Eine Veranstaltungsreihe der Innenrevision Kulturbetrieb fragt nach antisemitischen Weltbildern in gegenwärtigen Kunstdiskursen. Die dritte und letzte Veranstaltung findet am 30.11.2023, 19.30 Uhr in der Fabrique (Gängeviertel) statt.
Nachdem im September 2022 zwei Vertreter des indonesischen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruangrupa eine Gastprofessur an der Hamburger HfbK antraten, ist die Auseinandersetzung über die von Ruangrupa verantwortete antisemitische Kunstschau auch zu einem Streit in Hamburg geworden. Zwar gab es verdienstvolle, aber vereinzelte Proteste, zurückhaltende Ermahnungen aus der Landespolitik sowie einige wenig ergiebige Interviews und Veranstaltungen mit den Ruangrupa-Leuten. Insgesamt aber ist von Betroffenheit oder gar (Selbst-)Kritik innerhalb des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs wenig zu vernehmen. Der HfbK-Präseident Köttering lügt die von ihm initiierte Gastprofessur rückblickend zum Auslöser wichtiger »Lernprozesse« um, gar zum Beginn eines »Dialogs«: »Zum anderen ist durch die beiden DAAD-Gastprofessoren das Thema Antisemitismus im Kunstfeld nach Hamburg getragen worden, worauf wir mit vielen Veranstaltungen reagiert haben, vor allem mit dem Symposium. Damit ist es uns seit der documenta erstmalig gelungen, sehr divergente Positionen zusammen und in einen Dialog zu bringen«. Auf die Frage, ob er die Einladung wieder aussprechen würde, antwortete er entsprechend: »Das kann ich wirklich mit aller Deutlichkeit und sehr klar sagen: Ja, unbedingt! Denn es ist die Aufgabe und Pflicht von wissenschaftlichen Institutionen, sich diesen komplexen und schwierigen Diskursen zu stellen, um Lernprozesse entstehen zu lassen.« Antisemitismus geht in der Kunstwelt also weiterhin in Ordnung, so lange man dabei das Gefühl hat, mit irgendwem im Dialog zu sein. Woher kommt diese Unerschütterlichkeit – auch und gerade jenseits des offensichtlich unverbesserlichen Ruangrupa-Kollektivs?
Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Hamburg eine „Innenrevision Kulturbetrieb“ gegründet. In ihr haben sich in Kunst und Kultur Tätige zusammengeschlossen, die mit einer Veranstaltungsreihe in das beredte Hamburger Schweigen intervenieren wollen. Die Reihe untersucht anhand dreier für den gegenwärtigen Kunstbetrieb zentraler Begriffe – Kollektivität, Widerstand und Solidarität – über welche Einfallstore sich antisemitische Weltbilder im Kunstdiskurs immer wieder verbreiten können.
Die Reihe wird am 30.11. mit einer Veranstaltung zu „Widerstand“ fortgesetzt: 19.30 Uhr in der Fabrique im Gängeviertel, Valentinskamp 34a.
Die Redaktion Untiefen unterstützt diese Intervention (wie auch der Bagrut e.V., die Untüchtigen sowie der Textem-Verlag) und dokumentiert im Folgenden den Ankündigungstext der Veranstaltung.
Die feministische Revolution im Iran oder der ukrainische Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg. Widerstand wird mit emanzipatorische Bewegungen, die für Gerechtigkeit und Freiheit und gegen autoritäre oder totalitäre Machtstrukturen kämpfen, assoziiert. Gleichzeitig schaffen Widerstandsbewegungen auch klare Feindbilder, die von inneren Widersprüchen entlasteDer feministische Aufstand im Iran oder der ukrainische Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg – Widerstand wird mit emanzipatorischen Bewegungen assoziiert, die für Freiheit, Gerechtigkeit und gegen autoritäre oder totalitäre Machtstrukturen kämpfen. Gleichzeitig schaffen Widerstandsbewegungen auch klare Feindbilder, die von inneren Widersprüchen entlasten. Aus einem gerechten Anliegen kann sich ein manichäisches Weltbild entwickeln: Die Komplexität der Welt wird in Gut und Böse überführt.
Viele Arbeiten der Documenta 15 nahmen auf konkrete Widerstandsbewegungen Bezug. Auch für diejenigen, die antisemitische Weltbilder reproduzierten, war Widerstand das zentrale Motiv. Tatsächlich wurde schon der Begriff des Antisemitismus als Selbstbezeichnung einer Widerstandsbewegung erfunden. Sie richtete sich gegen die vermeintliche Macht und kulturelle Übernahme Deutschlands durch „die Juden“. Antisemitische Pogrome wurden von den Nationalsozialisten als eine Form von Widerstand dargestellt.
Aktuell wird die Terroraktion der Hamas gegen Israel am 7. Oktober 2023, der größte Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Shoah, als Widerstand für eine gerechte Sache verklärt. Das ist nicht nur im Internet und auf Straßenprotesten überall auf der Welt zu beobachten, sondern auch in Hamburg. Zahlreiche renommierte Künstlerinnen und Künstler sehen sich an der Seite dieses vermeintlichen Freiheitskampfes. Ihre Reaktionen reichen von subtiler Relativierung bis zur offenen Glorifizierung des Terrors. Auch darüber wollen wir im letzten Teil unserer Veranstaltungsreihe reden.
»Die Gewalt muss endlich gesellschaftlich benannt und moralisch verurteilt werden«
Allein 2023 gab es in Hamburg mindestens elf Feminizide. Offizielle Statistiken über diese Morde an Frauen oder weiblich gelesenen Personen gibt es allerdings nicht. Für eine öffentliche Reaktion sorgt das Anti-Feminizid-Netzwerk Hamburg, das für jede dieser Gewalttaten eine Kundgebung abhält und eine eigene Zählung vornimmt. Untiefen sprach mit Viola vom Netzwerk über ihre Ziele, die Zusammenarbeit mit staatlichen und linken Akteur:innen sowie die theoretischen Bezüge des Netzwerks.
Eine der Kundgebungen des Anti-Feminizid-Netzwerks auf dem Alma-Wartenberg-Platz. Foto: Anti-Feminizid-Netzwerk
Untiefen: Warum braucht Hamburg ein Anti-Feminizid-Netzwerk?
Viola: Es braucht das Netzwerk, weil es Tötungen von Frauen und weiblich gelesenen Personen gibt und weil das Problem von staatlicher Seite zu wenig angegangen wird. Man muss es einfach stärker benennen. Man muss es sichtbarer machen. Die gegenwärtigen Gesetze reichen nicht aus und auch nicht die Schutzstrukturen durch Frauenhäuser, weil es zu wenig Plätze gibt, aber natürlich schätzen wir deren Arbeit sehr. Wir hatten vor Kurzem eine Soli-Aktion am Campus der Universität Hamburg und selbst dort kam oft die Frage: »Was? Das gibt es in Deutschland?!« Das spricht schon für sich. Deshalb braucht es das Netzwerk: Um das Problem zu benennen, es braucht einen Namen.
Untiefen: Wie ist das Netzwerk entstanden? Also, wie seid ihr zu dem Thema gekommen?
Viola: Es ist vor einem Jahr entstanden, im Oktober 2022, als offenes Netzwerk aus einem Zusammenschluss von verschiedenen feministischen Gruppen und Einzelpersonen. Einen besonderen Anlass zur Gründung gab es nicht. Es war eher ein Gespräch zwischen verschiedenen sehr aktiven Feministinnen, die gesagt haben: »Es reicht.« Jeden dritten Tag geschieht ein Feminizid in Deutschland, das ist Anlass genug. Mit dem Thema befasst sich sonst niemand, auch andere feministische Gruppen nicht dezidiert, was traurig ist.
Untiefen: Ihr habt einen sogenannten »Widerstandsplatz gegen Feminizide« am Alma-Wartenberg-Platz in Ottensen ausgerufen. Wie hat sich das entwickelt und warum habt ihr euch genau für diesen Platz entschieden?
Viola: Den Widerstandplatz haben wir kurz nach unserer Gründung im November 2022 ausgerufen. Mit der Auswahl dieses Ortes möchten wir sowohl die internationalistische Ausrichtung deutlich machen, die einige von uns haben, als auch an eine lokale feministische Tradition anschließen. Alma Wartenberg wurde in der Zeit des Kaiserreichs in Ottensen (Holstein) geboren. Sie war SPD-Politikerin und vor allem Feministin, die sich besonders im Bereich Mutterschutz, Empfängnisverhütung und für sexuelle Aufklärung eingesetzt hat.
Aber: Im Netzwerk wird der Platz durchaus ambivalent gesehen, nicht alle haben einen starken Bezug dazu. Für manche im Netzwerk könnte es auch ein anderer Ort sein. Wichtig ist einfach, dass wir Raum einnehmen und das Thema Feminizide sichtbar machen. Wir würden da auch gerne noch mehr machen.
Untiefen: Du sprichst an, dass es euch auch darum geht, Raum einzunehmen und Aufmerksamkeit für das Thema zu erzeugen. Seht ihr, dass ihr damit einen Effekt auf die Stadt und auf die Öffentlichkeit habt?
Viola: Die Stadt und die Öffentlichkeit sind zwei unterschiedliche Bereiche. Insgesamt aber schon. Wir hatten gerade einen Strategietag und haben dort reflektiert, was alles bisher passiert ist. Dafür, dass wir ein Netzwerk sind, in dem so viele unterschiedliche Gruppen und Einzelpersonen zusammensitzen, ist es schon enorm, wieviel Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit wir bisher herstellen konnten. Wir bekommen viele Interviewanfragen und zu unseren Kundgebungen kommen immer mehr Leute.
Was die Stadt betrifft: Wir sind zunehmend zu städtischen Beteiligungsrunden eingeladen. Das sind Räume, in denen auch autonome Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen und andere Gruppierungen von städtischer, behördlicher Seite mit drinsitzen. Da werden wir dann zum Beispiel eingeladen, um uns vorzustellen. Wir haben etwa am »Runden Tisch Gewalt« teilgenommen und sind beim »Arbeitskreis Gewalt« eingeladen. Es interessiert sich natürlich keine Partei außer Die Linke dafür. Das muss man ehrlich sagen. Mit Cansu Özdemir (Die Linke-Fraktionsvorsitzende in der Hamburgischen Bürgerschaft, Anm. Untiefen) gewinnt man tatsächlich viel. Sie macht sehr viel möglich. Wenn über sie nicht regelmäßig kleine Anfragen zum Sachstand von Feminiziden gestellt werden würde, sähe die Datenlage noch sehr viel schlechter aus.
Deutlich sichtbar ist auch, dass die Presse nun versucht, anders über das Thema zu schreiben. Wir veröffentlichen nach jedem Fall eine Pressemitteilung. Die bürgerliche Presse, wie das Abendblatt und die MoPo, achten schon verstärkt auf sensiblere Sprache und haben mittlerweile den Begriff Feminizid oder Femizid übernommen. Wir müssen nicht mehr darauf hinweisen, dass es eben ein Feminizid ist und sie es so benennen sollen. Trotzdem beobachten wir weiterhin sehr unsensbile und vor allem uninformierte Berichterstattung. Das betrifft einerseits Feminizide im Alter, aber auch generell weniger prominente Formen von Feminiziden, wie z.B. Feminizide die von Rechtsextremen, Kindern oder Enkeln begangen werden. Da insbesondere bei Rechtsextremen immer misogyne Motivlagen zu beobachten sind, müssen auch diese Morde klar als Feminizid eingeordnet werden.
Wenn man eine Bewegung aufbaut, läuft es oft erstmal sehr schleppend. Jetzt haben wir aber das Gefühl, dass richtig viel zurückkommt. Uns war es immer wichtig, mit den Kundgebungen nach Femiziden für eine öffentliche Reaktion zu sorgen. Daran halten sich viele fest, von uns und von außen. Deswegen ist es wichtig, dass wir damit weitermachen. Das hat uns glaube ich auch dahin gebracht, wo wir jetzt sind. Selbst wenn es immer sehr anstrengend ist, mental und organisatorisch.
»Wir müssen die Gewalt dort thematisieren, wo sie passiert«
Untiefen: Wie du es beschreibst, kommt ihr mittlerweile von dem Punkt weg, hauptsächlich Aufmerksamkeit zu generieren und auf Begriffe hin zu weisen. Gibt es langfristige Ziele, die ihr darüber hinaus verfolgt oder die als nächstes anstehen?
Viola: Als Netzwerk aus vielen unterschiedlichen Gruppen haben wir durchaus Schwierigkeiten, uns auf einheitliche Ziele festzulegen. Was wir gemeinsam fordern, beziehungsweise verfolgen, ist ein gewaltfreies Leben für alle Menschen. Zudem wollen wir ein umfassenderes Verständnis und begleitende Forschung von Feminiziden und eine Dokumentation der Fälle. Eine weitere Sache, die uns sehr wichtig ist und für die wir uns einsetzen, ist die Präventionsarbeit. Das beinhaltet auch Bildungsarbeit, die wir mittlerweile vermehrt machen. Ebenso Veranstaltungen außerhalb linker Räume.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Basisarbeit, was natürlich mit Bildungsarbeit einhergeht. Wir wollen da auch eine noch stärkere Vernetzung in die Stadtteile hinein. Wir tun das schon im Rahmen des »StoP«-Projekts (Stadtteile ohne Partnergewalt, Anmerkung Untiefen) Es geht uns auch darum Verbindungen zu wichtigen Multiplikator:innen in den Stadtteilen herzustellen. Wir haben als Netzwerk ein ernsthaftes Interesse daran, außerhalb unserer linken Blase aktiv zu sein. Denn es hilft nicht, wenn wir nur innerhalb unseres eigenen Kreises sprechen, dazu haben wir keine Lust mehr. Wir müssen die Gewalt dort thematisieren, wo sie passiert, sowohl innerhalb der Szene als auch darüber hinaus. Das bedeutet für uns, sich stark zu vernetzen, um ein breites gesellschaftliches Anti-Feminizid-Netzwerk aufzubauen.
Ein für uns wichtiges Ziel ist es, der Tat einen Namen zu geben. Es gibt zwar bei uns auch andere Ansätze und unterschiedliche Strafbedürfnisse. Manche fordern Gesetzesverschärfungen, für andere spielt die strafrechtliche Bewertung nicht so eine große Rolle. Aber die Gewalt, die passiert, muss endlich gesellschaftlich benannt und moralisch verurteilt werden.
Es gibt natürlich auch liberale Forderungen, die wir unterstützen, wie den Ausbau von Frauenhäusern. Wenn man aber weiß, wie massiv problematisch die aktuelle Wohnungspolitik ist, bringt diese Forderung nicht so viel. Die Frauen sollen schließlich nicht in Frauenhäusern bleiben, sondern wieder ihr sicheres Umfeld haben. Von daher braucht es pragmatische Lösungen. Es gibt aber auch den Wunsch nach anderen Schutzstrukturen, die mehr auf Selbstorganisierung setzen. Ein Beispiel dafür ist das »StoP«-Projekt, indem es darum geht, sich im Stadtteil gemeinsam zu organisieren und Hilfsstrukturen für Betroffene aufzubauen. Bei Selbstorganisierung geht es nicht um eine rechte Bürgerwehr oder so etwas, sondern zum Beispiel darum, dass wenn eine Frau bedroht ist, sie eine Nummer anruft und dann direkt drei Leute ansprechbar sind, die unterstützen. Alle müssen Verantwortung übernehmen und wir müssen anfangen Verantwortungsübernahme anders zu denken. Das ist eben nicht nur die Aufgabe des Staates ist, sondern von uns allen. Wir wollen dahin, dass es eine gesamtgesellschaftliche Reaktion gibt und Proteste auf die Straße getragen werden, wenn wieder eine Frau oder weiblich gelesene Person ermordet wird. Wir verfolgen mit unserer Arbeit einen kulturellen gesellschaftlichen Wandel, der patriarchale Machtstrukturen ernsthaft aufbricht und zerstört.
Untiefen: Es gibt also Forderungen an die staatliche Politik und an die Gesellschaft insgesamt?
Viola: Ja, genau. Die Istanbul-Konvention ist in Deutschland noch nicht richtig umgesetzt. Das ist eine Forderung, die häufig aus dem Gewaltschutz kommt, von den Beratungsstellen und den Frauenhäusern. Das ist auch für uns wichtig. Darüber hinaus braucht es eine bundesweite Zählung der Frauen*, die von ihren Partnern getötet wurden, weil es eben ein politisches Problem ist. In Hamburg macht das derzeit die Partei Die Linke. Deutschlandweit machen es vor allem verschiedene lose Gruppen. Für uns ist es mühselig, immer wieder die Medienberichte zu überprüfen: Ist wieder etwas passiert, gab es wieder einen Fall? Wir machen die Zählungen ja selbst. Das kostet sehr viele Ressourcen und es ist gar nicht immer so leicht, zu sagen, was ein Feminizid ist.
