen. Ein Mahnmal wie in Bremen wäre ein erster Schritt.
Lukas Betzler
Der Autor schrieb für Untiefen bereits über das Holstenareal und das Stadtmagazin SZENE Hamburg. Eine Umfrage in seinem Freundeskreis hat ergeben, dass eine Mehrheit Klaus-Michael Kühne bislang für den Chef des gleichnamigen Hamburger Senf- und Essigherstellers hielt.
1
Alle seit 2015 von Bleyl und anderen Autor:innen in der taz erschienenen Beiträge sind in einem umfassenden Dossier versammelt, das einen hervorragenden Überblick über die Causa Kühne + Nagel verschafft.
2
Auch an der erzwungenen Flucht selbst verdiente K+N als Transportdienstleister für das Hab und Gut der Ausreisenden. Davon zeugt u.a. ein Plakat von 1935 im Bestand des Deutschen Historischen Museums.
3
Vgl. Johannes Beermann-Schön: Taking Advantage: German Freight Forwarders and Property Theft, 1933–1945, in: Christoph Kreutzmüller, Jonathan R. Zatlin (Hg.): Dispossession. Plundering German Jewry, 1933–1953, Ann Arbor/Michigan 2020, 127–147, 142.
4
In den letzten Jahren profitierte K+N zudem von den staatlichen Aufträgen für den Impfstofftransport sowie von den durch die Lieferkettenprobleme hervorgerufenen enormen Preissteigerungen für Frachttransporte. K+N gehört damit zu den größten Krisengewinnlern der letzten Jahre.
5
Christian Rickens: Ganz oben. Wie Deutschlands Millionäre wirklich leben. Köln 2011, S. 177
Am 22. August jährt sich das neonazistische Attentat in der Hamburger Halskestraße zum 42. Mal. Eine angemessene Gelegenheit, seiner Opfer zu gedenken und sich die widersprüchliche gesellschaftliche Auseinandersetzung um diesen wohl ersten rassistischen Mordanschlag in der Bundesrepublik in Erinnerung zu rufen.
Đỗ Anh Lân und Nguyễn Ngọc Châu. Foto: Initiative zum Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân.
In der Nacht des 22. August 1980 schlichen sich drei Gestalten an das Gebäude Halskestraße 72 heran, die ein abgelegenes Gewerbegebiet im Stadtteil Billbrook im Südosten Hamburgs durchzieht. Es handelte sich um Angehörige der selbsternannten »Deutschen Aktionsgruppen«. Sie schmierten die Parole »Ausländer raus!« an die Wand und schleuderten brennende Molotow-Cocktails durch eine Scheibe im Erdgeschoss. Hinter dem Fenster schliefen Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân. Sie waren kurz zuvor als sogenannte »boat people« aus Vietnam geflohen und gemeinsam mit weiteren Geflüchteten in dem Wohnheim untergekommen. Die Brandsätze explodierten und setzten das kleine Zimmer sofort in Flammen. Nguyễn Ngọc Châu starb wenige Stunden später. Đỗ Anh Lân erlag neun Tage darauf seinen schweren Verletzungen in einem Hamburger Krankenhaus.
Der brutale Anschlag war ein rechtsextremer Terrorakt. Er gilt heute als erster dokumentierter rassistischer Mord in der Geschichte der Bundesrepublik und stellt den Beginn einer ganzen Reihe ähnlicher Mordtaten Rechtsextremer während der achtziger Jahre dar. Allein die »Deutschen Aktionsgruppen« hatten in den Wochen und Monaten zuvor zahlreiche rassistische und antisemitische Anschläge verübt. Im April 1980 explodierte eine Bombe vor der Janusz-Korczak-Schule, der NS-Gedenkstätte »Bullenhuser Damm«, in Rothenburgsort unweit der Halskestraße. Es folgten Attacken auf Geflüchtetenwohnheime in Bayern und Baden-Württemberg sowie auf eine weitere NS-Ausstellung. Die Terrorbande war bei weitem nicht die einzige militante Neonazi-Gruppe dieser Zeit. Beim Oktoberfestattentat vom 26. September 1980 tötete ein junger Rechtsextremer mit Verbindungen zur »Wehrsportgruppe Hoffmann« zwölf Menschen und sich selbst. Der Terroranschlag stellt das herausragendste Ereignis dieser bislang kaum erforschten bundesdeutschen Gewaltgeschichte dar.
Dabei war es keineswegs so, dass die zeitgenössische Öffentlichkeit das Thema ignorierte, wie sich anhand einer kleinen historischen Probebohrung in Hamburg zeigen lässt. Die Auseinandersetzungen um rechte Gewalt intensivierten sich im Laufe der achtziger Jahre. Sie deuten exemplarisch auf die rassistische Stimmung in der Bundesrepublik hin, die zu dieser Zeit eine Konjunktur erlebte. Die öffentlichen Reaktionen sowohl im bürgerlichen wie im linken Spektrum blieben indes widersprüchlich und drehten sich um eigene Befindlichkeiten.
Die egozentrische Empörung der Mehrheitsgesellschaft
Die hamburgische, aber auch die bundesdeutsche Öffentlichkeit nahm den Anschlag in der Halskestraße aufmerksam zur Kenntnis. Das öffentliche Interesse in Hamburg lässt sich exemplarisch an der Berichterstattung des Hamburger Abendblatts nachvollziehen. Die bürgerlich-konservative Publikation widmete dem Angriff und seinem Kontext im August und September 1980 rund ein Dutzend Artikel. Auch führende Vertreter der hansestädtischen Politik nahmen öffentlich Anteil.
So dokumentierte das Hamburger Abendblatt die Trauerfeier für Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân auf dem Öjendorfer Friedhof, wo die beiden am 4. September 1980 bestattet wurden, sowie eine Rede, die der Erste Bürgermeister Hans-Ulrich Klose (SPD) bei der Zeremonie hielt. Demnach wohnten immerhin 400 Personen der Veranstaltung bei, was ebenfalls auf die große Anteilnahme hinweist. Die Darstellung der Zeitung offenbart dabei eindrücklich die disparaten Sichtweisen der deutschen Mehrheitsgesellschaft. Sie bewegten sich zwischen Empörung über die Gewalttat und kulturalistischen Differenzkonstruktionen.
