Am 19.01. eröffnete im Hamburger Rathaus eine Sonderausstellung über »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute«. Unter den Macher:innen sind auch Betroffene und Angehörige von Opfern rechter Gewalt. Die Ausstellung bietet einen sehr guten Einstieg in die lokale Geschichte rechtsextremer Gewalt, ringt aber mit einigen Schwierigkeiten.
Ausschnitt des Ausstellungs-Plakats. Bild: Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte
Im großen Festsaal des Rathauses wurde gestern, am 19.01.2024, die neue Sonderausstellung »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute« eröffnet. Wie schon seit über 20 Jahren präsentiert die Bürgerschaft wieder anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar eine neue temporäre historische Ausstellung. Ungewöhnlich ist dieses Mal die große Aktualität. Denn die neue Ausstellung beleuchtet rechte Gewalt nach dem Zweiten Weltkrieg – bis heute. Verantwortet wird sie dabei wie immer von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Die Ausstellung eröffnet mit den persönlichen Geschichten von fünf Todesopfern rechter Gewalt in Hamburg:
Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân (1980; Nazi-Brandanschlag auf Flüchtlingsunterkunft in der Halskestraße), Mehmet Kaymakçı (1985; erschlagen von Skinheads im Kiwittsmoorpark), Ramazan Avcı (1985; erschlagen von Skinheads an der S‑Bahn-Station »Landwehr«) und Süleyman Taşköprü (2001; erschossen in der Schützenstraße von Terroristen des »NSU«).
Auch das letzte Wort haben die Betroffenen. In einer Videostation werden Ausschnitte aus Interviews mit Überlebenden rechter Gewalt und Angehörigen von Opfern gezeigt, die unter anderem von dem jahrzehntelangen Desinteresse von Staat und Gesellschaft und sogar Gedenkinitiativen an ihren Erfahrungen und Perspektiven berichten. Aber nicht nur in der Ausstellung kommen die Betroffenen zu Wort, auch in der Entstehung waren sie beteiligt. Im Gespräch mit Untiefen sagt Lennart Onken (KZ-Gedenkstätte Neuengamme), einer der Kurator:innen: »Insbesondere für die ersten fünf Tafeln haben wir eng mit Initiativen und Angehörigen zusammengearbeitet, haben Texte und Bildauswahl intensiv besprochen. Das war ein sehr spannender Prozess, bei dem auch wir sehr viel gelernt haben.«
İbrahim Arslan: »Ich führe das zurück auf unseren Widerstand und unsere Kämpfe«
Einer der Mitgestalter, der Aktivist İbrahim Arslan (Überlebender des rassistischen Brandanschlags 1992 in Mölln) betont gegenüber Untiefen: »Wir haben die gesamte Ausstellung gemeinsam konzipiert, haben die Vernetzung der Betroffenen und das Empowerment gemacht und unsere Expertise eingebracht.« Er findet die Ausstellung gelungen, denn: »Die Betroffenen sind zufrieden. Ihre Wünsche und Bedürfnisse stehen im Vordergrund. Das ist relativ neu, dass Antifaschist:innen und Antiras und Institutionen uns einbeziehen. Ich führe das zurück auf unseren Widerstand und unsere Kämpfe. Wir machen hervorragende Arbeit und langsam werden unsere Interventionen auch staatlich anerkannt.«
Die Ausstellung präsentiert auf über dreißig Tafeln die jeweils wichtigsten und prägnantesten Fälle rechter Gewalt für die Nachkriegsjahrzehnte, aber auch Widerstandsbewegungen finden Erwähnung. So bietet sie einen sehr guten Überblick über die Wellen rechter Gewalt – und eignet sich gut auch für jüngere Antifaschist:innen, die vielleicht das Gefühl haben, diese Geschichte Hamburgs bislang nur bruchstückhaft zu kennen. Aber auch für schon länger Interessierte gibt es neue Abgründe und bislang unbekannte Opfer zu entdecken, selbst für den Historiker Onken von der KZ-Gedenkstätte: »Besonders krass finde ich den Fall des Zeitungsboten Rudi M., der 1988 in Eimsbüttel von einem Skinhead erstochen wurde, weil er ihm angeblich homosexuelle Avancen gemacht hat. Ich hatte noch nie vorher von Rudi M. gehört. Sein Fall ist total unbekannt.«
Nicht viel bekannter dürfte das Schicksal des thailändischen Ingenieurs Prayong Rungjangs sein, der 1977 an den Folgen eines Neonazi-Übergriffs in der Talstraße starb. Hier hält lediglich sein Sohn, der Video- und Objektkünstler Arin Rungjang, die Erinnerung wach.
Der Gedenkstein für Süleyman Tasköprü in der Schützenstraße in Bahrenfeld. Foto: Kati Jurischka, Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte
Was tun mit den Tätern?
Auch auf der Täter:innenseite liefert die Ausstellung einen Überblick über die Organisationen und zentralen Personen. Nazi-Haufen wie die »Hamburger Bruderschaft«, »Aktionsfront Nationaler Sozialisten«, die »Wehrwolf-Gruppe«, die »Deutschen Aktionsgruppen« und natürlich der »NSU« werden vorgestellt. Dabei verzichten die Kurator:innen auf persönliche Anekdoten und letztlich auch auf Thesen dazu, warum bestimmte Milieus und Personen erstens für rechtsextreme Ideologie empfänglich sind und zweitens den Schritt zur Gewalt gehen. Lediglich für die unmittelbare Gegenwart verweist die Ausstellung darauf, dass die Zustimmungswerte der AfD mit Beginn des Krieges gegen die Ukraine und der zunehmenden Inflation gestiegen seien. Die theoretische Zurückhaltung ist vor dem Hintergrund der Fokussierung auf die Opfer und aus Platzgründen zwar verständlich, erschwert es aber, Schlussfolgerungen für die Gegenwart zu ziehen. Das Video-Interview am Ende der Ausstellung schließt mit Worten Thời Trọng Ngũs, Überlebender des Anschlags in der Halskestraße von 1980 und Aktiver der »Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân«: »Wie kann man weitere Taten vermeiden? Das ist die Frage.« Die Ausstellung antwortet auf ihren letzten Tafeln: durch antifaschistischen und migrantischen Widerstand sowie durch breites gesellschaftliches Engagement und staatliche Maßnahmen gegen Rechts. Das ist natürlich unerlässlich. Aber bleibt der antifaschistische Widerstand nicht im Modus des ewigen Reagierens, wenn er über kein Konzept der gesellschaftlichen Hintergründe rechter Gewalt verfügt? Wenn er nicht nach der psychischen und ökonomischen Funktionalität von Ressentiment und Gewalt fragt?
İbrahim Arslan hebt im Gespräch auch hier die Bedeutung der Betroffenenfokussierung hervor: »Migrantisch situiertes Wissen hat schon in den 1980ern rassistisch motivierte Taten vorhergesagt.« Seiner Wahrnehmung nach konnte man sich auch bei dieser Ausstellung nicht von »einer gewissen Täterfokussierung« befreien. Das Interesse an den Täter:innen und den Tathintergründen sei zwar verständlich, grade jetzt angesichts der ans Licht gekommenen Deportations-Pläne im Umfeld der AfD. Aber das führe eben immer wieder zu der Vorstellung, man habe es nun mit etwas Neuem zu tun. Stattdessen sei klar: »Die AfD wird von Neonazis getragen. Diese Pläne gibt es schon seit der Gründung der AfD.« Und würde man Betroffenen zuhören, so Arslan weiter, wüsste man, dass sie auch darauf schon lange hinweisen.
Was ist »rechte Gewalt«?
Eine konzeptuelle Unklarheit der Ausstellung ist derweil deutlich spürbar. »Rechtsextremes Denken« wird zunächst breit gefasst, im Sinne einer allgemeinen, gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit: »Grundlegend ist die Auffassung von einer generellen Ungleichwertigkeit der Menschen.« Laut Lennart Onken hat das Ausstellungsteam in dieser Perspektive allein durch eigene Recherchen eine Liste von 500 dokumentierten Fällen zusammengestellt, die von Beleidigungen bis zum Mord reichen. Ein parallel laufendes Forschungsprojekt der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg (FZH), der KZ-Gedenkstätte sowie der Landeszentrale für politische Bildung unter dem Titel »HAMREA – Hamburg rechtsaußen« hat laut Onken für Hamburg und das Umland seit 1945 schon »über 1000 Fälle« zusammengetragen – mit einer vermutlich deutlich höheren Dunkelziffer. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts werden fortlaufend sehr anschaulich auf der neuen Website veröffentlicht: https://rechtegewalt-hamburg.de/ Selbstverständlich können aber 1000 oder auch nur 500 Fälle nicht in einer Ausstellung präsentiert werden. Angesichts der Fülle rechter Taten fokussieren die Kurator:innen notwendig auf bestimmte Opfer- und Tätergruppen. Laut Onken haben die Kurator:innen versucht, für jedes Nachkriegsjahrzehnt die zentralen Fälle darzustellen: »Wir haben uns gefragt: Was ist jeweils das bestimmende Thema, das bestimmende Feindbild der extremen Rechten gewesen?« Nur die sieben dokumentierten Todesopfer rechter Gewalt wurden ohne solche Gewichtung aufgenommen. Darunter ist auch der Fall des Bauingenieurs Neşet Danış, der 1977 in Norderstedt bei einem Überfall von türkischen Rechten aus dem Umfeld der »Grauen Wölfe« lebensgefährlich verletzt wurde und später seinen Verletzungen erlag. Das wirft die Frage auf: Zählen solche nicht-deutschen extremistischen Gewalttaten zu »rechter Gewalt«? Und wie ist es mit islamistischer oder israelfeindlicher Gewalt, die ja auch antisemitisch motiviert ist? In der Ausstellung tauchen etwa von den späten 1970ern bis in die 2020er keine antisemitischen Gewalttaten auf.
Onken erläutert den Umgang des Kurator:innen-Teams so: »Wir haben recht früh gesagt, dass wir uns auf die biodeutsche extrem rechte Szene fokussieren.« Und für die wäre der Antisemitismus zwar in den Nachkriegsjahren sehr wichtig gewesen, in den 1980ern habe sich das Feindbild allerdings deutlich auf Migrant:innen verlagert. »Beim Antisemitismus kommt noch hinzu, dass es kein Alleinstellungsmerkmal der extremen Rechten ist, sondern da unterschiedliche Gruppe zur Tat schreiten.« Bei der Fokussierung habe auch die Sorge eine Rolle gespielt, sich durch weitere Themen in Diskussionen zu verstricken, die von der Kontinuität deutscher extrem rechter Gewalt ablenken könnten. Onken ergänzt allerdings: »Grade im Nachgang des 7. Oktober 2023 ist fraglich, ob das so auch in Zukunft weiter klug und machbar ist. Mit Blick auf den Islamismus würde es aus meiner Sicht Sinn machen, die extreme Rechte und den Islamismus enger zusammen zu denken. Denn beide teilen die Modernitätsfeindschaft und den virulenten Antisemitismus.«
Die Fokussierung schafft es aber, zumindest für die deutsche extrem rechte Gewalt, einen guten Überblick über Opfer, Täter und Kontinuitäten zu geben. Vielleicht kann sie den Wunsch der Mehrheitsgesellschaft unterlaufen, in den kommenden rechten Mobilisierungen und den staatlichen Reaktionen wieder eigentlich doch längst Überwundenes, Ewiggestriges aus einer ganz anderen Zeit zu sehen. Gülüstan Avcı, die Witwe des 1983 ermordeten Ramazan Avcı, beklagte bei der Eröffnung der Ausstellung am Freitag unter anderem, dass in Hamburg bis heute kein Untersuchungsausschuss zum Mord des „NSU“ an Süleyman Taşköprü eingerichtet wurde. Auch das kann man im Gedächtnis behalten, wenn man dieser Tage mit der »Mitte« und den regierenden Parteien gegen Rechts demonstriert.
Felix Jacob
Die Ausstellung »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute« ist vom 19.01.2024 bis zum 18.02.2024 kostenlos in der Rathausdiele zu sehen. Öffnungszeiten:
Die Website des Forschungsprojektes »Hamburg rechtsaußen. Rechtsextreme Gewalt- und Aktionsformen in, mit und gegen die städtische Gesellschaft« ist unter https://rechtegewalt-hamburg.de/ zu erreichen.
Eine Veranstaltungsreihe der Innenrevision Kulturbetrieb fragt nach antisemitischen Weltbildern in gegenwärtigen Kunstdiskursen. Die dritte und letzte Veranstaltung findet am 30.11.2023, 19.30 Uhr in der Fabrique (Gängeviertel) statt.
Nachdem im September 2022 zwei Vertreter des indonesischen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruangrupa eine Gastprofessur an der Hamburger HfbK antraten, ist die Auseinandersetzung über die von Ruangrupa verantwortete antisemitische Kunstschau auch zu einem Streit in Hamburg geworden. Zwar gab es verdienstvolle, aber vereinzelte Proteste, zurückhaltende Ermahnungen aus der Landespolitik sowie einige wenig ergiebige Interviews und Veranstaltungen mit den Ruangrupa-Leuten. Insgesamt aber ist von Betroffenheit oder gar (Selbst-)Kritik innerhalb des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs wenig zu vernehmen. Der HfbK-Präseident Köttering lügt die von ihm initiierte Gastprofessur rückblickend zum Auslöser wichtiger »Lernprozesse« um, gar zum Beginn eines »Dialogs«: »Zum anderen ist durch die beiden DAAD-Gastprofessoren das Thema Antisemitismus im Kunstfeld nach Hamburg getragen worden, worauf wir mit vielen Veranstaltungen reagiert haben, vor allem mit dem Symposium. Damit ist es uns seit der documenta erstmalig gelungen, sehr divergente Positionen zusammen und in einen Dialog zu bringen«. Auf die Frage, ob er die Einladung wieder aussprechen würde, antwortete er entsprechend: »Das kann ich wirklich mit aller Deutlichkeit und sehr klar sagen: Ja, unbedingt! Denn es ist die Aufgabe und Pflicht von wissenschaftlichen Institutionen, sich diesen komplexen und schwierigen Diskursen zu stellen, um Lernprozesse entstehen zu lassen.« Antisemitismus geht in der Kunstwelt also weiterhin in Ordnung, so lange man dabei das Gefühl hat, mit irgendwem im Dialog zu sein. Woher kommt diese Unerschütterlichkeit – auch und gerade jenseits des offensichtlich unverbesserlichen Ruangrupa-Kollektivs?
Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Hamburg eine „Innenrevision Kulturbetrieb“ gegründet. In ihr haben sich in Kunst und Kultur Tätige zusammengeschlossen, die mit einer Veranstaltungsreihe in das beredte Hamburger Schweigen intervenieren wollen. Die Reihe untersucht anhand dreier für den gegenwärtigen Kunstbetrieb zentraler Begriffe – Kollektivität, Widerstand und Solidarität – über welche Einfallstore sich antisemitische Weltbilder im Kunstdiskurs immer wieder verbreiten können.
Die Reihe wird am 30.11. mit einer Veranstaltung zu „Widerstand“ fortgesetzt: 19.30 Uhr in der Fabrique im Gängeviertel, Valentinskamp 34a.
Die Redaktion Untiefen unterstützt diese Intervention (wie auch der Bagrut e.V., die Untüchtigen sowie der Textem-Verlag) und dokumentiert im Folgenden den Ankündigungstext der Veranstaltung.