»Ein Femizid ist immer nur die Spitze des Eisbergs«
Untiefen: Daran anknüpfend: Wie definiert ihr und zählt ihr Feminizide? Wo liegen da die Schwierigkeiten?
Viola: Wir haben meistens nur die Presseberichte und keine Akteneinsicht oder ähnliches. Es gibt Fälle, die sind sehr eindeutig: Ex-Partner tötet Frau im Streit, Mann erschießt seine Frau. Da gehen wir einfach davon aus, dass es das politische Motiv gab. Also, dass sie getötet wurde, weil sie eine Frau ist. Diesen Strukturen, die dazu führen, liegt das Patriarchat zugrunde.
In Hamburg hatten wir in den letzten Monaten allerdings ein paar schwierige Fälle. Da ging es etwa um die Tötung von älteren Frauen, also der Großmutter durch den Enkel. Danach hat man allerdings einen Abschiedsbrief von der Frau gefunden, dass sie sich tatsächlich umbringen wollte, weil sie so krank war. Bisher haben wir so agiert, dass wir, wenn es ein verwandtschaftliches Verhältnis beziehungsweise irgendein Verhältnis gab, das politische Motiv und den Feminizid als gegeben angenommen haben. Wir mussten uns aber auch schonmal korrigieren. Manchmal wissen wir schlicht gar nichts, wie zum Beispiel bei der vor einigen Wochen in der Elbe gefundenen Frauenleiche. Was wir aber auf jeden Fall sagen können ist, dass Feminizide oft auch im Kontext von psychischen Krisen, der aktuellen Pflegekrise und in Verbindung mit zusätzlichen Diskriminierungen vorkommen. Auch hier braucht es eine Sensibilität für die Verschränkung verschiedener Machtbeziehungen.
Wir haben auf jeden Fall aus dem einen Jahr gelernt, dass wir genauer hinschauen müssen. Zwar sind die allermeisten Fälle klassisch: Die Tat kurz nach der Trennung; in Familienverhältnissen geht es meist um junge Frauen und die Täter sind Väter, Brüder, Söhne oder Enkel. Wir haben für uns aber festgestellt, dass es genaue Marker oder Kriterien braucht. Wir müssen gucken, ob es irgendein Beziehungs- oder Machtverhältnis gab. Wir müssen herausfinden, ob es Abschiedsbriefe oder ähnliches gab. Es ist aber nicht einfach, das Patriarchat in Kriterien aufzuteilen. Man muss den Einzelfall genau anschauen. Wir haben zuletzt viel über unser zukünftiges Vorgehen gesprochen. Wenn wir zum Beispiel nur wissen, dass eine Frau getötet wurde und es uns nicht ganz klar erscheint, ob es ein Feminizid ist, dann warten wir erstmal, bis uns eindeutigere Daten vorliegen. Diese Arbeit ist aufwendig und erfordert manchmal sogar Aktenzugang, den wir zurzeit nicht haben.
Wir haben bisher nur über die vollendeten Femizide gesprochen. In Deutschland heißt es von offizieller Seite immer »jeden dritten Tag wird eine Frau getötet«. Bei uns im Netzwerk arbeiten viele in Schutzeinrichtungen und sehen es in der Praxis: Es geschieht häufiger und wird mehrmals pro Tag versucht! Wir sollten deshalb, auch als Gesellschaft, aufhören, uns immer so auf diese Zahl zu beziehen, sondern versuchen, eine andere Zählbasis zu finden. Die Erfahrungen von Frauenhäusern, Beratungsstellen und anderer Schutzeinrichtungen müssen dafür die Grundlage sein. Die haben die Erfahrung und kennen die Gewaltdynamiken. Ein Femizid ist immer nur die Spitze des Eisbergs. Diese Erzählung von »jedem dritten Tag« wird dem nicht gerecht. Es ist keine einstellige Zahl, sondern es sind sehr viel mehr Fälle und Versuche. Das macht einfach wütend.
Untiefen: In anderen Städten in Deutschland gibt es weitere Gruppen, die diese Zählungen durchführen. Seid ihr da vernetzt?
Viola: Unser Ziel ist es, eine ernstzunehmende soziale Bewegung zu sein. Dazu gehört auch, sich bundesweit zu vernetzen. Wir sind Teil eines Netzwerks, das Deutschland, Österreich und die Schweiz umfasst. Wir tauschen uns da auch zu der Arbeit und unseren Kriterien aus. Unsere Informationen halten wir in einer Statistik fest. Das geben wir an die überregionale Vernetzung weiter und wollen dazu auch Veröffentlichungen machen, damit alle damit arbeiten können.
Die Zählung ist aber nur ein Ziel. Im besten Fall möchten wir Gewalt verhindern. Aus der überregionalen Vernetzung sind schon praktische Dinge entstanden, etwa das Toolkit »Was tun gegen Feminizid?!« oder gemeinsam eingeworbene Gelder.
Untiefen: Du hast vorhin die Zusammenarbeit mit staatlichen und bürgerlichen Organisationen erwähnt, wie gestaltet sich die?
Das fängt gerade erst an. Erstmal geht es meistens darum, dass wir unsere Arbeit vorstellen, wie etwa beim Runden Tisch zum Thema Gewalt. Bei der Partei die Linke geht es um Vernetzung und Informationen. Zum Arbeitskreis Gewalt wurden wir eingeladen, er fand allerdings noch nicht statt, weshalb wir dazu noch nichts sagen können.
»Wir können keine weiteren 50 Jahre warten«
Untiefen: Seht ihr auch eine Gefahr in der Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen? Zum einen in Hinblick darauf, dass man eingehegt wird in den staatlichen Prozess des Gewaltschutzes, wie es der Frauenhausbewegung teilweise schon passiert ist, die nun durchaus finanziell abhängig ist vom Staat. Zum anderen, dass man zum Aushängeschild der Politik werden kann, ohne dass der Staat selbst etwas unternimmt oder die Verhältnisse sich ändern?
Viola: Klar, diese Gefahr gibt es. Wir haben in unserem Netzwerk aber sehr viele kritische Personen und im Gegensatz zu Frauenhäusern sind wir vor allem Aktivistinnen. Wir können dementsprechend andere Dinge tun und sagen. Das ist ein großer Vorteil und etwas, das ich an der Arbeit im Netzwerk schätze. Natürlich geht es oft Hand in Hand: Wir sind auch auf die Zusammenarbeit mit Frauenhäusern angewiesen, aber gleichzeitig schätze ich, dass wir uns ganz anders positionieren können. Wir haben uns auch gegründet, um zu zeigen, dass dieses Thema mehr angegangen werden muss. Das es mehr braucht, als bisher getan wird. Zum einen muss da explizit der Staat in den Blick genommen werden, zum anderen geht es da um gesellschaftliche Selbstorganisierung. Das sind beides Ebenen, die wir versuchen zu vereinen.
Staatliche Kooperationen sind bei uns noch nicht sonderlich ausgeprägt. An dem Punkt, dass die Gefahr der Instrumentalisierung besteht, sind wir glaube ich noch gar nicht. Aber vielleicht sollte man das immer im Hinterkopf behalten. Wir haben uns schon die Frage gestellt, wieweit unsere Arbeit gehen kann. Bei uns im Netzwerk sind Leute aus verschiedenen, auch staatlich finanzierten Organisationen, die sind aber bei uns auch als Einzelpersonen aktiv. Und wir kritisieren dann durchaus genau deren Geldgeber. Unsere Kritik richtet sich nicht immer, aber häufig an den Staat. Wenn wir richtig ungemütlich werden, dann könnte das schwierig werden, aber so weit ist es noch nicht. Unser Fokus auf Selbstorganisation soll gerade in dem Vakuum wirken, wo der Staat versagt Schutz zu gewährleisten. Wir können keine weiteren fünfzig Jahre warten, bis der Staat das Thema ernst nimmt und Geld zur Verfügung stellt. Die Bude brennt jetzt und heute!
Untiefen: Wie gestaltet sich eure Zusammenarbeit mit anderen Akteur:innen aus der linken Szene?
Viola: Als Netzwerk vieler Gruppen sind wir uns nicht immer in allem einig. Aber wir sind uns einig in unserer Definition des Patriarchats und dass es allem zugrunde liegt. Das Angenehme an unserer Arbeit ist, dass wir sehr fokussiert am konkreten Thema »Feminizide« und Gewalt an Frauen arbeiten. Andere Inhalte lassen wir aus, weil klar ist, dass wir da unterschiedliche Einstellungen haben. Das ist in der linken Szene natürlich manchmal schwierig, weil zu bestimmten Themen Stellungnahmen eingefordert werden, selbst wenn das nichts mit unserem inhaltlichen Schwerpunkt zu tun hat. Wenn wir ernsthaft an unserem Thema arbeiten wollen und die Probleme vor Ort anschauen und angehen möchten, dann brauchen wir jede Einzelne. Da ist es oft nicht zielführend, sich an einzelnen Themen so zu zerreißen und wir müssen da intern einen Umgang finden, wozu wir uns äußern und was wir auslassen.
In der feministischen Bewegung insgesamt stehen wir vor dem Problem, dass wir viele vereinzelte Gruppen sind, die dann nicht oft oder gar nicht zusammenarbeiten. Durch unsere Vernetzung wollen wir diese Vereinzelung und Spaltung überwinden und uns trotz der Unterschiede zusammentun. Das übergeordnete gemeinsame Ziel ist es, alle Formen patriarchaler Gewalt zu beenden. Denn von dieser sind wir alle, wenn auch auf unterschiedliche Weise, betroffen.
Leider gilt das das Thema »Feminizide« scheinbar als »uncool«. Warum kriegen wir es denn nicht hin, bei Gewalt an Frauen groß und präsent zu sein? Vielleicht liegt es daran, dass das Thema nicht so ansprechend ist – und natürlich auch schwer. Es ist immerhin nicht angenehm, die ganze Zeit über den Tod zu reden.
Untiefen: Ihr bezeichnet euch selbst als Anti-Feminizid-Netzwerk, es gibt auch den Begriff Femizid: Wo liegt da der Unterschied?
Viola: Die Frage wird uns immer wieder gestellt. Erstmal ist es wichtig, dass man überhaupt einen Begriff hat. Bei uns im Netzwerk kommt es daher, weil wir stark internationalistisch orientiert sind. Das »ni« als Zusatz stammt aus der lateinamerikanischen Bewegung. Damit soll die staatliche Verantwortung noch mehr hervorgehoben werden, weil es dort noch ganz andere Strukturen gibt als bei uns. Patriarchale Gewalt gibt es überall, aber in vielen Ländern Lateinamerikas ist der Staat aktiv daran beteiligt. Hier in Deutschland ist der Staat auch an der Gewalt beteiligt, aber eher passiv.
»Die wichtige Frage ist: Wie können wir Sicherheit schaffen?«
Untiefen: Gibt es noch andere gemeinsame theoretische Bezüge und Perspektiven, die ihr in eurer Arbeit nutzt?
Viola: Gar nicht so viele. Wir sind uns einig darin, wie wir das Patriarchat definieren und wie es die Welt strukturiert und beziehen uns dazu oft auf bell hooks. Das Patriarchat ist für uns ein gesellschaftliches System, dass auf der Vormachtstellung des Mannes basiert und der Vorstellung, dass Männer von Natur aus dominant und den Schwachen überlegen sind und diese dominieren können. Frauen gelten nach dieser Logik als schwach und die männliche Dominanz wird ihnen gegenüber unter anderem durch Gewalt aufrechterhalten. Diese Machtstruktur des Patriarchats ermöglicht es erst, dass Feminizide passieren. Das Patriarchat formt alle Menschen und wird gleichzeitig durch sie getragen und stabilisiert. Geschlecht ist in diesem System maßgeblich für Gewalterfahrungen und wie stark man ihnen ausgesetzt ist. Gleichzeitig ist patriarchale Unterdrückung immer mit anderen strukturierenden Machtdimensionen wie Rassismus verschränkt. Wenn wir so denken, kommen wir natürlich manchmal an den Punkt, an dem man sich die Frage stellt: Wenn das Patriarchat allem zu Grunde liegt, ist dann nicht eigentlich jeder Mord an einer Frau ein Feminizid? Deswegen ist es so wichtig, Kategorien für Feminizide zu definieren.
Darüber hinaus haben wir ganz unterschiedliche politische Hintergründe und Orientierungen. Aber wir sind eben sehr praktisch ausgerichtet und führen keine Theoriestreits. Wir fokussieren uns auf das konkrete Problem. Was nicht bedeutet, dass man nicht unterschiedlicher Meinung sein kann.
Wir sind allerdings keine Strafrechtsfeminist:innen. Das ist eine Strömung, die verschärfte, also höhere Strafen für zum Beispiel Gewaltstraftäter gegenüber Frauen fordert. Wir wissen aber aus der Kriminologie, dass Strafen nicht der Abschreckung dienen. Man muss leider sagen, dass es tatsächlich unterschiedliche Strafbedürfnisse gibt, auch bei den Frauen, die Gewalt erfahren haben. Manche möchten, dass der Täter für immer im Gefängnis sitzt, andere möchten nur ihre Ruhe und sicher sein. Die wichtige Frage ist da: Wie können wir Sicherheit schaffen? Uns steht in unserer Gesellschaft dafür zurzeit eigentlich nur das Strafrecht zur Verfügung. Gefängnisse führen allerdings nicht dazu, dass Täter Verantwortung für ihr Handeln übernehmen oder sich selbst reflektieren.
Fest steht: Feminizide müssen als solche benannt werden. Dazu, was danach passieren soll, haben wir als Netzwerk noch keinen gemeinsamen Standpunkt. Es ist aber auch nicht an uns, die perfekten Lösungen zu haben. Wenn es uns gelingt, das konkrete Problem der Feminizide zu reduzieren, zum Beispiel durch Prävention oder durch das Aufbauen von Schutzstrukturen, dann ist schonmal viel erreicht.
Untiefen: Ist es im Patriarchat schon eine Form das System zu destabilisieren, wenn auf diese Gewalt hingewiesen wird?
Viola: Das ist für uns der erste Schritt. Den brauchen wir, um dann weiterzuarbeiten. Weitere Schritte sind Präventionsarbeit und gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Aber man kann nicht alles gleichzeitig angehen. Wir können nicht sagen, wie wir das Patriarchat stürzen können. Aber ein erster Schritt ist es zu mobilisieren, alle darauf hinzuweisen und darüber aufzuklären, dass das Patriarchat der Gewalt zugrunde liegt.
Untiefen: Spielt die Selbstermächtigung gegen die Gewalt auch eine Rolle bei der Organisierung im Netzwerk?
Viola: Die Gruppe ermächtigt schon, aber wir sprechen ja für die Frauen, die nicht mehr da sind, und für die Überlebenden. Aber wenn es nichts Empowerndes hätte, dann würden es viele von uns bestimmt nicht machen. Es kostet schon viel Kraft sich so einem Scheißthema in der eigenen Freizeit zu widmen. Die ganze Zeit über den Tod zu sprechen und für Tote zu sprechen. Wir versuchen auch, so gut es geht Angehörigenarbeit zu machen. Wir richten uns aber noch relativ wenig nach ihnen, weil wir nicht immer Zugang zu den Angehörigen haben oder manche das in dem Moment nicht schaffen und nicht sagen können, was sich die Verstorbene gewünscht hätte. Das respektieren wir, gehen aber natürlich trotzdem raus. Die Kundgebungen sind deshalb noch nicht so sehr auf die jeweiligen Personen ausgerichtet. Es ist gar nicht so leicht, zum einen immer wieder die gleiche politische Forderung zu stellen und gleichzeitig auf den individuellen Fall zu gucken.
»Die Kämpfe in Lateinamerika sind viel radikaler und lauter«
Untiefen: Kannst du kurz etwas zur Rolle des feministischen Kampfs in Lateinamerika für die Anti-Feminizid-Bewegung sagen?