Der Reporter bemühte sich sehr, die vermeintliche gegenseitige Fremdheit der Anwesenden unmissverständlich herauszustellen: »Der bedrückende Anlaß der Trauerfeier sollte gestern zugleich ein Zeichen der Hoffnung setzen, sollte eine Brücke des Verständnisses schlagen helfen. Doch eher staunend und verständnislos als Seite an Seite mit den Vietnamesen standen die Einheimischen unter den 400 Trauergästen.« Die beiden Opfer seien ebenso wie die anschließende Grabesprozession »fremd und fremdländisch« geblieben. »Verstehen konnte der eine die anderen nicht«, so der Autor über die Gruppe von »Menschen aus zwei Kulturkreisen«, zumal die Zeremonie »die Hamburger […] mit der völlig fremden Kultur jener Menschen konfrontierte, die als Opfer der Politik plötzlich zu Nachbarn und dann doch wieder zu Opfern geworden sind«. Bloß die »Abscheu vor dem Verbrechen« habe die Gäste verbunden.
Die Perspektiven der Betroffenen blieben eine Randnotiz. Nur knapp zitierte der Autor eine nicht namentlich genannte Vietnamesin: »Wir fragen die Mörder, was sie wohl empfinden mögen«. Das war zugleich der einzige Hinweis auf die Täter und ihre hier ungenannt bleibende rassistische Motivation. Zwar benannte der Teaser des Artikels die Tat als »Terroranschlag«, doch die Überbetonung der angeblichen Differenz zwischen »Einheimischen« und den Opfern beziehungsweise der Gruppe, der sie angehörten, konterkariert selbst den Versuch, »eine Brücke schlagen« zu wollen. Die Befindlichkeiten eines mehrheitsdeutschen Blicks stellte das Abendblatt in den Vordergrund, echte Solidarität und Mitgefühl mit den »Nachbarn« ließen sich so nicht ausdrücken.
Der Ort des neonazistischen Terrors – die Halskestraße 72 im Jahr 2022. Foto: privat.
Dem Bürgermeister gelang es in seiner Ansprache hingegen besser, empathische Anteilnahme angesichts des »brutalen, heimtückischen Anschlags« zum Ausdruck zu bringen. Dennoch zeigen seine Äußerungen ebenfalls einen bemerkenswert deutsch-zentrierten Fokus. So bemühte Klose den Mythos von Hamburg als liberaler und weltoffener Stadt, der eine wichtige Rolle im beschönigenden historischen Selbstbild der seehandelsorientierten Kaufmannsmetropole spielt: »Ich bin zutiefst betroffen, daß eine solche Tat in unserem Land geschehen konnte, in einer Stadt, die in ihrer Geschichte Zeichen gesetzt hat für freiheitlichen Geist und Toleranz. Mit dieser Tat ist ein anderes Zeichen gesetzt worden, geprägt von Haß und Feindseligkeit« Für ihn konnte es offenbar kaum sein, dass ausgerechnet in der Hansestadt ein – von ihm nicht als solcher bezeichneter – rassistischer Terrorakt passieren konnte. Er betonte, die Tat sei in verschiedener Hinsicht eine »Mahnung«, Geflüchtete zu unterstützen und »Kräften der Intoleranz und des Hasses gegen Minderheiten« entgegenzutreten.
Rechter Terror als Problem einer wiedergutgewordenen Nation
Auch in Kloses Rede wird deutlich, wer die Adressat:innen der Rede waren: Angehörige des deutschen Mehrheitskollektivs. Die Opfer des Brandanschlags beziehungsweise »Minderheiten« blieben objektifizierte »Andere«, denen gegenüber sich die Deutschen als vorbildlich-demokratisch, anständig und hilfsbereit zu zeigen hätten. Denn jene »Mahnung«, die der Bürgermeister aussprach, galt besonders angesichts der Geschichte des Nationalsozialismus, von der Klose fürchtete, dass sie »uns«, das heißt das deutsche nationale Kollektiv, »einholt«. Die Rede präsentierte hier den Topos von der »deutschen historischen Verantwortung«, die im heutigen bundesrepublikanischen Diskurs zentral ist. »Gerade wir sollten wach und hellhörig sein und bleiben, wenn irgendwo bei uns Mißtrauen und Feindseligkeit gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, Sprache und Kultur aufkeimen … Vergessen wir nie: Wir haben eine Schuld abzutragen – all jenen Menschen gegenüber, die in deutschem Namen verfolgt, gedemütigt, getötet wurden. … Wir – gerade wir, sind zur Hilfe aufgerufen.«
Die Rede Kloses deutet darauf hin, dass 1980 die sogenannte Vergangenheitsbewältigung im bundesdeutschen Diskurs bereits etabliert war. Im Vorjahr hatten die Sender der ARD die US-amerikanische Serie »Holocaust« ausgestrahlt. Sie hatte viele Zuschauer:innen gefunden und gab der (west-)deutschen Gesellschaft einen starken Anschub, sich gründlicher mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu befassen. Diese wurde zunehmend in die nationale Basiserzählung des nunmehr demokratischen Westdeutschland integriert. Rassistisch oder antisemitisch motivierte Gewalttaten von Neonazis konnte man vor diesem Hintergrund nicht einfach ignorieren. Rhetorische Gegenreaktionen wie Kloses Rede kreisten jedoch vor allem um die Konstruktion einer geläuterten Nation, deren moralische Wiedergutwerdung angesichts rechtsextremen Terrors infrage gestellt schien.
Das »refugees welcome« der Konservativen…
Die Auseinandersetzung mit dem Doppelmord in der Halskestraße muss auch vor dem Hintergrund der Diskussion um vietnamesische »boat people« gesehen werden, die um 1980 in Deutschland geführt wurde. In der Tat gab es seit 1979 in Westdeutschland eine Welle der Sympathie für Menschen, die teilweise auf Booten aus dem inzwischen vollständig »kommunistisch« regierten Vietnam flohen. Die Bundesrepublik nahm zahlreiche von ihnen auf, wobei die Unterstützung wesentlich aus dem bürgerlichen und konservativen Spektrum kam. Die Vietnames:innen flohen vor dem Kommunismus. Im Sinne der modernisierten Basiserzählung galten sie einigen überdies als »Juden Asiens«, für die Deutsche besonders verantwortlich seien.
