Am 2. September präsentierte der Senat die aktualisierten Pläne für den Opernneubau in der HafenCity. Nun hat eine Initiative, an der auch wir beteiligt sind, ein Positionspapier gegen den Opernbau veröffentlicht. Wir dokumentieren hier die Petition und rufen dazu auf, sie zu unterstützen: für eine demokratische, geschichtsbewusste und nachhaltige Stadtentwicklung!
Im Februar dieses Jahres stellten Senat, Kühne-Stiftung und Kühne Holding AG bei einer Pressekonferenz ihren Plan für ein neues Opernhaus auf dem Baakenhöft in der HafenCity vor. Seitdem ist viel Kritik an diesem Vorhaben und dem undemokratischen Verfahren formuliert worden. Dennoch steht zu erwarten, dass die Pläne schon bald unverändert der Bürgerschaft zur Abstimmung vorgelegt werden. In diesem Positionspapier haben wir die Kritikpunkte gebündelt. Wir laden alle ein, es zu unterschreiben und damit Einfluss auf das weitere Vorgehen des Senats und der Bürgerschaft zu nehmen!
Für eine transparente Öffentlichkeitsbeteiligung! Ob Hamburg Bedarf an einer neuen Oper hat und wie das letzte freie, für eine öffentliche Nutzung vorgesehene Grundstück in der HafenCity genutzt und gestaltet wird, sollten nicht der Milliardär Klaus-Michael Kühne und die Regierenden entscheiden, die er für seine Idee gewinnen konnte, sondern die Hamburger:innen im Rahmen eines grundlegenden Beteiligungsverfahrens. Das bisherige, völlig intransparente Verfahren schadet dem Vertrauen in Politik und Demokratie.
Erinnerung und Aufarbeitung sind keine Worthülsen! Klaus-Michael Kühnes Logistik-Unternehmen Kühne + Nagel hat im NS massiv von »Arisierungen« und vom Raub jüdischen Eigentums profitiert – das Raubgut wurde unter anderem am Baakenhafen zwischengelagert. Der jüdische Teilhaber Adolf Maass wurde 1933 geschasst und später in Auschwitz ermordet. Kühne verhindert die unabhängige Aufarbeitung dieser Unrechtsgeschichte und hält unliebsame Forschungsergebnisse unter Verschluss. Mit der Oper würde Kühne sich in Hamburg ein riesiges Denkmal setzen, während nichts an die aktive Beteiligung von Unternehmen, Stadt und Bevölkerung an Enteignungen und »Arisierungen« erinnert.
Für die Bewahrung von Erinnerungsorten! Der Baakenhafen war Drehscheibe für den Transport von Soldaten und Waffen für die deutschen Kolonien und ab 1904 für den Völkermord an den Herero und Nama in der Kolonie »Deutsch-Südwestafrika« (heute Namibia). Das macht den Baakenhöft zum erinnerungskulturell wichtigsten unbebauten Grundstück dieser Stadt. Diesen bedeutenden Erinnerungsort mit einem Operngebäude zu bebauen, während die Stadt Hamburg nach wie vor keinen Gedenkort für die Geschichte des kolonialen Völkermords hat, käme einer Überschreibung der Erinnerung an die Kolonialverbrechen gleich und steht im Widerspruch zu dem Beschluss der Hamburgischen Bürgerschaft aus dem Jahr 2014, das koloniale Erbe Hamburgs stadtweit aufzuarbeiten.
Für eine Oper in der Innenstadt! Das denkmalgeschützte Gebäude der Staatsoper an der Dammtorstraße ist im Vergleich zum geplanten Opernneubau in der HafenCity sehr gut an den Nah- und Fernverkehr angebunden. Außerdem spielt die Oper eine wichtige Rolle für die Innenstadt und belebt sie in Zeiten, wenn die Geschäfte längst geschlossen sind. Ein Gutachten aus dem Jahr 2020 hat ergeben, dass die Staatsoper für rund 150 Mio. Euro an heutige Anforderungen des Opernbetriebs angepasst und saniert werden kann.
Für klimafreundliches Bauen im Bestand! Ein Neubau auf dem Baakenhöft würde viele CO2-Emissionen verursachen. In Zeiten des Klimawandels sollten wir uns gut überlegen, für welche Zwecke wir wirklich neu bauen sollen und was wir besser im Bestand lösen können. Eine Sanierung und Anpassung der Staatsoper an der Dammtorstraße ist umwelt- und klimafreundlicher als ein Neubau und lässt Platz auf dem Baakenhöft für andere Nutzungen.
Die neue Oper ist kein selbstloses Geschenk! Kühne erhielte mit der Oper ein Denkmal, für die Stadt entstünden dabei hohe Kosten.In dem Vertrag mit Kühne-Stiftung und Kühne Holding AG hat der Senat die Stadt dazu verpflichtet, das wertvolle Grundstück für das Bauvorhaben zur Verfügung zu stellen und die Kosten von bis zu 147,5 Mio. Euro für Gründung und Hochwasserschutz des Neubaus zu übernehmen. Hinzu kommen Kosten für die Räumung des Grundstücks, die Planung und Herstellung der öffentlichen Freiräume rings um die Oper, den Betrieb und die Instandhaltung eines zusätzlichen Hauses. Die denkmalgeschützte Staatsoper an der Dammtorstraße müsste trotz Neubaus weiter von der Stadt instandgehalten werden.
Nicht noch so ein »Leuchtturm«-Projekt! Die HafenCity zieht schon heute Massen von Besucherinnen an, was Bewohner:innen zunehmend belastet. Unweit der geplanten Oper wurde mit der Elbphilharmonie erst 2017 nach jahrelangen Verzögerungen und Kostenexplosionen eine Sehenswürdigkeit fertiggestellt. In Sichtweite des Baakenhöfts steht die Bauruine des Elbtowers, an dem der Senat sich nicht finanziell beteiligen wollte. Nun prüft er die Anmietung oder den Ankauf von hochpreisigen Flächen für ein Naturkundemuseum, damit das Hochhaus an den Elbbrücken zu Ende gebaut werden kann.
Für eine lebendige Kultur und eine breite Kulturförderung! Die geplante Oper soll Hamburg zum Anziehungsort für die »Weltspitze« der Kultur machen. Aber Kultur ist nicht Leistungssport. Eine reiche Kulturlandschaft zeichnet sich nicht durch Superlative und Starkult aus, sondern durch Breite und Vielstimmigkeit.
Erstunterzeichner:innen:
Organisationen: anna elbe
Arbeitskreis Hamburg Postkolonial
Arca – Afrikanisches Bildungszentrum e.V.
AStA HafenCity Universität Hamburg
Berlin Postkolonial
Bielefeld Postkolonial
Bismarck’s Critical Neighbors
Die Linke Hamburg
FSR Stadtplanung der HafenCity Universität Hamburg
FSR Urban Design der HafenCity Universität Hamburg
fux eG
Gängeviertel e.V.
Genocide and Reparative Justice Pursuits, Namibia with a Global mandate and stewardship
Am 8. April wurde nach mehrfacher Verzögerung die Westfield-Mall in der Hafencity eröffnet. Weil auf der Großbaustelle sechs Arbeiter verunglückten, riefen Gewerkschafter:innen zu Protesten auf. Wir sprachen mit Sam und Niklas von der Sektion Bau der FAU Hamburg.
»Keine Party auf Kosten der toten Arbeiter!«: Protest gegen die Eröffnungsfeier des Westfield-Einkaufszentrums. Foto: privat
Es ist das teuerste Bauprojekt Hamburgs und das größte innerstädtische Entwicklungsprojekt Europas: das Überseequartier. Der Kern des Quartiers, eine gigantische Shoppingmall des Investors Unibail-Rodamco-Westfield (URW), wurde am vergangenen Dienstag feierlich eröffnet. Doch auf der Baustelle verunglückten insgesamt mindestens sechs Menschen, darunter allein fünf albanische Bauarbeiter beim Sturz in einen acht Stockwerke tiefen Schacht im Oktober 2023. Nach dem Unfall kam heraus: Schon mehrfach waren zuvor gravierende Sicherheitsmängel auf der Baustelle festgestellt worden. Trotzdem war die Baustelle nicht geschlossen worden – und auch nach dem Unfall ging alles weiter wie zuvor. Die Angehörigen der Verunglückten warten bis heute auf Aufklärung und Entschädigung.
Die Eröffnung der Mall war deshalb von lautstarkem Protest begleitet. Während die Hamburger Würdenträger:innen Feierlaune ausstrahlten, waren etwa hundert Protestierende den Aufrufen der Jungen BAU und der anarchosyndikalistischen Freien Arbeiter*innen-Union (FAU) zum Gedenken an die Verunglückten und zu Protesten gegen die Feierlichkeiten gefolgt. Die FAU betonte in ihrem (auf ihrer Website dokumentierten) Redebeitrag, dass der Tod der sechs Arbeiter vermeidbar gewesen wäre und dass die Bedingungen, die zum Unglück führten, systemische Ursachen im Baugewerbe haben – einer Branche, die auf dem Verschleiß der Arbeiter1Da auf den Baustellen nahezu ausnahmslos Männer arbeiten, wird hier keine gegenderte Form verwendet. beruhe, die oft prekär beschäftigt sind und mittlerweile zu mehr als einem Drittel aus Osteuropa kommen.
Auf der Westfield-Baustelle habe vor allem der vom Investor weitergegebene Preisdruck zu Sicherheitsmängeln geführt. URW habe dadurch schwere Unfälle mit Verletzten und Toten offen in Kauf genommen. Diesen Vorwurf bekräftigt auch eine kurz vor der Eröffnung erschienene SPIEGEL-Recherche. Unterlagen, die dem SPIEGEL vorliegen, belegen, dass es schon lange vor dem Unfall lebensgefährlich war, auf der Baustelle zu arbeiten: »Der Investor wusste das; er war gewarnt und wurde es immer wieder, vorher, nachher, auch das ist belegt durch Mails. So wie es aussieht, nahm er mögliche Todesopfer und Verletzte in Kauf, damit der Terminplan nicht noch mehr ins Rutschen kam auf einer Baustelle, auf der Zeit- und Preisdruck, Chaos und Leichtsinn, Gier und Gleichgültigkeit geradezu chronisch waren.«
Doch nicht allein der Investor steht in der Kritik. Versagt haben der FAU zufolge auch die Bausenatorin Karen Pein, der Senat und die Bürgerschaft, außerdem »sämtliche Behörden und Ämter für Arbeitsschutz sowie die oberste Bauaufsicht« und die Berufsgenossenschaft Bau. Und auch an der IG BAU, der Muttergewerkschaft der Jungen BAU, und an ihrem Grundsatz der Sozialpartnerschaft übt die FAU Kritik.