Viola: Die erste große Bewegung gegen Feminizide in Lateinamerika ist in den neunziger Jahren in Ciudad Juárez in Mexiko entstanden, nachdem dort Dutzende, teilweise verstümmelte Frauenleichen gefunden worden sind. Es hat damals keine Strafverfolgung gegeben und die Medien haben Victim Blaming betrieben, anstatt das Problem ernsthaft aufzugreifen. Daraufhin haben sich Frauen zusammengetan. Das waren unter anderem Mütter von Opfern von Feminiziden aber auch Politiker:innen und Feminst:innen. Diese haben dann Proteste organisiert und in diesem Rahmen entstand dann auch die Bewegung Ni Una Más (»Keine mehr«). Eine ganze Zeit später ist 2015 in Argentinien Ni Una Menos (»Keine weniger«) in Reaktion auf dortige Feminizide entstanden. Die Bewegung in Argentinien hatte von Anfang an eine Verbindung zu der in Mexiko. Ni Una Menos wurde in Argentinien zur Massenbewegung und hat sich dann transnational verbreitet. Die lateinamerikanischen Bewegungen gegen den Feminizid haben gemeinsam, dass sie auf historisch gewachsenen Strukturen von feministischen Gruppen und Frauengruppen aufbauen können. Diese Gruppen haben sich teilweise schon in der Zeit der und als Reaktion auf die Diktaturen in den achtziger Jahren in Lateinamerika gebildet.
Untiefen: Was kann man von diesen Kämpfen für die Bewegung hier lernen?
Viola: Sie sind viel radikaler und lauter. Es werden auch einfach Dinge getan, zum Beispiel Häuser besetzt, um daraus ein Schutzhaus zu machen oder Antimonumente gegen Feminizide aufgestellt. Die Öffentlichkeit wird gestaltet, ohne das mit den Behörden abzusprechen. Es ist eine Massenbewegung entstanden, die ernsthaft den Status Quo angreift und auch eine »Bedrohung« für den Staat darstellt. Das ist für den deutschsprachigen Raum nur schwer vorstellbar. Sie nehmen auch viel mehr das Leben in den Blick: »Keine weniger«, »Keine mehr«. Das ist eben eine umgekehrte Art zu denken. Es darf keine mehr fehlen, wir brauchen alle, um uns zu schützen.
Was wir als aktuelle Anti-Feminizid-Bewegung in Deutschland von den Freund:innen und Genoss:innen in Lateinamerika lernen können, ist die Form der Mobilisierung und Organisierung und wie sie es geschafft haben, Hundertausende Menschen auf die Straße zu kriegen. Wie sie patriarchale Gewalt zu einem Thema gemacht haben, das gesamtgesellschaftlich relevant geworden ist. Wir müssen schauen, wie sie das gemacht haben, und wie es sich auf unseren Kontext anwenden lässt. Dabei geht es um die Frage, wie wir es als Linke schaffen können, zu anderen zu sprechen und auch zu uns selbst.
Es wird auch immer gerne darauf verwiesen, dass die feministischen Bewegungen in Lateinamerika es in fast allen Ländern geschafft haben, den Straftatbestand »Femizid« einzuführen. Das ist auf jeden Fall auch wichtig, um das Problem auf allen Ebenen sichtbar zu machen und zu benennen, auch auf juristischer Ebene. Das ist allerdings kein Aspekt, auf den sich unsere Kämpfe als Netzwerk konzentrieren.
Untiefen: Was lässt sich nicht von Lateinamerika nach Deutschland übertragen?
Viola: In Deutschland haben wir nicht so starke, historisch gewachsene feministische Strukturen. Eine der wichtigsten Aufgaben, die wir jetzt gerade angehen, ist die Vernetzung und damit auch die Überwindung von mindestens zwei Hindernissen in der feministischen Bewegung. Zum einen ist das der historische Bruch zwischen der Frauenbewegung der siebziger und achtziger Jahre, die auch gegen patriarchale Gewalt gekämpft hat, und den heutigen feministischen Gruppierungen. Zum anderen, wie bereits angesprochen, die Vereinzelung und interne Spaltung der aktuellen feministischen Bewegung in Deutschland.
Ein weiteres Problem in Deutschland ist das Metanarrativ, dass die Gleichheit zwischen den Geschlechtern bereits erreicht sei. Das müssen wir aufbrechen. Außerdem geht die Thematisierung patriarchaler Gewalt in Medien und Politik oft mit einer sogenannten Ethnisierung der Gewalt einher. Das bedeutet, dass Deutschland sich immer als politisch und gesellschaftlich progressiv darstellt und gesellschaftliche Probleme auf spezifische migrantische Gruppen abgewälzt werden. Dies führt zu einer Verlagerung des Problems, was nicht nur falsch ist, sondern auch zu Diskriminierung führt und die Suche nach ernsthaften Lösungsansätzen verhindert.
Interview: Elena Michel
Die Autorin lebt in Hamburg und sieht in der praktischen Ausrichtung der politischen Arbeit ein großes Potential für die feministische Bewegung.
Veranstaltung: »Gegen den Geist des Sozialismus«. Buchvorstellung mit Olaf Kistenmacher
Wie geht eine linksradikale Kritik des linken Antisemitismus? Der Hamburger Historiker und Autor Olaf Kistenmacher stellt sein Buch über Kritik der Judenfeinschaft in der KPD der Weimarer Republik vor: 01.11.2023, 19 Uhr, Monetastr. 4.
Der mörderische Terror der Hamas und des Islamischen Jihad gegen Israel wurde am 07. Oktober in einer neuen Qualität entfesselt. Wer in diesen Tagen mit linken und linksradikalen Freund:innen und Bekannten spricht oder in den sozialen Medien aus dieser Ecke liest, sieht viel Mitgefühl, Wut, Verzweiflung angesichts des Terrors. Aber auch: Verharmlosung, Gleichgültigkeit bis hin zu offener Billigung oder gar Befürwortung für das Morden als vermeintlichem »Widerstand« oder »Befreiungskampf«. Leider ist der linke Antisemitismus, ohne den dieser Abgrund nicht möglich wäre, keine neue und keine vorübergehende Erscheinung. Wer wissen will, wie Anarchist:innen und Kommunist:innen schon in der Weimarer Republik gegen ihn kämpften und wie sie ihn kritisierten, kann das am kommenden Mittwoch erfahren. Der Hamburger Historiker und Autor Olaf Kistenmacher stellt sein neues Buch vor: »Gegen den Geist des Sozialismus. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik« (ça ira).
Der politische Bildungsverein Bagrut e.V. organisiert die Vorstellung in Kooperation mit Untiefen zu 19 Uhr in der Zentralen Bibliothek Frauenforschung, Gender & Queer Studies (Monetastr. 4). Die historische Perspektive wird auch Bezüge zum aktuellen linken Elend und zur Hamburger Geschichte ermöglichen.
Im Folgenden dokumentieren wir den Klappentext des Verlags.
Antisemitismus in der politischen Linken wurde nicht erst nach 1945 zum Thema. Die Kritik daran ist so alt wie die Sache selbst. In der Weimarer Republik waren es ehemalige Gründungsmitglieder der KPD wie Franz Pfemfert oder Anarchosyndikalisten wie Rudolf Rocker, die die antisemitische Agitation während des Schlageter-Kurses kritisierten. Mitte der 1920er Jahre warnte Clara Zetkin auf dem Parteitag der KPD vor judenfeindlichen Stimmungen an der Basis. 1929 erschien im Zentralorgan der um Heinrich Brandler und August Thalheimer gebildeten KPD-Opposition eine der ersten radikalen Kritiken des Antizionismus der KPD. Mit ihrer Kritik knüpften die anarchistischen und kommunistischen Linken an Interventionen von Rosa Luxemburg oder Leo Trotzki an und reflektierten zugleich die Entwicklung in Russland nach der bolschewistischen Revolution. Marx’ Anspruch, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, schloss für sie den Kampf gegen Antisemitismus auch in den eigenen Reihen mit ein. Ihre Kritik kam nicht nur Jahrzehnte vor der innerlinken Debatte über Antisemitismus von links, Luxemburg und Pfemfert nahmen auch Argumente der späteren antinationalen und antideutschen Linken vorweg.
Olaf Kistenmacher »Gegen den Geist des Sozialismus«. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik November 2023, 156 Seiten Französisch Broschur 20,00 €
Eine Veranstaltungsreihe der Innenrevision Kulturbetrieb fragt nach antisemitischen Weltbildern in gegenwärtigen Kunstdiskursen. Die zweite Veranstaltung findet am 20.09.2023, 19.30 Uhr im Central Congress statt.
Nachdem im September 2022 zwei Vertreter des indonesischen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruangrupa eine Gastprofessur an der Hamburger HfbK antraten, ist die Auseinandersetzung über die von Ruangrupa verantwortete antisemitische Kunstschau auch zu einem Streit in Hamburg geworden. Zwar gab es verdienstvolle, aber vereinzelte Proteste, zurückhaltende Ermahnungen aus der Landespolitik sowie einige wenig ergiebige Interviews und Veranstaltungen mit den Ruangrupa-Leuten. Insgesamt aber ist von Betroffenheit oder gar (Selbst-)Kritik innerhalb des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs wenig zu vernehmen. Der HfbK-Präseident Köttering lügt die von ihm initiierte Gastprofessur rückblickend zum Auslöser wichtiger »Lernprozesse« um, gar zum Beginn eines »Dialogs«: »Zum anderen ist durch die beiden DAAD-Gastprofessoren das Thema Antisemitismus im Kunstfeld nach Hamburg getragen worden, worauf wir mit vielen Veranstaltungen reagiert haben, vor allem mit dem Symposium. Damit ist es uns seit der documenta erstmalig gelungen, sehr divergente Positionen zusammen und in einen Dialog zu bringen«. Auf die Frage, ob er die Einladung wieder aussprechen würde, antwortete er entsprechend: »Das kann ich wirklich mit aller Deutlichkeit und sehr klar sagen: Ja, unbedingt! Denn es ist die Aufgabe und Pflicht von wissenschaftlichen Institutionen, sich diesen komplexen und schwierigen Diskursen zu stellen, um Lernprozesse entstehen zu lassen.« Antisemitismus geht in der Kunstwelt also weiterhin in Ordnung, so lange man dabei das Gefühl hat, mit irgendwem im Dialog zu sein. Woher kommt diese Unerschütterlichkeit – auch und gerade jenseits des offensichtlich unverbesserlichen Ruangrupa-Kollektivs?
Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Hamburg eine „Innenrevision Kulturbetrieb“ gegründet. In ihr haben sich in Kunst und Kultur Tätige zusammengeschlossen, die mit einer Veranstaltungsreihe in das beredte Hamburger Schweigen intervenieren wollen. Die Reihe untersucht anhand dreier für den gegenwärtigen Kunstbetrieb zentraler Begriffe – Kollektivität, Widerstand und Solidarität – über welche Einfallstore sich antisemitische Weltbilder im Kunstdiskurs immer wieder verbreiten können.
Die Reihe wird am 20.09. mit einer Veranstaltung zu „Kollektivität“ fortgesetzt: 19.30 Uhr im Central Congress, Steinstraße 5–7.
Die Redaktion Untiefen unterstützt diese Intervention (wie auch der Bagrut e.V., die Untüchtigen sowie der Textem-Verlag) und dokumentiert im Folgenden den Ankündigungstext der Veranstaltung.
Weitere Informationen werden zu gegebener Zeit hier auf Untiefen und auf dem Instagramaccount der Innenrevision Kulturbetrieb veröffentlicht.
Zahlreiche antisemitische Darstellungen auf der Documenta 15 haben einen seit Jahren schwelenden Konflikt in die breite Öffentlichkeit geholt – und altbekannte Frontbildungen verschärft. Mittlerweile kann ohne Übertreibung von einem Kulturkampf gesprochen werden. Gestritten wird über eine vermeintliche Konkurrenz zwischen der Erinnerung an die Shoah und der Erinnerung an deutsche Kolonialverbrechen. Gestritten wird nicht zuletzt auch über das jeweilige Verhältnis zu Israel. Spätestens durch die Berufung zweier Mitglieder des Künstlerkollektivs Ruangrupa an die HFBK ist dies auch ein Hamburger Streit. Gerade im Kunstfeld wird er vehement geführt. Das lässt die Frage aufkommen, ob zentrale Begriffe in der aktuellen Selbstbeschreibung künstlerischer Praxis nicht selbst ideologische Elemente enthalten, die gewollt oder ungewollt antisemitische Weltbilder reproduzieren. Anhand der Begriffe Kollektivität, Solidarität und Widerstand stellen sich die Gäste unserer dreiteiligen Veranstaltungsreihe dieser wichtigen, aber in der bisherigen Debatte vernachlässigten Frage.
Kollektives Arbeiten hat sich im Kunstfeld etabliert. Eine seiner Grundlagen ist der Ruf nach Solidarität. Die Geschichte dieses Rufes ist geprägt von politischen Emanzipationsbewegungen, erlebte aber immer wieder auch ideologischen Missbrauch. Der Ruf nach Solidarität kann instrumentellen Charakter annehmen, gerade weil er oftmals im Namen der „Anderen“ spricht. So definiert Solidarität eben nicht nur die eigene Gruppenzugehörigkeit.
Gerade im individualistischen Kunstfeld sind Erzählungen von kollektiver Solidarität besonders attraktiv. Das dortige Selbstverständnis, an der Seite von Marginalisierten und Unterdrückten zu stehen, begünstigt die Vorstellung von einer manichäisch in gut und böse aufgeteilten Welt. Diese stark vereinfachte Weltsicht ist für Antisemitismus besonders anschlussfähig. In Teilen des postkolonialen Diskurses werden Jüdinnen und Juden als privilegiert angesehen. Als Opfer dürfen sie nur in der Vergangenheit in Erscheinung treten. Nicht zuletzt die im Kunstfeld stark affirmierte BDS-Bewegung propagiert eine Form der Solidarität, die Gewalt und Chauvinismus ignoriert, solange sie von der vermeintlich richtigen Seite ausgehen.
Bei der zweiten Veranstaltung der Reihe „Weltbilder der zeitgenössischen Kunst“ diskutieren unsere Gäste über die Ein- und Ausschlüsse von Solidaritätsappellen und ihren mitunter selbstreferentiellen Charakter. Sie sprechen über die Attraktivität des Solidaritätsbegriffs für das Kunstfeld, über die Unmöglichkeit, den Ruf nach Solidarität von Ambivalenzen frei zu halten und über einige klassische Stereotype antisemitischer Propaganda.
Es diskutieren:
- Volker Weiß (Historiker & Autor, Hamburg)
- Shahrzad Eden Osterer (Autorin & Journalistin, München)
Der Stachel sitzt: Das Bremer ›Arisierungs‹-Mahnmal ist da
In Bremen wird diesen Sonntag, 10.09., ein lang erkämpftes Mahnmal für den Raub jüdischen Eigentums im Nationalsozialismus eingeweiht. Untiefen veröffentlicht den Mitschnitt der Diskussionsveranstaltung mit dem Initiator Henning Bleyl vom letzten Jahr und erinnert an die offenen Aufgaben für Hamburg.
Die Baustelle des neuen Mahnmals in Bremen. Im Hintergrund die Zentrale von Kühne + Nagel. Foto: Evin Oettingshausen.
In Bremen kommt diesen Sonntag, den 10. September, eine lange Auseinandersetzung zu ihrem – vorläufigen – Ende. Zwischen den Weser-Arkaden und der Wilhelm-Kaisen-Brücke, in Sichtweite der Deutschlandzentrale des Logistikkonzerns Kühne + Nagel, wird ein Mahnmal zur Erinnerung an den Raub jüdischen Eigentums während des Nationalsozialismus eingeweiht. Die Nähe zu Kühne + Nagel ist gewollt: Der 1890 in Bremen gegründete, heute weltweit drittgrößte Logistikonzern hat von den hansestädtischen Transportunternehmen mit Abstand am meisten vom Raubs jüdischen Vermögens in der NS-Zeit profitiert. Mit ihrem faktischen Monopol für den Abtransport geraubten jüdischen Eigentums aus Frankreich und den Benelux-Ländern konnte Kühne + Nagel im Rahmen der sogenannten „M‑Aktion“ (M für „Möbel“) des NS-Staates große Profite machen und ihr Firmennetzwerk internationalisieren. Der Anteilseigner Adolf Maas, der den Hamburger Firmenstandort aufbaute – ein Jude – wurde 1933 aus der Firma gedrängt und später in Auschwitz ermordet.