Die feministische Revolution im Iran oder der ukrainische Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg. Widerstand wird mit emanzipatorische Bewegungen, die für Gerechtigkeit und Freiheit und gegen autoritäre oder totalitäre Machtstrukturen kämpfen, assoziiert. Gleichzeitig schaffen Widerstandsbewegungen auch klare Feindbilder, die von inneren Widersprüchen entlasteDer feministische Aufstand im Iran oder der ukrainische Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg – Widerstand wird mit emanzipatorischen Bewegungen assoziiert, die für Freiheit, Gerechtigkeit und gegen autoritäre oder totalitäre Machtstrukturen kämpfen. Gleichzeitig schaffen Widerstandsbewegungen auch klare Feindbilder, die von inneren Widersprüchen entlasten. Aus einem gerechten Anliegen kann sich ein manichäisches Weltbild entwickeln: Die Komplexität der Welt wird in Gut und Böse überführt.
Viele Arbeiten der Documenta 15 nahmen auf konkrete Widerstandsbewegungen Bezug. Auch für diejenigen, die antisemitische Weltbilder reproduzierten, war Widerstand das zentrale Motiv. Tatsächlich wurde schon der Begriff des Antisemitismus als Selbstbezeichnung einer Widerstandsbewegung erfunden. Sie richtete sich gegen die vermeintliche Macht und kulturelle Übernahme Deutschlands durch „die Juden“. Antisemitische Pogrome wurden von den Nationalsozialisten als eine Form von Widerstand dargestellt.
Aktuell wird die Terroraktion der Hamas gegen Israel am 7. Oktober 2023, der größte Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Shoah, als Widerstand für eine gerechte Sache verklärt. Das ist nicht nur im Internet und auf Straßenprotesten überall auf der Welt zu beobachten, sondern auch in Hamburg. Zahlreiche renommierte Künstlerinnen und Künstler sehen sich an der Seite dieses vermeintlichen Freiheitskampfes. Ihre Reaktionen reichen von subtiler Relativierung bis zur offenen Glorifizierung des Terrors. Auch darüber wollen wir im letzten Teil unserer Veranstaltungsreihe reden.
Veranstaltung: »Gegen den Geist des Sozialismus«. Buchvorstellung mit Olaf Kistenmacher
Wie geht eine linksradikale Kritik des linken Antisemitismus? Der Hamburger Historiker und Autor Olaf Kistenmacher stellt sein Buch über Kritik der Judenfeinschaft in der KPD der Weimarer Republik vor: 01.11.2023, 19 Uhr, Monetastr. 4.
Der mörderische Terror der Hamas und des Islamischen Jihad gegen Israel wurde am 07. Oktober in einer neuen Qualität entfesselt. Wer in diesen Tagen mit linken und linksradikalen Freund:innen und Bekannten spricht oder in den sozialen Medien aus dieser Ecke liest, sieht viel Mitgefühl, Wut, Verzweiflung angesichts des Terrors. Aber auch: Verharmlosung, Gleichgültigkeit bis hin zu offener Billigung oder gar Befürwortung für das Morden als vermeintlichem »Widerstand« oder »Befreiungskampf«. Leider ist der linke Antisemitismus, ohne den dieser Abgrund nicht möglich wäre, keine neue und keine vorübergehende Erscheinung. Wer wissen will, wie Anarchist:innen und Kommunist:innen schon in der Weimarer Republik gegen ihn kämpften und wie sie ihn kritisierten, kann das am kommenden Mittwoch erfahren. Der Hamburger Historiker und Autor Olaf Kistenmacher stellt sein neues Buch vor: »Gegen den Geist des Sozialismus. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik« (ça ira).
Der politische Bildungsverein Bagrut e.V. organisiert die Vorstellung in Kooperation mit Untiefen zu 19 Uhr in der Zentralen Bibliothek Frauenforschung, Gender & Queer Studies (Monetastr. 4). Die historische Perspektive wird auch Bezüge zum aktuellen linken Elend und zur Hamburger Geschichte ermöglichen.
Im Folgenden dokumentieren wir den Klappentext des Verlags.
Antisemitismus in der politischen Linken wurde nicht erst nach 1945 zum Thema. Die Kritik daran ist so alt wie die Sache selbst. In der Weimarer Republik waren es ehemalige Gründungsmitglieder der KPD wie Franz Pfemfert oder Anarchosyndikalisten wie Rudolf Rocker, die die antisemitische Agitation während des Schlageter-Kurses kritisierten. Mitte der 1920er Jahre warnte Clara Zetkin auf dem Parteitag der KPD vor judenfeindlichen Stimmungen an der Basis. 1929 erschien im Zentralorgan der um Heinrich Brandler und August Thalheimer gebildeten KPD-Opposition eine der ersten radikalen Kritiken des Antizionismus der KPD. Mit ihrer Kritik knüpften die anarchistischen und kommunistischen Linken an Interventionen von Rosa Luxemburg oder Leo Trotzki an und reflektierten zugleich die Entwicklung in Russland nach der bolschewistischen Revolution. Marx’ Anspruch, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, schloss für sie den Kampf gegen Antisemitismus auch in den eigenen Reihen mit ein. Ihre Kritik kam nicht nur Jahrzehnte vor der innerlinken Debatte über Antisemitismus von links, Luxemburg und Pfemfert nahmen auch Argumente der späteren antinationalen und antideutschen Linken vorweg.
Olaf Kistenmacher »Gegen den Geist des Sozialismus«. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik November 2023, 156 Seiten Französisch Broschur 20,00 €
Der Stachel sitzt: Das Bremer ›Arisierungs‹-Mahnmal ist da
In Bremen wird diesen Sonntag, 10.09., ein lang erkämpftes Mahnmal für den Raub jüdischen Eigentums im Nationalsozialismus eingeweiht. Untiefen veröffentlicht den Mitschnitt der Diskussionsveranstaltung mit dem Initiator Henning Bleyl vom letzten Jahr und erinnert an die offenen Aufgaben für Hamburg.
Die Baustelle des neuen Mahnmals in Bremen. Im Hintergrund die Zentrale von Kühne + Nagel. Foto: Evin Oettingshausen.
In Bremen kommt diesen Sonntag, den 10. September, eine lange Auseinandersetzung zu ihrem – vorläufigen – Ende. Zwischen den Weser-Arkaden und der Wilhelm-Kaisen-Brücke, in Sichtweite der Deutschlandzentrale des Logistikkonzerns Kühne + Nagel, wird ein Mahnmal zur Erinnerung an den Raub jüdischen Eigentums während des Nationalsozialismus eingeweiht. Die Nähe zu Kühne + Nagel ist gewollt: Der 1890 in Bremen gegründete, heute weltweit drittgrößte Logistikonzern hat von den hansestädtischen Transportunternehmen mit Abstand am meisten vom Raubs jüdischen Vermögens in der NS-Zeit profitiert. Mit ihrem faktischen Monopol für den Abtransport geraubten jüdischen Eigentums aus Frankreich und den Benelux-Ländern konnte Kühne + Nagel im Rahmen der sogenannten „M‑Aktion“ (M für „Möbel“) des NS-Staates große Profite machen und ihr Firmennetzwerk internationalisieren. Der Anteilseigner Adolf Maas, der den Hamburger Firmenstandort aufbaute – ein Jude – wurde 1933 aus der Firma gedrängt und später in Auschwitz ermordet.
Trotz dieser bekannten Zusammenhänge weigert sich Kühne + Nagel, vor allem in Person des Patriarchen und Firmenerben Klaus-Michael Kühne (86) bis heute beharrlich, die eigene Mittäterschaft aufzuarbeiten. Das nun fertiggestellte Mahnmal widerspricht mit der Nähe zur K+N‑Zentrale dieser speziellen Vertuschung. Es thematisiert aber zugleich die gesamtgesellschaftlichen Verdrängung des Ausmaßes der „Arisierung“ jüdische Eigentums im Nationalsozialismus. Der Entwurf von Künstler*in Evin Oettingshausen zeigt in einem leeren Raum nur Schatten geraubter Möbel – von diesem Verbrechen ist, ganz wörtlich, fast nichts zu sehen. Der Initiator der Mahnmals-Kampagne, der Bremer Journalist Henning Bleyl, schildert gegenüber Untiefen, was die Kampagne für das Mahnmal politisch erreicht hat:
„Das Mahnmal-Projekt zeigt, dass man den Anspruch auf historische Wahrheit auch gegenüber einem hofierten Investor durchsetzen kann. Es war ein langer Weg – aber jetzt führt dieser Weg zur Einweihung eines unter breiter Bremer und internationaler Beteiligung entstandenen Mahnmals an der Weser, vor Kühnes Haustür. Und das eigentliche Thema, Bremens Rolle als Hafen- und Logistikstadt bei der europaweiten ‚Verwertung‘ jüdischen Eigentums, hatte im Lauf dieses Prozesses viele Gelegenheiten, in der Gesellschaft anzukommen.“
Klaus-Michael Kühne ist natürlich auch in Hamburg kein Unbekannter. Als Sponsor und Mäzen stützt er den HSV, finanziert aber über seine Kühne-Stiftung auch das Philharmonische Staatsorchester, fördert den Betrieb der Elbphilharmonie und hob das das Harbourfront Literaturfestival aus der Traufe. Dort finanzierte er bis 2022 den jährlich vergebenen Klaus-Michael Kühne-Preis für das beste Romandebüt. Bis letztes Jahr – nach einem Anschreiben der Untiefen-Redaktion – zwei der für den Preis nominierten Autor:innen ihre Teilnahme zurückzogen. Grund war Kritik an der verweigerten Aufarbeitung der NS-Geschichte des Unternehmens Kühne + Nagel. Diese Rücktritte sorgten für einen Eklat, der einige öffentliche Kritik an Kühne nach sich zog, während er und seine Stiftung keinerlei Verständnis zeigten. Mit dem anschließenden Rückzug der Kühne-Stiftung aus der Finanzierung des Festivals und der Umbenennung des Preises wurde die Debatte nach wenigen Wochen vorläufig beendet.
Im November 2022 luden wir daher Henning Bleyl ins Gängeviertel ein, um über Kühne + Nagel und die Bremer Kampagne für ein ‚Arisierungs‘-Mahnmal zu sprechen. Wer möchte kann Henning Bleyls Vortrag und das anschließende Diskussion nun hier auf Youtube nachhören.
Die zentralen Fragen für Hamburg bleiben indes auch nach der Mahnmal-Einweihung in Bremen unbeantwortet: Warum gibt es in Hamburg keinen kritischen Umgang mit der NS-Geschichte von Kühne + Nagel? Wie könnten Erinnerung, Aufklärung und Konsequenzen aussehen? Wie kann mit Klaus-Michael Kühne als Kultursponsor umgegangen werden? Welche Probleme der privatisierten Kulturförderung stehen dahinter?
Es bleibt spannend, ob auch an der Elbe ein eindeutiges Eintreten der Stadtgesellschaft für historische Redlichkeit erreichbar ist
Die neue, 15. Ausgabe des Harbour-Front-Literaturfestivals wird am 14. September eröffnet. Bleibt bis auf den Sponsorenwechsel und die Umbenennung in Sachen Kühne + Nagel in Hamburg also alles beim schlechten Alten? Henning Bleyl äußerte gegnüber Untiefen die Erwartung, dass auch hier etwas passiert: „Es bleibt spannend, ob auch an der Elbe ein eindeutiges Eintreten der Stadtgesellschaft für historische Redlichkeit erreichbar ist – trotz des von Kühne aufgewendeten enormen kulturellen und gesellschaftlichen Kapitals. Denn das Eigentum der jüdischen Familien, das Kühne + Nagel im Rahmen der ‚Aktion M‘ aus den besetzten Ländern abtransportierte, wurde natürlich auch in Hamburg sehr bereitwillig von großen Teilen der Bevölkerung ‚übernommen‘. Die Stadt profitierte in großem Stil von der Flucht jüdischer Menschen, deren Eigentum im Hafen zurückblieb, statt verladen zu werden. Ich bin gespannt, welchen Umgang Hamburg mit diesem Erbe findet.“
Wie die Bremer Initiative erfolgreich wurde, lässt sich in dem Mitschnitt von Bleyls Vortrag nachhören. Die Einweihung des Bremer Mahnmals findet am Sonntag, 10.09., um 11 Uhr direkt vor Ort statt. Ab 18 Uhr folgt ein öffentliches Vortrags- und Diskussionsprogramm in der Bremischen Bürgerschaft.
„Der Antifeminismus hat heute eine Scharnierfunktion“
Mit Feminismus kann heute Staat gemacht werden. Zugleich scheinen antifeministische Positionen in den Mainstream vorzudringen. Und auch die Gewalt gegen Frauen, Lesben, Inter- und Transpersonen sowie Agender nimmt zu. Der Sozialwissenschaftler Florian Hessel forscht zu Antifeminismus, Antisemitismus und Verschwörungsvorstellungen, und ist Mitglied des politischen Bildungsvereins Bagrut e.V. Im Gespräch mit Untiefen erklärt er, wie Antifeminismus heute funktioniert und wer ihn in Hamburg verbreitet.
Florian Hessel beim Interview in der Zentralen Bibliothek Frauenforschung, Gender und Queer Studies. Foto: Untiefen
Untiefen: Lieber Flo, Du hast Ende Juni in der Zentralen Bibliothek Frauenforschung, Gender und Queer Studies zusammen mit Rebekka Blum sowie mit Hamburg vernetzt gegen Rechts eine Veranstaltung organisiert unter dem Titel „Antifeminismus (als antidemokratische Herausforderung) – Alltag und politische Mobilisierung in Hamburg”. Wir würden dazu gern ein paar Fragen vertiefen und eure Einschätzungen in Bezug auf Hamburg auch jenseits der Veranstaltung zugänglich machen. Zunächst würde uns aber interessieren wie Du eigentlich, persönlich und als Sozialwissenschaftler, zum Thema Antifeminismus gekommen bist?
Florian Hessel: Dafür war einerseits ein persönlicher Kontakt wichtig: Meine Vereinskollegin Janne Misiewicz hat ihre Bachelorarbeit über die Beziehung von Antifeminismus und Antisemitismus geschrieben und wir haben viel diskutiert und uns dann entschlossen, dazu gemeinsam einen Text zu schreiben. Auf der anderen Seite ist Antifeminismus ganz allgemein in den letzten 10 Jahren viel sichtbarer und wirkmächtiger geworden. Die Gründung und Entwicklung der AfD ist ein Grund dafür, aber viele andere Entwicklungen spielen mit hinein. Und als Person, als Wissenschaftler, der sich im progressiven Spektrum und als Feminist verortet, fühle ich mich auch verpflichtet, jeder Form von Menschenfeindschaft entgegen zu treten.
Untiefen: Ihr habt bei der Veranstaltung ja sicher nicht zufällig den Begriff „Antifeminismus“ in den Mittelpunkt gestellt, und nicht etwa Frauenfeindschaft oder Sexismus. Warum habt ihr diesen Fokus gewählt und was verstehst Du, was versteht ihr unter Antifeminismus?
Hessel: Ich würde die Begriffe erstmal grundsätzlich so sortieren: Sexismus bezieht sich immer in irgendeiner Form auf geschlechtsbezogene Unterschiede, aber nicht zwangsläufig auf Frauen. Das kann positiv oder negativ formuliert werden. Die klassischen Aussagen, also etwa, dass Frauen emotionaler seien und Männer sachlicher und so weiter, schränken – jetzt allein auf die Individuen bezogen – Menschen gleichermaßen ein, zum Beispiel wenn man sich als Mann versteht und dann meint, keine Gefühle zeigen zu dürfen.