Doch worin genau liegt das Versagen von Politik, Bauaufsicht und Gewerkschaften? Darüber sowie über die generellen Probleme auf Baustellen und über die Herausforderungen für gewerkschaftliche Arbeit und die prekäre Situation migrantischer Bauarbeiter sprachen wir mit Sam und Niklas von der Sektion Bau und Handwerk der FAU Hamburg. Im Interview erklären sie, warum die Unfälle auf der Westfield-Baustelle vermeidbar gewesen wären – und warum die Mall in ihrem jetzigen Zustand nicht hätte eröffnet werden dürfen.
Gut ausgeschildert ist das neue Einkaufszentrum schon einmal. Foto: privat
Untiefen: Die DGB-Gewerkschaft IG BAU hat nach dem Unglück im Oktober 2023 ein Spendenkonto für die Verletzten und Hinterbliebenen eingerichtet, sie hat die Bedingungen auf der Baustelle im Besonderen und im Bauhauptgewerbe im Allgemeinen kritisiert und sie hat den Aufruf zur Kundgebung der Jungen BAU unterstützt. Trotzdem übt ihr Kritik an der Gewerkschaft.
Niklas: Nicht die IG BAU selbst, sondern ihre Jugendorganisation, die Junge BAU, hat das Thema aufgegriffen und den Aufruf veröffentlicht. Es war also zwar derselbe Dachverband, aber eben nicht die Chefetage. Die IG BAU hat 2023 den Spendenaufruf organisiert, das war sehr gut, aber die Initiative dafür kam, wie die IG BAU selbst gesagt hat, von außen. Unser Vorwurf ist aber vor allem, dass es für ausländische Arbeiter:innen in Deutschland sehr schwer ist, sich in der IG BAU zu organisieren. Man musste zum Beispiel noch bis vor Kurzem mindestens drei Monate in der IG Bau sein, um Rechtshilfe in Anspruch nehmen zu können.2Inzwischen gibt es eigens für Wanderarbeiter:innen die Möglichkeit einer Jahresmitgliedschaft bei der IG BAU: https://igbau.de/Jahresmitgliedschaft.html (d. Red.). Um Arbeiter aus dem Ausland wird gar nicht aktiv geworben, da scheitert es oft schon allein an fehlenden Übersetzungen. Wir bei der Bau-FAU versuchen hingegen, möglichst viele Sprachen zu berücksichtigen. Den Aufruf zu unserer Kundgebung haben wir in fünf nichtdeutsche Sprachen übersetzt: Englisch, Russisch, Türkisch, Albanisch und Rumänisch. Für eine Gewerkschaft wie die IG BAU mit ihren Ressourcen sollte ein Aufruf in mehreren Sprachen ein Kinderspiel sein.
Sam: Wir machen der IG BAU nicht zum Vorwurf, dass sie an der Baustelle versagt hätte. Wir wissen, dass auf der Baustelle fast niemand in der IG BAU organisiert ist, und es wäre auch nicht deren Aufgabe gewesen, die Baustelle dichtzumachen. Aber die IG BAU hat es eben auch nicht geschafft, die Arbeitsbedingungen auf der Baustelle zu verbessern, obwohl sie viel eher die Mittel dazu gehabt hätte als wir. Sie hat keine echten Anstrengungen unternommen, auch migrantische Beschäftigte zu mobilisieren oder zu vertreten. Das Problem liegt auf struktureller Ebene: Wir in der FAU sind eine selbstverwaltete Basisgewerkschaft. Wir führen Arbeitskämpfe so, dass immer die Menschen in den Betrieben alle Entscheidungen treffen. Konflikte werden innerhalb der Betriebsgruppe ausgehandelt und nicht von oben herab entschieden. Die IG BAU als Stellvertretergewerkschaft handhabt das ganz anders. Sie verhandelt für ihre Mitglieder, und zwar häufig auch in völlig intransparenten Hinterzimmergesprächen mit den Arbeitgebervertreter:innen.
Ihr seht also eine mangelnde Organisierungsfähigkeit und ‑willigkeit der IG BAU im Baugewerbe?
Sam: Wir haben schon das Gefühl, dass die IG BAU die Kritik in Teilen aufgenommen hat. In der Analyse der Probleme passt das einigermaßen, auch wenn sie strukturelle Ursachen nur oberflächlich beschreiben. Aber in Bezug auf die Frage, was daraus für sie in ihrer Gewerkschaftspraxis folgt, sind sie unserem Eindruck nach komplett blank. Es gab eine Gedenkkundgebung, aber das bleibt ein »Lecken der Wunden«, wenn überhaupt.
Niklas: Ein relativierender Satz aber vielleicht noch dazu: Auch wir haben es nicht geschafft, den Unfall zu verhindern. Aber wir setzen uns dafür ein, dass die Arbeiter:innen selbst für sichere Bedingungen auf dem Bau sorgen können, anstatt sich auf eine externe Stelle zu verlassen. Wie wir in unserer Rede sagen: »Es wird schwer. Wir müssen Sprachbarrieren überwinden. Aber vor allem müssen wir unsere Spaltung überwinden.«
Die gewerkschaftliche Praxis hinkt noch hinterher: Broschüre der IG BAU von März 2024 (Ausschnitt)
Inwiefern hängt diese Kritik mit dem Konzept der Sozialpartnerschaft zusammen, dem die IG BAU anhängt? In welcher Hinsicht trägt es eurer Ansicht nach dazu bei, dass auf Baustellen häufig Verhältnisse herrschen, die zu solchen Unfällen führen wie bei der Westfield-Mall?
Niklas: Der Begriff Sozialpartnerschaft bezeichnet ja die Idee, dass Unternehmen und Lohnabhängige zusammenarbeiten, dass »alle im selben Boot sitzen« und dass es gelingen könne, die Widersprüche zwischen Kapital und Arbeit auszugleichen, indem man Kompromisse schließt – vor allem natürlich durch einen Tarifvertrag. Das setzt aber ein beidseitiges Vertrauen voraus: Einerseits das Vertrauen der Unternehmen in ihre Arbeiter:innen, etwa dass sie ihre Maschinen nicht zerstören oder dass sie zur Arbeit kommen; andererseits aber auch das Vertrauen der Arbeiter:innen gegenüber den Unternehmen, etwa dass sie zuverlässig den Lohn zahlen.
In manchen Branchen in Deutschland funktioniert das Konzept noch ganz gut, auch für die Arbeiter:innen, etwa in der Metallindustrie oder im Handwerk. Das sind Branchen, wo Arbeiter:innen unter relativ guten Bedingungen arbeiten – relativ auch deswegen, weil auf dem Bau zu arbeiten immer ein gefährlicher und verschleißender Job ist. Aber wenn man sich die Reallohnverluste in den letzten Jahren und die prekären Arbeitsbedingungen gerade im Bau anschaut, kann ich nicht verstehen, dass Gewerkschaften immer noch darauf vertrauen. Das zeigte sich auch an den Tarifverhandlungen im Bauhauptgewerbe Anfang 2024. Da wurde zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder gestreikt. Die Abschlüsse haben auch teilweise ganz gute Ergebnisse gebracht, etwa die weitgehende Angleichung der Löhne in Ost- und Westdeutschland. Aber in der Summe bedeutet die Tarifeinigung unseren eigenen Berechnungen zufolge trotzdem einen Reallohnverlust von zwei Prozent im Jahr 2026 verglichen mit 2021. Da werden die Grenzen von sozialpartnerschaftlich verhandelten Verträgen deutlich.
Ein anderer Akteur, den ihr in eurem Redebeitrag kritisiert habt, ist die Berufsgenossenschaft der Bauwirtschaft (BG BAU). Was wäre deren Aufgabe gewesen, und wo hat sie versagt?
Sam: Vor dem Unfall im Oktober 2023 gab es mehrere Begehungen auf der Baustelle, bei denen Sicherheitsmängel festgestellt wurden. Dass Mängel beanstandet werden, ist nicht so ungewöhnlich. Aber insgesamt bestanden hier so gravierende Mängel, dass man hätte sagen müssen: Die Baustelle muss dichtgemacht werden, bis diese Mängel beseitigt sind. Insofern – und das behaupten nicht nur wir, sondern u.a. sogar ein Mitarbeiter der BG selbst – hätte der Unfall auf jeden Fall verhindert werden können.
Um ein greifbares Beispiel zu nennen: Von Leuten, die selbst auf der Baustelle gearbeitet haben, wissen wir, dass 2022, also noch lange vor dem Unfall, ein sechs oder sieben Stockwerke hohes Fassadengerüst falsch herum demontiert wurde. Die Bauarbeiter, sicher keine gelernten Gerüstbauer, haben von unten angefangen das Gerüst abzubauen! Das komplette Gebiet musste gesperrt und evakuiert werden, weil das Gerüst umzukippen drohte. Wenn man als BG so etwas erfährt, muss man doch erkennen: Das ist nicht nur das Problem eines einzelnen Unternehmens, sondern zeigt: Das gesamte System Westfield-Baustelle ist vollkommen inakzeptabel.
Die BG hätte also die Möglichkeit gehabt zu sagen, bis zur Behebung dieser Sicherheitsmängel muss die Baustelle geschlossen werden?
Sam: Ja, oder von mir aus auch Bereiche. Ein Problem ist auch, dass diese Baustelle einfach so groß war. Die BG ist personell sehr schlecht aufgestellt. Die paar Handvoll Kontrolleur:innen der BG können gar nicht jedes Gerüst kontrollieren, die sehen immer nur Teilbereiche der Baustelle. Aber selbst nach dem Unfall wurde kein Arbeitsverbot ausgesprochen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätte man diese Baustellen dichtmachen müssen. Stattdessen war der Schacht drei oder vier Tage später wieder gestrichen und es wurde weitergearbeitet, als sei nichts geschehen. Da frage ich mich: Wozu hat man dann die BG?
Allerdings hat da nicht nur die BG versagt, sondern auch andere Akteure wie das Amt für Arbeitsschutz, die Stadtentwicklungsbehörde usw. Es gab mehrere Stellen, die von diesen Zuständen wussten und nichts unternommen haben. Wir wissen von Betrieben, die sich von der Baustelle zurückgezogen haben, weil sie gesagt haben, sie können so nicht arbeiten, etwa wegen des mangelhaften Brandschutzes. Und wir treffen immer wieder Leute, die sagen: Es ist eigentlich ein Wunder, dass auf dieser Baustelle »nur« sechs Leute gestorben sind.