Trotz dieser bekannten Zusammenhänge weigert sich Kühne + Nagel, vor allem in Person des Patriarchen und Firmenerben Klaus-Michael Kühne (86) bis heute beharrlich, die eigene Mittäterschaft aufzuarbeiten. Das nun fertiggestellte Mahnmal widerspricht mit der Nähe zur K+N‑Zentrale dieser speziellen Vertuschung. Es thematisiert aber zugleich die gesamtgesellschaftlichen Verdrängung des Ausmaßes der „Arisierung“ jüdische Eigentums im Nationalsozialismus. Der Entwurf von Künstler*in Evin Oettingshausen zeigt in einem leeren Raum nur Schatten geraubter Möbel – von diesem Verbrechen ist, ganz wörtlich, fast nichts zu sehen. Der Initiator der Mahnmals-Kampagne, der Bremer Journalist Henning Bleyl, schildert gegenüber Untiefen, was die Kampagne für das Mahnmal politisch erreicht hat:
„Das Mahnmal-Projekt zeigt, dass man den Anspruch auf historische Wahrheit auch gegenüber einem hofierten Investor durchsetzen kann. Es war ein langer Weg – aber jetzt führt dieser Weg zur Einweihung eines unter breiter Bremer und internationaler Beteiligung entstandenen Mahnmals an der Weser, vor Kühnes Haustür. Und das eigentliche Thema, Bremens Rolle als Hafen- und Logistikstadt bei der europaweiten ‚Verwertung‘ jüdischen Eigentums, hatte im Lauf dieses Prozesses viele Gelegenheiten, in der Gesellschaft anzukommen.“
Klaus-Michael Kühne ist natürlich auch in Hamburg kein Unbekannter. Als Sponsor und Mäzen stützt er den HSV, finanziert aber über seine Kühne-Stiftung auch das Philharmonische Staatsorchester, fördert den Betrieb der Elbphilharmonie und hob das das Harbourfront Literaturfestival aus der Traufe. Dort finanzierte er bis 2022 den jährlich vergebenen Klaus-Michael Kühne-Preis für das beste Romandebüt. Bis letztes Jahr – nach einem Anschreiben der Untiefen-Redaktion – zwei der für den Preis nominierten Autor:innen ihre Teilnahme zurückzogen. Grund war Kritik an der verweigerten Aufarbeitung der NS-Geschichte des Unternehmens Kühne + Nagel. Diese Rücktritte sorgten für einen Eklat, der einige öffentliche Kritik an Kühne nach sich zog, während er und seine Stiftung keinerlei Verständnis zeigten. Mit dem anschließenden Rückzug der Kühne-Stiftung aus der Finanzierung des Festivals und der Umbenennung des Preises wurde die Debatte nach wenigen Wochen vorläufig beendet.
Im November 2022 luden wir daher Henning Bleyl ins Gängeviertel ein, um über Kühne + Nagel und die Bremer Kampagne für ein ‚Arisierungs‘-Mahnmal zu sprechen. Wer möchte kann Henning Bleyls Vortrag und das anschließende Diskussion nun hier auf Youtube nachhören.
Die zentralen Fragen für Hamburg bleiben indes auch nach der Mahnmal-Einweihung in Bremen unbeantwortet: Warum gibt es in Hamburg keinen kritischen Umgang mit der NS-Geschichte von Kühne + Nagel? Wie könnten Erinnerung, Aufklärung und Konsequenzen aussehen? Wie kann mit Klaus-Michael Kühne als Kultursponsor umgegangen werden? Welche Probleme der privatisierten Kulturförderung stehen dahinter?
Es bleibt spannend, ob auch an der Elbe ein eindeutiges Eintreten der Stadtgesellschaft für historische Redlichkeit erreichbar ist
Die neue, 15. Ausgabe des Harbour-Front-Literaturfestivals wird am 14. September eröffnet. Bleibt bis auf den Sponsorenwechsel und die Umbenennung in Sachen Kühne + Nagel in Hamburg also alles beim schlechten Alten? Henning Bleyl äußerte gegnüber Untiefen die Erwartung, dass auch hier etwas passiert: „Es bleibt spannend, ob auch an der Elbe ein eindeutiges Eintreten der Stadtgesellschaft für historische Redlichkeit erreichbar ist – trotz des von Kühne aufgewendeten enormen kulturellen und gesellschaftlichen Kapitals. Denn das Eigentum der jüdischen Familien, das Kühne + Nagel im Rahmen der ‚Aktion M‘ aus den besetzten Ländern abtransportierte, wurde natürlich auch in Hamburg sehr bereitwillig von großen Teilen der Bevölkerung ‚übernommen‘. Die Stadt profitierte in großem Stil von der Flucht jüdischer Menschen, deren Eigentum im Hafen zurückblieb, statt verladen zu werden. Ich bin gespannt, welchen Umgang Hamburg mit diesem Erbe findet.“
Wie die Bremer Initiative erfolgreich wurde, lässt sich in dem Mitschnitt von Bleyls Vortrag nachhören. Die Einweihung des Bremer Mahnmals findet am Sonntag, 10.09., um 11 Uhr direkt vor Ort statt. Ab 18 Uhr folgt ein öffentliches Vortrags- und Diskussionsprogramm in der Bremischen Bürgerschaft.
Hermann Wilhelm Leopold Ludwig Wissmann, seit 1890 von Wissmann (* 4. September 1853 in Frankfurt (Oder); † 15. Juni 1905 in Weißenbach bei Liezen, Steiermark) war ein deutscher Abenteurer, Afrikaforscher, Offizier und Kolonialbeamter. Ursprünglicher Standort Dares Salam Tansania, später Universität Hamburg
Dokumente der Barbarei
Der Fotograf Markus Dorfmüller erhielt 2022 für seine Arbeit zu den Spuren des Kolonialismus in Hamburg den Georg-Koppmann-Preis. Gerade sind die Fotos im Museum der Arbeit zu sehen. Wir dokumentieren in unserer Fotostrecke eine Auswahl der Bilder.
Das Denkmal von Hermann Wissmann (1853–1905) wurde 1968 gestürzt. Foto (Ausschnitt): M. Dorfmüller
»Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Barbarei, so ist es auch der Prozess der Überlieferung nicht, in der es von dem einen an den anderen gefallen ist.« Diese Sätze stehen in der siebten der berühmten Thesen Über den Begriff der Geschichte, die Walter Benjamin 1940 niederschrieb. Sie geben das Prinzip der Arbeiten Markus Dorfmüllers vor, die aktuell in der Ausstellung Eyes on Hamburg im Museum der Arbeit zu sehen ist.
Unter Benjamins historisch-materialistischem Blick offenbaren sich die ›Kulturgüter‹ als Beute, die die Sieger der Geschichte in ihrem Triumphzug mitführen. Diesen ebenso präzisen wie kritischen Blick hat sich Dorfmüller zu eigen gemacht. Seine Fotografien dokumentieren die Spuren des Kolonialismus ebenso wie sein Fortwirken in der postkolonialen Gegenwart Hamburgs. Damit stehen sie quer zum auftrumpfenden Titel der Ausstellung.
Nicht immer sind die Spuren des Kolonialismus, dem sich der Reichtum der Handelsstadt Hamburg verdankt, überhaupt noch sichtbar. Auch aus diesem Grund sind die Fotos mit Bildunterschriften versehen. Sie stellen die einzelnen Bilder in ihren gesellschaftlichen Zusammenhang, informieren über historische Kontexte und benennen Täter und Profiteure kolonialer Gewalt und Ausbeutung. In der Ausstellung wird dieses Kenntlichmachen von Zusammenhängen und Strukturen noch unterstützt durch die konstellierende Hängung.
Gegenwärtige Vergangenheit
Manche der abgebildeten Orte und ihre koloniale Geschichte sind weitgehend bekannt – etwa das Bismarckdenkmal oder das Afrikahaus (siehe dazu auch unsere eigene Bilderstrecke über koloniale Spuren in Hamburg). Viele Gegenstände und Zusammenhänge hingegen werden den meisten Besucher:innen neu sein: etwa dass die Privatbank Donner & Reuschel ihr Vermögen maßgeblich kolonialer Ausbeutung verdankt; oder dass die Vorstandskonferenzen der Unilever bis zu ihrem Umzug in die Hafencity 2009 vor einer Intarsienwand mit kolonialer Bildsprache stattfanden. Andere Fotografien wiederum dokumentieren Spuren, die man leicht übersieht, etwa die Grabstätten und Gedenksteine für Generäle deutscher Kolonialtruppen oder für Palmölfabrikanten.
Manche Fotos zeigen Überwundenes – besonders eindrücklich die 1968 von Studierenden gestürzte Wissmann-Statue, die nun lädiert, besprüht und mit einer Halskrause versehen in einer Depotkiste liegt. Die Fotos machen aber auch kenntlich, wie unmittelbar die koloniale Vergangenheit bisweilen in die Gegenwart hineinreicht. Unverhohlen zeigt sich das in einer Skulptur auf der sogenannten »Coffee Plaza« in der Hafencity. Sie wurde dort 2009 von der Neumann Kaffee Gruppe, dem weltgrößten Kaffeeimporteur, errichtet. Die Inschrift der stilisierten Kaffeebohne zeugt von einer Unbedarftheit, die sich auf Verrohung reimt: »Über 1 Mrd. Menschen trinken täglich 3 Mrd. Tassen Kaffee, die 25 Mio. Familien in 70 tropischen Ländern ihre Existenz bieten.«
Das Formprinzip von Dorfmüllers Fotografien ist so sachlich wie effektvoll. In analogem 4x5-inch-Format fotografiert, kommen sie ohne Gimmicks aus. Es gibt weder dramatisierte Kontraste, noch Unschärfen oder extreme Perspektiven. Die Wirkung verdankt sich vielmehr ganz subtilen Verfahren: Durch distanzierte Totalen etwa wird repräsentativen Gebäuden ihre imposante Wirkung genommen;1Dass Dorfmüller hauptberuflich Architektur fotografiert, macht sich auf diesen Bildern besonders bemerkbar. Auf dem gemeinsam mit seiner Kollegin Johanna Klier betriebenen Instagram-Account finden sich viele eindrückliche Architekturfotografien, die nicht zuletzt Gebäude vor ihrem (drohenden) Abriss dokumentieren. und fragmentierende Bildausschnitte konterkarieren die Wirkungsintention von Denkmälern, vermeiden die Reproduktion rassistischer oder stereotyper Darstellungen.
Der historische Materialist, schreibt Benjamin, »betrachtet es als seine Aufgabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürsten«. Markus Dorfmüller zeigt eindrücklich, wie man dieser Aufgabe mit den Mitteln der Fotografie gerecht werden kann.
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Eine Broschüre mit Markus Dorfmüllers Fotos und Texten steht zum Verkauf in allen Museumsshops der Stiftung Historische Museen Hamburg. Die Ausstellung Eyes on Hamburg ist noch bis zum 3. Oktober 2023 im Museum der Arbeit in Barmbek zu sehen. Neben der Fotoserie von Markus Dorfmüller sind in ihr Arbeiten von Axel Beyer, Robin Hinsch, Sabine Bungert/Stefan Dolfen, Alexandra Polina und Irina Ruppert vertreten.
Wir danken Markus Dorfmüller für die freundliche Genehmigung, hier eine Auswahl seiner Bilder zeigen zu dürfen. Sämtliche Rechte an den Bildern sowie den Bildunterschriften liegen bei ihm.2Die Bildunterschriften lassen sich in der Fotostrecke durch Klicken bzw. Tippen auf das jeweilige Bild aus- und wieder einblenden.
Redaktion Untiefen
Denkmal Hermann von Wissmann, ursprünglicher Standort Dar es Salaam in Tansania, ab 1922 im Garten der Universität Hamburg aufgestellt. Herrmann von Wissmann war Reichskommissar und Befehlshaber der paramilitärischen »Wissmanntruppe«, mit der 1887–1891 die Aufstände der Küstenbevölkerung in der Kolonie Deutsch-Ostafrika niedergeschlagen wurden. Dabei wurden afrikanische Dörfer überfallen, geplündert und dann niedergebrannt. Die Statue wurde 1968 von Student:innen gestürzt. Sie befindet sich heute im Lager der Universität Hamburg.
1955, auf den Tag 10 Jahre nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht, wird am 8. Mai auf dem Grundstück der Familie Bismarck in Friedrichsruh das »Deutsch-Ostafrika-Gedächtnismal« eingeweiht. Anwesend sind der Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein Kai-Uwe von Hassel und 500 Angehörige der ehemaligen Schutztruppen. Dargestellt ist der Kommandeur der Schutztruppen in Deutsch-Ostafrika Paul von Lettow-Vorbeck, Prototyp des verbrecherischen deutschen Kolonial-Offiziers. Er war 1900–1901 an der Niederschlagung des Boxeraufstandes und 1904–1906 am Völkermord an den Herero und Nama beteiligt und zog 1914–1918 als Kommandeur der Schutztruppen marodierend durch Ostafrika.
In den Kämpfen des ersten Weltkriegs in Ostafrika kamen zwischen 1914 und 1918 etwa eine halbe Million Menschen, vorwiegend afrikanische Zivilist:innen, durch Kriegseinwirkungen ums Leben.
Grabstelle Gustav Adolf Graf von Goetzen, gest. 1.12.1910, Ohlsdorfer Friedhof.
Kaiserlicher Gouverneur von Deutsch-Ostafrika und Kommandeur der Schutztruppe 1901–1906. Von Goetzen führte 1905 eine Kopfsteuer in Deutsch Ostafrika ein, dies bedeutete eine Vervielfachung der Steuerschuld und trieb immer mehr Menschen in die Zwangsarbeit auf staatlichen Baumwollplantagen. Dagegen regte sich ab Mai 1905 massiver Widerstand. Die Maji-Kämpfer waren in der Lage, etwa ein Fünftel der Kolonie unter ihre Kontrolle zu bringen. Der Maji-Maji-Aufstand wurde bis 1907 unter Anwendung massiver Gewalt niedergeschlagen. Nach heutigen Schätzungen wurde etwa ein Drittel der Bevölkerung, 250.000–300.000 Menschen, durch den Krieg und seine unmittelbaren Folgen getötet.
Am 13. August 1939 wird in Hamburg Jenfeld die Lettow-Vorbeck-Kaserne eröffnet. Über allen Hauseingängen befinden sich Schmuckrosetten mit Abbildungen von deutschen Kolonialoffizieren, darunter Lettow-Vorbeck, von Wissmann, von Trotha.
Hier wird am selben Tag das zweiteilige Kriegerdenkmal zur Ehrung der Schutztruppen in der Kolonie Deutsch-Ostafrika eingeweiht. Dargestellt sind afrikanische Lastenträger und ein Askari-Soldat auf der linken Seite und Askari-Soldaten und ein deutscher Offizier auf der rechten Seite. Dieses Kriegerdenkmal ist wie das »Deutsch-Ostafrika-Gedächtnismal« entstanden nach Entwürfen von Walter von Ruckteschell (1882–1941), Adjutant Lettow-Vorbecks in Deutsch Ostafrika.
Die Lettow-Vorbeck-Kaserne in Hamburg-Jenfeld ist heute Wohnheim der Helmut-Schmidt-Universität, an allen Gebäuden befinden sich weiterhin die Schmuckrosetten deutscher Kolonialverbrecher. In einem abgesperrten kleinen Park vor der Kaserne befindet sich heute das oben erwähnte zweiteilige Askari-Relief und eine nach 1939 errichtete Gedenkstätte für die gefallenen Soldaten der Kolonialkriege.
Vasco da Gama am Eingang der Kornhausbrücke, die zur Hamburger Speicherstadt führt. Die Speicherstadt wurde nach der Zwangsumsiedlung von ca. 20.000 Bewohnern ab 1883 erbaut. Sie diente vor allem der Lagerung von Kaffee, Tee und Gewürzen.
Laeiszhof und Reederei Hamburg Süd, Willy-Brandt-Straße. Der Handel mit Süd- und Mittelamerika hatte große Bedeutung für Hamburger Unternehmen. Auch nach der Selbständigkeit vieler Staaten im 19. Jahrhundert prägten die über lange Zeit etablierten kolonialen Strukturen die Handelsbeziehungen grundlegend. Die Reederei F. Laeisz war im Salpeterhandel mit Chile tätig, aber auch im Handel mit Afrika. Die Tochtergesellschaft »Afrikanische Frucht Company« baute die »Kamerun-Bananen« an und importierte sie bis zum Zweiten Weltkrieg.
Handelskammer Hamburg, Börsensaal.
Die Handelskammer Hamburg und ihre Mitglieder waren wesentliche Akteure im Kolonialhandel und im Erwerb von Kolonien für das Deutsche Reich; das Gleiche gilt auch für den Senat der Hansestadt Hamburg. In ihrer »Denkschrift über die deutschen Interessen in West-Afrika« von 1883 wünscht die Handelskammer Hamburg vom Deutschen Reich eine Ausschaltung der Konkurrenz der westafrikanischen Händler durch Verträge mit regionalen Oberhäuptern und die Stationierung der kaiserlichen Kriegsmarine. So soll es den Hamburger Händlern möglich gemacht werden, ihre Produkte auch im Landesinneren gewinnbringend zu tauschen.