Denkmal für die »boat people« auf dem Öjendorfer Friedhof. Foto: privat.
Die konservative Warmherzigkeit für »boat people« kühlte sich in den Folgejahren deutlich ab und war ein Aspekt einer intensiven und rassistisch aufgeladenen Debatte um Migration und Asyl. Diese unterschied nicht bloß zwischen »Gastarbeitern« und »Asylanten«, sondern bereits auch zwischen vermeintlich legitimer politischer Flucht einerseits, und sogenannten »Wirtschaftsasylanten« andererseits. Neben Vietnames:innen erreichten zu dieser Zeit zahlreiche Menschen Deutschland, die vor den Regimen in Polen und der Türkei flohen, aber auch Flüchtende etwa aus afrikanischen Ländern. Die angebliche »Asylflut« und das generelle »Ausländerproblem« waren nicht nur Rechtsterrorist:innen wie den »Deutschen Aktionsgruppen« ein Dorn im Auge. Dass die Täter:innen die Adresse in der Halskestraße einem Bericht des Hamburger Abendblatts entnommen haben sollen, verweist auf die Doppelrolle vieler Medien, die einerseits kritisch über Rechtsextreme berichteten und andererseits die migrationsfeindliche Stimmung mit anheizten.
…und die Leerstellen des linken Antifaschismus
Die Tatsache, dass es sich bei der Hilfe für »boat people« um ein gleichsam antikommunistisches Projekt handelte, führte dazu, dass viele bundesdeutsche Linke keineswegs eine empathische Haltung gegenüber den zuziehenden Vietnames:innen einnahmen. Zwar nicht alle, doch einige Linksradikale leugneten in diffamierender Weise, dass sie der Solidarität würdig seien: »Viele der Boat-People sind Schwarzhändler, Zuhälter und US-Kollaborateure, die sich gegen Geld Tickets für den Weg zu neuen Ufern kaufen«, war etwa 1981 in konkret zu lesen. Fliehende Vietnames:innen passten kaum in die »antiimperialistische» Schablone zeitgenössischer Linker, die noch wenige Jahre zuvor für eine Niederlage der USA im Vietnamkrieg gefiebert hatten.
Das mag ein Grund dafür sein, dass die hier zugrundeliegenden Recherchen in linken Bewegungsarchiven Hamburgs kaum Material zum Brandanschlag hervorbrachten, obwohl Gruppierungen wie der in der Hansestadt gegründete »Kommunistische Bund« sich bereits seit den siebziger Jahren intensiv mit lokalen Neonazis befassten. Überhaupt war die vermeintlich drohende »Faschisierung der BRD« zentral für die Gesellschaftskritik der Neuen Linken. Die Frage, ob weitere Untersuchungen das Bild korrigieren oder ob die Quellenlage dem linken Desinteresse an vietnamesischen Opfern entspricht, muss noch offenbleiben. Prinzipiell wurden Rechtsextremismus und Rassismus (zeitgenössisch meist »Ausländerfeindlichkeit« genannt) seit 1980 auch in Hamburg immer stärker zum Thema linker Mobilisierungen, zumal die Stadt Tatort weiterer rechtsextremer Morde werden sollte. Auch selbstbewusste migrantische Organisierung spielte in den Kämpfen um Rassismus und Migration eine zunehmende Rolle.
Die Behörden zerschlugen die »Deutschen Aktionsgruppen« im September 1980. Sie fassten die Täter:innen der Brandattacke, zwei Männer und eine Frau, und verurteilten sie in Stuttgart-Stammheim zu Gefängnisstrafen. Trotz der zeitgenössischen Aufmerksamkeit für den Hamburger Terroranschlag, schien er für Jahrzehnte vergessen und erhält erst seit einigen Jahren wieder Aufmerksamkeit. Es ist ein Fortschritt, dass Überlebende und Zeitzeugen 2014 in Hamburg eine Initiative zum Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân gründeten. Sie richtet regelmäßige Gedenkveranstaltungen zu den Jahrestagen des Anschlags aus – in diesem Jahr am 21. August – und fordert, die Halskestraße nach den beiden Getöteten umzubenennen. Die Geschichte rechtsextremer Gewalttaten in der Bundesrepublik steht noch am Anfang ihrer Erforschung und sollte auch von der antifaschistischen Linken stärker betrieben werden. Es begann nicht erst 1990 in Ostdeutschland: Hamburg hat zahlreiche traurige Beispiele zu bieten.
Felix Matheis, August 2022.
Der Autor ist Historiker in Hamburg und arbeitet derzeit zu Antisemitismus und Rassismus in der Bundesrepublik, historisch und aktuell. Auf Untiefen schrieb er bereits über die schuldhafte Rolle Hamburger Kaufleute im Nationalsozialismus.
Während sich Frauen immer mehr Raum erkämpft haben und geschlechtliche Ungleichheiten angegangen wurden, blieb die Herbertstraße an der Reeperbahn für sie bis heute tabu – für einen Teil der Frauen zumindest. Wie kommt das und was hat das mit dem Patriarchat und männlichen Herrschaftsansprüchen zu tun?
Offen für alle? Blick in die Herbertstraße bei geöffnetem Tor. Foto: Hinnerk11, CC BY-SA 4.0, Wikipedia.