Frauenfeindschaft und Antifeminismus hingegen richten sich immer gegen Frauen. Voneinander unterscheiden lassen sie sich am besten historisch. Frauenhass begleitet die gesamte Zivilisationsgeschichte, seit es patriarchale Geschlechterordnungen gibt. Antifeminismus ist dagegen ein modernes Phänomen. Ursprünglich richtete er sich gegen den Kampf für das Frauenwahlrecht und die Gleichberechtigung von Frauen im Kaiserreich. Die deutsche Publizistin Hedwig Dohm hat mit ihrer Streitschrift „Die Antifeministen“ (1902) in diesem Zusammenhang den Begriff erstmals geprägt. Grundsätzlich definiert haben ihn dann Forscher:innen wie Herrad Schenk in den 1980er Jahren und Ute Planert in den 1990ern. Die Beschreibung, auf die man sich wissenschaftlich einigen kann, ist, dass Antifeminismus eine Reaktion auf Bemühungen um Gleichberechtigung im Geschlechterverhältnis ist. Diese Definition bezieht sich also zum einen auf das Geschlechterverhältnis. Das mag uns zwar als traditionell und althergebracht erscheinen. Aber was wir heute darunter verstehen, ist erst in der Moderne entstanden, also die bürgerliche Kernfamilie, die normativ aufgeladene Arbeitsverteilung, die damit verbundenen Geschlechterrollen und Rollenstereotype und so weiter. Zum anderen geht es um die politischen Kämpfe um Gleichstellung, die auch ein Phänomen der Moderne sind. Antifeminismus bezieht sich also ganz und gar auf die moderne, kapitalistische Gesellschaft und die emanzipatorischen Tendenzen in ihr. Als politische Bewegung richtet er sich offen gegen Gleichberechtigungsbemühungen. Ein historisches Beispiel ist der „Bund zur Verhinderung der Frauenemanzipation“ im Kaiserreich. Auch heute gibt es solch einen organisierten Antifeminismus, das hat etwa in der Gründung der AfD eine wichtige Rolle gespielt. Noch wichtiger als den Blick auf Antifeminismus als politische Bewegung finde ich aber, ihn auch als ein spezifisches Ressentiment zu verstehen. Also als eine mit bestimmten Emotionen und Affekten aufgeladene und in verschiedenen Ausprägungen auftretende, projektive Ablehnung der Verunsicherung und des Unbehagens im Geschlechterverhältnis in der Moderne.
Untiefen: Du unterscheidest also zwischen dem Ressentiment als Massenphänomen und dem organisierten Antifeminismus, also den Leuten, die sich politisch unter diesem Banner zusammenfinden. Gibt es denn, auch in Hamburg, so etwas wie eine antifeministische Szene? Im Sinne von Leuten wie etwa Yannic Hendricks, die vor der Abschaffung des § 219a Ärzt:innen angezeigt haben, die Abtreibungen durchführen? Oder sind das in erster Linie rechtsextreme Strukturen, die auch antifeministisch sind? Wie würdest Du das einschätzen?
Hessel: Es gibt diese organisierten Strukturen, auch in Hamburg. Das genannte Beispiel ist ein klassisch antifeministischer, frauenfeindlicher Akteur. Zuerst aber: Gewalt gegen Frauen ist, auch in Hamburg, weit verbreitet. Für 2021 wurden etwa 5000 Fälle von – teilweise schwerer – Gewalt gegen Frauen gezählt. Und bei den Hamburger Frauenhäusern suchen im Schnitt 4 Frauen pro Tag Hilfe, zugleich sind die Häuser durchschnittlich zu 95 % belegt. Also oft vollkommen ausgelastet. Daher wird ja auch schon länger ein weiteres Frauenhaus gefordert. Hoffentlich kommt das auch bald zu Stande.
Bevor wir zu konkreten antifeministischen Akteur:innen in Hamburg kommen, ist es denke ich wichtig noch etwas Kontext herzustellen: Eine Besonderheit von Ressentiments heute ist, dass sich fast niemand offen zu ihnen bekennt. Niemand will Rassist oder Antisemit sein. Bei Antifeminismus ist das etwas anders: Er wird in der Öffentlichkeit nur sehr selten als Ressentiment benannt, das Problem ist wenig bekannt. Bestimmte Schlagwörter wie „Gendergaga“, „Genderismus“ oder „Frauenlobby“ sind in der Öffentlichkeit ziemlich frei im Umlauf, z.B. als Clickbait bei Spiegel Online oder als Signalwörter in sozialen Medien. Antifeminismus hat daher heute eine starke Integrations- und Scharnierfunktion, organisatorisch aber auch ideologisch. Die Politikwissenschaftlerin Juliane Lang oder auch die Soziologin Rebekka Blum haben das gut herausgearbeitet, sie sprechen auch von einer „Brückenideologie“. Das heißt einmal, Antifeminismus tritt heute meistens nicht allein auf, sondern verbunden mit anderen antimodernen Ressentiments. Wie diese Verschränkungen in Bezug auf Antifeminismus und Antisemitismus, aber auch Verschwörungsvorstellungen funktionieren, haben Janne Misiewicz und ich – hoffentlich anschaulich – an einem exemplarischen Fall analysiert. Der Kern ist in jedem Fall die Behauptung, gesellschaftliche Veränderungsprozesse oder soziale Bewegungen seien mindestens von außen manipuliert, würden vielleicht gar als Instrumente zu anderen Zwecken erzeugt. Damit einher geht die Schaffung entsprechender, meist personal identifizierbarer Feindbilder.
Weiter wird Antifeminismus – wie gesagt – vor allem durch Chiffren und Schlagwörter kommuniziert. Ein Schlagwort wie „Gendergaga“ wirkt dann wie ein Scharnier zwischen Spektren, von der extremen, neonazistischen, völkischen oder Neuen Rechten bis tief in die sogenannte bürgerliche Mitte hinein. Man meint nicht immer genau das Gleiche, aber man kann sich auf eine gewisse Grundlage einigen. Unter anderem darauf, dass man heute das Geschlechterverhältnis und „die Familie“ vor „dem Feminismus“ in Schutz nehmen müsse. Dass also die Emanzipation weitgehend realisiert sei und nun aber zu weit gehe, sich jetzt gegen die Frauen selbst richte. Die Scharnier- und Integrationsfunktion ist in dieser Form eine Besonderheit des Antifeminismus heute, auch daher findet man wenig originär antifeministische Akteur:innen.
Am nächsten kommt dem in Hamburg die AfD. Andreas Kemper oder auch Juliane Lang weisen schon seit der Parteigründung darauf hin, dass der organisierte Antifeminismus eine zentrale Säule dieser Partei ist – ideologisch und organisatorisch. Das zeigt sich etwa an den kleinen Anfragen der AfD Bürgerschaftsfraktion. 2019 fragte etwa der damalige Abgeordnete Harald Feineis den Senat, wann auch in Hamburg Mutter und Vater zu „Elternteil 1“ und „Elternteil 2“ gegendert würden (Drucksache 21/17515). Kleine Anfragen sind natürlich ein wichtiges parlamentarisches Instrument, aber sie dienen der AfD auch dazu, Strukturen und Institutionen zu beschäftigen und politische Punkte vorzubringen. Die Stimmungsmache gegen die angebliche Rede von „Elternteil 1“ und „Elternteil 2“ ist – neben dem grundsätzlichen Lächerlichmachen realer Diskussionen um Formen geschlechtergerechter Sprache – für verschiedene Rechte anschlussfähig. Sie ist etwa auch ein zentraler Talking point von Vladimir Putin. Wie er setzt die AfD-Anfrage schon voraus, dass es da so etwas wie eine Agenda gibt, Mutter und Vater durch geschlechtsneutrale Bezeichnungen zu ersetzen und fragt nur noch: Wann wird das passieren?
Untiefen: Und leider war die Antwort des Senats nicht: Danke, dass sie fragen, das wird dann und dann passieren – sondern gewohnt einsilbig.
Hessel: Ja, genau, der Senat sagt nur: „Die zuständige Behörde hat sich damit noch nicht befasst. Der zuständigen Behörde liegen keine Daten entsprechend der Fragestellung vor.“
In derselben Anfrage fragte Feineis den Senat: „Mit welchen geschlechtsneutralen Sprach- und Wortkreationen beschäftigen sich die bei der Hansestadt angestellten Mitarbeiter, vor allem jene im ‚Zentrum Genderwissen‘ [sic!] aktuell?“. Das Zentrum GenderWissen war der Vorgänger des Zentrums Gender und Diversity, zu dem die Bibliothek gehört, in der wir hier gerade sprechen. Diese Anfragen landen dann bei den Mitarbeiter:innen, die sich dann mit der Beantwortung befassen müssen. Mit dem Ergebnis: „Dem Senat ist derzeit keine Beschäftigung des Zentrums Genderwissen [sic!] mit dem Thema ‚geschlechterneutrale Sprache‘ bekannt.“ Von diesen Anfragen zu Geschlechterforschung und Gleichstellungspolitik gibt es Dutzende, die gehen mittlerweile wahrscheinlich in den dreistelligen Bereich. Ebenso in anderen Bundesländern und im Bundestag.
Ein weiterer wichtiger Akteur mit Scharnierfunktion ist zumindest ein Teil der CDU. Der ehemalige Landesvorsitzende Christoph Ploß hat sich da ja sehr hervorgetan. Zum Auftakt des letzten Bundestagswahlkampfs gab es in Hamburg einen Parteitag unter seiner Führung. Hauptthema war die Forderung, „Gendersprache“ zu verbieten. Der Hintergrund war derselbe wie bei der kleinen Anfrage der AfD, nämlich, dass der Senat den Hamburger Behörden erlaubt hat, gendersensible oder genderneutrale Anreden zu verwenden. Die CDU hat daraus gemacht: Hier soll uns etwas verboten werden – das gehört verboten. In dieser Konstellation, dieser Verkehrung, liegt eine anschauliche Illustration der projektiven Logik von Ressentiments. Das zielte ganz eindeutig auf eine öffentliche Wirkung, auf Affekte und Emotionen. Die wollte man mobilisieren und in Wählerstimmen ummünzen.
Bei der CDU ist das ziemlich instrumentell gedacht. Man hat das auch jetzt im Frühjahr gesehen, bei der berüchtigten Hamburger „Volksinitiative gegen das Gendern in Schulen und Behörden“. Die CDU hat sich einerseits von der Organisatorin Sabine Mertens distanziert, weil die rechtsoffen und homophob auftritt. Zugleich aber will sie von der Initiative und den dadurch erhofften Wählerstimmen nicht ablassen. Sie versucht also von den Affekten zu profitieren, diesem „Man will uns hier von oben etwas aufdrücken“.
Schließlich noch zu den aktivistischen Milieus: Das sind einzelne Personen oder kleine, oft eher lose Gruppen, angefangen mit den bereits von Dir erwähnten Abtreibungsgegner:innen oder christlich-fundamentalistischen Gruppierungen. Die scheinen mir allerdings für Hamburg keine besondere Bedeutung zu haben. Wichtiger sind da gerade Zusammenhänge wie das überschaubare Netzwerk von Personen, das aktuell die Initiative gegen „Gendersprache“ betreibt. Eine ähnliche Struktur hat auch die Querdenken-Szene, und hier wurden antifeministische Topoi im bundesweiten Vergleich in Hamburg sehr stark bedient. Dazu gibt es einen aktuellen Bericht, verfasst unter anderem von Larissa Denk. Vor allem über die schon klassisch zu nennende Chiffre der Kinder, die vor Masken und Pandemiemaßnahmen geschützt werden müssten – oder auch vor staatlichen Schulen und dem, was dort über Geschlecht und Sexualität gelehrt wird. Das zeigte sich dann an Initiativen wie „Eltern stehen auf“. Die knüpft an einen der Kristallisationspunkte des organisierten Antifeminismus in Deutschland an. In den Jahren 2014/2015 entstand aus der Agitation gegen den Bildungsplan in Baden-Württemberg die Bewegung „Demo für alle“. Diese „besorgten Eltern“ richteten und richten sich gegen eine vermeintliche „Frühsexualisierung“ und „Genderisierung“.
Trieb auch in Hamburg sein Unwesen: Der antifeministische Aktivist Yannic Hendricks. Foto: Hinnerk11 Lizenz: CC BY-SA 4.0
Untiefen: Eine tragende Säule ist der Antifeminismus also bei den politischen Parteien eigentlich nur bei der AfD. Auch die Taz hat die CDU im Zusammenhang mit der Volksinitiative gegen „Gendersprache“ als „nützliche Idioten“ statt als Überzeugungstäter bezeichnet. Und sicher stimmt es, dass der Hamburger Landverband liberal ist. Aber: historisch hat das die CDU ja nicht abgehalten – siehe die von Beus/Schill-Koalition 2001–2003 – sich von populistischen radikalen Rechten zur Macht verhelfen zu lassen.Wenn wir momentan von einem Stimmen- und Machtzuwachs der AfD ausgehen müssen: Könnte es sein, dass die CDU den Antifeminismus in Zukunft stärker als Thema (wieder-)entdecken wird? Eben weil er diese Scharnierfunktion hat? Oder ist da das liberale Selbstverständnis doch zu wirksam?
Hessel: Liberal bedeutet bei der Hamburger CDU ja vor allem wirtschaftsliberal – im Sinne von: was gut für Hafen und Handel ist, ist gut für die Stadt.
Untiefen: Auch wenn das heißt, dass z.B. Frauen mit Kindern beim Container-Hafenbetrieb Eurokai Teilzeitarbeit systematisch verwehrt wird.
Hessel: Ja. Aber die CDU vertritt dennoch einen modernisierten Konservatismus. Das ist ja eine der Errungenschaften der deutschen politischen Landschaft nach 1945: Bestimmte Traditionslinien der großen konservativen politischen Parteien konnten wirklich abgeschnitten werden. Für Hamburg teile ich die Einschätzung der Taz, dass der aktuelle Vorsitzende, Dennis Thering, kein Interesse an einer antifeministischen Positionierung hat. Aber dennoch will man es sich mit diesem Wählerpotential nicht verscherzen. Man manövriert, man versucht es nicht zu offensiv anzugehen, will sich diese Themen aber auch nicht ganz nehmen lassen, weil es dann doch ein bestimmtes interessiertes Milieu gibt, das CDU wählt oder vermeintlich wählen könnte.
Bei der Bundes-CDU gibt es dagegen sehr deutliche Zeichen, dass das antifeministische Ticket stärker gezogen werden wird. Äußerungen von Friedrich Merz, aber auch die Rede von Claudia Pechstein lassen das erkennen. Das versucht einen recht weit verbreiteten liberalen, besser vielleicht: libertären Antiliberalismus zu mobilisieren: Hier würde „dem Volk“ von „den Eliten“ in Berlin etwas aufgedrückt und das Leben miesgemacht. Wir sehen hier auch wieder die schon erwähnte Verschränkung und Vermischung mit Elementen anderer Ressentiments, von Intellektuellenfeindlichkeit etwa, Verschwörungsvorstellungen und zumindest die Anschlussfähigkeit an einen gewissen latenten Antisemitismus. Markus Söder hat schon im Frühjahr gegen eine „Woke-Ideologie“ gewettert und gesagt: „Wir brauchen keine Gedankenpolizei, sondern mehr Polizei auf den Straßen.“ Solche Aussagen zeigen schon in ihrer Formulierung, man mobilisiert autoritäre Bedürfnisse en gros, gegen die Verunsicherungen und Herausforderungen einer pluralistischen, diversen, heterogenen Gesellschaft.