Wandgestaltung von Eduard Bargheer im Konferenzraum des Unilever-Haus, Dammtorwall 15, erbaut 1964. Die Unilever wurde 1929 als Zusammenschluss verschiedener pflanzenölverarbeitender Unternehmen gegründet.
Hauptgebäude der Universität Hamburg, die 1908 zunächst als Hamburgisches Kolonialinstitut gegründet wird. An zwei Säulen in der Eingangshalle werden als Förderer der Wissenschaft Profiteure des deutschen Kolonialhandels geehrt.
Diorama im Museum für Hamburgische Geschichte (Ausschnitt). »›Kolonialpolitik mit Unterstützung der Marine‹ mit Vollschiff ›La Rochelle‹ der Reederei Godeffroy und Kreuzerkorvette ›Marie‹ der Kaiserlichen Marine auf der Reede von Apia/Samoainsel Upolu, Oktober 1884«.
Eventeingang »Kitavi«, Hagenbecks Tierpark 2022.
Die Familie Hagenbeck stellte ab 1875 Menschen aus den Kolonien in sogenannten Völkerschauen zur Besichtigung aus. In diesen wurden Menschen z.B. aus Somalia, Kamerun oder Asien in ihnen zugeschrieben Tänzen und alltäglichen Verrichtungen präsentiert. Hagenbeck’sche Ausstellungen sollten Menschen und Tiere in scheinbar authentischen Umgebungen präsentieren. Hagenbeck warb für seine Völkerschauen unter anderem auf den Weltausstellungen in Chicago (1893) und in St. Louis (1904).
Der Überseeboulevard ist eine zentrale Einkaufsmeile im Herzen der Hafencity. Mit seinem Namen schließt er an die Welt des kolonialen Handels und die gewünschte Exotik an. Somit heißen die am Überseeboulevard liegend Gebäude Java, Ceylon und Arabica. Auch werden hier regelmäßig Fotoausstellungen präsentiert, von April 2022 bis zum September 2022 die Fotoausstellung »Colours of Humanity«, augenscheinlich eine Fortsetzung der Hagenbeck’schen Völkerschauen mit den Mitteln der Fotografie.
Große Kaffeebohne, Denkmal auf der »Coffee Plaza« Sandtorpark, gestiftet 2009 durch die »Neumann Kaffee Gruppe«.
Die »Neumann Kaffee Gruppe« mit einem Umsatz von 2,4 Mrd. USD und Sitz in der Hafencity Hamburg, hat 2001 ihre Plantage in Mubende/Uganda nach der Vertreibung von 2000 Menschen durch das ugandische Militär erworben.
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Dass Dorfmüller hauptberuflich Architektur fotografiert, macht sich auf diesen Bildern besonders bemerkbar. Auf dem gemeinsam mit seiner Kollegin Johanna Klier betriebenen Instagram-Account finden sich viele eindrückliche Architekturfotografien, die nicht zuletzt Gebäude vor ihrem (drohenden) Abriss dokumentieren.
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Die Bildunterschriften lassen sich in der Fotostrecke durch Klicken bzw. Tippen auf das jeweilige Bild aus- und wieder einblenden.
„Der Antifeminismus hat heute eine Scharnierfunktion“
Mit Feminismus kann heute Staat gemacht werden. Zugleich scheinen antifeministische Positionen in den Mainstream vorzudringen. Und auch die Gewalt gegen Frauen, Lesben, Inter- und Transpersonen sowie Agender nimmt zu. Der Sozialwissenschaftler Florian Hessel forscht zu Antifeminismus, Antisemitismus und Verschwörungsvorstellungen, und ist Mitglied des politischen Bildungsvereins Bagrut e.V. Im Gespräch mit Untiefen erklärt er, wie Antifeminismus heute funktioniert und wer ihn in Hamburg verbreitet.
Florian Hessel beim Interview in der Zentralen Bibliothek Frauenforschung, Gender und Queer Studies. Foto: Untiefen
Untiefen: Lieber Flo, Du hast Ende Juni in der Zentralen Bibliothek Frauenforschung, Gender und Queer Studies zusammen mit Rebekka Blum sowie mit Hamburg vernetzt gegen Rechts eine Veranstaltung organisiert unter dem Titel „Antifeminismus (als antidemokratische Herausforderung) – Alltag und politische Mobilisierung in Hamburg”. Wir würden dazu gern ein paar Fragen vertiefen und eure Einschätzungen in Bezug auf Hamburg auch jenseits der Veranstaltung zugänglich machen. Zunächst würde uns aber interessieren wie Du eigentlich, persönlich und als Sozialwissenschaftler, zum Thema Antifeminismus gekommen bist?
Florian Hessel: Dafür war einerseits ein persönlicher Kontakt wichtig: Meine Vereinskollegin Janne Misiewicz hat ihre Bachelorarbeit über die Beziehung von Antifeminismus und Antisemitismus geschrieben und wir haben viel diskutiert und uns dann entschlossen, dazu gemeinsam einen Text zu schreiben. Auf der anderen Seite ist Antifeminismus ganz allgemein in den letzten 10 Jahren viel sichtbarer und wirkmächtiger geworden. Die Gründung und Entwicklung der AfD ist ein Grund dafür, aber viele andere Entwicklungen spielen mit hinein. Und als Person, als Wissenschaftler, der sich im progressiven Spektrum und als Feminist verortet, fühle ich mich auch verpflichtet, jeder Form von Menschenfeindschaft entgegen zu treten.
Untiefen: Ihr habt bei der Veranstaltung ja sicher nicht zufällig den Begriff „Antifeminismus“ in den Mittelpunkt gestellt, und nicht etwa Frauenfeindschaft oder Sexismus. Warum habt ihr diesen Fokus gewählt und was verstehst Du, was versteht ihr unter Antifeminismus?
Hessel: Ich würde die Begriffe erstmal grundsätzlich so sortieren: Sexismus bezieht sich immer in irgendeiner Form auf geschlechtsbezogene Unterschiede, aber nicht zwangsläufig auf Frauen. Das kann positiv oder negativ formuliert werden. Die klassischen Aussagen, also etwa, dass Frauen emotionaler seien und Männer sachlicher und so weiter, schränken – jetzt allein auf die Individuen bezogen – Menschen gleichermaßen ein, zum Beispiel wenn man sich als Mann versteht und dann meint, keine Gefühle zeigen zu dürfen.
Frauenfeindschaft und Antifeminismus hingegen richten sich immer gegen Frauen. Voneinander unterscheiden lassen sie sich am besten historisch. Frauenhass begleitet die gesamte Zivilisationsgeschichte, seit es patriarchale Geschlechterordnungen gibt. Antifeminismus ist dagegen ein modernes Phänomen. Ursprünglich richtete er sich gegen den Kampf für das Frauenwahlrecht und die Gleichberechtigung von Frauen im Kaiserreich. Die deutsche Publizistin Hedwig Dohm hat mit ihrer Streitschrift „Die Antifeministen“ (1902) in diesem Zusammenhang den Begriff erstmals geprägt. Grundsätzlich definiert haben ihn dann Forscher:innen wie Herrad Schenk in den 1980er Jahren und Ute Planert in den 1990ern. Die Beschreibung, auf die man sich wissenschaftlich einigen kann, ist, dass Antifeminismus eine Reaktion auf Bemühungen um Gleichberechtigung im Geschlechterverhältnis ist. Diese Definition bezieht sich also zum einen auf das Geschlechterverhältnis. Das mag uns zwar als traditionell und althergebracht erscheinen. Aber was wir heute darunter verstehen, ist erst in der Moderne entstanden, also die bürgerliche Kernfamilie, die normativ aufgeladene Arbeitsverteilung, die damit verbundenen Geschlechterrollen und Rollenstereotype und so weiter. Zum anderen geht es um die politischen Kämpfe um Gleichstellung, die auch ein Phänomen der Moderne sind. Antifeminismus bezieht sich also ganz und gar auf die moderne, kapitalistische Gesellschaft und die emanzipatorischen Tendenzen in ihr. Als politische Bewegung richtet er sich offen gegen Gleichberechtigungsbemühungen. Ein historisches Beispiel ist der „Bund zur Verhinderung der Frauenemanzipation“ im Kaiserreich. Auch heute gibt es solch einen organisierten Antifeminismus, das hat etwa in der Gründung der AfD eine wichtige Rolle gespielt. Noch wichtiger als den Blick auf Antifeminismus als politische Bewegung finde ich aber, ihn auch als ein spezifisches Ressentiment zu verstehen. Also als eine mit bestimmten Emotionen und Affekten aufgeladene und in verschiedenen Ausprägungen auftretende, projektive Ablehnung der Verunsicherung und des Unbehagens im Geschlechterverhältnis in der Moderne.
Untiefen: Du unterscheidest also zwischen dem Ressentiment als Massenphänomen und dem organisierten Antifeminismus, also den Leuten, die sich politisch unter diesem Banner zusammenfinden. Gibt es denn, auch in Hamburg, so etwas wie eine antifeministische Szene? Im Sinne von Leuten wie etwa Yannic Hendricks, die vor der Abschaffung des § 219a Ärzt:innen angezeigt haben, die Abtreibungen durchführen? Oder sind das in erster Linie rechtsextreme Strukturen, die auch antifeministisch sind? Wie würdest Du das einschätzen?
Hessel: Es gibt diese organisierten Strukturen, auch in Hamburg. Das genannte Beispiel ist ein klassisch antifeministischer, frauenfeindlicher Akteur. Zuerst aber: Gewalt gegen Frauen ist, auch in Hamburg, weit verbreitet. Für 2021 wurden etwa 5000 Fälle von – teilweise schwerer – Gewalt gegen Frauen gezählt. Und bei den Hamburger Frauenhäusern suchen im Schnitt 4 Frauen pro Tag Hilfe, zugleich sind die Häuser durchschnittlich zu 95 % belegt. Also oft vollkommen ausgelastet. Daher wird ja auch schon länger ein weiteres Frauenhaus gefordert. Hoffentlich kommt das auch bald zu Stande.
Bevor wir zu konkreten antifeministischen Akteur:innen in Hamburg kommen, ist es denke ich wichtig noch etwas Kontext herzustellen: Eine Besonderheit von Ressentiments heute ist, dass sich fast niemand offen zu ihnen bekennt. Niemand will Rassist oder Antisemit sein. Bei Antifeminismus ist das etwas anders: Er wird in der Öffentlichkeit nur sehr selten als Ressentiment benannt, das Problem ist wenig bekannt. Bestimmte Schlagwörter wie „Gendergaga“, „Genderismus“ oder „Frauenlobby“ sind in der Öffentlichkeit ziemlich frei im Umlauf, z.B. als Clickbait bei Spiegel Online oder als Signalwörter in sozialen Medien. Antifeminismus hat daher heute eine starke Integrations- und Scharnierfunktion, organisatorisch aber auch ideologisch. Die Politikwissenschaftlerin Juliane Lang oder auch die Soziologin Rebekka Blum haben das gut herausgearbeitet, sie sprechen auch von einer „Brückenideologie“. Das heißt einmal, Antifeminismus tritt heute meistens nicht allein auf, sondern verbunden mit anderen antimodernen Ressentiments. Wie diese Verschränkungen in Bezug auf Antifeminismus und Antisemitismus, aber auch Verschwörungsvorstellungen funktionieren, haben Janne Misiewicz und ich – hoffentlich anschaulich – an einem exemplarischen Fall analysiert. Der Kern ist in jedem Fall die Behauptung, gesellschaftliche Veränderungsprozesse oder soziale Bewegungen seien mindestens von außen manipuliert, würden vielleicht gar als Instrumente zu anderen Zwecken erzeugt. Damit einher geht die Schaffung entsprechender, meist personal identifizierbarer Feindbilder.
Weiter wird Antifeminismus – wie gesagt – vor allem durch Chiffren und Schlagwörter kommuniziert. Ein Schlagwort wie „Gendergaga“ wirkt dann wie ein Scharnier zwischen Spektren, von der extremen, neonazistischen, völkischen oder Neuen Rechten bis tief in die sogenannte bürgerliche Mitte hinein. Man meint nicht immer genau das Gleiche, aber man kann sich auf eine gewisse Grundlage einigen. Unter anderem darauf, dass man heute das Geschlechterverhältnis und „die Familie“ vor „dem Feminismus“ in Schutz nehmen müsse. Dass also die Emanzipation weitgehend realisiert sei und nun aber zu weit gehe, sich jetzt gegen die Frauen selbst richte. Die Scharnier- und Integrationsfunktion ist in dieser Form eine Besonderheit des Antifeminismus heute, auch daher findet man wenig originär antifeministische Akteur:innen.
Am nächsten kommt dem in Hamburg die AfD. Andreas Kemper oder auch Juliane Lang weisen schon seit der Parteigründung darauf hin, dass der organisierte Antifeminismus eine zentrale Säule dieser Partei ist – ideologisch und organisatorisch. Das zeigt sich etwa an den kleinen Anfragen der AfD Bürgerschaftsfraktion. 2019 fragte etwa der damalige Abgeordnete Harald Feineis den Senat, wann auch in Hamburg Mutter und Vater zu „Elternteil 1“ und „Elternteil 2“ gegendert würden (Drucksache 21/17515). Kleine Anfragen sind natürlich ein wichtiges parlamentarisches Instrument, aber sie dienen der AfD auch dazu, Strukturen und Institutionen zu beschäftigen und politische Punkte vorzubringen. Die Stimmungsmache gegen die angebliche Rede von „Elternteil 1“ und „Elternteil 2“ ist – neben dem grundsätzlichen Lächerlichmachen realer Diskussionen um Formen geschlechtergerechter Sprache – für verschiedene Rechte anschlussfähig. Sie ist etwa auch ein zentraler Talking point von Vladimir Putin. Wie er setzt die AfD-Anfrage schon voraus, dass es da so etwas wie eine Agenda gibt, Mutter und Vater durch geschlechtsneutrale Bezeichnungen zu ersetzen und fragt nur noch: Wann wird das passieren?
Untiefen: Und leider war die Antwort des Senats nicht: Danke, dass sie fragen, das wird dann und dann passieren – sondern gewohnt einsilbig.
Hessel: Ja, genau, der Senat sagt nur: „Die zuständige Behörde hat sich damit noch nicht befasst. Der zuständigen Behörde liegen keine Daten entsprechend der Fragestellung vor.“
In derselben Anfrage fragte Feineis den Senat: „Mit welchen geschlechtsneutralen Sprach- und Wortkreationen beschäftigen sich die bei der Hansestadt angestellten Mitarbeiter, vor allem jene im ‚Zentrum Genderwissen‘ [sic!] aktuell?“. Das Zentrum GenderWissen war der Vorgänger des Zentrums Gender und Diversity, zu dem die Bibliothek gehört, in der wir hier gerade sprechen. Diese Anfragen landen dann bei den Mitarbeiter:innen, die sich dann mit der Beantwortung befassen müssen. Mit dem Ergebnis: „Dem Senat ist derzeit keine Beschäftigung des Zentrums Genderwissen [sic!] mit dem Thema ‚geschlechterneutrale Sprache‘ bekannt.“ Von diesen Anfragen zu Geschlechterforschung und Gleichstellungspolitik gibt es Dutzende, die gehen mittlerweile wahrscheinlich in den dreistelligen Bereich. Ebenso in anderen Bundesländern und im Bundestag.
Ein weiterer wichtiger Akteur mit Scharnierfunktion ist zumindest ein Teil der CDU. Der ehemalige Landesvorsitzende Christoph Ploß hat sich da ja sehr hervorgetan. Zum Auftakt des letzten Bundestagswahlkampfs gab es in Hamburg einen Parteitag unter seiner Führung. Hauptthema war die Forderung, „Gendersprache“ zu verbieten. Der Hintergrund war derselbe wie bei der kleinen Anfrage der AfD, nämlich, dass der Senat den Hamburger Behörden erlaubt hat, gendersensible oder genderneutrale Anreden zu verwenden. Die CDU hat daraus gemacht: Hier soll uns etwas verboten werden – das gehört verboten. In dieser Konstellation, dieser Verkehrung, liegt eine anschauliche Illustration der projektiven Logik von Ressentiments. Das zielte ganz eindeutig auf eine öffentliche Wirkung, auf Affekte und Emotionen. Die wollte man mobilisieren und in Wählerstimmen ummünzen.