Die FAU war ja auch schon vor zehn Jahren an Arbeitskämpfen im Zuge des Baus der Mall of Berlin beteiligt, wo rumänischen Arbeitern ihr Lohn nicht bezahlt wurde. Würdet ihr sagen, dass Baustellen von Shopping Malls besonders problematisch sind in Bezug auf die Arbeitsbedingungen? Oder hat das womöglich einfach mit der Größe der Baustelle zu tun, weil auf so einer riesigen Baustelle, auf der hunderte Unternehmen und Subunternehmen arbeiten, niemand den Überblick hat?
Sam: Ich würde nicht behaupten, dass große Baustellen per se problematisch sind. Im Gegenteil, es kann auch Großbaustellen geben, auf denen es gut läuft. Aber klar, auf dieser Baustelle haben 700 Unternehmen miteinander zusammengearbeitet.
Niklas: Die Bauunternehmen wussten teilweise selbst nicht, wer »am anderen Ende« der Subunternehmerkette für sie arbeitet. Da herrschten Zustände wie in der Textilindustrie, wo niemand weiß, woher die auf dem Markt gehandelte Baumwolle stammt. Diese Struktur ist ungeheuer intransparent. Wir kennen vielleicht zehn Unternehmen vom Namen her oder aus Erzählungen. Ganz genau wissen wir daher auch nicht, was die Gründe für die Zustände auf der Baustelle sind. Nicht auf jeder URW-Baustelle lief es so katastrophal. Das Chaos auf der Westfield-Baustelle ist aber auf jeden Fall auch entstanden, weil es keine Hauptbauleitung gab, in deren Händen alles zusammengelaufen ist. Es gab kein Team, das den Überblick hatte, bzw. eben nur den Investor URW selbst, der aber kein Bauunternehmen ist. Und es gab auf der Baustelle teilweise einfach niemanden, der Deutsch gesprochen hat, und auch keine Übersetzer:innen. Die Toten, der mangelnde Brandschutz, mangelhafte Protokolle sind Symptome der katastrophalen Planung und Organisation.
Wie viele Kräne passen auf eine Baustelle? 2023 stießen zwei Kräne zusammen. Foto (2021): Lusi Lindwurm/Wikimedia.
Im Redebeitrag spracht ihr auch vom Zeit- und Preisdruck, den der Investor ausgeübt habe.
Niklas: Ja, der Hauptfaktor für die Problematik der Überseequartier-Baustelle war meiner Meinung nach Geld: An allen Ecken und Enden sollte gespart werden. Es gab einen ungeheuren Preisdruck, auch wegen äußerer Faktoren wie den Kostensteigerungen seit Beginn des Krieg in der Ukraine 2022. Es gab großen politischen Druck, dass das Projekt umgesetzt wird. Das konnte man auch jetzt bei der Eröffnung mit Peter Tschentscher erkennen. Für die Politik war klar: Das Projekt darf nicht scheitern, was immer auch kommt. Die Stadt hat dem Investor daher etliche Zugeständnisse gemacht, er hat Mehrfläche erpresst, er konnte Regeln missachten, ohne dass es Sanktionen oder sonstige Konsequenzen gegeben hätte, und so weiter. URW hat so das Gefühl bekommen, alles machen zu können. Wir können auch nur spekulieren, aber: Dass trotz der gravierenden Sichterheitsmängel, die allen bekannt waren, niemand Maßnahmen ergriffen hat, kann man sich eigentlich nicht anders erklären als durch politischen Druck von oben. Das muss unbedingt aufgeklärt werden.
Ihr habt schon gesagt, dass auf der Baustelle teilweise niemand Deutsch sprach. Der Anteil ausländischer, vor allem osteuropäischer Arbeiter ist im Bauhauptgewerbe sehr hoch. Extreme Prekarität, Lohnsklaverei, illegale Beschäftigungsverhältnisse, usw. sind an der Tagesordnung, besonders für Wanderarbeitende. Wie seht ihr die Situation?
Niklas: Insbesondere migrantische Bauarbeiter sind generell entrechtet und unsichtbar. Dieses Problem ist nicht nur auf die Baubranche beschränkt, sondern betrifft beispielsweise auch die Gebäudereinigung, die Pflege oder die Fleischindustrie. Das sind Menschen, die Arbeiten für die gesellschaftliche Grundversorgung leisten, aber kein sichtbarer Teil dieser Gesellschaft sind. Das macht es dem Senat und der Bürgerschaft leicht, wegzuschauen – diese Menschen haben keine Lobby und kaum Rechte. In dem Fall auf der Berliner Mall-Baustelle von vor zehn Jahren wurde das extrem deutlich: Weil den rumänischen Arbeitern ihr Lohn vorenthalten wurde, verloren sie ihre Wohnungen, dadurch wiederum konnten sie keine Briefe vom Amt mehr bekommen und so wurde ihnen schließlich ihre Aufenthaltserlaubnis entzogen. Das ist krasseste Prekarität!
Gab es denn auf der Baustelle hier in Hamburg auch Fälle, in denen Subunternehmen ihren Arbeitern keinen oder nur einen Bruchteil des vereinbarten Lohns gezahlt haben?
Sam: Bislang gab es kaum mediale Berichte dazu, aber man muss davon ausgehen, dass es etliche solcher Fälle gab. Im vergangenen Oktober ist ein Gerüstbauunternehmen aus Bremerhaven wegen »Zahlungsausfällen« bei der Westfield-Baustelle insolvent gegangen. Und dann gab es den Fall des ukrainischen Hilfsarbeiter Yevhen A., der im November 2023 einen schweren Arbeitsunfall hatte und über den die Zeit berichtete. Yevhen A., der durch seinen Unfall wahrscheinlich dauerhaft arbeitsunfähig bleiben wird, erhielt seinen Lohn in polnischen Złoty, umgerechnet 640 Euro monatlich. Das sind 3,20 Euro pro Stunde! Und da war er sicher keine Ausnahme. Außerdem ist es extrem verbreitet, dass Menschen auf dem Bau Fachtätigkeiten ausführen, aber einen Helferlohn erhalten, also die unterste Lohnstufe.3Baumgarten, M., Beck, L. & Firus, A. (2024): »Helfer oder doch Fachkräfte? Migrantische Beschäftigte im deutschen Hochbau.« FES diskurs. Mai 2024. Online: https://library.fes.de/pdf-files/a‑p-b/21208.pdf
Und wie sieht es jetzt im Überseequartier aus? Bei einer derart desorganisierten Baustelle liegt die Vermutung nahe, dass noch viele Mängel bestehen, die im laufenden Betrieb behoben werden müssen, oder?
Niklas: Ja, wir wissen tatsächlich, dass auch noch jetzt, nach der Eröffnung, zahlreiche Mängel am Gebäudekomplex bestehen, etwa beim Entfluchtungskonzept. Teilweise ist da die Elektrik fehlerhaft angebracht, außerdem sind die Fluchtwege falsch geplant worden. Ein Fluchtweg endet oben auf dem Glasdach. Auch der Feueralarm, der am Donnerstag nach der Eröffnung losging, hat Probleme aufgezeigt. Es ging nämlich keine Sirene los, die alle alarmiert hätte. Stattdessen liefen bloß die offenbar völlig überforderten Securities von Westfield durchs Gebäude und riefen: »Es besteht Brandgefahr, bitte verlassen Sie das Gebäude!«
Sam: Das Gebäude ist in einem Zustand, in dem die Eröffnung nicht hätte stattfinden dürfen. Es geht dabei nicht um kleine Mängel, also dass irgendwo ein Kabel unsauber runterhängt, sondern um sicherheitsrelevante Dinge. Da setzt sich das System fort, das schon auf der Baustelle für katastrophale Unfälle gesorgt hat.
Danke für das Gespräch!
Sam ist seit 2018 Tischlerin, auf Hamburger Baustellen unterwegs und setzt sich auch im Azubihilfe Netzwerk für die Rechte von Azubis und allgemein für (mehr) FLINTA*Personen im Handwerk ein.
Niklas ist Ingenieur und seit Sommer 2024 Teil der Sektion Bau und Handwerk der FAU.
Die Freie Arbeiter*innen Union (FAU) ist eine kämpferische Basisgewerkschaft, die sich für die Rechte aller Arbeiter:innen einsetzt. Ihre etwa 2500 Mitglieder organisieren sich in Syndikaten, die es in den meisten deutschen Großstädten und vereinzelt auch in ländlichen Räumen gibt. Seit 2024 arbeitet die Hamburger Sektion Bau und Handwerk (»baufau«) zum Unrecht auf Baustellen.
1
Da auf den Baustellen nahezu ausnahmslos Männer arbeiten, wird hier keine gegenderte Form verwendet.
2
Inzwischen gibt es eigens für Wanderarbeiter:innen die Möglichkeit einer Jahresmitgliedschaft bei der IG BAU: https://igbau.de/Jahresmitgliedschaft.html (d. Red.).
3
Baumgarten, M., Beck, L. & Firus, A. (2024): »Helfer oder doch Fachkräfte? Migrantische Beschäftigte im deutschen Hochbau.« FES diskurs. Mai 2024. Online: https://library.fes.de/pdf-files/a‑p-b/21208.pdf
Der Senat ist in Feierlaune. Auf der Sonderpressekonferenz zum spektakulären Opern-Deal mit der Kühne-Stiftung herrschte penetrante Selbstgewissheit: Niemand könne doch ernsthaft etwas gegen dieses Projekt haben! Doch was hier als »Glücksfall für Hamburg« gefeiert wird, offenbart in Wahrheit ein undemokratisches Verständnis von Stadt und Kultur. Und es ist in doppelter Hinsicht geschichtsvergessen.
Nicht genug Glanz: 2017 fand auf dem Baakenhöft das internationale Festival »Theater der Welt« statt. Foto: Pauli-Pirat | Wikimedia Commons
Der Multimilliardär und Mäzen Klaus-Michael Kühne will Hamburg eine neue Oper schenken. Bürgermeister Peter Tschentscher und Kultursenator Carsten Brosda waren erkennbar stolz, als sie auf einer Sonderpressekonferenz am Freitag, den 7. Februar, gemeinsam mit Vertretern der Kühne-Stiftung und der Kühne Holding verkünden konnten, dass der Vertrag unterschrieben sei. In der »ersten Hälfte des nächsten Jahrzehnts« soll die Oper eröffnen. Zwar muss die Entscheidung noch von der (dann neu konstituierten) Bürgerschaft bestätigt werden, doch der rot-grüne Senat macht sich da wohl zu Recht keine Sorgen. Erste Reaktionen aus den Parteien signalisierten durchweg Unterstützung für das Projekt. Einzig Die Linke übte Kritik an der Entscheidung.