Untiefen: Weshalb er dann auch die Grünen als politischen Hauptfeind darstellt, statt die AfD, die ja politisch offensichtlich die viel größere Bedrohung für die CDU/CSU ist.
Hessel: Genau. Und das ist nicht einmal strategisch klug. Die AfD ist mittlerweile eine etablierte Partei und kann mit einem gewissen Erfolgsversprechen locken. Gerade wenn Menschen zwar gefühlt rebellieren wollen, aber sich immer von Autoritäten und „der Mehrheit“, vom „Wir“ gedeckt sehen wollen, warum sollten die in dieser Konstellation CDU wählen statt AfD? Der gefährliche Effekt wird vielmehr eine weitere Normalisierung autoritärer Haltungen und Ideologiefragmente sein.
Untiefen: Wenn wir nochmal auf die Massenebene schauen: Anhand welcher Indikatoren kann man ablesen, dass Antifeminismus als Alltagsphänomen zunimmt? Und: Was gibt er eigentlich den Leuten, warum verfängt dieses Ressentiment immer wieder?
Hessel: Seit der vorletzten Leipziger Autoritarismusstudie werden zum ersten Mal explizit antifeministische Einstellungen abgefragt. Zum Beispiel durch Zustimmung zu Aussagen wie: „Frauen machen sich in der Politik häufig lächerlich.“ Herausgekommen ist, dass aktuell 25 % der Befragten ein zusammenhängendes, antifeministisches Weltbild haben, bei Männern ist es jeder Dritte. Die Zustimmung zu einzelnen Items ist teilweise noch höher. Wir können das aber auch ablesen an der Zunahme alltäglicher, frauen- oder transfeindlicher Gewalt – über ein paar Zahlen haben wir ja schon kurz gesprochen – und an der Zunahme bestimmter Veröffentlichungen und öffentlicher Diskussionen, z.B. um gendersensible Sprache. Und nicht zuletzt eben am Erfolg der AfD, für die Antifeminismus von Beginn an zentral war.
Zur Frage, was es den Leuten gibt: Wie in allen Ressentiments findet hier eine Umkehrung oder Verschiebung statt. Konkret: Statt der Verunsicherung und dem Unbehagen im Geschlechterverhältnis wird die Beschäftigung damit zum eigentlichen Problem erklärt. Zum Beispiel in Form der Gender Studies, über die Chiffre „der Feminismus“, mit den Codes und Schlagwörtern, über die wir bereits gesprochen haben. Es wird also auf eine autoritäre, projektive Weise auf gesellschaftliche Widersprüche und Krisentendenzen der modernen kapitalistischen Gesellschaft reagiert. Man benennt angeblich Schuldige und versucht, das ganz reale Unbehagen durch eine „Rückkehr“ zu einer Ordnung zu beseitigen, die es so nie gegeben hat. Die vorherrschenden Vorstellungen von der bürgerlichen Kernfamilie – Vater, Mutter, gemeinsame Kinder, verheiratet, mit klarer Ordnung von Autorität und Macht – entsprechen seit etwa 30 Jahren zunehmend weniger der Realität. Familienformen haben sich vervielfältigt. Das hat natürlich emanzipatorische Momente, ist aber zugleich für uns alle auch höchst verunsichernd. Dahinter steht ja auch eine gesellschaftliche Veränderung, oft eine Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und Berufsbiographien, generell eine Umverteilung von Bildungsressourcen, von Lebenschancen und von Reichtum auf immer weniger Menschen.
Darauf reagiert Antifeminismus, deshalb sind Menschen auch jenseits ultrakonservativer Milieus für ihn empfänglich. Wie jedes Ressentiment kann allerdings auch der Antifeminismus das Versprechen einer stabilen, beruhigenden Ordnung nie erfüllen. Das Geschlechterverhältnis, so hat es Rebekka Blum treffend in unserem Podiumsgespräch formuliert, ist ja immer in der Krise, da bleibt also immer eine offene Wunde. Agitatoren wollen diese Wunde auch offen halten, die Unruhe immer wieder aufwühlen und diese Energien dann in ihrem eigenen Interesse lenken.
Untiefen: Leo Löwenthal hat das mal so ausgedrückt, dass das Unbehagen wie ein Juckreiz ist, und statt zu einer heilenden Therapie rät der Agitator zum Kratzen, was den Juckreiz noch steigert.
Hessel: Ja, genau!
Untiefen: Wir haben jetzt über rechten und bürgerlichen Antifeminismus gesprochen. Wie steht es mit Antifeminismus in migrantischen Communities, wo es patriarchale, konservative Strömungen des Islam gibt? Das ist sicher von der Zahl der Anhänger:innen und vom Mobilisierungspotential her deutlich kleiner, zugleich gibt es da doch viel offenere und umfangreichere patriarchale Ansprüche. Wenn wir allein an die Islamisten vom IZH an der Außenalster denken, die das patriarchale Regime im Iran stützen, aber auch hier Iraner:innen bedrohen, die feministisch kämpfen. Oder an das Al-Azhari Institut in St. Georg mit dem Imam Mahmoud Ahmed, der durch krass patriarchale Predigten aufgefallen ist, und wo es Demos gab mit separaten Frauenblöcken etc. Wie würdest Du das im Verhältnis zum rechten Antifeminismus einschätzen? Ist der zurecht als größeres Problem stärker auf dem Schirm? Oder sollten wir uns mehr auch um den islamischen Antifeminismus kümmern und das im Blick behalten?
Hessel: Ich bin leider kein wirklicher Kenner der islamistischen Szene in Hamburg. Aber ich glaube, das ist ein großes Problem. Wenn etwa die Hizb ut-Tahrir oder ihre Frontorganisationen es schaffen, über Jahre in Hamburg immer wieder Demos im dreistelligen oder gar vierstelligen Bereich zu organisieren, dann muss einem das zu denken geben. Frauenfeindschaft ist ein Kernbestandteil jedes Islamismus, jedes politischen Islam, dazu kommt der Antifeminismus, als Verlängerungen dessen auch Schwulenfeindlichkeit, Transfeindlichkeit, Ressentiments gegen queere Menschen. All das stabilisiert patriarchale Herrschaft. Selbst der österreichische Verfassungsschutz hat kürzlich explizit davor gewarnt, dass sich extrem rechte und islamistische Akteure bis hin zur terroristischen Szene – zusätzlich zum Judenhass – genau darauf einigen können: auf Queer- und Transfeindlichkeit, Schwulenfeindlichkeit und Antifeminismus. Ich glaube nicht, dass sich da offene Allianzen ergeben werden, zumindest nicht in Hamburg. Aber als ein Hintergrundrauschen gibt das zu denken. Erst vor einigen Monaten wurden ja in Hamburg islamistische Anschlagspläne aufgedeckt und verhindert. Andere, rechtsterroristische, zumindest durch Antifeminismus mit grundierte Attentate konnten nicht verhindert werden, etwa der Anschlag auf die Versammlung der Zeugen Jehovas in Alsterdorf im März. Es kann jederzeit zu auch explizit antifeministischen Anschlägen in Hamburg kommen. Wer immer sich feministisch engagiert, ist in den Köpfen von extrem rechten, islamistischen und anderen Antifeministen ein legitimes Ziel.
Dagegen wäre es wichtig, die gerade stattfindenden Kämpfe gegen patriarchale Herrschaft aller Art mehr wahrzunehmen und zu unterstützen, allen voran etwa für mehr Schutzräume wie Frauenhäuser, aber eben auch den Kampf der Deutsch- und Exil-Iraner:innen in Hamburg.
Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Kollektivität
Eine Veranstaltungsreihe der Innenrevision Kulturbetrieb fragt nach antisemitischen Weltbildern in gegenwärtigen Kunstdiskursen. Die Auftaktveranstaltung findet am 03.05.2023, 19.30 Uhr im BARBONCINO zwölphi statt.
Im September 2022 traten zwei Vertreter des indonesischen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruangrupa eine Gastprofessur an der Hamburger HfbK an. Seitdem ist die Auseinandersetzung über die von Ruangrupa verantwortete antisemitische Kunstschau auch zu einem Streit in Hamburg geworden. Bisher gab es zwar verdienstvolle, aber vereinzelte Proteste, zurückhaltende Ermahnungen aus der Landespolitik sowie einige wenig ergiebige Interviews und Veranstaltungen mit den Ruangrupa-Leuten. Insgesamt aber ist von Betroffenheit oder gar (Selbst-)Kritik innerhalb des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs wenig zu vernehmen. Woran liegt das – auch und gerade jenseits des offensichtlich unverbesserlichen Ruangrupa-Kollektivs?
Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Hamburg eine „Innenrevision Kulturbetrieb“ gegründet. In ihr haben sich in Kunst und Kultur Tätige zusammengeschlossen, die mit einer Veranstaltungsreihe in das beredte Hamburger Schweigen intervenieren wollen. Die Reihe untersucht anhand dreier für den gegenwärtigen Kunstbetrieb zentraler Begriffe – Kollektivität, Widerstand und Solidarität – über welche Einfallstore sich antisemitische Weltbilder im Kunstdiskurs immer wieder verbreiten können.
Die Reihe beginnt am 03.05. mit einer Veranstaltung zu „Kollektivität“.
Die Redaktion Untiefen unterstützt diese Intervention (wie auch der Bagrut e.V., die Untüchtigen sowie der Textem-Verlag) und dokumentiert im Folgenden den Ankündigungstext der Veranstaltung.
Weitere Informationen zu den folgenden Veranstaltungen werden zu gegebener Zeit hier auf Untiefen und auf dem Instagramaccount der Innenrevision Kulturbetrieb veröffentlicht.
Zahlreiche antisemitische Darstellungen auf der Documenta 15 haben einen seit Jahren schwelenden Konflikt in die breite Öffentlichkeit geholt – und altbekannte Frontbildungen verschärft. Mittlerweile kann ohne Übertreibung von einem Kulturkampf gesprochen werden. Gestritten wird über eine vermeintliche Konkurrenz zwischen der Erinnerung an die Shoah und der Erinnerung an deutsche Kolonialverbrechen. Gestritten wird nicht zuletzt auch über das jeweilige Verhältnis zu Israel. Spätestens durch die Berufung zweier Mitglieder des Künstlerkollektivs Ruangrupa an die HFBK ist dies auch ein Hamburger Streit. Gerade im Kunstfeld wird er vehement geführt. Das lässt die Frage aufkommen, ob zentrale Begriffe in der aktuellen Selbstbeschreibung künstlerischer Praxis nicht selbst ideologische Elemente enthalten, die gewollt oder ungewollt antisemitische Weltbilder reproduzieren. Anhand der Begriffe Kollektivität, Solidarität und Widerstand stellen sich die Gäste unserer dreiteiligen Veranstaltungsreihe dieser wichtigen, aber in der bisherigen Debatte vernachlässigten Frage.
Soviel steht fest: Kollektivität liegt im Trend. Noch nie gab es so viele künstlerische Kollektive wie heute. Sie gewinnen renommierte Preise, leiten Theater, Biennalen und Großereignisse wie die Documenta 15. Ihre Popularität verdanken sie einem Versprechen: Basisdemokratisch und anti-hierarchisch, gerecht und inklusiv sollen sie sein, nahbar und zum Mitmachen anregend. Über globale Grenzen hinweg und gleichzeitig lokal verbunden gelten sie als Wegweiser zu einer neuen solidarischen Sharing-Ökonomie, von der alle profitieren. Auf grundlegende Veränderungen der Gesellschaft – so die verbreitete Vorstellung – reagieren heutige Kollektive mit einer grundlegenden Veränderung der Kunst. Sie integrieren politischen Aktivismus, um gesellschaftlichen Fortschritt anzustoßen. Aber geht diese Rechnung auf? Welches Weltbild entwirft die Idee des Kollektivs in der zeitgenössischen Kunst? Was sind die problematischen Implikationen der damit verbundenen Vorstellung von Gemeinschaft und kultureller Identität?
Es diskutieren:
- Tina Turnheim (Theatermacherin, Institut für Neue Soziale Plastik)
- Ole Frahm (Bildtheoretiker, Comicexperte und Mitglied des Künstlerkollektivs Ligna)
Am 21. Dezember jährt sich der Mord an Ramazan Avcı in Hamburg. Die Gewalttat steht auch für die zugespitzten Auseinandersetzungen um Migration und Rassismus in der Bundesrepublik während der 1980er Jahre. Rassistische Straßengewalt war brutaler Ausdruck dieser Entwicklung.
Gedenkveranstaltung für Ramazan Avcı. Foto: Ramazan-Avcı-Initiative.
Am 21. Dezember 1985 wartete der Arbeiter Ramazan Avcı mit seinem Bruder und einem Freund an einer Bushaltestelle bei der S‑Bahnstation Landwehr in Hamburg. Es war Avcıs 26. Geburtstag und die drei waren auf dem Nachhauseweg. Als einige junge rechte Skinheads, die sich vor dem Eingang einer nahegelegenen Kneipe aufhielten, auf die türkischen Männer aufmerksam wurden, beschlossen sie spontan, die Wartenden anzugreifen. Die erste Attacke konnten Avcı und seine Begleiter noch mit Reizgas abwehren, doch die laut Presseberichten 30-köpfige Skinheadgruppe kehrte kurz darauf bewaffnet zurück. Während seine Begleiter sich in einen Linienbus retten konnten, rannte Avcı in Panik auf die Fahrbahn, wo ihn ein Autofahrer anfuhr. Den am Boden Liegenden traktierten die Angreifer mit Knüppeln. Er starb drei Tage später auf einer Hamburger Intensivstation an den Folgen eines Schädelbruchs.
Die Täter waren Mitglieder der berüchtigten »Lohbrügge Army«. Diese Skinheadgruppierung, benannt nach einem Hamburger Stadtteil, gehörte der Hooliganszene um den HSV an. Für viele Beobachter:innen war sofort klar, dass es sich um eine rassistische Gewalttat handelte. Der Vorfall war nicht der erste rechte Mord in Hamburg und Umgebung. Im August 1980 hatten neonazistische Terrorist:innen bei einem Brandanschlag in der Halskestraße zwei Geflüchtete aus Vietnam getötet. In Norderstedt, einem Vorort Hamburgs, hatte am 19. Juni 1982 ein rassistischer Mob den 26-jährigen Tevfik Gürel angegriffen und tödlich verletzt. Wiederum rechte Skinheads hatten am 24. Juli 1985 in Hamburg-Langenhorn den jungen Bauarbeiter Mehmet Kaymakçı auf brutale Weise erschlagen.
Ramazan Avcı. Foto: Ramazan-Avcı-Initiative.
Indes folgte erst auf den Mord an Ramazan Avcı im Dezember 1985 eine aufbrausende öffentliche Reaktion. Intensive Presseberichterstattung, Bürgerschaftsdebatten und eine Demonstration anlässlich des Todes Avcıs deuten darauf hin, dass die Auseinandersetzungen um Migration und Rassismus eine neue Qualität erlangt hatten. Tatsächlich brodelte es in Hamburg und der Bundesrepublik der 1980er Jahre um diese Themen, während rassistische Gewalttaten zunahmen. Im weiteren Verlauf des Jahrzehnts spitzte sich dieser widersprüchliche Diskurs zu, zumal die Zugewanderten mit ihren Stimmen gesellschaftlich mehr und mehr empordrängten und ihre Rechte einforderten.