Hamburg steht mit der Reeperbahn, der Herbertstraße und den Burlesque Shows immer wieder im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit, zum Beispiel durch ›kultige‹ Kiez-Reportagen, und geriert sich als Inbegriff der sexuellen Offenheit. Der ›erotische‹ Humor und feuchtfröhliche Lifestyle, der durch allerhand kulturelle Praktiken rund um die »sündigste Meile der Welt«1Diese Phrase, die mit der Umwertung christlich-konservativer Moralvorstellungen kokettiert, ist inzwischen zum Marketing-Slogan geronnen und wird auch auf der offiziellen Tourismus-Webseite der Stadt Hamburg verwendet. präsentiert wird, zieht Tourist:innen an und lässt viele Feministinnen aufatmen, die sich immer wieder um die Moral von Sexarbeit beziehungsweise Prostitution streiten. Die Reeperbahn scheint zu zeigen: Alles ganz entspannt und frei – es geht um Spaß und lockere Sexualität, die kaum irgendwo sonst so frei ausgelebt werden könne wie hier. Doch wie jede Kulturindustrie ist auch diese nicht frei von Ideologie und Inszenierung: Sie verschleiert den Blick für ihre stabilisierende Funktion im Sinne der (durch den Feminismus infrage gestellten) männlichen Herrschaftsansprüche.
Die Herbertstraße existiert in ihrer Funktion als Hort sexueller Dienste von Frauen für Männer etwa seit der Weimarer Republik. Seit den 1930er Jahren stehen an beiden Enden der nur etwa 60 Meter langen Straße Sichtschutzwände, im Jahr der Fußball-WM 1974 wurden Schilder mit der Beschriftung »Jugendliche unter 18 und Frauen verboten« auf Deutsch und Englisch angebracht. Zwar kann niemandem der Zutritt zu einer öffentlichen Straße, wie es die Herbertstraße ist, rechtlich verboten werden, schon gar nicht aufgrund des Geschlechts. Dennoch wird das Verbot für Frauen, die Straße ohne Absicht sexueller Dienstleistungen anzubieten, zu betreten, auch von öffentlicher Seite reproduziert. Was (angeblich) passiert, wenn man das Verbot missachtet, erfährt man woanders: Einem privaten Touristik-Anbieter zufolge ist dann »mit Beschimpfungen und einem Angriff durch Wasserbomben« zu rechnen, die SHZ warnt vor »deftigsten Schimpfworten, faulen Eiern und manchmal auch handfesten Argumenten«.
›Frauen verboten‹ – zum Schutz der Prostituierten?
Frauen von außen werden als störende Eindringlinge dargestellt, die nicht nur die Männer am Kauf von sexuellen Dienstleistungen behindern. Das Verbot von sich nicht prostituierenden Frauen soll der Wunsch der Prostituierten selbst sein, es soll sie vor den anderen Frauen schützen, die als »Schaulustige« die Straße besuchten. Ob das der tatsächliche Grund für das Verbot ist, bleibt unklar und Thema für Spekulationen. Gleichwohl schützt es fraglos die Geschäftsinteressen, wenn die Männer nicht durch Ehefrauen, Freundinnen, Schwestern gestört werden.2Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 vermerkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhälter der Herbertstraßen-Prostituierten hätten sich einer Öffnung für Frauen widersetzt. Weibliche Touristen in der No-go-Area, so das Kalkül, könnten das Geschäft vermasseln.«
Aktivistinnen der kontroversen feministischen Gruppe Femenbauten am 8. März 2019 die Sichtschutzwand am Zugang zur Herbertstraße unter dem Slogan ab, die »Mauer zwischen Frauen« zu demontieren. Gegen die Aktivistinnen wurde damals wegen Sachbeschädigung Strafanzeige erhoben. Wenngleich die Gruppe und vorangegangene Aktionen durchaus kritisch betrachtet werden können, werden Feministinnen im gesellschaftlichen Diskurs so zu Antagonist:innen der Prostituierten stilisiert.
Femen überwindet die »Mauern zwischen Frauen«. Protest am 8. März 2019. Screenshot: Youtube.
Frauen in der Prostitution sind einem weitaus größeren Risiko als andere Frauen ausgesetzt, Gewalt zu erfahren oder gar ermordet zu werden. Für ihren Schutz zu sorgen, ist daher dringend nötig. Aber warum sollen sie gerade vor anderen Frauen geschützt werden? Die Ausübenden der Gewalt gegenüber Prostituierten sind überwiegend Männer, die in verschiedenen Beziehungen zu den Frauen stehen – insbesondere durch Freier.3BMFSFJ: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Ergebnisse der repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland, S. 26–27. Online unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf. Allein in den 20 Jahren seit der Entkriminalisierung sind in Deutschland mehr als hundert Frauen aus der Prostitution ermordet worden, wie die Initiative Sex Industrie Kills dokumentiert hat. Die Liberalisierung schützt die Frauen nicht, sondern macht Menschenhandel lukrativer. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Anstieg des Menschenhandels zu weniger Gewalt gegen Frauen führt. Zuletzt wurde am 14. Mai eine Frau in Hamburg-Harburg tot aufgefunden, die gelegentlich der Prostitution nachging und von einem ihrer Freier erwürgt wurde. Aufgrund des massiven Dunkelfeldes kann jedoch von einer höheren Zahl ausgegangen werden. Wen oder was schützen die Wände an der Herberstraße also eigentlich?
Homosozialer Raum und männliche Herrschaft
Der schwedische Soziologe Sven-Axel Månsson beschrieb Prostitution bereits in den achtziger Jahren als männliche Praxis, sich der eigenen Potenz zu versichern und Maskulinität zu konstruieren.4Vgl. Sven-Axel Månsson: The man in sexual commerce, Lund 1988, S. 39. Online unter: https://lucris.lub.lu.se/ws/portalfiles/portal/66114471/1988_2.pdf. Dies geschieht in homosozialen Räumen, in denen Frauen lediglich Zutritt haben, wenn sie als Objekte der männlichen Libido existieren. Männern als sozialer Gruppe steht der weibliche Körper in diesen Räumen uneingeschränkt zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse zur Verfügung, um die eigene Männlichkeit in Abgrenzung zum Weiblichen über die sexuelle Dominanz zu bestätigen.