Bei der CDU ist das ziemlich instrumentell gedacht. Man hat das auch jetzt im Frühjahr gesehen, bei der berüchtigten Hamburger „Volksinitiative gegen das Gendern in Schulen und Behörden“. Die CDU hat sich einerseits von der Organisatorin Sabine Mertens distanziert, weil die rechtsoffen und homophob auftritt. Zugleich aber will sie von der Initiative und den dadurch erhofften Wählerstimmen nicht ablassen. Sie versucht also von den Affekten zu profitieren, diesem „Man will uns hier von oben etwas aufdrücken“.
Schließlich noch zu den aktivistischen Milieus: Das sind einzelne Personen oder kleine, oft eher lose Gruppen, angefangen mit den bereits von Dir erwähnten Abtreibungsgegner:innen oder christlich-fundamentalistischen Gruppierungen. Die scheinen mir allerdings für Hamburg keine besondere Bedeutung zu haben. Wichtiger sind da gerade Zusammenhänge wie das überschaubare Netzwerk von Personen, das aktuell die Initiative gegen „Gendersprache“ betreibt. Eine ähnliche Struktur hat auch die Querdenken-Szene, und hier wurden antifeministische Topoi im bundesweiten Vergleich in Hamburg sehr stark bedient. Dazu gibt es einen aktuellen Bericht, verfasst unter anderem von Larissa Denk. Vor allem über die schon klassisch zu nennende Chiffre der Kinder, die vor Masken und Pandemiemaßnahmen geschützt werden müssten – oder auch vor staatlichen Schulen und dem, was dort über Geschlecht und Sexualität gelehrt wird. Das zeigte sich dann an Initiativen wie „Eltern stehen auf“. Die knüpft an einen der Kristallisationspunkte des organisierten Antifeminismus in Deutschland an. In den Jahren 2014/2015 entstand aus der Agitation gegen den Bildungsplan in Baden-Württemberg die Bewegung „Demo für alle“. Diese „besorgten Eltern“ richteten und richten sich gegen eine vermeintliche „Frühsexualisierung“ und „Genderisierung“.
Trieb auch in Hamburg sein Unwesen: Der antifeministische Aktivist Yannic Hendricks. Foto: Hinnerk11 Lizenz: CC BY-SA 4.0
Untiefen: Eine tragende Säule ist der Antifeminismus also bei den politischen Parteien eigentlich nur bei der AfD. Auch die Taz hat die CDU im Zusammenhang mit der Volksinitiative gegen „Gendersprache“ als „nützliche Idioten“ statt als Überzeugungstäter bezeichnet. Und sicher stimmt es, dass der Hamburger Landverband liberal ist. Aber: historisch hat das die CDU ja nicht abgehalten – siehe die von Beus/Schill-Koalition 2001–2003 – sich von populistischen radikalen Rechten zur Macht verhelfen zu lassen.Wenn wir momentan von einem Stimmen- und Machtzuwachs der AfD ausgehen müssen: Könnte es sein, dass die CDU den Antifeminismus in Zukunft stärker als Thema (wieder-)entdecken wird? Eben weil er diese Scharnierfunktion hat? Oder ist da das liberale Selbstverständnis doch zu wirksam?
Hessel: Liberal bedeutet bei der Hamburger CDU ja vor allem wirtschaftsliberal – im Sinne von: was gut für Hafen und Handel ist, ist gut für die Stadt.
Untiefen: Auch wenn das heißt, dass z.B. Frauen mit Kindern beim Container-Hafenbetrieb Eurokai Teilzeitarbeit systematisch verwehrt wird.
Hessel: Ja. Aber die CDU vertritt dennoch einen modernisierten Konservatismus. Das ist ja eine der Errungenschaften der deutschen politischen Landschaft nach 1945: Bestimmte Traditionslinien der großen konservativen politischen Parteien konnten wirklich abgeschnitten werden. Für Hamburg teile ich die Einschätzung der Taz, dass der aktuelle Vorsitzende, Dennis Thering, kein Interesse an einer antifeministischen Positionierung hat. Aber dennoch will man es sich mit diesem Wählerpotential nicht verscherzen. Man manövriert, man versucht es nicht zu offensiv anzugehen, will sich diese Themen aber auch nicht ganz nehmen lassen, weil es dann doch ein bestimmtes interessiertes Milieu gibt, das CDU wählt oder vermeintlich wählen könnte.
Bei der Bundes-CDU gibt es dagegen sehr deutliche Zeichen, dass das antifeministische Ticket stärker gezogen werden wird. Äußerungen von Friedrich Merz, aber auch die Rede von Claudia Pechstein lassen das erkennen. Das versucht einen recht weit verbreiteten liberalen, besser vielleicht: libertären Antiliberalismus zu mobilisieren: Hier würde „dem Volk“ von „den Eliten“ in Berlin etwas aufgedrückt und das Leben miesgemacht. Wir sehen hier auch wieder die schon erwähnte Verschränkung und Vermischung mit Elementen anderer Ressentiments, von Intellektuellenfeindlichkeit etwa, Verschwörungsvorstellungen und zumindest die Anschlussfähigkeit an einen gewissen latenten Antisemitismus. Markus Söder hat schon im Frühjahr gegen eine „Woke-Ideologie“ gewettert und gesagt: „Wir brauchen keine Gedankenpolizei, sondern mehr Polizei auf den Straßen.“ Solche Aussagen zeigen schon in ihrer Formulierung, man mobilisiert autoritäre Bedürfnisse en gros, gegen die Verunsicherungen und Herausforderungen einer pluralistischen, diversen, heterogenen Gesellschaft.
Untiefen: Weshalb er dann auch die Grünen als politischen Hauptfeind darstellt, statt die AfD, die ja politisch offensichtlich die viel größere Bedrohung für die CDU/CSU ist.
Hessel: Genau. Und das ist nicht einmal strategisch klug. Die AfD ist mittlerweile eine etablierte Partei und kann mit einem gewissen Erfolgsversprechen locken. Gerade wenn Menschen zwar gefühlt rebellieren wollen, aber sich immer von Autoritäten und „der Mehrheit“, vom „Wir“ gedeckt sehen wollen, warum sollten die in dieser Konstellation CDU wählen statt AfD? Der gefährliche Effekt wird vielmehr eine weitere Normalisierung autoritärer Haltungen und Ideologiefragmente sein.
Untiefen: Wenn wir nochmal auf die Massenebene schauen: Anhand welcher Indikatoren kann man ablesen, dass Antifeminismus als Alltagsphänomen zunimmt? Und: Was gibt er eigentlich den Leuten, warum verfängt dieses Ressentiment immer wieder?
Hessel: Seit der vorletzten Leipziger Autoritarismusstudie werden zum ersten Mal explizit antifeministische Einstellungen abgefragt. Zum Beispiel durch Zustimmung zu Aussagen wie: „Frauen machen sich in der Politik häufig lächerlich.“ Herausgekommen ist, dass aktuell 25 % der Befragten ein zusammenhängendes, antifeministisches Weltbild haben, bei Männern ist es jeder Dritte. Die Zustimmung zu einzelnen Items ist teilweise noch höher. Wir können das aber auch ablesen an der Zunahme alltäglicher, frauen- oder transfeindlicher Gewalt – über ein paar Zahlen haben wir ja schon kurz gesprochen – und an der Zunahme bestimmter Veröffentlichungen und öffentlicher Diskussionen, z.B. um gendersensible Sprache. Und nicht zuletzt eben am Erfolg der AfD, für die Antifeminismus von Beginn an zentral war.
Zur Frage, was es den Leuten gibt: Wie in allen Ressentiments findet hier eine Umkehrung oder Verschiebung statt. Konkret: Statt der Verunsicherung und dem Unbehagen im Geschlechterverhältnis wird die Beschäftigung damit zum eigentlichen Problem erklärt. Zum Beispiel in Form der Gender Studies, über die Chiffre „der Feminismus“, mit den Codes und Schlagwörtern, über die wir bereits gesprochen haben. Es wird also auf eine autoritäre, projektive Weise auf gesellschaftliche Widersprüche und Krisentendenzen der modernen kapitalistischen Gesellschaft reagiert. Man benennt angeblich Schuldige und versucht, das ganz reale Unbehagen durch eine „Rückkehr“ zu einer Ordnung zu beseitigen, die es so nie gegeben hat. Die vorherrschenden Vorstellungen von der bürgerlichen Kernfamilie – Vater, Mutter, gemeinsame Kinder, verheiratet, mit klarer Ordnung von Autorität und Macht – entsprechen seit etwa 30 Jahren zunehmend weniger der Realität. Familienformen haben sich vervielfältigt. Das hat natürlich emanzipatorische Momente, ist aber zugleich für uns alle auch höchst verunsichernd. Dahinter steht ja auch eine gesellschaftliche Veränderung, oft eine Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse und Berufsbiographien, generell eine Umverteilung von Bildungsressourcen, von Lebenschancen und von Reichtum auf immer weniger Menschen.
Darauf reagiert Antifeminismus, deshalb sind Menschen auch jenseits ultrakonservativer Milieus für ihn empfänglich. Wie jedes Ressentiment kann allerdings auch der Antifeminismus das Versprechen einer stabilen, beruhigenden Ordnung nie erfüllen. Das Geschlechterverhältnis, so hat es Rebekka Blum treffend in unserem Podiumsgespräch formuliert, ist ja immer in der Krise, da bleibt also immer eine offene Wunde. Agitatoren wollen diese Wunde auch offen halten, die Unruhe immer wieder aufwühlen und diese Energien dann in ihrem eigenen Interesse lenken.
Untiefen: Leo Löwenthal hat das mal so ausgedrückt, dass das Unbehagen wie ein Juckreiz ist, und statt zu einer heilenden Therapie rät der Agitator zum Kratzen, was den Juckreiz noch steigert.
Hessel: Ja, genau!
Untiefen: Wir haben jetzt über rechten und bürgerlichen Antifeminismus gesprochen. Wie steht es mit Antifeminismus in migrantischen Communities, wo es patriarchale, konservative Strömungen des Islam gibt? Das ist sicher von der Zahl der Anhänger:innen und vom Mobilisierungspotential her deutlich kleiner, zugleich gibt es da doch viel offenere und umfangreichere patriarchale Ansprüche. Wenn wir allein an die Islamisten vom IZH an der Außenalster denken, die das patriarchale Regime im Iran stützen, aber auch hier Iraner:innen bedrohen, die feministisch kämpfen. Oder an das Al-Azhari Institut in St. Georg mit dem Imam Mahmoud Ahmed, der durch krass patriarchale Predigten aufgefallen ist, und wo es Demos gab mit separaten Frauenblöcken etc. Wie würdest Du das im Verhältnis zum rechten Antifeminismus einschätzen? Ist der zurecht als größeres Problem stärker auf dem Schirm? Oder sollten wir uns mehr auch um den islamischen Antifeminismus kümmern und das im Blick behalten?
Hessel: Ich bin leider kein wirklicher Kenner der islamistischen Szene in Hamburg. Aber ich glaube, das ist ein großes Problem. Wenn etwa die Hizb ut-Tahrir oder ihre Frontorganisationen es schaffen, über Jahre in Hamburg immer wieder Demos im dreistelligen oder gar vierstelligen Bereich zu organisieren, dann muss einem das zu denken geben. Frauenfeindschaft ist ein Kernbestandteil jedes Islamismus, jedes politischen Islam, dazu kommt der Antifeminismus, als Verlängerungen dessen auch Schwulenfeindlichkeit, Transfeindlichkeit, Ressentiments gegen queere Menschen. All das stabilisiert patriarchale Herrschaft. Selbst der österreichische Verfassungsschutz hat kürzlich explizit davor gewarnt, dass sich extrem rechte und islamistische Akteure bis hin zur terroristischen Szene – zusätzlich zum Judenhass – genau darauf einigen können: auf Queer- und Transfeindlichkeit, Schwulenfeindlichkeit und Antifeminismus. Ich glaube nicht, dass sich da offene Allianzen ergeben werden, zumindest nicht in Hamburg. Aber als ein Hintergrundrauschen gibt das zu denken. Erst vor einigen Monaten wurden ja in Hamburg islamistische Anschlagspläne aufgedeckt und verhindert. Andere, rechtsterroristische, zumindest durch Antifeminismus mit grundierte Attentate konnten nicht verhindert werden, etwa der Anschlag auf die Versammlung der Zeugen Jehovas in Alsterdorf im März. Es kann jederzeit zu auch explizit antifeministischen Anschlägen in Hamburg kommen. Wer immer sich feministisch engagiert, ist in den Köpfen von extrem rechten, islamistischen und anderen Antifeministen ein legitimes Ziel.
Dagegen wäre es wichtig, die gerade stattfindenden Kämpfe gegen patriarchale Herrschaft aller Art mehr wahrzunehmen und zu unterstützen, allen voran etwa für mehr Schutzräume wie Frauenhäuser, aber eben auch den Kampf der Deutsch- und Exil-Iraner:innen in Hamburg.
Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Kollektivität
Eine Veranstaltungsreihe der Innenrevision Kulturbetrieb fragt nach antisemitischen Weltbildern in gegenwärtigen Kunstdiskursen. Die Auftaktveranstaltung findet am 03.05.2023, 19.30 Uhr im BARBONCINO zwölphi statt.
Im September 2022 traten zwei Vertreter des indonesischen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruangrupa eine Gastprofessur an der Hamburger HfbK an. Seitdem ist die Auseinandersetzung über die von Ruangrupa verantwortete antisemitische Kunstschau auch zu einem Streit in Hamburg geworden. Bisher gab es zwar verdienstvolle, aber vereinzelte Proteste, zurückhaltende Ermahnungen aus der Landespolitik sowie einige wenig ergiebige Interviews und Veranstaltungen mit den Ruangrupa-Leuten. Insgesamt aber ist von Betroffenheit oder gar (Selbst-)Kritik innerhalb des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs wenig zu vernehmen. Woran liegt das – auch und gerade jenseits des offensichtlich unverbesserlichen Ruangrupa-Kollektivs?
Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Hamburg eine „Innenrevision Kulturbetrieb“ gegründet. In ihr haben sich in Kunst und Kultur Tätige zusammengeschlossen, die mit einer Veranstaltungsreihe in das beredte Hamburger Schweigen intervenieren wollen. Die Reihe untersucht anhand dreier für den gegenwärtigen Kunstbetrieb zentraler Begriffe – Kollektivität, Widerstand und Solidarität – über welche Einfallstore sich antisemitische Weltbilder im Kunstdiskurs immer wieder verbreiten können.
Die Reihe beginnt am 03.05. mit einer Veranstaltung zu „Kollektivität“.
Die Redaktion Untiefen unterstützt diese Intervention (wie auch der Bagrut e.V., die Untüchtigen sowie der Textem-Verlag) und dokumentiert im Folgenden den Ankündigungstext der Veranstaltung.
Weitere Informationen zu den folgenden Veranstaltungen werden zu gegebener Zeit hier auf Untiefen und auf dem Instagramaccount der Innenrevision Kulturbetrieb veröffentlicht.
Zahlreiche antisemitische Darstellungen auf der Documenta 15 haben einen seit Jahren schwelenden Konflikt in die breite Öffentlichkeit geholt – und altbekannte Frontbildungen verschärft. Mittlerweile kann ohne Übertreibung von einem Kulturkampf gesprochen werden. Gestritten wird über eine vermeintliche Konkurrenz zwischen der Erinnerung an die Shoah und der Erinnerung an deutsche Kolonialverbrechen. Gestritten wird nicht zuletzt auch über das jeweilige Verhältnis zu Israel. Spätestens durch die Berufung zweier Mitglieder des Künstlerkollektivs Ruangrupa an die HFBK ist dies auch ein Hamburger Streit. Gerade im Kunstfeld wird er vehement geführt. Das lässt die Frage aufkommen, ob zentrale Begriffe in der aktuellen Selbstbeschreibung künstlerischer Praxis nicht selbst ideologische Elemente enthalten, die gewollt oder ungewollt antisemitische Weltbilder reproduzieren. Anhand der Begriffe Kollektivität, Solidarität und Widerstand stellen sich die Gäste unserer dreiteiligen Veranstaltungsreihe dieser wichtigen, aber in der bisherigen Debatte vernachlässigten Frage.
Soviel steht fest: Kollektivität liegt im Trend. Noch nie gab es so viele künstlerische Kollektive wie heute. Sie gewinnen renommierte Preise, leiten Theater, Biennalen und Großereignisse wie die Documenta 15. Ihre Popularität verdanken sie einem Versprechen: Basisdemokratisch und anti-hierarchisch, gerecht und inklusiv sollen sie sein, nahbar und zum Mitmachen anregend. Über globale Grenzen hinweg und gleichzeitig lokal verbunden gelten sie als Wegweiser zu einer neuen solidarischen Sharing-Ökonomie, von der alle profitieren. Auf grundlegende Veränderungen der Gesellschaft – so die verbreitete Vorstellung – reagieren heutige Kollektive mit einer grundlegenden Veränderung der Kunst. Sie integrieren politischen Aktivismus, um gesellschaftlichen Fortschritt anzustoßen. Aber geht diese Rechnung auf? Welches Weltbild entwirft die Idee des Kollektivs in der zeitgenössischen Kunst? Was sind die problematischen Implikationen der damit verbundenen Vorstellung von Gemeinschaft und kultureller Identität?