Die doppelte Transformation der Bundesrepublik
Seit der ersten Hälfte der 1970er machten die westlichen Länder eine krisenhafte Wandlung durch, die den Beginn der neoliberalen Epoche markierte. Mit der Abwicklung weiter Teile der Industrie galten die Arbeitskräfte, die die Bundesregierung seit den 1950ern und 1960ern vor allem aus der Türkei, Griechenland und Italien angeworben hatte, als wirtschaftlich überflüssig. Für große Teile der Öffentlichkeit schienen sie außerdem zunehmend die vermeintliche ethnische Homogenität Deutschlands zu stören. »Überfremdung« war das rassistische Schlagwort der Stunde. Die Regierungen Helmut Schmidts und Helmut Kohls versuchten daher, die »Gastarbeiter:innen« mit Geldprämien zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu bewegen. Diese Rückführungspolitik verkehrte Kohls Parole »Deutschland ist kein Einwanderungsland« jedoch in ihr Gegenteil. Vor die Wahl gestellt, machten die meisten Arbeitsmigrant:innen die Bundesrepublik zu ihrem dauerhaften Zuhause und holten ihre Familien nach. Hinzu kam eine wachsende Zahl von Asylsuchenden. Allein 1985 waren es 100.000 Anträge, auch wenn Bonn eine immer restriktivere Asylpolitik betrieb.
Im Jahr 1986 lebten in Westdeutschland 4,5 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Sie sollten die deutsche Gesellschaft nachhaltig prägen, blieben als »Ausländer:innen« jedoch vorerst Bürger:innen zweiter Klasse. Die Rassismuswelle dieser Jahre ist also vor dem Hintergrund einer Phase der doppelten Transformation zu sehen. Erstens begann sich die Bundesrepublik zu einer neoliberalen Dienstleistungsgesellschaft zu wandeln, was starke sozioökonomische Friktionen verursachte. Von der hohen Arbeitslosigkeit waren vor allem die »Gastarbeiter:innen« betroffen. Zweitens bildete sich das Land zunehmend als pluralistische und liberale, aber widersprüchliche Einwanderungsgesellschaft heraus, die das traditionelle nationale Selbstverständnis herausforderte.
Die Baseballschlägerjahre begannen vor 1990
Die Migrationsabwehr der Bonner Regierungen konnte sich der rassistischen Zustimmung breiter Bevölkerungsteile sicher sein. Diese Konjunktur drückte sich besonders scharf in einer vielseitigen rechten Mobilisierung aus, die auch die Hansestadt erfasste. Dazu zählten die erwähnten Gewalttaten, aber auch das Auftreten verschiedener Organisationen. Im Jahr 1982 gründete sich aus dem Umfeld der NPD eine »Hamburger Liste Ausländerstopp«, die bei den Bürgerschaftswahlen antrat und ähnlichen Parteien in anderen Bundesländern als Vorbild diente. Die seit 1979 existierende rechtsextreme »Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei« (FAP) wurde 1983 vom bekannten Hamburger Neonazi Michael Kühnen und den Anhängern seiner »Aktionsfront Nationaler Sozialisten« (ANS) unterwandert. Die ANS, die die Behörden im gleichen Jahr verboten hatten, rekrutierte ihre Mitglieder wiederum in der hamburgischen Skinheadszene, der auch die Mörder Ramazan Avcıs angehörten.
Avcı, Kaymakçı und Gürel waren nicht die einzigen Opfer solcher Gewalttäter. In verschiedenen Hamburger Vierteln waren Jugendgangs aktiv, doch die Hooliganszene um den HSV ragte als stramm rechts und besonders gefährlich heraus. Eine Sonderausstellung des HSV-Museums dokumentierte 2022 eine lange Chronik rechter Übergriffe und Gewaltexzesse, für die diese männerbündischen Fangruppierungen verantwortlich waren. Die Morde an Avcı und Kaymakçı sowie die Tötung des Bremer Fußballfans Adrian Maleika bildeten traurige Höhepunkte.
Aufruf zur Gedenkdemonstration 1986. Quelle: Archiv Infoladen Schwarzmarkt.
Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Chronik nur einen Bruchteil der Taten dokumentiert. Sowohl Flugblätter antifaschistischer Gruppen als auch Berichte etablierter Medien aus den 1980er Jahren vermitteln ein Bild alltäglicher Gefahr für Menschen, die als »Ausländer:innen« identifiziert wurden. »Skinheads schlugen wieder zwei Ausländer nieder« titelte das Hamburger Abendblatt am 2. Januar 1986 und am 13. Januar: »Skinheads überfielen Türken in der S‑Bahn.« Im Archiv des Spiegels sind vergleichbare Berichte einsehbar. In den Vorjahren sah die Situation nicht anders aus. In einem »Bericht über (neo)faschistische und antifaschistische Aktivitäten in Hamburg« aus der Feder einer Antifagruppe hieß es 1984: »Hamburg-Bergedorf 20.5.: 50 Skins prügeln sich mit Türken am Bhf. Ein Türke wird mit einem Holzknüppel schwer verletzt.« Eine ähnliche Antifa-Recherche von 1983 berichtet: »29.11. Das ›Broadway‹ zeigt den Film ›Under Fire‹. Die ›Savage Army‹ lief auf, beschimpfte Ausländer und Linke und verprügelte eine chilenische Frau.«[1] Vor wenigen Jahren wurde der Begriff »Baseballschlägerjahre« geprägt, um die Hochphase rechter Straßengewalt im Deutschland der 1990er zu beschreiben. Dieser Ausdruck ist auch für Hamburg im Jahrzehnt vor der Wende angemessen.
Migrantische Selbstorganisierung gegen Rassismus
Gegenüber der migrationsfeindlichen Politik sowie dem Straßenterror regte sich jedoch zunehmend Widerstand. Auf Sankt Pauli hatte sich am 26. Mai 1982 die türkische Arbeiterin und Dichterin Semra Ertan aus Protest gegen diesen Rassismus selbst entzündet. Ein weniger tragischer Ausdruck des Aufbegehrens war die Avcı-Demo am 11. Januar 1986, zu der ein breites Bündnis von 23 deutsch-türkischen Organisationen und Gewerkschaften aufgerufen hatte. Je nach Quelle folgten zwischen 10.000 und 15.000 Menschen dem Aufruf, was ebenfalls auf den großen gesellschaftlichen Stellenwert des Vorfalls hinweist. Die zahlreichen türkischsprachigen Transparente und Pappschilder, die die Presse dokumentierte, bewiesen den hohen Anteil türkischer beziehungsweise migrantischer Personen an dem Protest. Dieser wandte sich gegen »Ausländerfeindlichkeit«, wie Rassismus seinerzeit genannt wurde, und forderte die generelle Gleichstellung der Immigrierten.
Migrantische Selbstorganisierung war in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren aufgekommen und spielte überdies eine wichtige Rolle in industriellen Arbeitskämpfen der neoliberalen Transformationsphase, beispielsweise bei der spektakulären Besetzung der HDW-Werft im Hamburger Hafen 1983. Diese Aneignung politischer Subjektivität erhielt nach dem Mord an Avcı neuen Schwung. Organisator:innen des Protest gründeten nun das »Bündnis Türkischer Einwanderer«, aus dem zehn Jahre später die »Türkische Gemeinde Deutschland« hervorgehen sollte. In der Tat spiegelte sich diese emanzipative Entwicklung auch im Bereich der Jugendgangs. Die »Champs« auf Sankt Pauli waren etwa stark migrantisch geprägt und setzten sich gegen die Übergriffe der Skinheadbanden zur Wehr.
Die Wahrnehmung der Betroffenen geriet nach Avcıs Tod wenigstens vorrübergehend in den Fokus der Medien. Den Zuschauer:innen des Hamburg Journals des Norddeutschen Rundfunks erklärte ein junger türkischer Mann Anfang 1986 zum Beispiel: »Ich hatte so viele Scheiben in der S‑Bahn gesehen und so, wo die da geschrieben haben, ›Scheißtürken, raus aus Deutschland‹. Also ehrlich gesagt, ich trau mich nicht … Ich habe Angst in Deutschland zu leben, denn ich habe Angst, dass wir irgendwann mal aus Deutschland rausgeschmissen werden und dass wir überhaupt keine Rechte haben wie ein Deutscher.«
Widersprüchliche Liberalisierung
Dass Reporter:innen Betroffene zu Wort kommen ließen, hing auch damit zusammen, dass die westdeutsche Gesellschaft zumindest teilweise eine neue Sensibilität gegenüber Rassismus und rechter Gewalt entwickelt hatte. Diese blieb jedoch widersprüchlich. So sammelte die Pressestelle des Hamburger Senats nach der Tat vom 21. Dezember 1985 hunderte einschlägige Presseartikel größtenteils Hamburger Zeitungen, die meisten davon aus dem Jahr 1986. Die Medien berichteten intensiv zum Vorfall, zu »Ausländerfeindlichkeit« generell sowie über Skinheads. Deren Gewalt gegen migrantische Gruppen und linke Punks framte man jedoch häufig als unpolitische Auseinandersetzungen.
Angesichts der intensiven Berichterstattung war es kein Wunder, dass sich auch die Bürgerschaft mit Avcıs Tod befasste. Die Fraktionen der »Grün-Alternativen Liste« (GAL) und der SPD beriefen in der Plenarsitzung am 15. Januar 1986 eine Aktuelle Stunde ein, in der es zu hitzigen Schlagabtäuschen kam. Es entsprach einer unter Linken und Migrant:innen weitverbreiteten Auffassung, wenn die GAL rassistische Übergriffe in direkten Zusammenhang mit der bundesdeutschen Migrationspolitik stellte: »Die Mordabsicht der Skinheads ist gegen die Lebensinteressen der Ausländer in dieser Stadt gerichtet. Das Sondergesetz für Ausländer, die Lagerhaltung von Menschen und die Abschiebepraxis sind es ebenso.« Der Erste Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) deutete die anhaltenden rassistischen Angriffe einige Tage später hingegen als Schlägereien zwischen Jugendlichen um und verharmloste sie auf diese Weise. Die Betreffenden rief er dazu auf, »diese Kette der Gewalt abzureißen. Hamburg will Frieden. Ich weiß wohl: diese Vorfälle sind nicht typisch für das Zusammenleben der Deutschen und Türken in Hamburg. […] Aber eine böse Tat droht die nächste hervorzurufen.«
Zu der erwähnten, in den 1970er Jahren einsetzenden Transformation gehörten schwere Kämpfe der Mehrheitsgesellschaft um ihr wichtiger werdendes Selbstverständnis als liberale Demokratie. So kritisierten linksliberale Stimmen die restriktive und diskriminierende Ausländerpolitik der Bundesregierung massiv. Auch für die radikale Linke wurde Rassismus und Rechtsextremismus zu bestimmenden Themen. Der Diskurs war extrem polarisiert und dominierte die Innenpolitik in der zweiten Hälfte der 1980er. Kaum zufällig fielen in diese Phase erinnerungskulturelle Wegmarken wie der »Historikerstreit« oder die Anerkennung »vergessener Opfer« des Nationalsozialismus. Ein weiterer Gradmesser ist der enorme Erfolg von Günther Walraffs Buch »Ganz unten«, das zwei Monate vor dem Überfall auf Ramazan Avcı erschienen war und die Lage türkischer Arbeitsmigrant:innen skandalisierte. Nach zwei Wochen waren 650.000, nach vier Monaten vier Millionen Exemplare verkauft. Wallraff sprach dann auch bei der Großdemo am 11. Januar 1986 in Hamburg. Weiterhin fiel der Start einer antirassistischen Kampagne des Deutschen Gewerkschaftsbundes unter der Parole »Mach‘ meinen Kumpel nicht an« in den Aufruhr um den Mord an Avcı.
Diese Liberalisierungstendenzen in Gesellschaft und Geschichtspolitik waren keineswegs eindeutig und unumstritten, sondern konkurrierten etwa mit einem erinnerungskulturellen Hype um »Preußen«. Nicht zuletzt stand die progressive Entwicklung dem alltäglichen und dem institutionellen Rassismus gegenüber, der sich auch im Urteil gegen die Mörder Ramazan Avcıs zeigte: Das Landgericht Hamburg verurteilte die Haupttäter im Juli 1986 zwar zu mehrjährigen Gefängnisstrafen wegen Totschlags, weigerte sich jedoch eine rassistisch motivierte Mordabsicht anzuerkennen. Die Folge war ein empörter Tumult im Gerichtssaal.
Auf Betreiben der Ramazan-Avcı-Initiative 2012 vom Hamburger Senat eingeweihter Gedenkstein. Foto: privat.
Trotz der intensiven Auseinandersetzung um den Mord im Frühjahr 1986, scheint diese Geschichte – wie der Terror in der Halskestraße – ebenfalls im Schatten der extrem rechten Mobilisierungen der 1990er zu stehen. In der Tat ist die rassistische Gewalt in Westdeutschland vor 1990 heute generell weitgehend verdrängt worden. In der Regel fokussiert die Geschichte des rechten Terrors in der Bundesrepublik auf die Zeit nach der »Wiedervereinigung« und die neuen Bundesländer, was erinnerungskulturell problematisch ist. So erscheinen rassistische Mobilisierungen zuvörderst als ostdeutsches Phänomen, während die Kontinuität des bundesrepublikanischen Rechtsextremismus hinter der Nebelwand der Epochengrenze verschwindet. Die westdeutsch dominierte Berliner Republik kann unangenehme Aspekte der nationalen Vergangenheit damit als Problem postsozialistischer »Ossis« externalisieren.
Auch deswegen ist eine umfassende Gedenkkultur um die Opfer rechter Gewalt umso wichtiger. Anschub, die Erinnerung an den Mord an Avcı wenigstens lokal wachzurufen, kam »von unten«, aus den Reihen eines migrantischen Zusammenhangs. Nachdem sich 2010 eine Gedenkinitiative gegründet hatte, weihte der Hamburger Senat 2012 auf deren Betreiben einen Gedenkstein ein und benannte den Platz bei der S‑Bahnstation Landwehr nach Ramazan Avcı feierlich um. Jährlich am 21. Dezember hält die Initiative eine Gedenkveranstaltung am Ort des Geschehens, bei der Angehörige von Ramazan Avcı sprechen. Auch an den Mord an Mehmet Kaymakçı erinnert seit Sommer 2021 ein Mahnmal im Kiwittsmoor-Park in Langenhorn, jedoch besuchten nur relativ wenige Menschen die Einweihungszeremonie. Das Gedenken an die Hamburger Baseballschlägerjahre erhält noch nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient.
Kühne + Nagel: ›Arisierung‹, Sponsoring und Schweigen
Am 27.11.2022 um 19 Uhr sprechen wir mit Henning Bleyl über die NS-Geschichte von K+N, ihre Nicht-Aufarbeitung durch Klaus-Michael Kühne, über die Debatte um das ›Arisierungs‹-Mahnmal in Bremen und um den Kühne-Preis in Hamburg. Eine Veranstaltungsankündigung.