Es verwundert nicht, dass das explizite Verbot von Frauen in der Herbertstraße erst in den siebziger Jahren in Kraft trat. Mit der Zweiten Welle des Feminismus, die zu dieser Zeit Fahrt aufnahm, begannen Frauen sich intensiv mit ihren eigenen sexuellen Bedürfnissen auseinanderzusetzen. Die Akzeptanz der Frauen, sexuell von Männern beherrscht zu werden, sank rapide und stellte damit auch die Selbstverständlichkeit männlicher Herrschaft infrage. Prostitution stellte dagegen eine Art Zufluchtsort für Männer dar und diente damit als ›Konservatorium‹ von Männlichkeit sowie der hierarchischen Geschlechterordnung. Dass Prostitution als ’notwendiges Übel‹ im Rahmen eines hierarchischen Geschlechterverhältnisses gesehen im Konservativen fest verankert ist und nach wie vor reproduziert wird, zeigt nicht zuletzt die neue Hymne der Jungen Union.
Feiert da etwa die Junge Union? Die Disco Bierkönig auf Mallorca. Foto: O. Lipp, CC BY-SA 3.0, Wikipedia.
Die ›doppelte Moral‹ der Konservativen zeigt sich darin, dass sie Frauen, die der Prostitution nachgehen als ›Huren‹ entwerten, während sie andere Frauen zu ›Heiligen‹ stilisieren. Über die Entwertung der Frauen als ›Huren‹ im Gegensatz zur ›heiligen‹ Ehefrau und Mutter wird die körperliche und sexuelle Autonomie der entwerteten Frauen negiert. Gleichzeitig ermöglichen sie einen permanenten männlichen Zugriff auf den Körper der Frau – häufig mit dem Argument eines zu erfüllenden männlichen Triebes.5Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007. Solange eine patriarchale Organisation der Gesellschaft vorherrscht, ermöglichen konservative Kräfte in kreativen Formen, wie zum Beispiel mit der ›Zeitehe‹ im Iran, immer auch den Zugriff auf Frauenkörper.
Das Geschlechterverhältnis an sich ist so wieder klar: Frauen als Dienerinnen der männlichen Bedürfnisse, der sexuellen wie auch der fürsorglichen, die Männer als Herren. Frauen als eigenständige Subjekte, die Bedingungen und Grenzen umsetzen (können), stören diese Ordnung. In der Herbertstraße wird die homosoziale Struktur zusätzlich durch die Beschilderung und den Sichtschutz perpetuiert. Auch nach außen wird damit die Grenze zu dieser anderen Welt, in der noch nach den ›alten Regeln‹ gespielt wird, symbolisiert.
Zwischen Normalisierung…
Wie jedes Herrschaftsverhältnis braucht auch das patriarchale Geschlechterverhältnis die Illusion der Natürlichkeit, um sich aufrechtzuerhalten. Diverse Umfragen unter Freiern legen nahe, dass der durchschnittliche Freier von einer »männlichen Natur« und biologischen Zwängen überzeugt ist und darüber hinaus ein im Vergleich zu Männern, die keine sexuellen Dienstleistungen in Anspruch nehmen, aggressiveres Sexualverhalten aufweist.6Vgl. Claudine Legardinier: Der ›Freier‹ im Brennpunkt der Kritik, in: Feministisches Bündnis Heidelberg (Hg.): Was kostet eine Frau? Eine Kritik der Prostitution. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2020, 69–86. Der Wunsch nach Sexualität ohne Verantwortung spielt dabei ebenfalls eine Rolle. Bei sich prostituierenden Frauen, so die Prämisse, müsse keine Rücksicht genommen werden, da man für die Dienstleistung bezahlt. ›Der Kunde ist König‹ bleibt dabei nicht bloß ein Spruch aus der Dienstleistungsbranche, sondern steht sinnbildlich für das Geschlechterverhältnis.
Die Herbertstraße hat sich widersprechende und doch zusammengehörende Normalisierungsfunktionen. Auf der einen Seite konstituiert sich mit ihr die Selbstverständlichkeit männlicher Räume und der Erfüllung männlicher, vermeintlich natürlicher, Bedürfnisse. Freier wollen Frauen, die sexuell willig sind, aber genau dasselbe wollen wie sie selbst: all ihre sexuellen Wünsche erfüllen, ohne Gegenleistung. Prostitution als ›Arbeit‹ anzuerkennen steht dieser Illusion allerdings entgegen, da es sich letztlich auch für die Frauen um eine Dienstleistung bzw. um etwas handelt, das sie nicht freiwillig, nicht ohne eine Gegenleistung bzw. Kompensation tun würden. Um sich dieser Verantwortung zu entziehen, reichten zwei Freier gar eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz ein, das die Inanspruchnahme von sexuellen Dienstleistungen bei Zwangsprostituierten unter Strafe stellt. Die Geschichte der sexuell befreiten, aber missverstandenen Frau als erotisches Wesen, das den (unverbindlichen, einseitigen) Sex mit fremden Männern will, muss reproduziert werden: Sie hat ›ihr Hobby zum Beruf gemacht‹.
… und Exotisierung
Zusätzlich und entgegen der Normalisierung, braucht der Raum die Atmosphäre des Exotischen, des Verbotenen und ›Sündigen‹, damit sich Männer darin ihrer Virilität versichern können. Der ›Reiz des Versteckten‹ ist die Grundlage dieser männlichen Fantasie, Gewalt gegen die als minderwertig markierten ›Huren‹ ist ein Teil davon. Nicht erst die Erhebung Fritz Honkas, der in den siebziger Jahren zahlreiche sich prostituierende Frauen ermordete, zur Hauptfigur in Heinz Strunks Roman Der goldene Handschuh und seiner Verfilmung durch Fatih Akin oder die »Sex&Crime«-Rundgänge für Tourist:innen auf der Reeperbahn zeugen von der schaurigen Faszination, die das ›Rotlichtmilieu‹ und Gewalt gegen Frauen durch Männer generell in unserer Gesellschaft ausüben.
Der Reiz des Geheimen: Schummriges Licht und schwere Vorhänge. Foto: hds, CC BY 2.0, Wikipedia.