Es diskutieren:
- Tina Turnheim (Theatermacherin, Institut für Neue Soziale Plastik)
- Ole Frahm (Bildtheoretiker, Comicexperte und Mitglied des Künstlerkollektivs Ligna)
Am 21. Dezember jährt sich der Mord an Ramazan Avcı in Hamburg. Die Gewalttat steht auch für die zugespitzten Auseinandersetzungen um Migration und Rassismus in der Bundesrepublik während der 1980er Jahre. Rassistische Straßengewalt war brutaler Ausdruck dieser Entwicklung.
Gedenkveranstaltung für Ramazan Avcı. Foto: Ramazan-Avcı-Initiative.
Am 21. Dezember 1985 wartete der Arbeiter Ramazan Avcı mit seinem Bruder und einem Freund an einer Bushaltestelle bei der S‑Bahnstation Landwehr in Hamburg. Es war Avcıs 26. Geburtstag und die drei waren auf dem Nachhauseweg. Als einige junge rechte Skinheads, die sich vor dem Eingang einer nahegelegenen Kneipe aufhielten, auf die türkischen Männer aufmerksam wurden, beschlossen sie spontan, die Wartenden anzugreifen. Die erste Attacke konnten Avcı und seine Begleiter noch mit Reizgas abwehren, doch die laut Presseberichten 30-köpfige Skinheadgruppe kehrte kurz darauf bewaffnet zurück. Während seine Begleiter sich in einen Linienbus retten konnten, rannte Avcı in Panik auf die Fahrbahn, wo ihn ein Autofahrer anfuhr. Den am Boden Liegenden traktierten die Angreifer mit Knüppeln. Er starb drei Tage später auf einer Hamburger Intensivstation an den Folgen eines Schädelbruchs.
Die Täter waren Mitglieder der berüchtigten »Lohbrügge Army«. Diese Skinheadgruppierung, benannt nach einem Hamburger Stadtteil, gehörte der Hooliganszene um den HSV an. Für viele Beobachter:innen war sofort klar, dass es sich um eine rassistische Gewalttat handelte. Der Vorfall war nicht der erste rechte Mord in Hamburg und Umgebung. Im August 1980 hatten neonazistische Terrorist:innen bei einem Brandanschlag in der Halskestraße zwei Geflüchtete aus Vietnam getötet. In Norderstedt, einem Vorort Hamburgs, hatte am 19. Juni 1982 ein rassistischer Mob den 26-jährigen Tevfik Gürel angegriffen und tödlich verletzt. Wiederum rechte Skinheads hatten am 24. Juli 1985 in Hamburg-Langenhorn den jungen Bauarbeiter Mehmet Kaymakçı auf brutale Weise erschlagen.
Ramazan Avcı. Foto: Ramazan-Avcı-Initiative.
Indes folgte erst auf den Mord an Ramazan Avcı im Dezember 1985 eine aufbrausende öffentliche Reaktion. Intensive Presseberichterstattung, Bürgerschaftsdebatten und eine Demonstration anlässlich des Todes Avcıs deuten darauf hin, dass die Auseinandersetzungen um Migration und Rassismus eine neue Qualität erlangt hatten. Tatsächlich brodelte es in Hamburg und der Bundesrepublik der 1980er Jahre um diese Themen, während rassistische Gewalttaten zunahmen. Im weiteren Verlauf des Jahrzehnts spitzte sich dieser widersprüchliche Diskurs zu, zumal die Zugewanderten mit ihren Stimmen gesellschaftlich mehr und mehr empordrängten und ihre Rechte einforderten.
Die doppelte Transformation der Bundesrepublik
Seit der ersten Hälfte der 1970er machten die westlichen Länder eine krisenhafte Wandlung durch, die den Beginn der neoliberalen Epoche markierte. Mit der Abwicklung weiter Teile der Industrie galten die Arbeitskräfte, die die Bundesregierung seit den 1950ern und 1960ern vor allem aus der Türkei, Griechenland und Italien angeworben hatte, als wirtschaftlich überflüssig. Für große Teile der Öffentlichkeit schienen sie außerdem zunehmend die vermeintliche ethnische Homogenität Deutschlands zu stören. »Überfremdung« war das rassistische Schlagwort der Stunde. Die Regierungen Helmut Schmidts und Helmut Kohls versuchten daher, die »Gastarbeiter:innen« mit Geldprämien zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu bewegen. Diese Rückführungspolitik verkehrte Kohls Parole »Deutschland ist kein Einwanderungsland« jedoch in ihr Gegenteil. Vor die Wahl gestellt, machten die meisten Arbeitsmigrant:innen die Bundesrepublik zu ihrem dauerhaften Zuhause und holten ihre Familien nach. Hinzu kam eine wachsende Zahl von Asylsuchenden. Allein 1985 waren es 100.000 Anträge, auch wenn Bonn eine immer restriktivere Asylpolitik betrieb.
Im Jahr 1986 lebten in Westdeutschland 4,5 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Sie sollten die deutsche Gesellschaft nachhaltig prägen, blieben als »Ausländer:innen« jedoch vorerst Bürger:innen zweiter Klasse. Die Rassismuswelle dieser Jahre ist also vor dem Hintergrund einer Phase der doppelten Transformation zu sehen. Erstens begann sich die Bundesrepublik zu einer neoliberalen Dienstleistungsgesellschaft zu wandeln, was starke sozioökonomische Friktionen verursachte. Von der hohen Arbeitslosigkeit waren vor allem die »Gastarbeiter:innen« betroffen. Zweitens bildete sich das Land zunehmend als pluralistische und liberale, aber widersprüchliche Einwanderungsgesellschaft heraus, die das traditionelle nationale Selbstverständnis herausforderte.
Die Baseballschlägerjahre begannen vor 1990
Die Migrationsabwehr der Bonner Regierungen konnte sich der rassistischen Zustimmung breiter Bevölkerungsteile sicher sein. Diese Konjunktur drückte sich besonders scharf in einer vielseitigen rechten Mobilisierung aus, die auch die Hansestadt erfasste. Dazu zählten die erwähnten Gewalttaten, aber auch das Auftreten verschiedener Organisationen. Im Jahr 1982 gründete sich aus dem Umfeld der NPD eine »Hamburger Liste Ausländerstopp«, die bei den Bürgerschaftswahlen antrat und ähnlichen Parteien in anderen Bundesländern als Vorbild diente. Die seit 1979 existierende rechtsextreme »Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei« (FAP) wurde 1983 vom bekannten Hamburger Neonazi Michael Kühnen und den Anhängern seiner »Aktionsfront Nationaler Sozialisten« (ANS) unterwandert. Die ANS, die die Behörden im gleichen Jahr verboten hatten, rekrutierte ihre Mitglieder wiederum in der hamburgischen Skinheadszene, der auch die Mörder Ramazan Avcıs angehörten.
Avcı, Kaymakçı und Gürel waren nicht die einzigen Opfer solcher Gewalttäter. In verschiedenen Hamburger Vierteln waren Jugendgangs aktiv, doch die Hooliganszene um den HSV ragte als stramm rechts und besonders gefährlich heraus. Eine Sonderausstellung des HSV-Museums dokumentierte 2022 eine lange Chronik rechter Übergriffe und Gewaltexzesse, für die diese männerbündischen Fangruppierungen verantwortlich waren. Die Morde an Avcı und Kaymakçı sowie die Tötung des Bremer Fußballfans Adrian Maleika bildeten traurige Höhepunkte.
Aufruf zur Gedenkdemonstration 1986. Quelle: Archiv Infoladen Schwarzmarkt.
Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Chronik nur einen Bruchteil der Taten dokumentiert. Sowohl Flugblätter antifaschistischer Gruppen als auch Berichte etablierter Medien aus den 1980er Jahren vermitteln ein Bild alltäglicher Gefahr für Menschen, die als »Ausländer:innen« identifiziert wurden. »Skinheads schlugen wieder zwei Ausländer nieder« titelte das Hamburger Abendblatt am 2. Januar 1986 und am 13. Januar: »Skinheads überfielen Türken in der S‑Bahn.« Im Archiv des Spiegels sind vergleichbare Berichte einsehbar. In den Vorjahren sah die Situation nicht anders aus. In einem »Bericht über (neo)faschistische und antifaschistische Aktivitäten in Hamburg« aus der Feder einer Antifagruppe hieß es 1984: »Hamburg-Bergedorf 20.5.: 50 Skins prügeln sich mit Türken am Bhf. Ein Türke wird mit einem Holzknüppel schwer verletzt.« Eine ähnliche Antifa-Recherche von 1983 berichtet: »29.11. Das ›Broadway‹ zeigt den Film ›Under Fire‹. Die ›Savage Army‹ lief auf, beschimpfte Ausländer und Linke und verprügelte eine chilenische Frau.«[1] Vor wenigen Jahren wurde der Begriff »Baseballschlägerjahre« geprägt, um die Hochphase rechter Straßengewalt im Deutschland der 1990er zu beschreiben. Dieser Ausdruck ist auch für Hamburg im Jahrzehnt vor der Wende angemessen.
Migrantische Selbstorganisierung gegen Rassismus
Gegenüber der migrationsfeindlichen Politik sowie dem Straßenterror regte sich jedoch zunehmend Widerstand. Auf Sankt Pauli hatte sich am 26. Mai 1982 die türkische Arbeiterin und Dichterin Semra Ertan aus Protest gegen diesen Rassismus selbst entzündet. Ein weniger tragischer Ausdruck des Aufbegehrens war die Avcı-Demo am 11. Januar 1986, zu der ein breites Bündnis von 23 deutsch-türkischen Organisationen und Gewerkschaften aufgerufen hatte. Je nach Quelle folgten zwischen 10.000 und 15.000 Menschen dem Aufruf, was ebenfalls auf den großen gesellschaftlichen Stellenwert des Vorfalls hinweist. Die zahlreichen türkischsprachigen Transparente und Pappschilder, die die Presse dokumentierte, bewiesen den hohen Anteil türkischer beziehungsweise migrantischer Personen an dem Protest. Dieser wandte sich gegen »Ausländerfeindlichkeit«, wie Rassismus seinerzeit genannt wurde, und forderte die generelle Gleichstellung der Immigrierten.
Migrantische Selbstorganisierung war in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren aufgekommen und spielte überdies eine wichtige Rolle in industriellen Arbeitskämpfen der neoliberalen Transformationsphase, beispielsweise bei der spektakulären Besetzung der HDW-Werft im Hamburger Hafen 1983. Diese Aneignung politischer Subjektivität erhielt nach dem Mord an Avcı neuen Schwung. Organisator:innen des Protest gründeten nun das »Bündnis Türkischer Einwanderer«, aus dem zehn Jahre später die »Türkische Gemeinde Deutschland« hervorgehen sollte. In der Tat spiegelte sich diese emanzipative Entwicklung auch im Bereich der Jugendgangs. Die »Champs« auf Sankt Pauli waren etwa stark migrantisch geprägt und setzten sich gegen die Übergriffe der Skinheadbanden zur Wehr.
Die Wahrnehmung der Betroffenen geriet nach Avcıs Tod wenigstens vorrübergehend in den Fokus der Medien. Den Zuschauer:innen des Hamburg Journals des Norddeutschen Rundfunks erklärte ein junger türkischer Mann Anfang 1986 zum Beispiel: »Ich hatte so viele Scheiben in der S‑Bahn gesehen und so, wo die da geschrieben haben, ›Scheißtürken, raus aus Deutschland‹. Also ehrlich gesagt, ich trau mich nicht … Ich habe Angst in Deutschland zu leben, denn ich habe Angst, dass wir irgendwann mal aus Deutschland rausgeschmissen werden und dass wir überhaupt keine Rechte haben wie ein Deutscher.«
Widersprüchliche Liberalisierung
Dass Reporter:innen Betroffene zu Wort kommen ließen, hing auch damit zusammen, dass die westdeutsche Gesellschaft zumindest teilweise eine neue Sensibilität gegenüber Rassismus und rechter Gewalt entwickelt hatte. Diese blieb jedoch widersprüchlich. So sammelte die Pressestelle des Hamburger Senats nach der Tat vom 21. Dezember 1985 hunderte einschlägige Presseartikel größtenteils Hamburger Zeitungen, die meisten davon aus dem Jahr 1986. Die Medien berichteten intensiv zum Vorfall, zu »Ausländerfeindlichkeit« generell sowie über Skinheads. Deren Gewalt gegen migrantische Gruppen und linke Punks framte man jedoch häufig als unpolitische Auseinandersetzungen.
Angesichts der intensiven Berichterstattung war es kein Wunder, dass sich auch die Bürgerschaft mit Avcıs Tod befasste. Die Fraktionen der »Grün-Alternativen Liste« (GAL) und der SPD beriefen in der Plenarsitzung am 15. Januar 1986 eine Aktuelle Stunde ein, in der es zu hitzigen Schlagabtäuschen kam. Es entsprach einer unter Linken und Migrant:innen weitverbreiteten Auffassung, wenn die GAL rassistische Übergriffe in direkten Zusammenhang mit der bundesdeutschen Migrationspolitik stellte: »Die Mordabsicht der Skinheads ist gegen die Lebensinteressen der Ausländer in dieser Stadt gerichtet. Das Sondergesetz für Ausländer, die Lagerhaltung von Menschen und die Abschiebepraxis sind es ebenso.« Der Erste Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) deutete die anhaltenden rassistischen Angriffe einige Tage später hingegen als Schlägereien zwischen Jugendlichen um und verharmloste sie auf diese Weise. Die Betreffenden rief er dazu auf, »diese Kette der Gewalt abzureißen. Hamburg will Frieden. Ich weiß wohl: diese Vorfälle sind nicht typisch für das Zusammenleben der Deutschen und Türken in Hamburg. […] Aber eine böse Tat droht die nächste hervorzurufen.«
Zu der erwähnten, in den 1970er Jahren einsetzenden Transformation gehörten schwere Kämpfe der Mehrheitsgesellschaft um ihr wichtiger werdendes Selbstverständnis als liberale Demokratie. So kritisierten linksliberale Stimmen die restriktive und diskriminierende Ausländerpolitik der Bundesregierung massiv. Auch für die radikale Linke wurde Rassismus und Rechtsextremismus zu bestimmenden Themen. Der Diskurs war extrem polarisiert und dominierte die Innenpolitik in der zweiten Hälfte der 1980er. Kaum zufällig fielen in diese Phase erinnerungskulturelle Wegmarken wie der »Historikerstreit« oder die Anerkennung »vergessener Opfer« des Nationalsozialismus. Ein weiterer Gradmesser ist der enorme Erfolg von Günther Walraffs Buch »Ganz unten«, das zwei Monate vor dem Überfall auf Ramazan Avcı erschienen war und die Lage türkischer Arbeitsmigrant:innen skandalisierte. Nach zwei Wochen waren 650.000, nach vier Monaten vier Millionen Exemplare verkauft. Wallraff sprach dann auch bei der Großdemo am 11. Januar 1986 in Hamburg. Weiterhin fiel der Start einer antirassistischen Kampagne des Deutschen Gewerkschaftsbundes unter der Parole »Mach‘ meinen Kumpel nicht an« in den Aufruhr um den Mord an Avcı.
Diese Liberalisierungstendenzen in Gesellschaft und Geschichtspolitik waren keineswegs eindeutig und unumstritten, sondern konkurrierten etwa mit einem erinnerungskulturellen Hype um »Preußen«. Nicht zuletzt stand die progressive Entwicklung dem alltäglichen und dem institutionellen Rassismus gegenüber, der sich auch im Urteil gegen die Mörder Ramazan Avcıs zeigte: Das Landgericht Hamburg verurteilte die Haupttäter im Juli 1986 zwar zu mehrjährigen Gefängnisstrafen wegen Totschlags, weigerte sich jedoch eine rassistisch motivierte Mordabsicht anzuerkennen. Die Folge war ein empörter Tumult im Gerichtssaal.
Auf Betreiben der Ramazan-Avcı-Initiative 2012 vom Hamburger Senat eingeweihter Gedenkstein. Foto: privat.