Aber was ist da eigentlich geplant? Entstehen soll ein Opernneubau am Baakenhöft, einer Landspitze im Zentrum der HafenCity, fast genau in der Mitte zwischen Elbphilharmonie und Elbtower. Die Nähe zum Elbtower ist dabei kein Zufall. Im Mai 2022, als Kühne seine Idee eines neuen Opernhauses erstmals in einem Porträt im Spiegel präsentierte, war klar: Das Opernhaus sollte zusammen mit seinem inzwischen gescheiterten Hochhausprojekt ein Wahrzeichenensemble bilden. Nicht nur den Elbtower, auch die Oper plante Kühne zu dieser Zeit gemeinsam mit René Benko, dem mittlerweile inhaftierten Immobilieninvestor. Der Deal, den er vorschlug, war dabei in mehrfacher Hinsicht vergiftet: Die Stadt sollte den neuen Opernbau nicht geschenkt bekommen, sondern leasen. Und das bisherige Operngebäude – in unmittelbarer Nähe zur ehemaligen Gänsemarkt-Passage, die Benko durch einen Komplex aus Wohnungen, Büros und Einzelhandel ersetzen wollte – sollte abgerissen und durch ein »modernes Immobilienprojekt« ersetzt werden.
Der Senat winkte ab: Nein, ein Mietkaufmodell wolle man nicht, und ein Abriss des bisherigen Operngebäudes komme auch nicht infrage. Doch der Senatssprecher ergänzte damals bereits: »Eine Schenkung durch Herrn Kühne beziehungsweise seine Stiftung nach dem Vorbild der Kopenhagener Oper wäre dagegen ein bemerkenswertes mäzenatisches Engagement.« Genau so ist es nun auch gekommen. Wohl auch im Angesicht der andauernden Querelen um den Elbtower war die Freude vergangenen Freitag groß, als die Kühne-Stiftung nach kurzzeitigem Hin und Her die Opernpläne doch noch besiegelte.
Ein Deal ohne Haken?
Schließlich bleiben bei diesem Deal, glaubt man dem Senat, keine Fragen offen. Der Bau werde auf jeden Fall fertiggestellt, versicherte man. Und abgesehen von 147,5 Mio. Euro für die Erschließung würden unter keinen Umständen zusätzliche öffentliche Gelder fließen. Das gesamte Risiko trägt die Kühne-Stiftung. Die fertige Oper bekommt die Stadt Hamburg dann (fast) ohne Bedingungen geschenkt. Tatsächlich ist der Vertrag für die Stadt, verglichen mit Kühnes ursprünglichem Vorschlag, geradezu verblüffend vorteilhaft. Und: Der bisherige Opernbau bleibt, so versicherte Carsten Brosda, als Spielstätte erhalten – wie genau die Nachnutzung aussehen könne, werde man in den nächsten Jahren überlegen. Das heißt: Weder für besorgte Denkmalschützer:innen noch für strenge Wächter über städtische Ausgaben gäbe es etwas zu mäkeln. Alles also ein einziger Grund zur Freude?
Keineswegs. In mindestens dreierlei Hinsicht ist der Plan nämlich ein Skandal: Er ist ein Gipfel undemokratischer und intransparenter Stadtplanung, er offenbart einen undemokratischen und zutiefst verdinglichten Begriff von Kultur und er ist – aufgrund der Kolonialgeschichte des Baakenhafens und der NS-Geschichte von Kühne + Nagel – geschichtsvergessen, wenn nicht gar ‑revisionistisch.
Zwar gibt es für den Baakenhöft noch keinen Bebauungsplan, doch dass es sich um ein besonderes Grundstück handelt, ist schon lange klar. Das betonten auch alle Beteiligten der Pressekonferenz. Carsten Brosda nannte es gar »eines der herausragendsten Grundstücke Nordeuropas«. Und solch ein Grundstück befindet sich hier in öffentlichem Besitz. Eigentlich sollte es sich von selbst verstehen, dass damit auch ein besonderes öffentliches Interesse verbunden ist, dass damit also die Verpflichtung einherginge, eine transparente und offene Diskussion über die Nutzung des Grundstücks zu ermöglichen.
Doch eine Diskussion fand nicht statt. Statt in der Öffentlichkeit Nutzungsmöglichkeiten zu entwickeln und zu diskutieren, wurde nun, nachdem Kühne seine »Idee« im Spiegel bekannt gegeben hatte, fast drei Jahre lang hinter geschlossenen Türen verhandelt. Dass sich im Lauf dieser Verhandlungen die Bedingungen für die Stadt verbessert haben – geschenkt! Entscheidend ist: Die Frage, ob überhaupt eine Oper auf dem Baakenhöft gebaut werden sollte, stand nie zur Debatte. Umtausch nicht gestattet!
Dieses de-facto-Diktat des Kapitals wird vom Hamburger Senat nun in eine Sprache offenen Austauschs verkleidet: Kühne habe ein »Angebot« gemacht, der Senat habe es »geprüft«, man hat die Bedingungen nachverhandelt und ist sich nun »einig geworden«. 1Ganz ähnlich klang es auf der Pressekonferenz, als die Sprache auf den Elbtower kam. Der neue Investor, Dieter Becken, habe den »Vorschlag« gemacht, das geplante Naturkundemuseum, für das es noch keine anderen Räume gebe, im Elbtower unterzubringen. Auch dieser »Vorschlag« wird »geprüft« – man könne ihn ja nicht »aus Prinzip ablehnen«, so Tschentscher. Für die Prognose, dass die Prüfung positiv ausfallen wird, braucht es freilich keine besonderen hellseherischen Fähigkeiten. Der Investor kann ja schließlich stets mit einem erneuten Bauabbruch drohen.
Kühne calls the tune
Andere undemokratische Aspekte wurden nicht verschleiert, sondern auf Dimensionen des Alltagsverstands zurechtgestutzt, wo sie dann plötzlich völlig ganz harmlos und nachvollziehbar klingen. Das betrifft etwa den Architekturwettbewerb. Es wird zwar eine Jury geben, die unter fünf Entwürfen auswählen würde, doch Kühne hat ein Vetorecht. Im Abendblatt kann man erfahren, dass sogar schon ein Entwurf bereitliege, den Kühne sich wünsche, und zwar – wie offenbar durchgestochen wurde – vom Architekturbüro Snøhetta. »Es gibt den schönen Entwurf eines ausländischen Architekten, der wunderbar zu dem Standort passt«, sagte Kühne der Zeitung: »Die Stadt hätte gern noch eine Art Wettbewerb. Ich finde den Entwurf schon sehr überzeugend.«
Undemokratisch? Nein: Dass Kühne (mit)entscheide, was gebaut werde, sei doch völlig normal, meinte Peter Tschentscher, schließlich stamme von ihm ja das Geld. In der Sphäre des Politischen nennt man diese Logik Plutokratie. Bei Tschentscher hingegen klingt alles ganz unbedenklich. Denn weiß nicht auch der Volksmund: »Wer die Kapelle bezahlt, bestimmt die Musik?«
Das könnte in diesem Fall auch ganz wörtlich gelten. Nicht ausgeschlossen, dass Kühne, sollte er die Fertigstellung des Opernbaus noch erleben, sich eine Eröffnungsoper wünschen darf. Solche Mutmaßungen werden Politik und Opernintendanz sicher zurückweisen. Aber man kann Wetten darauf abschließen, dass die erste Oper im neuen Haus nichts von György Ligeti oder Hans Werner Henze sein wird, sondern etwas »richtig Schönes«. Wie wär’s mit Giacomo Puccini?
Die Stadt des Kapitals
Der Denkmalverein Hamburg, der eine Petition gegen den Opernneubau und für den Verbleib der Staatsoper an der Dammtorstraße initiiert hat, schreibt daher zu Recht: »Eine so wichtige Entscheidung zur Architektur, Stadtentwicklung und Denkmalpflege wie die Zukunft der Oper auf einem öffentlichen Grundstück sollte in einem ergebnisoffenen Prozess und auf der Grundlage einer breiten fachlichen, zivilgesellschaftlichen und politischen Diskussion getroffen werden – und nicht nach den Wünschen eines einzelnen privaten Geldgebers.« Die Gestaltung der Stadt darf nicht einigen wenigen Investoren, Milliardären und Mäzenen überlassen werden – auch wenn dabei weder mit einer Bauruine (Elbtower) noch mit einer Kostenexplosion zulasten der öffentlichen Hand (Elbphilharmonie) zu rechnen ist.
Stadtplanerische Entscheidungen – und insbesondere solche, die die Stadt jahrzehntelang prägen werden, bedürfen der demokratischen Legitimation. Die wird im Falle des Opernneubaus zwar formal durch einen Bürgerschaftsbeschluss hergestellt werden. Doch von tatsächlicher Demokratie kann nur dann die Rede sein, wenn sie sich auch auf den Planungsprozess bezieht. So hingegen zeigt der Prozess um Kühnes Oper exemplarisch den undemokratischen Charakter einer »Stadt des Kapitals«.
»Topspitzenweltklassekultur«
Aber das ist nicht das einzige Problem mit der Oper. Auch und gerade das, was durch diesen Opernneubau angeblich gefördert wird, gerät unter die Räder: die Kultur. Wenn man den vier Herren bei der Sonderpressekonferenz zugehört hat, konnte man nämlich den Eindruck erlangen, es gehe nicht um Kunst, sondern um einen Sportverein oder ein Dax-Unternehmen.
Man wolle eine »Oper von Weltrang« bauen, bekundete Peter Tschentscher. Jörg Dräger von der Kühne-Stiftung sekundierte, mit dem Opernneubau schaffe man in Hamburg einen Ort für »exzellente Musik, exzellente Oper und exzellentes Ballett«. Und Carsten Brosda brüstete sich damit, dass Hamburg hinsichtlich der öffentlichen Zuschüsse bereits jetzt »in einer Liga mit den großen Opernhäusern der Welt« spiele.2Dass Tobias Kratzer, der im Abendblatt schon die Devise ausgab, mit der Hamburger Oper in die »Champions League« zu wollen, die Baupläne euphorisch begrüßte, verwundert daher nicht. Eine ganz ähnliche Sprache wurde zudem schon zur Begründung des Baus der Elbphilharmonie ins Feld geführt.
Die Sprache, die hier verwendet wird, versteht Kultur als Leistungswettbewerb. Eine Stadt wie Hamburg muss sich dieser Logik zufolge darum bemühen, die Weltspitze der Kultur für sich zu gewinnen, um dann im Ranking der »besten Kulturmetropolen der Welt« einen Topplatz zu ergattern; muss die größten internationalen Künstler:innen in die Stadt holen, die hier dann ihre Bestleistungen abliefern und die Konkurrenz neidisch machen.