Die Atmosphäre des Exotischen, Sündigen wird durch die Sichtwände unterstützt und suggeriert Subversion. Prostitution ist in Deutschland allerdings sowohl für die sexuelle Handlungen anbietenden Frauen als auch für die Freier seit Jahrzehnten legal, die Herbertstraße eine öffentliche Straße, die grundsätzlich jede:r betreten dürfte. Auch die sogenannte »Sittenwidrigkeit«, durch die Prostitution trotz Legalität moralisch abgewertet und diszipliniert wurde, wurde 2002 abgeschafft. Es ist mittlerweile keine Seltenheit, dass Verfechter:innen und Sexarbeiter:innen in Talkshows, Podcasts und Artikeln über die Wichtigkeit von Prostitution und Pornografie sprechen.
Der Widerspruch zwischen der ›verbotenen‹, ’sündigen‹ und vermeintlich von Moralvorstellungen freien Sexualität und dem staatlich geförderten, gewerblich organisierten und vermarkteten Prostitutionsbetrieb ist offensichtlich. Der Mythos, im Nationalsozialismus sei Prostitution grundsätzlich illegal gewesen, wird auch nach wie vor im Kontext der Herbertstraße reproduziert. Die Nationalsozialisten hätten die Wand aufgestellt, um die Prostitution aus dem »Sichtfeld der Öffentlichkeit zu verbannen«, so eine Kiez-Seite. Es stimmt, dass Frauen für Prostitution verfolgt wurden, doch ging es praktisch in erster Linie um staatliche Kontrolle über die Prostitution und (unverheiratete) Frauen. Frauen, die sich regelmäßig untersuchen ließen und sich staatlich organisiert prostituierten, entgingen der Verfolgung, wenngleich dieses Arrangement kein sicheres für die Frauen war.7Vgl. Robert Sommer: Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Leiden: Brill & Schöningh, 2009. Die Darstellung der Prostitution als subversive, quasi emanzipatorische Praxis wird durch die wiederholte und verkürzte mediale Gegenüberstellung mit dem Nationalsozialismus unterstützt. Der Freier und die Prostituierte werden so ideologisch als Vorreiterinnen gegen eine überkommene Sexualmoral und für eine befreite Sexualität verklärt.
Hamburg, die »Puffmama«
Im Juni 2021, einen Tag vor der Abschaffung des pandemiebedingten Verbots körpernaher Dienstleistungen und damit auch von Prostitution, demonstrierten Frauen aus der Herbertstraße für die Wieder-Erlaubnis von sexuellen Diensten unter dem Namen Sexy Aufstand Reeperbahn. Unter anderem mit Plakaten mit der Aufschrift »Der Staat fickt uns und zahlt nicht« wiesen die Frauen auf ihre prekäre Situation, aber auch noch auf etwas anderes hin: Der Staat beziehungsweise die Stadt Hamburg nutzt die Frauen für den eigenen Vorteil – hat aber letztlich die Kontrolle über sie. Ein paar Monate fand in der Herbertstraße eine Kunstausstellung statt, die an den »Aufstand« erinnern sollte. Mit der Aktion wollte man sich u.a. beim Bezirksamt Hamburg St. Pauli bedanken, das – laut Organisator:innen der Aktion – die Gewerbe in der Herbertstraße und auf der Reeperbahn im Sinne der Wiedereröffnung unterstützt habe.
Der (Sex-)Tourismus in Hamburg lebt vom Reiz, den die Herbertstraße und die Reeperbahn ausüben. Parallel zu den Schritten der Entkriminalisierung der Prostitution in Deutschland stiegen die Tourismus-Zahlen in Hamburg rasant. Während die Zahl der Tourist:innen in den neunziger Jahren stagnierte, stieg sie seit 2002 um mehrere Millionen an. Hamburg profitiert maßgeblich vom Sextourismus als wichtiger ökonomischer Einnahmequelle. Der ›kultige‹ Kiez und das Versprechen lustvoller Frivolität und sexueller Verfügbarkeit von Frauen ziehen Besucher:innen an. Selbst diejenigen, die ’nur‹ der Atmosphäre der Reeperbahn, des Kiezes und des Milieus nachspüren wollen, bringen durch ihre Besuche Geld in die städtischen Taschen.
»Für mehr Fremdenverkehr«: Darauf können sich in der Herbertstraße alle einigen. Foto: S. McCann, flickr.
Mit dem boomenden (Sex-)Tourismus war Schluss, als vor zweieinhalb Jahren das Corona-Virus der Prostitution und Beherbergungsbranche für einige Monate den Garaus machte. Nicht ganz uneigennützig scheinen da die Bemühungen der Stadt- und Bezirksverwaltung von Hamburg Mitte, die Prostitutionsgewerbe wieder ›in Betrieb‹ zu nehmen. Ein Gruppenfoto mit Falko Droßmann, damaliger Bezirksamtsleiter, das groß auf der Homepage der Gruppe Sexy Aufstand Reeperbahn zu finden ist, weist auf die nicht uneigennützigen Motive des Bezirks hin. Die Brüche, die staatliche sowie städtische Politiken in Bezug auf sich prostituierende Frauen aufweisen, sind geprägt vom Machtverhältnis zwischen patriarchal organisierten Kapitalinteressen und den in der Regel vulnerablen Frauen, die sich für die Prostitution entscheiden oder in diese hineinrutschen.
Unerwünscht sind Frauen in der Herbertstraße offensichtlich nicht. Sie sind sowohl ökonomische Grundlage als auch kultureller Bestandteil der Touristenattraktion und der Rituale einer sich selbst ihrer Herrschaft versichernden Männlichkeit. Dies gilt allerdings nur für bestimmte Frauen. Wenn sie selbst als Anbieterinnen sexueller Dienstleistungen und damit als durch Männer konsumierbare Ware auftreten, sind sie willkommen. Alle anderen müssen ›draußen bleiben‹ und sollen nicht an den Wänden der Männerbündelei, der kulturellen Grundlage patriarchaler Gesellschaften, rütteln.
Lea Remmers
Die Autorin ist feministische Soziologin und vermisst in aktuellen Debatten um Prostitution den Anspruch, das Bestehende als Ausdruck einer heterosexistisch-kapitalistisch organisierten Gesellschaft zu analysieren.
1
Diese Phrase, die mit der Umwertung christlich-konservativer Moralvorstellungen kokettiert, ist inzwischen zum Marketing-Slogan geronnen und wird auch auf der offiziellen Tourismus-Webseite der Stadt Hamburg verwendet.