Trotz der intensiven Auseinandersetzung um den Mord im Frühjahr 1986, scheint diese Geschichte – wie der Terror in der Halskestraße – ebenfalls im Schatten der extrem rechten Mobilisierungen der 1990er zu stehen. In der Tat ist die rassistische Gewalt in Westdeutschland vor 1990 heute generell weitgehend verdrängt worden. In der Regel fokussiert die Geschichte des rechten Terrors in der Bundesrepublik auf die Zeit nach der »Wiedervereinigung« und die neuen Bundesländer, was erinnerungskulturell problematisch ist. So erscheinen rassistische Mobilisierungen zuvörderst als ostdeutsches Phänomen, während die Kontinuität des bundesrepublikanischen Rechtsextremismus hinter der Nebelwand der Epochengrenze verschwindet. Die westdeutsch dominierte Berliner Republik kann unangenehme Aspekte der nationalen Vergangenheit damit als Problem postsozialistischer »Ossis« externalisieren.
Auch deswegen ist eine umfassende Gedenkkultur um die Opfer rechter Gewalt umso wichtiger. Anschub, die Erinnerung an den Mord an Avcı wenigstens lokal wachzurufen, kam »von unten«, aus den Reihen eines migrantischen Zusammenhangs. Nachdem sich 2010 eine Gedenkinitiative gegründet hatte, weihte der Hamburger Senat 2012 auf deren Betreiben einen Gedenkstein ein und benannte den Platz bei der S‑Bahnstation Landwehr nach Ramazan Avcı feierlich um. Jährlich am 21. Dezember hält die Initiative eine Gedenkveranstaltung am Ort des Geschehens, bei der Angehörige von Ramazan Avcı sprechen. Auch an den Mord an Mehmet Kaymakçı erinnert seit Sommer 2021 ein Mahnmal im Kiwittsmoor-Park in Langenhorn, jedoch besuchten nur relativ wenige Menschen die Einweihungszeremonie. Das Gedenken an die Hamburger Baseballschlägerjahre erhält noch nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient.
Im August 1977 eröffnete das erste der autonomen Hamburger Frauenhäuser. Seitdem sind sie unerlässlich für den Schutz vor Gewalt. Doch die Plätze sind rar und die Finanzierung von politischem Wohlwollen abhängig. Aus einer feministischen Praxis sind prekäre Institutionen geworden. Anlässlich des Internationen Tags gegen Gewalt an Frauen fragt unsere Autorin eine Mitarbeiterin: Wie geht es den Hamburger Frauenhäusern heute?
Die Forderung bleibt bestehen. Transparent auf einer »One Billion-Rising«-Aktion gegen Gewalt an Frauen 2014 in Hamburg. Foto: www.sommer-in-hamburg.de Lizenz: CC BY-SA 2.0
Für die Frauenbewegung der 1970er-Jahre war die Organisierung gegen Gewalt gegen Frauen zentraler Bestandteil der politischen Arbeit. Gewalt in der Beziehung galt zuvor lange als »Einzelschicksal«. Die Frauen der zweiten Welle des Feminismus thematisierten diese männliche Gewalt durch Selbsterfahrungsgruppen und Organisierung als strukturelles Problem von Frauen im Patriarchat. Auch in Hamburg organisierten sich im Jahr 1976 Frauen, um gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu kämpfen. Sie gründeten den Verein Frauen helfen Frauen e.V. und erschufen innerhalb eines Jahres das erste autonome Hamburger Frauenhaus. Das Selbstverständnis damals: Das Frauenhaus ist ein Teil der Frauenbewegung und soll unabhängig sein – alle Frauen entscheiden gemeinsam, was passieren soll.
Da die Finanzierung noch nicht staatlich abgesichert war, mussten die Frauen zunächst alles selbst machen – renovieren, Möbel organisieren, Spenden sammeln, das Haus schützen. So erinnert sich auch eine Zeitzeugin in der filmischen Dokumentation »Juli 76 – Das Private ist Politisch« an die ersten Jahre des Hauses: »Selbstorganisation. Selbstbestimmung. Das ist auch eine Utopie gewesen.« Das Frauenhaus selbst war feministische Praxis.
Selbstorganisation und Professionalisierung
Die Selbstorganisation stieß jedoch auch an zeitliche, finanzielle und emotionale Grenzen, wie die ehemalige Redakteurin der Hamburger Frauenzeitung Dr. Andrea Lassalle in einer Chronik der Hamburger Frauenhäuser im digitalen deutschen Frauenarchiv nachzeichnet. Innerhalb der Frauenbewegung wurden daher Debatten um die Organisierung und Struktur der Frauenhäuser geführt, die eng verzahnt waren mit den damaligen politischen und theoretischen Analysen um (unbezahlte) Sorgearbeit, Hierarchiefreiheit und Unabhängigkeit.
Mittlerweile wurden Frauenhäuser durch bezahlte Mitarbeiterinnen aus der Sozialen Arbeit professionalisiert. Dadurch entstand ein Widerspruch zwischen Selbstwirksamkeit und Professionalität, der im Alltag der Mitarbeiterinnen und Bewohnerinnen bis heute eine Rolle spielt. Im Gespräch mit Untiefen berichtet eine Mitarbeiterin eines Frauenhauses in der Metropolregion Hamburg, die Professionalisierung sei grundsätzlich der anspruchsvollen Arbeit mit Frauen und Kindern aus akuten Gewaltsituationen angemessen. In vielen autonomen Frauenhäusern übernehmen allerdings auch die Bewohnerinnen selbst noch Teile der täglichen Arbeit, beispielsweise die nächtliche Aufnahme.
In Hamburg ist dafür seit 2016 die 24/7, die zentrale Notaufnahme für die Hamburger Frauenhäuser, zuständig. Die Mitarbeiterinnen nehmen die akut betroffenen Frauen auf und vermitteln sie dann an Häuser weiter. Dies entlaste die Bewohnerinnen von den nächtlichen und wöchentlichen Notdiensten, so die Mitarbeiterin. Gleichwohl könne es den Bewohnerinnen auch Stärke zurückgeben, einen Teil beizutragen und andere Frauen zu unterstützen. Allerdings übernehmen die Bewohnerinnen diese Aufgaben nicht in erster Linie aufgrund dieser ermächtigenden Wirkung, sondern schlichtweg, weil das Personal fehle.
Kein Frauenhaus, sondern der Sitz von Frauen helfen Frauen e.V., der anderen Trägervereine der autonomen Frauenhäuser sowie der Koordinationsstelle der 24/7 in der Amandastraße. Foto: Dirtsc Lizenz: CC BY-SA 3.0
Die befürchtete Hierarchie zwischen professionalisierten und ehrenamtlich arbeitenden Frauen in den Häusern konnte trotz basisdemokratischer Struktur nicht vermieden werden. Da die Frauenhäuser mittlerweile öffentlich finanziert und tariflich gebunden sind, werden auch die Anforderungen an die Qualifikationen der Mitarbeiterinnen höher – und schließen damit viele Frauen, auch ehemalige Bewohnerinnen, aus. Doch gerade diese Frauen bringen oft sowohl eigene Erfahrung mit partnerschaftlicher Gewalt und dem Leben im Frauenhaus mit als auch Sprachkenntnisse, die dem Leben im Haus zuträglich sein könnten. Die geringe Anerkennung ausländischer Abschlüsse in der Sozialen Arbeit und die strukturelle Ungleichheit im Bildungssystem in Deutschland tragen dazu bei, dass die Mitarbeit im Frauenhaus nicht allen gleichermaßen zugänglich ist – und die Teams ihrem Anspruch an Diversität nicht immer gerecht werden können.
Feministische Debatten in der Frauenhauspraxis
Mit dem Auftreten antirassistischer Diskurse an den Universitäten und in der feministischen Szene entbrannten auch innerhalb der Frauenhäuser Debatten über Rassismus und Diskriminierung, im Zuge derer mit Quotierungen in den Teams und bei den Aufnahmen experimentiert wurde. Weniger diskutiert wurde hingegen jahrelang das hot topic der aktuellen feministischen Debatten: Was ist eine Frau? Bis vor wenigen Jahren, so eine Mitarbeiterin, war die Diskussion darum, was Geschlecht eigentlich ist, in Frauenhäuser nicht anschlussfähig. Dies ändert sich jedoch derzeit, insbesondere durch jüngere Kolleginnen.
Die etwa in der Debatte um das »Selbstbestimmungsgesetz« geäußerte Befürchtung einiger Feministinnen, Frauenschutzräume könnten unterlaufen werden, wenn Geschlecht an eine empfundene Identität statt an körperliche Merkmale geknüpft ist, erscheint angesichts des von der Mitarbeiterin beschriebenen Frauenhausalltags weniger eine praktische als vielmehr eine theoretische Frage zu sein: »Die Frau kommt – die kann mir auch irgendwas erzählen, wer sie ist – sie muss mir auch nicht ihren Perso zeigen. So arbeiten wir nicht. Die Frau erzählt, und wenn sie von häuslicher Gewalt betroffen ist, dann wird sie aufgenommen.« Der rechtliche Personenstand spielt in der Praxis keine Rolle. Jede Aufnahme ist außerdem eine Einzelfallentscheidung und berücksichtigt die Erfahrungen der Bewohnerinnen. Und: nicht jede sei für diese Art des Zusammenwohnens geeignet, auch das spielt bei den Aufnahmegesprächen eine Rolle.
In Hamburg wurde zudem vor zwei Jahren das 6. Frauenhaus gegründet, das sich explizit als Schutzraum für trans Frauen positioniert und die seit Jahren gängige Praxis untermauert. Viel wichtiger als die theoretische Definition von Geschlecht erscheint jedoch die Frage, ob in den Häusern überhaupt genug Plätze vorhanden sind. Zu Beginn der Pandemie fehlten in Hamburg rund 200 Frauenhausplätze.
Zu wenige Plätze, zu wenig Geld, zu wenig Personal
Obwohl aktuelle innerfeministische Debatten durchaus zum Thema werden, nimmt das alltägliche Rotieren, auch aufgrund fehlenden Personals, in den Häusern einen Großteil der Zeit ein. Die Art und Weise der öffentlichen Finanzierung unterscheidet sich je nach Bundesland und Gemeinde. Während in Hamburg, Schleswig-Holstein und Berlin die autonomen Frauenhäuser durch eine Pauschale pro Platz im Haus finanziert werden, ist die Finanzierung in anderen Bundesländern direkt an die betroffene Frau gekoppelt. Da sie in einigen Ländern über das Sozialhilfegesetz abgewickelt wird, sind Frauen mit eigenem Einkommen, Studentinnen und Frauen mit unsicherem Aufenthaltsstatus davon ausgeschlossen. Diese Frauen werden, wenn möglich, in Ländern mit Pauschalfinanzierung untergebracht, da sie die Plätze sonst selbst zahlen müssten – vorausgesetzt, Aufenthaltsbestimmungen oder der Job lassen einen Umzug zu und es sind freie Plätze vorhanden. Die Zentrale Informationsstelle der autonomen Frauenhäusern (ZIF) fordert dementsprechend eine bundesweite einzelfallunabhängige Finanzierung der Frauenhäuser.
Doch auch die pauschale Finanzierung bringt Schwierigkeiten mit sich. Der Erhalt sowie die Ausweitung der Plätze sind vom Wohlwollen der jeweiligen Landesregierungen abhängig. Um einer drohenden Schließung zu entgehen, wurden im Jahr 2006 das 1. und das 3. Autonome Frauenhaus zusammengelegt. Der CDU-geführte Senat hatte Kürzungen beschlossen, da die Versorgungslage in Hamburg besser sei als in anderen Großstädten.
Feministische Perfomance »Der Vergewaltiger bist du« des Kollektivs Las Tesis aus Argentinien, die mittlerweile auch in Hamburg regelmäßig zum 25. November im Rahmen von Demonstrationen aufgeführt wird. Foto: Paulo Slachevsky Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0
Männergewalt und Femizide
Laut behördlicher Auskünfte wurden in Hamburg im laufenden Jahr insgesamt 16 Frauen getötet, sechs davon von ihrem (Ex-)Partner, bei den zehn anderen ist die Einordnung unklar. Die Zahl der Femizide, also der Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts, ist in jedem Fall alarmierend. Allerdings ist Femizid im deutschen Recht kein eigener Tatbestand, er wird unter Partnerschaftsgewalt subsumiert. Studien und genaue Fallzahlen zu Femiziden fehlen entsprechend im deutschsprachigen Raum weitgehend. Die frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft Cansu Özdemir kritisierte daher jüngst den Senat für seine Weigerung, eine Untersuchung zu Femiziden in Hamburg als »nötige wissenschaftliche Basis für ein zielgerichtetes und wirkungsvolles Präventionskonzept« in Auftrag zu geben.
Bewohnerinnen und ehemaligen Bewohnerinnen von Frauenhäusern steht die Gefahr, Opfer eines Femizids zu werden, besonders deutlich vor Augen. 2018 wurde die 42-Jährige Juliet H. von ihrem Expartner ermordet. Nachdem sie in einem Hamburger Frauenhaus Schutz gesucht hatte, zog sie mit ihren Kindern in eine eigene Wohnung, wo sie von ihrem Exmann getötet wurde. Doch nicht nur für die Bewohnerinnen sind solche Fälle alarmierend. Es setzt auch die Mitarbeiterinnen enorm unter Druck, die mit knappen Ressourcen und staatlichen Hürden kämpfen, um den Frauen Schutz und eine Perspektive zu bieten.
Väterrechte stehen über dem Schutz von Frauen und ihren Kindern. Die Veränderungen im Familienrecht der letzten Jahre machen die Situation von Frauen aus Gewaltbeziehungen gefährlicher. Die Zeit unmittelbar nach der Trennung vom gewalttätigen Partner birgt das höchste Risiko, Opfer eines (versuchten) Femizids zu werden. Umso wichtiger ist dann ein unkomplizierter Zugang zu einem Frauenhaus. Dieser Schutz wird allerdings durch das familienrechtlich angestrebte Wechselmodell untergraben.
Das von der jetzigen Bundesregierung in den Mittelpunkt von Sorge- und Umgangsrecht gestellte Wechselmodell soll eigentlich zu einer gleichberechtigten Aufteilung der Erziehung und Verantwortung für gemeinsame Kinder führen. Es bedarf jedoch einer Kommunikation auf Augenhöhe, um die nötigen Absprachen für dieses Arrangement zu treffen. Übt der Vater Gewalt über die Mutter aus, ist diese Augenhöhe offensichtlich nicht gegeben. Aus der Praxis berichtet die Mitarbeiterin, dass dem Vater durch das Umgangsrecht in diesen Fällen ermöglicht wird, weiterhin Kontrolle und Gewalt auszuüben. Das Wechselmodell steht deshalb bei Feministinnen und Initiativen für Alleinerziehende Mütter in der Kritik.
Gerichte ordnen sogar bei Müttern, die im Frauenhaus leben, das Wechselmodell an. Die Mitarbeiterin des Frauenhauses beschreibt: »Wenn die [Frau] Kinder hat, geht’s sofort los mit Kontakt zu Jugendamt, Kontakt zu Anwälten, dann wird irgendwer versuchen sofort das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu beantragen, es werden Sofortumgänge in die Wege geleitet mit den gewalttätigen Vätern – und das ist krass.«
Die Gerichte gingen ohne weiteres davon aus, dass die Gewalt durch den Auszug der Mutter aufgehört habe und also bei Verfahren zum Sorge- und Umgangsrecht nicht berücksichtigt zu werden brauche. Die Mütter müssten daher irgendwie Vorkehrungen treffen, um dem gewalttätigen Mann die Kinder zu übergeben, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Durch Personalmangel ist es den Mitarbeiterinnen in den Frauenhäusern oft nicht möglich, Frauen zu diesen Übergaben zu begleiten.
Nach 45 Jahren sind autonome Frauenhäuser also zwar anerkannte Institutionen zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Aber ihre Existenz bleibt prekär und die Situation der Frauen selbst wird komplexer. Die Mitarbeiterin und ihre Kolleginnen erwarten vom Senat und der Bundesregierung eine Erhöhung der Anzahl der Plätze und eine bundesweite pauschale Finanzierung. Im Sorge- und Umgangsrecht müsse das Personal geschult werden, um den Gewaltschutz konsequenter berücksichtigen. Nicht die Frauen sollten im Haus Schutz suchen und dann um ihre Kinder kämpfen müssen, sondern die Männer sollten beweisen, dass sie nicht gefährlich sind, schließt die Mitarbeiterin.
Lea Remmers
Die Autorin schrieb für Untiefen bereits über die Herbertstraße als Symbol männlicher Herrschaft.