Kultur als Hochgenuss
Nun ist es wenig verwunderlich, dass in einer Kaufmannsstadt wie Hamburg so gedacht wird. Aber Kultur ist weder Spitzensport noch ist sie ein Kampf um einen der ersten Plätze in der Weltmarktkonkurrenz. Kultur ist eine Praxis. Eine reiche Kulturlandschaft zeichnet sich nicht durch Superlative und marktförmigen Starkult aus, sondern durch Breite und Vielstimmigkeit, durch Widersprüche und Störgeräusche.
Die superlativische Marketingsprache, mit der über den geplanten Opernneubau gesprochen wird, reduziert Kunst außerdem auf ein Genussmittel. Sie macht zum Maß der Kultur, was der Konsument ›davon hat‹. Kultur wird zum Luxuskonsumgut verdinglicht. Der Opernbau wird so zu einer »Investition«, die »ihr Geld wert sein wird«. Diejenigen, die derlei Sprache verwenden, offenbaren sich als Kleingeister und Banaus:innen. Sie wollen den exquisitesten Hörgenuss, die größten Gefühle und die berühmtesten Stars erleben; bloß nichts, was sie beunruhigen, irritieren oder gar abstoßen könnte.
Neubau? – »Alternativlos«
Umso anmaßender ist es, dass in der Darstellung Tschentschers und Brosdas gerade den Kritiker:innen des Opernneubaus implizit Banausentum vorgeworfen wird. Denn, so wird suggeriert, ist es nicht kleingeistig, angesichts großer Visionen über die Zukunft großer Kunst nun Bürokratenforderungen wie die nach demokratischer Beteiligung oder auch nur nach einem offenen Architekturwettbewerb aufzuwerfen? Ist es nicht kunstfeindlich, zu fordern, die Oper müsste sich mit dem bisherigen Gebäude und seinen Möglichkeiten begnügen?
Auf die Frage, wozu in aller Welt die Stadt ein neues Opernhaus brauche, antwortete Brosda: Die bisherige Oper sei zu alt, zu klein, einfach unterdimensioniert, um den Ansprüchen eines gegenwärtigen Opernbetriebs gerecht zu werden. Sanieren müsste man ohnehin, das ist klar. Aber, so Brosdas Behauptung, eine Sanierung würde noch viel teurer als ein Neubau. Während vor drei Jahren, als Kühne den Vorschlag erstmals aufbrachte, noch niemand so recht den Bedarf nach einem neuen Opernhaus sehen konnte, präsentierte Brosda den Umzug der Staatsoper in ein neues Haus nun als letztlich alternativlos.
Es ist diese Alternativlosigkeitsrhetorik – und nicht der elitäre Charakter der Oper als Kunstform, wie Benno Schirrmeister in der taz kommentierte –, die das Kulturverständnis hinter dem Opernneubau als undemokratisch ausweist. Denn natürlich wäre es möglich, weiterhin Oper im bisherigen Opernhaus zu betreiben. Laura Weissmüller hat in der SZ schon vor fünf Jahren anlässlich der Debatte um den geplanten Abriss und Neubau der Städtischen Bühnen in Frankfurt betont, dass die horrenden Sanierungskosten der letzten Jahre eben nicht alternativlos sind: »Muss es wirklich immer die aufwendigste Technik sein? Brauchen all unsere Gebäude überall und zu jeder Tages- und Nachtzeit den höchsten Komfort, die beste Ausstattung, das neueste Equipment?«
Mit Verweis auf verschiedene Off-Spielstätten konstatierte Weissmüller außerdem: »Vielleicht würde es dem deutschen Kulturleben guttun, mehr solcher rauen, unpolierten, unperfekten Spielorte zu haben.« Tatsächlich befand sich auch auf dem Baakenhöft schon ein solcher Spielort, »eine überaus produktive, selten interessante und authentische Kulturstätte«, wie Stephan Maus in einem (äußerst sehens- und lesenswerten) Foto-Essay auf seinem Blog betont. »An diesem besonderen Ort im Hafen finden schon seit Jahren kreative Auseinandersetzungen mit Gesellschaft, Ort und Geschichte statt.« Aber Leute, die – siehe oben – in der »Weltspitzenklasse« der Kultur mitspielen wollen, fördern eben keine »Auseinandersetzung mit Gesellschaft, Ort und Geschichte«, sondern: die größte Bühne, die modernste Technik und die beste Akustik.
Überschreibung eines Geschichtsorts
Opernhafter Jubel. Abfahrt eines Truppentransporters von Hamburg nach »Deutsch-Südwestafrika«. Quelle: Bundesarchiv, Bild 146‑2008-0180 / Spenker, Franz / CC-BY-SA 3.0
Der geplante Opernneubau muss schließlich als geschichtsvergessenes, ja, revisionistisches Projekt begriffen werden. Das hängt zunächst mit dem Standort zusammen. Der Baakenhafen, jener Ort, den Kühne für seine Oper ausgewählt hat, wurde im Deutschen Kaiserreich nämlich zur »logistischen Drehscheibe des kolonialen Völkermordes«, wie der Historiker Kim Todzi schreibt. Die Woermann-Linie hatte seit 1891 einen regelmäßigen Schiffsverkehr zwischen Hamburg und »Deutsch-Südwestafrika« (so der Name des heutigen Namibias unter deutscher Kolonialherrschaft) eingerichtet und den Petersenkai im Baakenhafen gepachtet. Zwischen 1904 und 1908 machte sie ihn zum wichtigsten Ort der Kriegslogistik: »Über 90 Prozent aller Abfahrten« von Schiffen mit Kolonialsoldaten erfolgten von dort, so Todzi.
Für ein Gedenken an die deutschen Kolonialverbrechen, insbesondere den Völkermord an den Herero und Nama, ist der Baakenhafen daher ein wichtiger Ort und sollte, darin ist dem Einspruch der ehemaligen Forschungsstelle »Hamburgs (post-)koloniales Erbe« zuzustimmen, nicht mit einer Oper überbaut werden, ohne dass an die Vergangenheit des Orts – etwa durch ein Dokumentationszentrum – erinnert würde.
Es zeugt jedoch von zweifelhaftem Opportunismus, dass die Forschungsstelle nicht für den Baustopp der Oper plädiert, sondern die Stadt auffordert, »die finanzielle Förderung des Opernprojekts durch den Stifter mit der Bedingung [zu] verbinden, die Errichtung eines solchen Dokumentationszentrums substanziell mitzufördern« . So als spräche an sich nichts gegen diesen Opernbau, sofern nur auch ein Dokumentationszentrum dabei abfiele.
Kämpfe um Erinnerung
Solch eine Forderung blendet vor allem die zweite Dimension der Geschichtsvergessenheit des Opernplans aus: die Quellen von Klaus-Michael Kühnes Vermögen. Der Multimilliardär verdankt die Grundlage seines Reichtums nämlich bekanntermaßen dem Unternehmen Kühne + Nagel, das an der Verfolgung, Vernichtung und Ausplünderung der europäischen Jüdinnen und Juden massiv und direkt verdiente. Zuerst drängte die damalige Unternehmensführung – Klaus-Michael Kühnes Vater Alfred und sein Onkel Werner – den jüdischen Anteilseigner Adolf Maass aus dem Unternehmen, dann stieg Kühne + Nagel zum NS-Musterbetrieb auf und nahm eine Schlüsselstellung in der M‑Aktion ein.
Klaus-Michael Kühne hat seit jeher eine historische Aufarbeitung dieser Geschichte sabotiert. Seit dem 125-jährigen Jubiläum von Kühne + Nagel vor zehn Jahren jedoch wird die Geschichte (und Kühnes verweigerte Aufarbeitung) immer wieder öffentlich diskutiert. Die Vorwürfe wurden mit immer weiteren Belegen unterfüttert – zuletzt im September letzten Jahres in einem Investigativartikel von David de Jong.
In Bremen, wo Kühnes Großvater das Unternehmen 1890 gegründet hat, wurden aus dieser öffentlichen Debatte Konsequenzen gezogen: Im Jahr 2023 wurde dort ein Mahnmal eingeweiht, das in Sichtweite von der Deutschlandzentrale von Kühne + Nagel an die Arisierung und Enteignung im Nationalsozialismus erinnert und insbesondere ihre Akteure und Profiteure in den Blick nimmt.
Hamburg: Kulturförderung als Schweigegeld
In Hamburg hingegen gibt es nichts dergleichen – obwohl es auch hier, etwa anlässlich des Eklats um den »Klaus-Michael Kühne Preis« 2022 – Anlässe dafür gegeben hätte. Die Hamburger Politik gibt sich, als hätte es diese Debatte nie gegeben. Peter Tschentscher war sich auf der Pressekonferenz nicht einmal zu blöd, eine kritische Nachfrage mit dem Pseudoargument zu beantworten, dass Kühne während des Nationalsozialismus ja noch ein Kind gewesen sei.
Aber Kühne wird nicht nur – mit den dümmsten Phrasen – vor Kritik in Schutz genommen. Die Hamburger Politik versäumte in den letzten Jahren auch kaum eine Gelegenheit, um dem reichsten Sohn der Stadt Honig ums Maul zu schmieren. Zuletzt etwa überreichte Tschentscher Kühne im September den »Gründerpreis« für sein Lebenswerk und würdigte ihn in seiner Laudatio als einen Unternehmer, »der im wahrsten Sinne des Wortes viel bewegt hat«.3Verliehen wird der Preis von der Hamburger Sparkasse, dem »Hamburger Abendblatt«, der Handels- und Handwerkskammer, dem Lokalsender »Hamburg 1« und der Filmproduktionsfirma Studio Hamburg. Egal ob in diesem Fall oder beim Eklat um den Kühne-Preis: Der Senat hat kritische Nachfragen aus Presse und Öffentlichkeit konsequent ignoriert.
Der Operndeal offenbart das Kalkül hinter diesem Verhalten. Denn auch wenn es, etwa im Falle der Gründerpreis-Verleihung, kein offenes »quid pro quo« gibt: Es ist klar, dass der Senat auf jeglichen kritischen Ton verzichtet, wenn es darum geht, einen (auch im Wahlkampf nützlichen) Deal kurz vorm Abschluss nicht noch zu gefährden.
Hanseatische Beutegemeinschaft
Unser Redakteur Lukas Betzler schrieb im Oktober im nddazu: »Zu vermuten ist, dass die Hofierung Kühnes vor allem Kalkül ist. Kühne hat keine Erben. Sein Vermögen wird nach seinem Tod vollständig an seine Stiftung übergehen. Die Stadt Hamburg versucht wohl sicherzustellen, dann von einem möglichst großen Teil dieses Vermögens profitieren zu können.« Wer hätte gedacht, dass sich die Wahrheit dieses Urteils so schnell und so offen zeigen würde.