2
Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 vermerkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhälter der Herbertstraßen-Prostituierten hätten sich einer Öffnung für Frauen widersetzt. Weibliche Touristen in der No-go-Area, so das Kalkül, könnten das Geschäft vermasseln.«
Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007.
6
Vgl. Claudine Legardinier: Der ›Freier‹ im Brennpunkt der Kritik, in: Feministisches Bündnis Heidelberg (Hg.): Was kostet eine Frau? Eine Kritik der Prostitution. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2020, 69–86.
7
Vgl. Robert Sommer: Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Leiden: Brill & Schöningh, 2009.
Zwei neue Bücher über Olaf Scholz schreiben ihm hanseatische Tugenden zu und empfehlen ihn als Verwalter des neoliberalen Status Quo. Was wirklich über Scholz zu sagen wäre, fällt in dieser staatsjournalistischen Imagepflege unter den Tisch.
„Frei von Empathie“ und „ohne jedes Charisma“: Olaf Scholz laut zwei Hofberichterstattern. Foto: privat.
In der repräsentativen bürgerlichen Demokratie erfüllen politische Eliten immer auch eine symbolische Funktion. Sie sollen den Staat beziehungsweise „das Volk“ repräsentieren, den Bürger:innen ein Bild ihres Gemeinwesens verkörpern. Im Gegensatz zum königlichen Körper, der im Ancien Régime qua Geburt und göttlicher Auserwähltheit unfraglich die Einheit des Staates symbolisierte, müssen die wechselnden demokratischen Repräsentant:innen sich dem anpassen, was die Bevölkerung sich wünscht und was sie zu akzeptieren bereit ist. Sie müssen, zumal in der hochgradig medialisierten Demokratie der Gegenwart, ihr Image herstellen als Projektionsfläche für staatstragende Tugenden.
Angesichts der zunehmenden Personalisierung von Parteipolitik ist solche Imagepflege ein nicht zu vernachlässigender Bestandteil der Herstellung von politischer Hegemonie, also der Zustimmung der Beherrschten zu ihrer Beherrschung. Journalisten staatsnaher Medien versuchen von dieser Notwendigkeit zu profitieren und übernehmen dabei unaufgefordert diese Imagepflege, indem sie die vermeintlich bedeutsame „Persönlichkeit“ führender Politiker:innen in den Fokus rücken und ihre positiven Qualitäten beschreiben bzw. eben erfinden.
Eben so ist es im Fall Olaf Scholz. Zwar eignet Scholz sich denkbar schlecht für Imagepflege, verkörpert er doch der allgemeinen Wahrnehmung nach vor allem Langeweile. Aber das hindert Journalist:innen nicht, die es ja gewohnt sind, aus wenig Material viel leicht verdaulichen Text zu machen. Und nun, da er Kanzler ist, lässt sich so etwas auch verkaufen.
Beispiele dieser Art von kostenloser PR sind die beiden bisher über Olaf Scholz erschienenen Bücher: „Olaf Scholz: Der Weg zur Macht. Das Porträt“ (Klartext, Dezember 2021) vom Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, Lars Haider, und „Olaf Scholz – Wer ist unser Kanzler?“ (S. Fischer, Februar 2022) von Mark Schieritz, wirtschaftspolitischer Korrespondent im Haupststadt-Büro der ZEIT.
Natürlich können auch Haider und Schieritz zu Scholz nichts wirklich Interessantes berichten. Beide Bücher sind bürgerliche bundesdeutsche Hofberichterstattung ohne jede Gesellschaftskritik. Neben Langeweile können sie höchstens schaudern lassen, etwa, wenn Haider anbiedernd erzählt, wie oft er Scholz schon in Hintergrundgesprächen oder zu Interviews getroffen habe. Kurz: Sie gehören zu denen, die selbst in 7 langen Leben keinen Platz auf der Leseliste verdient hätten. Aber es ist interessant, welche Qualitäten sie Scholz im Sinne der genannten staatstragenden Imagepflege anzudichten versuchen.
Bei Haider sind Scholz‘ hanseatische Qualitäten, ins Politische gewendet, im Kern eine Affirmation des gegenwärtigen neoliberalen Regimes. Was die Bürger:innen in Scholz sehen sollen, ist „Kompetenz“, „Nüchternheit“ und „Erfahrung“ – also Politik unter dem Diktat des tristen Realismus, streng an den Sachzwängen orientiert, ohne verderbliche Utopie, Visionen (Helmut Schmidt ist für Scholz nicht ohne Grund ein „Gigant“) oder auch nur ein erkennbares Programm. Sicher, hier darf es auch mal Zugeständnisse geben – aber was nötig und möglich ist und was nicht, das entscheidet das Kapital. Er habe „das Geld zusammengehalten“ und in Hamburg „gut und solide“ regiert. Natürlich ist er ein „Machtmensch“ – denn anders geht es schließlich in den Kommandohöhen des Staates nicht. Haider stellt sich die Beziehung zu den Wähler:innen so vor: Sie bestellen „Führungsleistung“ und Scholz liefert sie.
Solch markige Management-Macherrhetorik soll beruhigen, suggeriert sie doch, dass der_die Einzelne noch etwas ausrichten kann. Dabei vernebelt sie natürlich, dass das politökonomische Wohl oder Verderben in kapitalistischen Staaten kaum von einzelnen Politiker:innen abhängt, selbst von Kanzlern nicht. Bei Scholz wird nun diese Personalisierung der Politik auf einen Kanzler gepresst, der sie mangels nennenswerter Persönlichkeit beinahe schon ad absurdum führt. Wer das schlucken kann, hofft wohl kaum noch, dass irgendwer den Irrsinn dieser Gesellschaft doch noch richten könnte. Haider offenbart genau den capitalist realism, den Mark Fisher beschrieb: Es ist nichts Anderes vorstellbar als ein ewiges „weiter so“, also ist es doch besser, jemandem die Sache zu überlassen, der genau das und auch nicht mehr will.