Kühne verdankt seinen Reichtum auch Möbeltransporten im NS. Er selbst steht gern im Rampenlicht, die »unschönen Dinge« aus der Vergangenheit aber sollen, geht es nach ihm, lieber im Dunkeln bleiben.
Die ursprünglich in Bremen und Hamburg beheimatete Firma Kühne + Nagel (K+N), heute drittgrößtes Logistikunternehmen der Welt, ist tief in die Verbrechen des Nationalsozialismus verstrickt. 1933 drängten die Inhaber Alfred und Werner Kühne ihren jüdischen Teilhaber, den Hamburger Kaufmann Adolf Maass, aus dem Unternehmen. Später profitierte K+N von den ›Arisierungen‹ in den von Deutschland besetzten Ländern: Im Zuge der sogenannten ›M‑Aktion‹ transportierte K+N im großen Maßstab Möbel aus den Wohnungen geflohener und deportierter Jüdinnen und Juden nach Deutschland.
Das Unternehmen hat diese Verstrickung lange verschwiegen und nie aufgearbeitet; der Patriarch und Firmenerbe Klaus-Michael Kühne wehrt sich bis heute dagegen, seine Familien- und Unternehmensgeschichte öffentlich untersuchen zu lassen. In Hamburg, wo der 1944 in Auschwitz ermordete Adolf Maass tätig war und wo lange Zeit der Hauptsitz von K+N lag, erinnert nichts an die Beteiligung des Unternehmens an NS-Verbrechen. Zugleich ist Klaus-Michael Kühne in Hamburg vor allem als wohltätiger Sport- und Kulturmäzen bekannt und omnipräsent.
Eines von Kühnes Prestigeprojekten ist das Harbour Front Literaturfestival. Die Kühne-Stiftung war maßgeblich an seiner Gründung beteiligt, fungierte seither als Hauptsponsor und finanzierte den jährlich vergebenen Klaus-Michael Kühne-Preis für das beste Romandebüt. Dieses Jahr zogen zwei der für den Preis nominierten Autor:innen ihre Teilnahme zurück – mit Verweis auf die verweigerte Aufarbeitung der NS-Geschichte. Diese Rücktritte sorgten Anfang September für einen Eklat, der einige öffentliche Kritik an Kühne nach sich zog, während er und seine Stiftung keinerlei Verständnis zeigten. Mit dem Rückzug der Kühne-Stiftung aus der Finanzierung des Festivals und der Umbenennung des Preises wurde die Debatte nach wenigen Wochen vorläufig beendet.
Die entscheidenden Fragen, die der Eklat um den Kühne-Preis freigelegt hat, sind allerdings immer noch offen. Wir wollen daher mit etwas zeitlichem Abstand zu diesem Eklat diskutieren: Warum gibt es in Hamburg keinen kritischen Umgang mit der NS-Geschichte von Kühne + Nagel? Wie könnten Erinnerung, Aufklärung und Konsequenzen aussehen? Wie kann mit Klaus-Michael Kühne als Kultursponsor umgegangen werden? Welche Probleme der privatisierten Kulturförderung stehen dahinter? Und was ist in der im Hinblick auf diese Fragen in der öffentlichen Diskussion um den Kühne-Preis gut gelaufen, was blieb unterbelichtet?
Vortrag und Diskussion mit:
Henning Bleyl, Journalist und Initiator des Bremer ›Arisierungs‹-Mahnmals
Moderation: Redaktion des Blogs Untiefen – Das Stadtmagazin gegen Hamburg (www.untiefen.org)
Organisiert in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung Hamburg sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung Hamburg, gefördert durch die Landeszentrale für politische Bildung Hamburg.
Gestern, am 20. Oktober, wurde der ZDF-aspekte-Literaturpreis an Sven Pfizenmaier verliehen. Morgen, am 22. Oktober, endet das diesjährige Harbour Front Literaturfestival. Grund genug, auf den Eklat zurückzublicken, den Pfizenmaier mit der Zurückweisung seiner Nominierung für den Kühne-Preis auslöste. Was geschah – und was bleibt? Eine Chronik und Presseschau.
25./26. Juli 2022:
Acht Autor:innen (bzw. ihre Verlage) erhalten eine E‑Mail von der Redaktion Untiefen. Betreff: Klaus-Michael Kühne. In dieser E‑Mail schildern wir den Nominierten für den diesjährigen Klaus-Michael Kühne-Preis, der seit 2010 auf dem Harbour Front Literaturfestival vergeben wird, die Hintergründe des Geld- und Namensgebers Kühne: die tiefe Verstrickung des Unternehmens Kühne+Nagel, das damals von Klaus-Michael Kühnes Vater geleitet wurde, in den Nationalsozialismus sowie die beharrliche Weigerung Kühnes, Verantwortung für diese Geschichte zu übernehmen und sich um Aufarbeitung zu bemühen (siehe Kühne+Nagel, Logistiker des NS-Staats). Wir fragen die Autor:innen, welche Möglichkeiten des Umgangs mit dieser Situation sie für sich sehen, und bitten um Antworten – sei’s off the record, sei’s als zur Veröffentlichung freigegebenes Statement.
18. August 2022:
Sven Pfizenmaier, mit seinem im März erschienenen Roman Draußen feiern die Leute für den Preis nominiert, zieht aus den Informationen über die Hintergründe Kühnes seine Konsequenz: Er teilt dem Literaturfestival intern und mit einer kurzen schriftlichen Erklärung mit, dass er seine Teilnahme am Festival zurückziehe und auf die Nominierung verzichte.1Der Zufall will es, dass am selben Tag im Neuen Deutschlandein Beitrag Berthold Seligers zur Kritik an (vermeintlich) Putin-nahen russischen Künstler:innen bzw. Sponsoren bei den Salzburger Festspielen erscheint. Seliger weist in seinem Beitrag auch auf die NS-Verbrechensgeschichte von Kühne+Nagel hin und fordert: »Wer sich über das Sponsoring russischer Konzerne echauffiert, sollte auch den Mut haben, nämliches bei Konzernen wie Audi, der Deutschen Bank, Siemens oder der Kühne-Stiftung anzuklagen.«
24. August 2022:
Das Festival reagiert auf die Absage, indem es in der denkbar knappsten Form via Twitter und Presseaussendung ein »Programm-Update« verkündet:
»Nach der Absage von Sven Pfizenmaier wurde ein sogenanntes Nachrück-Verfahren eingeleitet, so dass Przemek Zybowski nun seinen Debütroman ›Das pinke Hochzeitsbuch‹ beim 2. #Debütantensalon am 10. September vorstellen wird.«
Kein Wort des Bedauerns über Pfizenmaiers Rückzug, kein Wort dazu, warum Pfizenmaier absagte. Und auch kein:e Pressevertreter:in scheint sich über die kommentarlose Absage zu wundern und sich für ihre Gründe zu interessieren. Auf der Festivalwebsite wird Pfizenmaiers Name kommentarlos ersetzt.
29. August 2022:
Die Branchen-Website buchmarkt.de veröffentlicht die Erklärung, mit der Pfizenmaier seine Absage begründet. In ihr heißt es unter anderem:
»Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dagegen wehrt, die NS-Historie seines Unternehmens aufzuarbeiten, möchte ich meinen Text nicht in einen Wettbewerb um sein Geld und eine Auszeichnung mit seinem Namen stellen.«
Doch auch auf diese Erklärung folgt zunächst keine Reaktion. Die Strategie des Festivals, die Absage unter den Teppich zu kehren und erst gar keinen Eklat aufkommen zu lassen, scheint zunächst aufzugehen.
1. September 2022:
Das Kalkül des Festivals scheitert mit einem Knall: Die Mopo titelt Kühne-Preis: Eklat um NS-Vergangenheit des Hamburger Unternehmens und veröffentlicht einen großen doppelseitigen Beitrag. Aus Pfizenmaiers Absage wird so tatsächlich ein Eklat. Am Nachmittag desselben Tags erscheint ein Beitrag in der taz. Während die Kühne-Stiftung gegenüber der Mopo noch keinen Kommentar abgeben wollte, demonstriert sie nun gegenüber taz-Redakteur Jean-Philipp Baeck eine stupende Kombination aus gekränkter Eitelkeit, Geschichtsvergessenheit und Aggressivität:
»Die Kühne-Stiftung fühle sich ›in dieser Angelegenheit im höchsten Grade ungerecht behandelt‹. Und: ›Sie hat mit Vorgängen, die ca. 80 Jahre zurückliegen, nichts zu tun und wird die traditionelle Verleihung des Klaus-Michael Kühne-Preises jetzt überdenken.‹ «
Am selben Tag veröffentlicht Untiefen den Beitrag Kühne+Nagel, Logistiker des NS-Staats, der fordert, die NS-Geschichte von Kühne+Nagel auch in Hamburg zum Gegenstand erinnerungspolitischer Arbeit zu machen.
7. September:
Das Hamburger Abendblatt greift die Entwicklung auf. Abendblatt-Redakteur Thomas Andre zitiert nun auch das Jury-Mitglied Stephan Lohr sowie – ohne Nennung eines Namens – die Hamburger Kulturbehörde; die Behörde würdigt die Kritik an Kühne als »Beitrag zur Aufarbeitung unserer Geschichte«, lässt aber auch ihre Abhängigkeit von seiner Stiftung durchscheinen:
»[…] Die Kühne-Stiftung leistet seit vielen Jahren insbesondere für die Kultur und Wissenschaft gute und wichtige Unterstützung, die nicht ohne Weiteres durch die öffentliche Hand ersetzt werden kann.«
In einem Kommentar, der den Artikel flankiert, erklärt Abendblatt-Redakteur Andre im Einklang mit der Kulturbehörde, dass Kritik an Kühne zwar »erlaubt« sei, aber es »mehr als schade« wäre, Kühne als großzügigen Kultursponsor zu vergraulen.
Auch Franziska Gänsler erklärt nun ihren Rückzug vom Festival. Anders als Pfizenmaier, dessen Roman im selben Verlag erschienen ist wie ihr Debüt Ewig Sommer, hatte sie sich zunächst gegen einen Rücktritt entschieden. In einer Stellungnahme, die auf buchmarkt.de veröffentlicht und in der Presse vielfach zitiert wird, erklärt sie, dass der Umgang des Festivals und der Kühne-Stiftung mit Pfizenmaiers Absage sie zu ihrem Schritt bewogen haben.
Die Festivalleitung veröffentlicht eine (inzwischen nur noch via Internet Archive auffindbare) Stellungnahme zu der Debatte rund um die Absagen von Pfizenmaier und Gänsler. Sie bekundet:
»Wir finden diese Absagen sehr bedauerlich. Für die Beweggründe der Betreffenden haben wir Verständnis – auch wir sehen Diskussionsbedarf in dieser Angelegenheit.«
Dass der »Diskussionsbedarf« der Festivalleitung nicht so dringend ist, offenbart sich jedoch in der nachgeschobenen Aussage: »Wir hoffen, dass es trotz der gegenwärtigen Diskussion gelingt, die Literatur für die Zeit des Festivals in den Mittelpunkt zu rücken.« Zeitgleich mit der Stellungnahme stellt das Festival auch die beiden Stellungnahmen von Gänsler und Pfizenmaier auf seine Homepage.
Am selben Tag erscheint auf Zeit Onlineein Beitrag von Christoph Twickel. In ihm kommen auch weitere nominierte Schriftsteller:innen zu Wort: Domenico Müllensiefen und Annika Büsing. Beide heben den strukturellen Charakter des Problems hervor, das weit über den Fall Kühne hinausweise, und regen eine breite Debatte über die Mechanismen der (privaten) Kulturförderung an. In den Sozialen Medien zieht die Artikelüberschrift »Nazizeit? – Lange her!«, die sich auf die Stellungnahme der Kühne-Stiftung bezieht, rechte Kommentator:innen an. Das entsprechende Posting auf der Facebook-Seite der Zeit erhält 570 Kommentare, größtenteils von rechts: Den Kühne-Kritiker:innen werden Neid und Moralismus vorgeworfen, die Verbrechen von K+N werden relativiert. Nahezu alle Kommentare schließen sich der Forderung der Kühne-Stiftung nach einem Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit an.
Domenico Müllensiefen veröffentlicht die Stellungnahme, um die er von der Zeit gebeten worden war, in voller Länge auf seinem Blog.
Die Redaktion Untiefen veröffentlicht den Beitrag »Kühne-Preis: Kulturförderung als Schweigegeld?«. Der Beitrag rekapituliert die bisherige Debatte und zitiert die der Redaktion zugesandten Stellungnahmen von Domenico Müllensiefen (die sich zu großen Teilen mit der Stellungnahme gegenüber der Zeit deckt) und von Daniel Schulz. Junge Autor*innen seien »auf die wenigen Förderungen angewiesen […], die es noch gibt«, schreibt Schulz, und sieht daher eigentlich andere Angehörige des Kulturbetriebs in der Pflicht, gegenüber problematischen Förderern wie Kühne Stellung zu beziehen.
8. September 2022:
Die dpa veröffentlicht eine Meldung zum Eklat und zu Gänslers Rücktritt, die in zahlreichen (Online-)Medien aufgegriffen wird. Darin wird auch die Kühne-Stiftung zitiert, die – auf etwas weniger brüske Weise – ihre Stellungnahme vom 1. September bekräftigt:
»Die Kühne-Stiftung stellte klar, dass ihre Förderleistungen keinen Bezug zu einer Zeit haben, ›die weit zurück liegt und zu der ganz andere Verhältnisse herrschten‹. Das teilte sie auf Nachfrage am Donnerstag mit. ›Hierbei Zusammenhänge zu konstruieren, würden wir als eine bewusste Schädigung unserer rein philanthropischen Unterstützung des Harbour Front Literaturfestivals betrachten.‹ «
Mehrere Medien, darunter Mopo und Abendblatt, berichten, dass sich das Festival von der Kühne-Stiftung als Sponsor trennt. Die Festivalleitung bekundet, dass dieser Schritt jedoch nichts mit dem Eklat zu tun habe, sondern bereits länger geplant gewesen sei. Im Mopo-Artikel heißt es dazu:
»Auf MOPO-Anfrage erklärte Heinz Lehmann aus dem Leitungsteam: ›Dieser Schritt hat überhaupt nichts mit dem aktuellen Wirbel um die Vergangenheit der Familie Kühne zu tun, sondern war seit Monaten geplant.‹ Die Kühne-Stiftung war für eine Stellungnahme nicht zu erreichen.«
Am Abend des 8. September findet die Eröffnung des Festivals in der Elbphilharmonie statt. Wie das Abendblatt am 10. September berichtet, kommt der Eklat hier von Beginn an zur Sprache: Der Generalintendant der Elbphilharmonie verharmlost die Kritik an Kühne zu einem »Skandälchen« unter anderen, das zudem ja den Kartenverkäufen zuträglich sei. Die Leiterin des Festivals Petra Bamberger äußert sich unverbindlich (»Wir danken allen unseren Förderern, aber wir sind vor allem unseren Autorinnen und Autoren verpflichtet«). Der Manager und Kühne-Vertraute Michael Behrendt, Mitglied im Stiftungsrat der Kühne-Stiftung, hingegen zeigt sich »betroffen« – nicht aber von den verbrecherischen Geschäften Kühne+Nagels oder vom Schicksal des in Auschwitz ermordeten Ex-Teilhabers Adolf Maass, sondern von den »kritischen Stimmen«. Schließlich, so Behrendt, sei Klaus-Michael Kühne bei Kriegsende erst sieben Jahre alt gewesen.