Der Preis für diese Art des Kalküls jedoch ist hoch. Denn indem die Stadt Kühne im Gegenzug für sein mäzenatisches »Engagement« derart den Hof bereitet, trägt sie dazu bei, dass das so produzierte Bild Kühnes als generöser Stifter jenes des Arisierungs-Profiteurs überdeckt oder gar verdrängt. Der VVN-BdA warnte schon Mitte letzter Woche, dass der Opern-Deal »zur Verdrängung historischer Schuld und der persönlichen Verantwortung für einen angemessenen Umgang damit« beitrage. Und der Verband machte auch deutlich, wessen Stimmen im einvernehmlichen Jubel von Senat, Kühne und der Mehrheit der Bürgerschaft wieder einmal untergehen: »Wer fragt die Nachfahren der damals in West- und Osteuropa ausgeraubten jüdischen Familien, was sie von diesem verschwiegenen Umgang mit dem Naziprofiteur Alfred Kühne halten?«
Redaktion Untiefen
1
Ganz ähnlich klang es auf der Pressekonferenz, als die Sprache auf den Elbtower kam. Der neue Investor, Dieter Becken, habe den »Vorschlag« gemacht, das geplante Naturkundemuseum, für das es noch keine anderen Räume gebe, im Elbtower unterzubringen. Auch dieser »Vorschlag« wird »geprüft« – man könne ihn ja nicht »aus Prinzip ablehnen«, so Tschentscher. Für die Prognose, dass die Prüfung positiv ausfallen wird, braucht es freilich keine besonderen hellseherischen Fähigkeiten. Der Investor kann ja schließlich stets mit einem erneuten Bauabbruch drohen.
2
Dass Tobias Kratzer, der im Abendblatt schon die Devise ausgab, mit der Hamburger Oper in die »Champions League« zu wollen, die Baupläne euphorisch begrüßte, verwundert daher nicht. Eine ganz ähnliche Sprache wurde zudem schon zur Begründung des Baus der Elbphilharmonie ins Feld geführt.
3
Verliehen wird der Preis von der Hamburger Sparkasse, dem »Hamburger Abendblatt«, der Handels- und Handwerkskammer, dem Lokalsender »Hamburg 1« und der Filmproduktionsfirma Studio Hamburg.
Im Herzen Hamburgs wurde der ehemalige Flakturm IV, der Bunker an der Feldstraße, aufgestockt und begrünt. In diesem Zuge sollte auch ein Dachgarten als Park für die Öffentlichkeit entstehen. Herausgekommen ist eine alles andere als einladende Dauerwerbefläche. Sie ist auch ein Fenster auf die derzeitige Stadtentwicklung und ‑verwertung.
Der Bunker an der Feldstraße kurz nach der Eröffnung des Dachgartenhotels. Foto: privat.
„Ein Park soll zum Verweilen einladen“, hieß es in der im Mai 2015 erschienenen zweiten Ausgabe des Ideenjournals für eine Stadtnatur auf St. Pauli. Herausgegeben hatte das Heft eine im Jahr 2014 gegründete Initiative von Anwohner:innen, die sich für die Begrünung des ehemaligen Flakbunkers an der Feldstraße einsetzte – so zumindest die öffentliche Darstellung. Kritik an dem Projekt gab es schon zu diesem Zeitpunkt. Neben Zweifeln an der Selbstdarstellung der Initiative warnten ansässige urban-gardening-Gruppen auch vor der Vereinnahmung stadteilpolitischer Anliegen durch Investoren und Kreativagenturen. In einer gemeinsamen Stellungnahme aus dem Jahr 2014 verurteilten sie „die marketingtechnisch gewitzte Präsentation des Großvorhabens“. Die „Bunkergroßbaustelle beschert uns eine grüne Aufwertungsspirale.“
Rund zehn Jahre später, im Juli 2024, feierten der Dachgarten und mit ihm unter anderem ein Hotel in seinem Inneren ihre Eröffnung. Die Kritik ist mittlerweile fast verstummt. Die Lokalpresse übernahm nicht nur den Marketing-Sprech vom „grünen Bunker“, sie bejubelt ihn nahezu durchgängig als „neues Wahrzeichen Hamburgs“. Doch ein Blick hinter die Fassade – oder besser: ihr Gestrüpp – eröffnet ein anderes Bild. Der Park, wenn er denn so genannt werden kann, lädt nicht gerade zum Verweilen ein. Vielmehr scheint der Dachgarten vor allem ein geschicktes Marketingtool zu sein, das nicht nur den Bunker aufstockt, sondern auch das fiktive Kapital von Immobilienportfolios. Zeit also für eine Bestandsaufnahme.
Das Versprechen des Parks
In der Moderne trug der Park ein Versprechen in sich. Im städtischen Raum gelegen, sollte er offen für alle und frei zugänglich sein; Erholung, Sport, Spiel und Entspannung vor allem jenen bieten, die – eingepfercht in Fabriken und beengte Wohnverhältnisse – keinen Zugang zur freien Natur hatten. Darin unterscheidet er sich vom herrschaftlichen Garten, der zuvorderst Macht und Reichtum repräsentiert und mehrt. Der Stadt- sowie der Altonaer Volkspark, die beide um die Jahrhundertwende erdacht und in der Folge gestaltet wurden, können als Beispiele öffentlicher Parks dienen. Sollte nun dieses Versprechen nicht in falscher Nostalgie als Folie der Kritik aufgespannt werden, so lag es jedoch auch dem nun begrünten Bunker zugrunde. In der ersten Ausgabe des oben erwähnten Ideenjournals war etwa die Rede von einer „völlig neuen Stadtnatur“, von „Gartenflächen, auf denen man sich zum Picknick trifft“, es sollte ein „Garten vieler werden“ – gar ein „Pilotprojekt“, das „nicht zuletzt für mehr Lebensqualität in der wachsenden Stadt“ sorgen sollte.
Wie dieser Park zum Verweilen oder Picknicken einladen soll, wenn selbst ein Butterbrot nicht erlaubt ist, bleibt unklar. Foto: privat
Die Realität sieht anders aus. Gleich am Eingang, der mit martialischen Drehkreuzen (Öffnungszeiten derzeit 9 bis 21 Uhr, nicht wie versprochen 7 bis 23 Uhr) aufwartet, prangen vier große Verbotsschilder: keine Hunde, keine mitgebrachten Speisen und Getränke, Rauchverbot. Durchgesetzt werden diese Verbote von einem privaten Sicherheitsdienst, der die Besucher:innen nicht nur auf Schritt und Tritt beäugt, sondern am Eingang bisweilen auch strengstens durchsucht. Der Zutritt zum Dachgarten fühlt sich an wie ein Grenzübertritt. Wer es dann über die Grenze schafft, sollte jedoch kein grünes Paradies erwarten. Denn wie dieser Park zum Verweilen oder Picknicken einladen soll, wenn selbst ein Butterbrot nicht erlaubt ist und Sitzmöglichkeiten – zumindest solche, für die nicht konsumiert werden muss – rar sind, bleibt unklar. Zumindest derzeit scheint es, als hoffe man auf einen möglichst kurzen Aufenthalt der Besucher:innen. Immerhin ist der Zutritt zum Garten auf 900 Personen begrenzt und es sollen ja möglichst viele über den sogenannten „Bergpfad“ auf den Bunker steigen, um zumindest das Versprechen eines öffentlichen Parks gewahrt bleiben zu lassen. Barrierefrei ist der Dachgarten indes nicht. Wer im Rollstuhl sitzt oder nicht gut zu Fuß ist, kommt „nur auf spezielle Nachfrage und in Begleitung“ ganz nach oben.
Der Dachgarten ist ein trojanisches Pferd aus Beton und Gestrüpp. Unter dem Schein der Gemeinnützigkeit lassen sich die innenliegenden Flächen nur umso besser vermarkten.
Aber wofür dann der große Aufwand und die in der Presse genannte Investitionssumme von 60 Millionen Euro? In der offiziellen Erzählung heißt es, dass die Vermietung der Räume im Inneren des aufgestockten Bunkers seine Begrünung finanziere und die laufenden Kosten decke. Nun, nach der Eröffnung, scheint doch eingetroffen zu sein, was manche schon vor einiger Zeit befürchtet hatten. Der Dachgarten ist ein trojanisches Pferd aus Beton und Gestrüpp. Unter dem Schein der Gemeinnützigkeit lassen sich die innenliegenden Flächen nur umso besser vermarkten. So geriert sich der grüne Bunker als Park für alle, fällt jedoch hinter sein Versprechen zurück. Entstanden ist ein neuartiger herrschaftlicher Garten – nicht eines frühneuzeitlichen Monarchen, sondern eines Unternehmers im Zeitalter des digitalen Finanzmarktkapitalismus. Der vermeintlich öffentliche Dachgarten soll nicht Reichtum zur Schau stellen, sondern ein profitables Investment ermöglichen und gegen Kritik schützen.
Öko-Gentrifizierung: die New Yorker High Line als zweifelhaftes Vorbild
Sowohl in der Lokalpresse als auch vonseiten der Macher:innen des Bunkers wird immer wieder auf die New Yorker High Line als Vorbild des städtischen Dachgartens verwiesen. Aus einer alten Bahntrasse wurde in der US-Metropole ein über zwei Kilometer langer, mittlerweile weltberühmter Park. Eine lokale Interessensgemeinschaft hatte sich Ende der 1990er Jahre zusammengefunden, um die Bahntrasse vor ihrem Abriss zu retten und in einen Park umzugestalten. Nach dessen Eröffnung wurde die High Line schnell zum Tourist:innen-Magnet. Insbesondere die umliegenden Gebäude erfuhren eine massive Wertsteigerung. Mittlerweile wird in Verbindung mit der High Line auch von Öko-Gentrifzierung gesprochen. Nun war diese Entwicklung kein genuines Anliegen der High Line-Interessensgemeinschaft; auch manche ihrer Gründer:innen kritisieren die massive Wertsteigerung im Umfeld des neugeschaffenen Parks.
Der Bunker ohne Dachgarten im Jahr 2018. Foto: privat.