Die Person Scholz beschreibt Haider als „frei von Empathie“ und „ohne jedes Charisma“. Das ist nicht negativ gemeint, sondern soll wohl Sachkenntnis und Kompetenz noch einmal unterstreichen: Scholz hat keine Gefühle, er hat Ahnung. Über sein Leben gibt Scholz wenig preis, aber was man wissen kann, lässt ahnen: Er ist genauso langweilig und durchschnittlich, wie er erscheint. Geboren in Osnabrück in eine Mittelschichtsfamilie, politische Sozialisierung bei den Jusos, Jurastudium, Selbstständigkeit als Anwalt für Arbeitsrecht, SPD-Parteikarriere.
Haiders Scholz „arbeitet hart“, ist „ehrgeizig“, man kann ihm vertrauen, denn „er kann was“. Er ist hart im Nehmen – aber auch hart zu sich selbst. Er studiert tagelang Akten, ohne zu ermüden. Er ist von sich überzeugt, aber auch zu Recht. Er hat zwar kein Charisma, aber denkt analytisch und ist ein „Arbeitstier“. Er ist höflich und nicht arrogant.
Schließlich auch noch ein Schuss Sozialdemokratie: Er ist ein „Aufsteiger, der an soziale Gerechtigkeit glaubt“, ja, ein „Außenseiter“. Haider widmet gar sein Buch „allen Außenseitern“. Was einen sozialdemokratischen Juristen mit jahrzehntelanger erfolgreicher Politkarriere zum Außenseiter macht, bleibt freilich Haiders Geheimnis. Vielleicht die Kindheit in Rahlstedt? Ähnlich dünn ist der Versuch, Scholz als „Feministen“ dazustellen. Er hätte sich schon immer für Gleichberechtigung eingesetzt, etwa in der Auswahl seiner Senator:innen und Minister:innen, und sei allergisch, wenn in Interviews die Berufstätigkeit seiner Frau in Frage gestellt wird. Fair enough – aber das ist genau die Art Staatsfeminismus, mit dem man heute wirklich nirgendswo mehr Widerspruch hervorruft.
Jetzt setzt’s aber Respekt: Olaf Scholz im Wahlkampf 2021. Foto: Michael Lucan CC BY-SA 3.0
Schieritz’ Buch ordnet anders als Haiders Machwerk Scholz auch politisch ein. Dass er schon unter Gerhard Schröder als Generalsekretär an der Neoliberalisierung der SPD mitgearbeitet hat und die Agenda 2010 fleißig verteidigte, wird hier zumindest nicht verschwiegen. Ebenso, dass Scholz damals den Begriff „demokratischen Sozialismus“ aus dem Parteiprogramm der SPD streichen lassen wollte.
Aber für Schieritz begründet das keinen Vorwurf, sondern für ihn zeigt es, wie „geerdet“ Scholz heute im Vergleich zu seiner linksradikalen Zeit in den 1970ern ist. Vor allem der Anwaltsberuf habe ihn zu einem „Mann der Mitte“ gemacht. Auch der von Scholz verantwortete Brechmitteleinsatz, der 2001 Achidi John das Leben kostete, kann diesem Bild nichts anhaben. Schieritz verhandelt den Skandal unter ferner liefen, bei Haider taucht er erst gar nicht auf. Scholz ist für Schieritz „den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen“, denn er ist kein Ideologe, sondern „je nach den Umständen ausgerichtet“. Er ist ein Verhandler, „will alle Meinungen hören“, umgibt sich mit „Leuten die etwas bewegen wollen“.
Sogar ein bisschen weniger Neoliberalismus will er neuerdings. Denn statt Leistungsgerechtigkeit wie in der Sozialdemokratie des Dritten Weges à la Blair und Schröder stellt Scholz die „Beitragsgerechtigkeit“ in den Mittelpunkt. Der Sermon vom „Respekt“ ist wohl allen noch aus dem letzten Bundestagswahlkampf im Ohr. „Respekt“ soll für notwendige Lohnhierarchien entschädigen. „Respekt“ soll es für Erwerbsarbeit jeder Art geben, egal ob hoch- oder niedrig qualifiziert. Das aber hat natürlich nur wenig mit Gerechtigkeit zu tun. Denn „Respekt“, man ahnt es, ist, was von der Sozialdemokratie übrigbleibt, wenn sie nicht umverteilen will. Mit Scholz soll der neoliberale Wahnsinn des Bestehenden humanisiert werden. Wie eng begrenzt diese rhetorischen Zugeständnisse sind, zeigt schon jetzt, wie wenig wir uns davon versprechen dürfen. Wer Scholz’ Weg in Hamburg verfolgt hat, weiß, dass er Ansprüche auf mehr als „Respekt“ auch abzuwehren weiß: die Law&Order-Rhetorik im Wahlkampf gegen Schill, die Brechmitteleinsätze, sein Einsatz gegen die Rekommunalisierung der Energienetze und für Olympia, die Gefahrengebiete, seine absurde Verleugnung polizeilicher Gewalt beim G20-Treffen und jüngst sein beunruhigend schlechtes Gedächtnis bezüglich Korruption mit der Warburg-Bank zeigen, wozu ein ideologisch flexibler Parteisoldat wie Scholz fähig ist. Scholz ist kein wirklicher Bösewicht, autoritäre Ressentiments und persönliche Bereicherung sind ihm sicher fremd. Aber er ist eben ein typischer Sozialdemokrat des neoliberalen Zeitalters. James Jackson hat das im Jacobin Magazin schön zusammengefasst: Scholz verbindet höhere Mindestlöhne mit kapitalfreundlicher Klimapolitik, Law & Order-Maßnahmen mit dem Kampf gegen Rechtspopulismus. Er steht für „Stabilität statt Vision, Management statt Transformation, und wahrt die Interessen der Mächtigen – während er gerade genug reformiert, um den Kohle-getriebenen Koloss deutsche Industrie am Laufen zu halten.“ Auf Bundesebene setzt Scholz somit fort, was seine Politik als Erster Bürgermeister Hamburgs auszeichnete – und was ihn populär machte. Und wer weiß, vielleicht räumt die ZEIT ihm nach der nächsten Bundestagswahl ja Helmut Schmidts altes Büro frei.