14. September:
Die Festivalleitung teilt mit: Der Klaus-Michael Kühne-Preis heißt ab sofort »Debütpreis des Harbour Front Literaturfestivals« – und er wird nicht in Kühnes Luxushotel The Fontenay an der Außenalster, sondern im Nachtasyl des Thalia Theaters überreicht werden. Die Änderungen entspringen jedoch keiner souveränen Entscheidung des Festivals, sondern geschehen auf Anordnung der schmollenden Kühne-Stiftung. In der Mitteilung der Festivalleitung, die unter anderem von der Mopo zitiert wird, heißt es:
»Nach der öffentlichen Debatte um die Absage der Teilnahme zweier Autor:innen am Debütantensalon 2022 hat die Kühne-Stiftung das Harbour Front Literaturfestivalam 12. September 2022 dazu aufgefordert, den Namen des ›Klaus-Michael Kühne-Preises‹ und den Ort der Preisverleihung zu ändern.«
Die Zeit kommentiert die Umbenennung kritisch: »Sie dient bloß dazu, eine Debatte zu vermeiden, die überfällig ist. Das ist feige.« Von der im Beitrag zitierten Sprecherin der Kühne-Stiftung lässt sich etwas über die Gründe für die Umbenennung erfahren: »Format und Benennung des mit dem Festival verbundenen Preises sollen von Diskussionen frei sein.« Das also versteht der Mäzen unter Freiheit der Kunst – sie soll frei sein von Kritik und Diskussion.
15. September:
Über die Umbenennung des Preises wird in einer dpa-Meldung berichtet, die vielfach übernommen wird.
Das »Hamburger Tüddelband«, die im Rahmen des Harbour Front Festivals verliehene Auszeichnung für herausragende Kinderbuchkünstler:innen, wird in der Hauptkirche St. Katharinen an Axel Scheffler und Julia Donaldson verliehen. Schirmherrin dieses Preises ist Christine Kühne, Klaus-Michael Kühnes Ehefrau. Anders als in vergangenen Jahren ist sie aber nicht anwesend. Das Abendblatt schreibt:
»Ob es das ›Hamburger Tüddelband‹ im kommenden Jahr noch geben wird […], ließ die Festivalleitung auf Nachfrage offen.«
16. September:
Die Jury gibt den Preisträger des nun umbenannten Preises bekannt: Behzad Karim-Khani mit seinem Roman Hund, Wolf, Schakal. In ihrer Begründung geht die Jury ausführlich auf die vorhergegangene Debatte ein:
»In diesem Jahr haben zwei der acht von der Vorjury ausgewählten Nominierten ihre Teilnahme zurückgezogen. Wir hätten gerne auch über ihre Bücher diskutiert. Aber wir möchten Sven Pfizenmaier und Franziska Gänsler für ihre Entscheidung unseren Respekt aussprechen. Und wir schließen uns ihren Forderungen ausdrücklich an: Wir würden uns wünschen, dass Kühne + Nagel sein unternehmerisches Handeln in der NS-Zeit durch Historiker*innen unabhängig untersuchen lassen und die Forschungsergebnisse öffentlich machen würde.«
18. September:
Der Debütpreis wird im Nachtasyl (Thalia-Theater) verliehen. Am 19. September veröffentlich die dpa zur Preisvergabe eine Meldung, die auch auf die Stellungnahme der Jury zum Eklat eingeht und von vielen Medien übernommen wird.
20. September:
Der Literaturwissenschaftler und Kulturjournalist Johannes Franzen, der erst im Februar im Merkur über die Heteronomie der Kunst angesichts der Abhängigkeit von ihren Geldgeber:innen schrieb, greift die Debatte in seinem Newsletter Kultur und Kontroverse auf. Er kommentiert:
»Was an der Geschichte besonders interessant erscheint, ist zunächst, wie ein Milliardär einen Preis von läppischen 10.000 Euro stiften kann und dafür mit viel kulturellem Kapital belohnt wird, wie dann aber dieses kulturelle Kapital ihm plötzlich in der Hand explodieren kann. Man muss davon ausgehen, dass über die schreckliche Vergangenheit des Unternehmens Kühne + Nagel aktuell weniger stark berichtet werden würde, wenn nicht das Prestige des Literarischen auf dem Spiel stehen würde.«
27. September:
Das Magazin Oper! veröffentlicht ein Interview mit Klaus-Michael Kühne (online nur auszugsweise verfügbar), über das kurz darauf ein Artikel im Abendblatt erscheint. Kühne wirbt darin für seinen Vorschlag, ein neues Opernhaus in Hamburg zu errichten, und zeigt sich – vom Interviewer freundlich sekundiert – verständnislos über den Undank für seinen »gut gemeinten Ratschlag«.
4. Oktober:
Im Hamburg-Teil der Zeitgreift Florian Zinnecker die Debatte noch einmal auf. Er betont die enge Verzahnung des Harbour Front Literaturfestivals mit der Kühne-Stiftung und fordert, dass die Diskussionen, die sich um den Kühne-Preis entwickelt haben, weitergeführt werden müssten:
»Die große Frage aber, die durch die Eruptionen erst so richtig freigelegt wurde, ist noch offen – und sie ist um ein Vielfaches zu groß, als dass das Festival sie allein abräumen könnte. Die Kühne-Stiftung fördert die Staatsoper und die Philharmoniker; ohne Kühnes Zuwendungen wäre Kent Nagano als Generalmusikdirektor wohl weder nach Hamburg zu locken noch hier zu halten gewesen. Kühne gab 4 Millionen Euro für die Elbphilharmonie, die VIP-Lounge des Hauses ist nach ihm benannt. Das Internationale Musikfest fördert er mit einer halben Million jährlich. Und für den HSV (Fußball ist auch Kultur) wendete Kühne schon mehr als 100 Millionen Euro auf. All diese Institutionen begleiten die Debatte bislang mit vehementem Schweigen.Es wäre billig, von ihnen klare Kante zu fordern, wer vergrätzt schon gern einen Hauptsponsor. Aber zu reden wäre darüber schon. Denn sonst beantwortet sich die Frage, ob das Störgefühl groß genug ist für eine Neubewertung der Lage, von allein – mit Nein. Alles egal. Hauptsache, er zahlt.«
20. Oktober:
Auf der Frankfurter Buchmesse wird Sven Pfizenmaier der mit 10.000€ dotierte ZDF-aspekte-Literaturpreis für sein Romandebüt verliehen.
5. November:
Im Hamburger Abendblatterscheint auf einer Doppelseite ein langes Interview mit Klaus-Michael Kühne. Ganz kurz kommt der Interviewer – der stellvertretende Chefredakteur Matthias Iken – auch auf die NS-Vergangenheit von K+N und den Eklat vom September zu sprechen und lässt Kühne dabei unwidersprochen seine Schlussstrichforderung wiederholen:
»Ihr Literaturpreis heißt nicht mehr Klaus-Michael Kühne-Preis, junge Literaten verzichteten auf eine Nominierung, weil Sie die NS-Geschichte Ihres Unternehmens intensiver aufarbeiten sollen … Das hat mich persönlich getroffen. Wir wollten uns zwar aus dem Harbourfront-Literaturfestival zurückziehen, das wir maßgeblich gefördert hatten, den Nachwuchspreis aber weiter finanzieren. Das machen wir jetzt nicht mehr. Den Organisatoren habe ich verübelt, dass sie diese einseitigen Vorwürfe so übernommen und das Thema einseitig betrachtet haben.
Sie könnten ja eine Untersuchung durch Historiker beauftragen … Die Archive sind zerstört, die Fakten sind bekannt. Es wird vieles hineininterpretiert. Warum sollten wir die alten Wunden nach so langer Zeit wieder aufreißen? Das hätte man viel früher machen müssen. 2015 kam das Thema zum 125. Jubiläum zum ersten Mal hoch, das beim 100. Geburtstag keinen interessiert hatte. Wir haben die unschönen Dinge in unserer Jubiläumsschrift dargestellt und unser Bedauern darüber mehrmals öffentlich geäußert.«
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Der Zufall will es, dass am selben Tag im Neuen Deutschlandein Beitrag Berthold Seligers zur Kritik an (vermeintlich) Putin-nahen russischen Künstler:innen bzw. Sponsoren bei den Salzburger Festspielen erscheint. Seliger weist in seinem Beitrag auch auf die NS-Verbrechensgeschichte von Kühne+Nagel hin und fordert: »Wer sich über das Sponsoring russischer Konzerne echauffiert, sollte auch den Mut haben, nämliches bei Konzernen wie Audi, der Deutschen Bank, Siemens oder der Kühne-Stiftung anzuklagen.«
Am 18. September wird im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals in Hamburg der renommierte Klaus-Michael Kühne-Preis verliehen. Nun haben zwei Schriftsteller:innen ihre Nominierungen zurückgezogen – weil der Geld- und Namensgeber die NS-Historie seines Familienunternehmens nicht aufarbeite. Wir hatten zuvor sie und die übrigen Nominierten kontaktiert, um über die finanzielle Abhängigkeit des Kulturbetriebes von privater Förderung und die Imagepolitik problematischer Mäzene zu sprechen.
Weiß wie die Unschuld: In Kühnes Luxushotel „The Fontenay“ an der Alster soll der Klaus-Michael Kühne-Preis am 18.09. verliehen werden. Foto: travelswiss1 Lizenz: CC BY-NC 2.0
Im Kunst- und Kulturbetrieb rumort es: Das Londoner British Museum benennt alle nach einem Großspender benannten Räume um, die Videokünstlerin Hito Steyerl zieht eines ihrer Werke aus einer angesehenen Sammlung zurück, die Salzburger Festspiele beenden in Reaktion auf einen offenen Brief des Autors Lukas Bärfuss und der Regisseurin Yana Ross die Zusammenarbeit mit einem Sponsor. All diese Auseinandersetzungen ereigneten sich in den letzten Monaten. Und bei allen ging es um ganz ähnliche Fragen: Wer finanziert eigentlich Kulturinstitutionen und Kulturschaffende? Aus welchen Quellen stammen die Milliarden an privaten Mitteln, mit denen Museen, Konzerthäuser, Preise und Festivals gefördert werden? Und wie kann oder soll man sich gegenüber ›schmutzigen‹ Fördergeldern verhalten, die aus fragwürdigen Quellen stammen und von den Geldgeber:innen zumReinwaschen des eigenen Namens bzw. dem Verdecken von Schandtaten genutzt werden?
Auf die Frage nach dem praktischen Umgang haben Kulturinstitutionen und Künstler:innen in den genannten drei Fällen klare Antworten gefunden. Sie zogen Konsequenzen daraus, dass die Milliardärsfamilie Sackler mit ihrem Unternehmen Purdue Pharma maßgeblich für die Opioidkrise in den USA verantwortlich war; daraus, dass die Unternehmerin und Kunstsammlerin Julia Stoschek ihr Milliardenvermögen ihrem Nazi-Urgroßvater verdankt, der den Automobilzulieferer Brose gründete, den NS-Staat belieferte und als treues NSDAP-Mitglied zum Wehrwirtschaftsführer aufstieg; und daraus, dass das Bergbauunternehmen Solway nicht nur massive Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung verantwortet, sondern zudem enge Verbindungen zum Kreml unterhalten soll.
Die Kühne-Stiftung
Eine in Hamburg besonders aktive und ebenfalls fragwürdige Kultursponsorin ist die Kühne-Stiftung: Bei der Elbphilharmonie, dem Philharmonischen Staatsorchester und dem Harbour Front Literaturfestival tritt die Stiftung als Hauptförderin auf. Gegründet wurde sie 1976 vom Unternehmer Alfred Kühne, seiner Frau Mercedes und ihrem gemeinsamem Sohn Klaus-Michael Kühne. Das Stiftungskapital stammt aus den Erträgen der Kühne Holding, also vorrangig aus jenen des Unternehmens Kühne + Nagel (K+N), eines der weltweit größten Transport- und Logistikunternehmen.
Damit aber verdankt sich das Kapital zum einen dem Umstand, dass Alfred Kühne und sein Bruder Werner 1933 ihren jüdischen Teilhaber Adolf Maass aus dem Unternehmen drängten, und zum anderen der maßgeblichen Beteiligung von K+N an der ›Arisierung‹ jüdischen Eigentums in den von Deutschland besetzten Ländern während des Zweiten Weltkriegs. Hinzu kommt: Klaus-Michael Kühne, der das Unternehmen von 1966 bis 1998 leitete und bis heute sowohl die Mehrheit der Aktienanteile als auch die Fäden in der Hand hält, zeigt keinerlei Verständnis dafür, dass die NS-Vergangenheit seines Unternehmens »immer wieder hochgekocht wird«, und wehrt jegliche Aufarbeitung dieser – seiner – Familien- und Unternehmensgeschichte vehement ab.
Kulturförderung als Schweigegeld
Bislang scheint Klaus-Michael Kühnes Strategie des Relativierens und Verschweigens aufzugehen. Zwar haben insbesondere aus Anlass des 125-jährigen Firmenjubiläums im Jahr 2015 viele Medien kritisch über die Unternehmensgeschichte berichtet, über die man dank der Recherchen des ehemaligen taz-Redakteurs Henning Bleyl und von Historikern wie Wolfgang Dreßen, Frank Bajohr und Johannes Beermann-Schön immerhin einiges weiß. Doch einer breiten Öffentlichkeit sind Klaus-Michael Kühne und sein Unternehmen nach wie vor nicht als NS-Profiteure bekannt. Das öffentliche Bild von Kühne bestimmt vielmehr sein Engagement als Investor und Kulturförderer. Die Hamburger Morgenpost etwa veröffentlichte in den letzten zwei Jahren 50 Artikel über Kühne; nur ein einziger von ihnen behandelt die Geschichte des Unternehmens im Nationalsozialismus und seine Nachgeschichte. Stattdessen produziert Kühne (überwiegend) positive Schlagzeilen mit seinem Engagement beim HSV (dem er die Benennung des Stadions nach Uwe Seeler finanzieren will), mit Investitionen (er hat seine Anteile an der Lufthansa und an der Immobiliengesellschaft Signa Prime erhöht und Anteile am Elbtower erworben) und eben mit seinen Aktivitäten in der Kulturförderung.
Es steht daher außer Frage: Klaus-Michael Kühnes Mäzenatentum dient effektiv der Imagepflege des Familiennamens, dem Verschweigen bzw. Reinwaschen. ›Tue Gutes und sprich darüber‹, sagt man; im Fall von Kühne ließe sich ergänzen: ›damit über das Schlechte nicht gesprochen wird‹. Dass er den von ihm gestifteten Preis für das beste Romandebüt des Jahres ganz unbescheiden nach sich selbst benannt hat, ist davon der wohl krasseste Ausdruck. Es hat zur Folge, dass der Klaus-Michael-Kühne-Preis nicht nur eine Auszeichnung für die Autor:innen darstellt, die ihn erhalten. Vielmehr verschaffen die Preisträger:innen auch dem Mäzen, in dessen an der Außenalster gelegenen Luxushotel The Fontenay die Preisverleihung stattfinden wird, Ansehen und Anerkennung. Und sie drängen damit wider Willen die Beteiligung des Unternehmens an der Enteignung von Jüdinnen und Juden im NS aus dem Blick der Öffentlichkeit. Wenn etwa, wie im Jahr 2014 mit Per Leos Roman Flut und Boden, die literarische Aufarbeitung einer deutschen Familiengeschichte und Abrechnung mit der NS-Täter:innengeneration den Klaus-Michael Kühne-Preis erhält, ohne dass dieser zynische Widerspruch zur Sprache kommt, dient der Preis ganz offenkundig als Feigenblatt.