In der Berichterstattung um den grünen Bunker sowie in der Selbstdarstellung seiner Macher:innen erfahren diese Folgen der High Line keine Erwähnung. Es verhält sich beim Bunker auch anders. Ist zwar zu vermuten, dass eine weitere Attraktion im Stadtteil zu dessen Aufwertung beiträgt, so steigert die Begrünung wohl vor allem den Wert des Bunkers selbst. Und: anders als bei der High Line war diese Entwicklung hier wohl von vornherein geplant. Bereits Jahre bevor die ersten Besucher:innen den Bunker erklimmen konnten und noch vor seiner tatsächlichen Begrünung, wurde er über letztere schon vorauseilend zur Marke gemacht. Der Instagram-Account unter den Namen „hamburgbunker“ setzte schon Ende 2021 seinen ersten Post ab. Nur durch die vermeintlich gemeinwohlorientierte Begrünung erfuhr der Bunker ein großes Medienecho. In den letzten Monaten berichte die Lokalpresse wöchentlich, zuletzt gar täglich über ihn.
Der Account verlinkt auf die offizielle Webseite der RIMC Bunker Hamburg Hotelbetriebsgesellschaft beziehungsweise der RIMC International Hotels & Resorts GmbH, die den Zuschlag für die Vermietung und Vermarktung der Innenflächen erhalten hatte. Dass die bekannte Hard Rock-Kette nach langem Hin-und-Her ihre neue Hotelmarke unter dem Namen „Reverb“ im Bunker platzieren konnte, dürfte sich für sie auszahlen, um diese, wie es im Jargon heißt, Brand Extension bekannt zu machen. Die Medienberichterstattung hämmerte den Leser:innen beiläufig nicht nur den Namen der neuen Hotelmarke ein, sondern auch einen offenbar aus firmeneigenen Pressemitteilugen abgeschrieben Passus. Dieses Hotel sei das erste seiner Art in Europa und damit wie der Bunker eine Attraktion, ja ein „Erlebnis“. Das anhaltende Medienecho dürfte sich in den kommenden Jahren für künftige Vermietungen auszahlen und insgesamt den Wert des Gebäudes steigern.
Der neue Geist des Kapitalismus und seine Gärten
„Aus grau wird bunt“, lautet das Motto des Bunkers beziehungsweise der Fläche, die die Betreibergesellschaft nun vermarktet. Ihr Logo setzt sich entsprechend aus verschiedenfarbigen Buchstaben zusammen. „Sankt Pauli bleibt bunt“, fordert ein, zu seinen Füßen gesprühtes Graffiti; unweit entfernt bekennt ein anderes ein „Herz für St. Pauli“. Unterschrieben ist dieses Graffiti auch mit Viva con Agua, einer ansässigen Non-Profit-Organisation, die jedoch in jüngerer Zeit in Kritik geriet – unter anderem wegen eines von ihr betriebenen Hotels unweit des Hamburger Hauptbahnhofs.
Die Vermarktung des Bunkers funktioniert also nicht nur über seine Begrünung, sondern ebenso über den Verkauf eines Lebensgefühls. Dieses Lebensgefühl generiert sich über den immer wieder genannten Stadtteil. Diesen kennzeichnete einst, gerade nicht vermarktbar, sondern widerständig zu sein. Das aber ist vollends vom Marketing aufgesogen worden. So lässt sich gar der im Inneren des Bunkers befindliche, bis heute jedoch nicht fertiggestellte Informations- und Erinnerungsort an Krieg und Zwangsarbeit in die Kampagnen integrieren. Das neue Hotel bewirbt seinen Standort nicht nur mit einem im nachbarlichen Stadtteil zu findenden „diverse mix of cultures“ und dem „artistic flair“, sondern beherbergte als ersten Gast auch öffentlichkeitswirksam einen Zeitzeugen. Die Webseite der Betreibergesellschaft lädt dazu ein, die „Magie dieses geschichtsträchtigen Ortes selbst zu erleben“. Dass die beworbene Immobilie ein Nazi-Bunker war, wird zum Unique Selling Point.
Eine ungeheure Markensammlung, Schild am Eingang des Bunkers. Foto: privat
Ohne die Begrünung, aber auch nicht ohne die ehrenamtliche Arbeit der nach wie vor tätigen Anwohner:innen-Initiative sowie die Aneignung ursprünglich linker (stadtteil-)politischer Anliegen hätte der Bunker wohl nie die ihm nun zukommende Aufmerksamkeit erfahren. Am Bunker lässt sich damit eine zwar nicht mehr neue, aber zunehmende Form der Stadtentwicklung und ‑kapitalisierung erkennen, die größere Aufmerksamkeit verdient. Denn die Verwertung der Stadt wird heute nicht mehr gegen ihre Kritik durchgesetzt, sondern mit ihr und über sie. Die Natur und ihre Renaturierung, die fehlenden Frei- und Kreativräume in der beengten Stadt, gar erinnerungspolitische Arbeit und damit die Spuren nationalsozialistischer Herrschaft, die im Wiederaufbau noch unter grauem Beton verschwanden, werden heute zu Elementen begehrter Investitionsobjekte.
Wie konnte das passieren? Einige Hinweise gibt die Analyse der Soziolog:innen Luc Boltanski und Ève Chiapello, die in Anlehnung an Max Weber von einem „neuen Geist des Kapitalismus“ sprechen. Dieser neue Geist, der im Allgemeinen die jeweils hegemoniale Form kapitalistischer Verhältnisse mit Sinn und Legitimation ausstattet, zeichnet sich gegenüber seinen älteren Formen dadurch aus, dass er die einst gegen ihn gewendete Kritik aufnahm und produktiv wendete. Zu Hochzeiten der Industriemoderne beziehungsweise des Fordismus in den 1960er Jahren wurde eine Kritik laut, die den Verhältnissen etwa Sinnverlust und Entfremdung und damit mangelnde Möglichkeiten der Selbstverwirklichung vorwarf. Es waren nun diese und andere Elemente der Künstlerkritik, wie es Boltanski und Chiapello ausdrücken, die sich der Kapitalismus in der Krise der 1970er mehr und mehr aneignete. Heute finden sie sich etwa in der Managementliteratur und der Figur kreativen Unternehmertums wieder. Aber nicht nur Arbeit wurde subjektiviert, sondern auch der Konsum – Produkte erzählen eine Geschichte, stiften Sinn und Selbstverwirklichung.
In Waren transformiert, rückt der Kapitalismus die einstmals gegen ihn gerichtete Kritik ins Zentrum der Verwertung. Foto: privat
Wie an anderer Stelle dieses Blogs gezeigt, lassen sich auch in der Stadtentwicklung die ökonomischen und kulturellen Transformationen der 1970er und fortfolgenden Jahrzehnte als Wendung vom Allgemeinen der Moderne zum Besonderen der Postmoderne beschreiben: Singularisierung statt Standardisierung. Gefragt ist nicht mehr der Wohnblock industriellen Bauens, sondern die verschnörkelte Altbauvilla, ähnliches gilt für Supermärkte und Hotels. Wer etwas verkaufen will, wirbt mit den Elementen der Künstlerkritik wie Authentizität, Individualität, Kreativität, Sinn und Selbstverwirklichung[1]. Dieses einst abgelehnte Besondere – beim Bunker etwa seine Geschichte und das ihn umgebende Stadtviertel – kann der Kapitalismus jedoch nur bedingt aus sich selbst heraus erzeugen. Er muss es aus externer Quelle aneignen. In Waren transformiert, rückt er die einstmals gegen ihn gerichtete Kritik ins Zentrum der Verwertung. Dass der einst versprochene Park nun als Dachgarten die spezifischen Qualitäten eines Parks, also seinen Gebrauchswert, verloren hat, liegt auch daran, dass er als Marketingtool vor allem Tauschwert ist. Zu hoffen bleibt derzeit nur, dass sich aus diesem Widerspruch – die Verwertung zehrt das Besondere als Abstraktes auf und beraubt sich somit ihrer eigenen Quelle – das baldige Ende dieser Form der Stadtentwicklung ergibt. Gegen diese Hoffnung sprechen jedoch die zahlreichen Apologet:innen der neoliberalen Stadt.
Die versuchte Ehrenrettung der neoliberalen Stadt
Es wird kaum jemanden überraschen, dass die Hamburger Sozialdemokratie nicht als Verteidigerin der Wohlfahrtsstaatlichkeit gegen die privatwirtschaftliche Aneignung der Stadt auftritt. Bereits im Jahr 1983 hatte der damalige Hamburger Bürgermeister und Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi das „Unternehmen Hamburg“ ausgerufen und die Stadt zur Marke gemacht, wie es Christoph Twickel in seinem nach wie vor lesenswerten Gentrifidingsbums beschreibt (kauft mehr Nautilus-Bücher!). Gerade diese Politik und damit die Privatisierung der Stadt(-entwicklung) als Ort der Kapitalakkumulation geriet jedoch im Herbst 2023 in die Krise. Der Elbtower ist – neben anderen innerstädtischen Brachflächen – deren sichtbarstes Zeichen. Die Pleite der von René Benko gegründeten Signa Holding führte indes nicht nur zum Baustopp zuvor gerühmter Prestigebauten, sondern auch zu Zweifeln, ob Investor:innen für die Gestaltung des öffentlichen Raumes verantwortlich sein sollten. Letztlich geriet die gesamte Erzählung, der neue Geist des Kapitalismus, ins Wanken: René Benko, einst zur Lichtgestalt kreativen Unternehmertums hochgeschrieben, ist ein Betrüger.
Das neue Antlitz der neoliberalen Stadt? Dieses Signa-Projekt am Gänsemarkt liegt seit längerer Zeit brach. Foto: privat.
Das seit Wochen zu vernehmende überschwängliche Lob des begrünten Bunkers dient insofern auch zur Ehrenrettung der neoliberalen Stadt und seiner Unternehmer:innen. Etwa war Andreas Dressel, Finanzsenator und Sozialdemokrat, bei der Eröffnungsfeier des grünen Bunkers „geflasht“. Er „lobte den Bauherren überschwänglich, der das gesamte Projekt“, wie die Hamburger Morgenpost schreibt, „ohne einen Euro öffentlichen Geldes durchzog.“ Gerettet ist damit offensichtlich die Idee der neoliberalen Stadt; einen öffentlichen Park gab es dafür jedoch nicht. Vor allem die Anwohner:innen profitieren nicht von den Früchten, die in den neuen Gärten des Kapitalismus wachsen – sie dürfen dort ja nicht einmal einen Apfel essen.
Johannes Radczinski, August 2024
Der Autor genoss beim Verfassen dieses Artikels alle Annehmlichkeiten eines öffentlichen Parks (u.a. Sitzgelegenheiten, mitgebrachte Getränke, Zigaretten) in Sichtweite des begrünten Bunkers. Auf Untiefen blickte er bereits auf andere, in Schieflage befindliche Orte der Hamburger Stadtentwicklung wie das Bismarckdenkmal oder auch die Rindermarkthalle.