Suche nach dem angemessenen Umgang
Natürlich haben fast alle deutschen Großunternehmen, die vor 1945 gegründet wurden, eine Verbrechensgeschichte. Der niederländische Politikwissenschaftler David de Jong hat das in seinem Buch Braunes Erbe kürzlich noch einmal eindrücklich dargelegt. Doch das Ausmaß der Kollaboration der Gebrüder Alfred und Werner Kühne mit dem NS-Staat, die anhaltende Weigerung ihres Erben Klaus-Michael Kühne, diese Geschichte aufzuarbeiten und Konsequenzen daraus zu ziehen, sowie die Benennung des Preises nach Kühne selbst machen den Klaus-Michael Kühne-Preis zu einem besonders hervorstechenden Fall.
Was aber wäre ein angemessener Umgang mit dem problematischen Geldgeber? Diese Frage stellten wir, die Redaktion von Untiefen, uns im Vorfeld der diesjährigen Verleihung des Kühne-Preises, ohne zu einer befriedigenden Antwort zu kommen. Wir versuchten daher im Juli, mit den acht Nominierten des Preises selbst ins Gespräch darüber zu kommen. In einer E‑Mail an die Autor:innen schilderten wir ausführlich die Verstrickung von K+N in die NS-Verbrechen und hoben vor allem die Weigerung Klaus-Michael Kühnes hervor, das Firmenarchiv zu öffnen und die Unternehmensgeschichte von unabhängigen Historiker:innen untersuchen zu lassen. In unserem Schreiben an die Nominierten hoben wir auch die Komplexität der Situation hervor und fragten die Autor:innen nach einem möglichen Umgang:
»Klar ist einerseits: Diese Umstände können und dürfen nicht (weiter) beschwiegen werden. Klar ist andererseits aber auch: Ein Literaturpreis ist für eine Debütantin / einen Debütanten wie Sie auch über das hohe Preisgeld hinaus von beträchtlicher Bedeutung. Hinzu kommt, dass Kühnes eigene Ansichten bei der Entscheidung der Jury gewiss keine Rolle spielen werden. Die Forderung, den Preis oder gar schon die Nominierung zurückzuweisen, wäre daher wohlfeil. Doch wir fragen uns – und Sie: Wenn die öffentliche Ablehnung des Preises keine sinnvolle Option ist, was könnten dann alternative Wege sein, mit dem problematischen Hintergrund des Preises und seines Stifters dennoch einen Umgang zu finden? Diese Frage, auf die wir selbst bislang keine befriedigende Antwort gefunden haben, weist auch über den konkreten Fall hinaus und zieht weitere, grundsätzliche Fragen nach sich: Wie kann man sich zum Widerspruch der Neutralisierung von Kritik durch ihre Vereinnahmung, der auch nur die Zuspitzung eines generellen Widerspruchs im ›wiedergutgewordenen‹ Deutschland ist, ins Verhältnis setzen? Ist das Pathos etwa eines Thomas Brasch bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises 1981 (noch) angemessen? Stellt die Literatur selbst Mittel bereit, sich der Vereinnahmung zu widersetzen, oder ist sie ohnmächtig angesichts der Machtverhältnisse eines Betriebs, in dem man es sich mit seinen Geldgebern nicht ›verscherzen‹ darf?«
Die Antworten der Nominierten: Zwischen Realismus…
Auf unsere Fragen und unsere Bitte um Austausch erhielten wir in den folgenden Wochen von immerhin drei der acht Autor:innen Rückmeldung. Domenico Müllensiefen, der für seinen Roman Aus unseren Feuern nominiert wurde, schreibt: »Ich denke, dass es ein großes Problem ist, dass die öffentliche Kulturförderung in Deutschland stark eingeschränkt ist.« Denn in die Lücke, die die öffentliche Förderung lässt, stießen private Förderer. Was es bräuchte, so Müllensiefen, sei eine »breite und preisunabhängige Förderung von AutorInnen«. Bis dahin bleibe er auch beim Klaus-Michael Kühne-Preis „Realist“, denn: »Die Jury ist hochkarätig besetzt und frei in Ihrem Handeln. Die nominierten SchriftstellerInnen gefallen mir sehr gut. Der Umgang mit den AutorInnen ist erstklassig. […] Und ganz ehrlich, wäre es mir eine sehr große Freude, mal eine Nacht in diesem schicken Hotel von Herrn Kühne zu übernachten.« In einem späteren Statement gegenüber der ZEIT fügt er hinzu: »Deutscher Reichtum ist in vielen, wenn nicht sogar in den meisten Fällen auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit entstanden. So zu tun, als wäre alles in Ordnung, wenn Herr Kühne die NS-Vergangenheit aufarbeiten ließe, wäre auch falsch. Wir haben ein strukturelles Gesellschaftsproblem, zu dem wir AutorInnen uns individuell verhalten sollen.« Und: »Und wäre es nicht an der Zeit, dass wir, und da darf DIE ZEIT gern vorneweg gehen, ernsthaft über eine Umverteilung der Vermögen in Deutschland sprechen?«
Ähnlich antwortete Daniel Schulz, taz-Redakteur und Autor des Romans Wir waren wie Brüder. Er betont wie Müllensiefen: „Die Unabhängigkeit und Fachkompetenz der Jury stehen außer Zweifel. Klaus-Michael Kühne hat auf ihre Entscheidungen keinen Einfluss“. Vor allem hält er die Autor:innen für die falschen Ansprechpartner:innen für die Frage nach dem Umgang mit dem NS-Erbe von Kühne + Nagel. Schließlich seien sie in der abhängigsten und prekärsten Lage von allen und „auf die wenigen Förderungen angewiesen […], die es noch gibt“. Die Ressourcen und die Verantwortung dafür, einen Umgang mit problematischen Förderern wie Kühne zu finden, sieht er vor allem bei den Verlagen und der Kulturpolitik.
Der Tenor dieser Antworten ist klar: In dieser Gesellschaft als Schriftsteller:in tätig zu sein bedeutet, in zahlreiche Widersprüche verstrickt und nicht wenigen Zwängen unterworfen zu sein. Solange die Kulturförderung maßgeblich über private Stiftungen und Organisationen geleistet wird und die Autor:innen von deren Geld abhängig seien, müsse man letztlich damit leben, dass Gelder im Kulturbetrieb aus fragwürdigen Quellen stammen Das zentrale Problem sehen die beiden Autoren in der privatisierten Kulturförderung in einer postfaschistischen Gesellschaft – und die Verantwortung auf Seiten der öffentlichen Hand.
… und Absagen
Sven Pfizenmaier, nominiert für Draußen feiern die Leute, ist zu einem anderen Schluss für seinen individuellen Umgang mit der Situation gekommen. Er hat seine Nominierung zurückgewiesen und seine Teilnahme am ›Debütantensalon‹ auf dem Harbour Front Literaturfestival abgesagt. In seiner am 29. August veröffentlichten Erklärung schreibt er so knapp wie deutlich: »Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dagegen wehrt, die NS-Historie seines Unternehmens aufzuarbeiten, möchte ich meinen Text nicht in einen Wettbewerb um sein Geld und eine Auszeichnung mit seinem Namen stellen.«
Anderthalb Wochen später, am 07.09., sagte auch Franziska Gänsler, nominiert für Ewig Sommer, ihre Teilnahme am Harbour Front Festival ab. In ihrer Erklärung, die diesmal durch die Festivalleitung veröffentlicht wurde, führt sie die Nicht-Diskussion um die Absage Pfizenmaiers als Grund an:
»Mich hat der Rückzug des mitnominierten Autors Sven Pfizenmaier und die darauf folgende Reaktion sehr beschäftigt. Ich denke, es hätte einen öffentlichen Diskurs gebraucht, der ein Ernstnehmen seiner Kritik erkennbar macht und zeigt, dass es das Anliegen der Stiftung ist, genau das zu fördern – kritische literarische Stimmen. Leider zeigt die Reaktion für mich, dass dies nicht gegeben scheint. Unter diesen Umständen weiter auf die Auszeichnung zu hoffen erscheint mir, unabhängig von der finanziellen Komponente, wie ein Wegsehen, das ich nicht gut mit mir und meinem Schreiben vereinbaren kann.«
Pfizenmaier und Gänsler haben damit drastische Schritte gewählt. Pfizenmaier betont in seiner Erklärung aber auch, dass er seine Entscheidung »explizit nicht als Vorwurf« gegen die Mitnominierten und Mitarbeitenden des Festivals verstanden wissen wolle: »Das Verhältnis zwischen Geldgeber:innen und Kulturschaffenden in Deutschland ist ein dermaßen komplexes Feld, dass es unzählige Wege gibt, einen angemessenen Umgang damit zu finden. Dieser hier ist meiner.«
Drastisch sind diese Entscheidungen nicht nur, weil beide damit auf die Möglichkeit verzichtet, das stattliche Preisgeld von 10.000 Euro zu gewinnen, sondern auch und vor allem, weil der Debütantensalon und der Klaus-Michael Kühne-Preis in den letzten Jahren zu einem wichtigen Sprungbrett für junge Autor:innen geworden sind. Bei Verlagen, Buchhändler:innen und Autor:innen genießt der Preis ebenso hohes Ansehen wie bei Kritik und Leser:innenschaft. Autor:innen, deren Debüt eine Nominierung erhalten oder den Preis gar gewonnen hat, steigern nicht nur die Verkäufe ihres Romans, sondern haben gute Aussichten, sich fest zu etablieren. Zu den bisherigen Preisträger:innen zählen etwa Olga Grjasnowa, Per Leo, Dmitrij Kapitelman, Fatma Aydemir und Christian Baron.
Der Eklat
Pfizenmaiers und Gänslers Entscheidung ist bisher präzedenzlos. Obwohl viele der früheren Nominierten und Preisträger:innen als engagierte Stimmen in der öffentlichen Debatte bekannt (geworden) sind, hatte bisher noch kein:e Autor:in öffentlich Kritik an Kühne geübt – geschweige denn die Nominierung oder den Preis zurückgewiesen.
Dementsprechend überfordert und ratlos wirkt der Umgang des Harbour Front-Festivals mit der Situation. Man glaubte dort offenbar, Pfizenmaiers Absage einfach unter den Teppich kehren zu können. Am 24. August wurde in einer Pressenachricht und auf Twitter lapidar ein »Programmupdate« verkündet: Nach Sven Pfizenmaiers Absage trete Przemek Zybowski durch ein Nachrückverfahren an seine Stelle. Bis zur Absage Gänslers ging das Festival weder auf die Gründe für Pfizenmaiers Absage ein, noch drückte es sein Bedauern darüber aus. Auf der Homepage des Festivals wurde Pfizenmaier stillschweigend ersetzt. Nach Gänslers Absage lässt das Festival auf der Website knapp verlautbaren:
»Wir finden diese Absagen sehr bedauerlich. Für die Beweggründe der Betreffenden haben wir Verständnis – auch wir sehen Diskussionsbedarf in dieser Angelegenheit.«
Vorher-Nachher Screenshot: das Harbour Front-Festival ersetzt auf seiner Homepage Pfizenmaier durch Zybowski und hofft, dass es keine:r merkt. Foto: Screenshot https://harbourfront-hamburg.com/.
Die Reaktion der Kühne-Stiftung aber übertrifft das anfängliche Schweigen des Festivalsum Längen. Während sie der Mopo noch keinen Kommentar geben wollte und wohl auch hoffte, das Problem löse sich von selbst auf, ging sie gegenüber der tazin die Offensive: Man habe »mit Vorgängen, die ca. 80 Jahre zurückliegen, nichts zu tun«. Und weil sich die Stiftung »in höchstem Maße« ungerecht behandelt fühlte, setzte man dort zum Gegenangriff gegen die undankbaren Kulturschaffenden und ‑liebhaber:innen an: Man werde »die traditionelle Verleihung des Klaus-Michael Kühne-Preises jetzt überdenken« ließ die Kühne-Stiftung auf Anfrage der taz verlauten. Wer Kritik übt, erhält kein Geld – das ist die Botschaft, die die Kühne-Stiftung vermittelt.
Kulturförderung entprivatisieren
Die Reaktion der Kühne-Stiftung zeigt: Man scheint sich dort sehr bewusst darüber zu sein, wer hier am längeren Hebel sitzt. Der Kulturbetrieb ist in hohem Grad abhängig von seinen (privaten) Gönnern. Sie können den von ihnen geförderten Einrichtungen und Veranstaltungen ihre Bedingungen diktieren – und bei Kritik oder Nichtbefolgen die Förderung beenden oder zumindest damit drohen. Die Kühne-Stiftung zeigt mit ihrem Verhalten gegenüber den Kulturschaffenden überdeutlich auf, wo die Grenze(n) der Autonomie der Kunst liegen: Don’t bite the hand that feeds you.
Die ersten Leidtragenden eines Rückzugs wären die Schriftsteller:innen und Künstler:innen, also ausgerechnet die schwächsten Glieder in der Kette. Tatsächlich sind die anderen Nominierten nicht zu beneiden. Durch Pfizenmaiers und Gänslers Absage stehen sie unter Druck, sich zu bekennen, womöglich gar, ihrem Beispiel zu folgen. Vieles hängt davon ab, dass die Debatte solidarisch geführt wird, und das heißt: nicht individualisierend und moralisierend, sondern im Bewusstsein der Widersprüche und des strukturellen Charakters des Problems.
Klar ist: Solange die Kultur den Marktgesetzen unterliegt und die Förderung der Kulturschaffenden nicht durch öffentliche Hand getragen wird, ist sie auf private Förder:innen angewiesen. Denn wenn nicht allein die Marktgängigkeit von Kunst, Musik oder Literatur zählen soll, sondern auch die inhärenten Maßstäbe der Kunst, braucht es Kultursponsoring. An Beispielen wie Kühne zeigt sich aber, zu welchen Problemen es führen kann, wenn dies privat organisiert und zwangsläufig von besonders vermögenden Unternehmen und Einzelpersonen mit eigenen Interessen übernommen wird. Deshalb muss im Sinne einer demokratischen Kulturförderung zumindest eine Reduktion des Anteils privaten Sponsorings durch die (Wieder-)Einführung öffentlicher Förderung durchgesetzt werden. Die Leidtragenden des privaten Kultursponsorings sind letztlich auch die Autor:innen selbst, denen in diesem System mitunter nur eine Wahl bleibt zwischen Verzicht auf das, was ihren Unterhalt finanziert, oder der Annahme fragwürdiger Fördergelder – eine infame Verantwortungsverschiebung.
In Bezug auf den aktuellen Eklat heißt das: Der Kühne-Preis muss umbenannt und öffentlich finanziert werden. Wie wäre es etwa mit einem von der Stadt Hamburg finanzierten Peter-Rühmkorf-Preis? Wenn man sich anschaut, wie schnell die Stadt im Cum-Ex-Skandal bereit war, auf 47 Millionen Euro an Steuern zugunsten der Warburg-Bank zu verzichten, sollten 10.000 Euro Preisgeld sicherlich kein Problem darstellen. Und Kühnes Geld könnte auch in einer unabhängigen, wissenschaftlichen Aufarbeitung der eigenen Firmengeschichte sehr gute Verwendung finden.