[1] Dass die sogenannte Rindermarkthalle in Nachbarschaft des Bunkers, die durch die Freilegung ihrer Backsteinfassade vor rund zehn Jahren zu einem besonderen, da authentischen und geschichtsträchtigem Ort vermarktet wurde, nun mit dem grünen Bunker auf ihrer Webseite wirbt, ist kein Zufall.
Der Stachel sitzt: Das Bremer ›Arisierungs‹-Mahnmal ist da
In Bremen wird diesen Sonntag, 10.09., ein lang erkämpftes Mahnmal für den Raub jüdischen Eigentums im Nationalsozialismus eingeweiht. Untiefen veröffentlicht den Mitschnitt der Diskussionsveranstaltung mit dem Initiator Henning Bleyl vom letzten Jahr und erinnert an die offenen Aufgaben für Hamburg.
Die Baustelle des neuen Mahnmals in Bremen. Im Hintergrund die Zentrale von Kühne + Nagel. Foto: Evin Oettingshausen.
In Bremen kommt diesen Sonntag, den 10. September, eine lange Auseinandersetzung zu ihrem – vorläufigen – Ende. Zwischen den Weser-Arkaden und der Wilhelm-Kaisen-Brücke, in Sichtweite der Deutschlandzentrale des Logistikkonzerns Kühne + Nagel, wird ein Mahnmal zur Erinnerung an den Raub jüdischen Eigentums während des Nationalsozialismus eingeweiht. Die Nähe zu Kühne + Nagel ist gewollt: Der 1890 in Bremen gegründete, heute weltweit drittgrößte Logistikonzern hat von den hansestädtischen Transportunternehmen mit Abstand am meisten vom Raubs jüdischen Vermögens in der NS-Zeit profitiert. Mit ihrem faktischen Monopol für den Abtransport geraubten jüdischen Eigentums aus Frankreich und den Benelux-Ländern konnte Kühne + Nagel im Rahmen der sogenannten „M‑Aktion“ (M für „Möbel“) des NS-Staates große Profite machen und ihr Firmennetzwerk internationalisieren. Der Anteilseigner Adolf Maas, der den Hamburger Firmenstandort aufbaute – ein Jude – wurde 1933 aus der Firma gedrängt und später in Auschwitz ermordet.
Trotz dieser bekannten Zusammenhänge weigert sich Kühne + Nagel, vor allem in Person des Patriarchen und Firmenerben Klaus-Michael Kühne (86) bis heute beharrlich, die eigene Mittäterschaft aufzuarbeiten. Das nun fertiggestellte Mahnmal widerspricht mit der Nähe zur K+N‑Zentrale dieser speziellen Vertuschung. Es thematisiert aber zugleich die gesamtgesellschaftlichen Verdrängung des Ausmaßes der „Arisierung“ jüdische Eigentums im Nationalsozialismus. Der Entwurf von Künstler*in Evin Oettingshausen zeigt in einem leeren Raum nur Schatten geraubter Möbel – von diesem Verbrechen ist, ganz wörtlich, fast nichts zu sehen. Der Initiator der Mahnmals-Kampagne, der Bremer Journalist Henning Bleyl, schildert gegenüber Untiefen, was die Kampagne für das Mahnmal politisch erreicht hat:
„Das Mahnmal-Projekt zeigt, dass man den Anspruch auf historische Wahrheit auch gegenüber einem hofierten Investor durchsetzen kann. Es war ein langer Weg – aber jetzt führt dieser Weg zur Einweihung eines unter breiter Bremer und internationaler Beteiligung entstandenen Mahnmals an der Weser, vor Kühnes Haustür. Und das eigentliche Thema, Bremens Rolle als Hafen- und Logistikstadt bei der europaweiten ‚Verwertung‘ jüdischen Eigentums, hatte im Lauf dieses Prozesses viele Gelegenheiten, in der Gesellschaft anzukommen.“
Klaus-Michael Kühne ist natürlich auch in Hamburg kein Unbekannter. Als Sponsor und Mäzen stützt er den HSV, finanziert aber über seine Kühne-Stiftung auch das Philharmonische Staatsorchester, fördert den Betrieb der Elbphilharmonie und hob das das Harbourfront Literaturfestival aus der Traufe. Dort finanzierte er bis 2022 den jährlich vergebenen Klaus-Michael Kühne-Preis für das beste Romandebüt. Bis letztes Jahr – nach einem Anschreiben der Untiefen-Redaktion – zwei der für den Preis nominierten Autor:innen ihre Teilnahme zurückzogen. Grund war Kritik an der verweigerten Aufarbeitung der NS-Geschichte des Unternehmens Kühne + Nagel. Diese Rücktritte sorgten für einen Eklat, der einige öffentliche Kritik an Kühne nach sich zog, während er und seine Stiftung keinerlei Verständnis zeigten. Mit dem anschließenden Rückzug der Kühne-Stiftung aus der Finanzierung des Festivals und der Umbenennung des Preises wurde die Debatte nach wenigen Wochen vorläufig beendet.
Im November 2022 luden wir daher Henning Bleyl ins Gängeviertel ein, um über Kühne + Nagel und die Bremer Kampagne für ein ‚Arisierungs‘-Mahnmal zu sprechen. Wer möchte kann Henning Bleyls Vortrag und das anschließende Diskussion nun hier auf Youtube nachhören.
Die zentralen Fragen für Hamburg bleiben indes auch nach der Mahnmal-Einweihung in Bremen unbeantwortet: Warum gibt es in Hamburg keinen kritischen Umgang mit der NS-Geschichte von Kühne + Nagel? Wie könnten Erinnerung, Aufklärung und Konsequenzen aussehen? Wie kann mit Klaus-Michael Kühne als Kultursponsor umgegangen werden? Welche Probleme der privatisierten Kulturförderung stehen dahinter?
Es bleibt spannend, ob auch an der Elbe ein eindeutiges Eintreten der Stadtgesellschaft für historische Redlichkeit erreichbar ist
Die neue, 15. Ausgabe des Harbour-Front-Literaturfestivals wird am 14. September eröffnet. Bleibt bis auf den Sponsorenwechsel und die Umbenennung in Sachen Kühne + Nagel in Hamburg also alles beim schlechten Alten? Henning Bleyl äußerte gegnüber Untiefen die Erwartung, dass auch hier etwas passiert: „Es bleibt spannend, ob auch an der Elbe ein eindeutiges Eintreten der Stadtgesellschaft für historische Redlichkeit erreichbar ist – trotz des von Kühne aufgewendeten enormen kulturellen und gesellschaftlichen Kapitals. Denn das Eigentum der jüdischen Familien, das Kühne + Nagel im Rahmen der ‚Aktion M‘ aus den besetzten Ländern abtransportierte, wurde natürlich auch in Hamburg sehr bereitwillig von großen Teilen der Bevölkerung ‚übernommen‘. Die Stadt profitierte in großem Stil von der Flucht jüdischer Menschen, deren Eigentum im Hafen zurückblieb, statt verladen zu werden. Ich bin gespannt, welchen Umgang Hamburg mit diesem Erbe findet.“
Wie die Bremer Initiative erfolgreich wurde, lässt sich in dem Mitschnitt von Bleyls Vortrag nachhören. Die Einweihung des Bremer Mahnmals findet am Sonntag, 10.09., um 11 Uhr direkt vor Ort statt. Ab 18 Uhr folgt ein öffentliches Vortrags- und Diskussionsprogramm in der Bremischen Bürgerschaft.
Der Investor des Holstenareals ist finanziell stark angeschlagen und steht zudem unter Betrugsverdacht. Jetzt hat die Stadt den Planungsstopp verkündet. Für die Entwicklung des Quartiers auf dem ehemaligen Brauerei-Gelände in Altona-Nord ist das eine unverhoffte Chance. Sie muss unbedingt ergriffen werden.
Langer Atem: Schon im Februar 2021 gab es Protest vor dem Holstenareal. Foto: Rasande Tyskar, flickr.
»Ist das Kind in den Brunnen gefallen?«, wurde Theo Bruns, Teil der Initiative Knallt am dollsten, Anfang Februar im Hamburg1-Gespräch gefragt. Bruns weigerte sich, diese Frage mit ›Ja‹ zu beantworten, und bekundete, weiter für die Kommunalisierung des Holstenareals zu kämpfen. Doch blickte man damals, vor vier Monaten, auf die Faktenlage, schien dieser Kampf nahezu aussichtslos zu sein. Im April oder Mai, so der damalige Stand, wollte der Bezirk den städtebaulichen Vertrag mit dem Investor, der zur Adler Group gehörigen Consus Real Estate, unterzeichnen; Einwendungen gegen den Vertrag wurden pauschal zurückgewiesen; und dass der Bezirk Altona es als Erfolg verkaufte, für 100 der ca. 1200 geplanten Wohnungen »preisgedämpfte« Nettokaltmieten in Höhe von 12,90 bzw. 14,90 Euro pro m² ausgehandelt zu haben, offenbarte den Unwillen und die Unfähigkeit der politisch Verantwortlichen, gegenüber dem Investor ernsthaft Stellung zu beziehen.
Immobilienspekulant in Schieflage
Doch nun scheint sich die Hartnäckigkeit des Protests von Initiativen wie Knallt am dollsten bezahlt zu machen. Der Mai liegt hinter uns und der städtebauliche Vertrag ist immer noch nicht unterzeichnet. Und dazu wird es wohl so bald auch nicht kommen, denn der Bezirk Altona hat erklärt, alle Planungen auf Eis zu legen. Grund dafür: Die wirtschaftliche Lage des in der Presse gerne als »umstritten« bezeichneten Investors, der ca. 30.000 Wohnungen besitzt, ist so undurchsichtig, dass er die für eine Unterzeichnung geforderte Finanzierungszusage einer Bank für das riesige Projekt nicht vorlegen konnte. Der Konzern ist schon länger unter Druck, vor allem nachdem der Investor Fraser Perring, der bereits den systematischen Betrug bei Wirecard aufdeckte, im vergangenen Herbst ähnliche Vorwürfe gegen die Adler Group erhob.
Weiter zugespitzt hat sich die Situation, nachdem die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG Ende April ein entlastendes Testat für den Jahresabschluss des Konzerns verweigerte, woraufhin die Adler-Aktie abstürzte und mehrere Mitglieder des Managements zurücktraten. Das Handelsblatt berichtete Ende Mai zudem von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Frankfurt und davon, dass der Finanzaufsichts-Chef Mark Branson den Finanzausschuss des Bundestags am 18. Mai eigens in streng geheimer Sitzung über die Vorwürfe gegen Adler informierte.
Wenn nun neues Leben in die Angelegenheit Holstenquartier kommt, ist das also keineswegs das Verdienst der Politik. Der Bezirk Altona nämlich hat lange immer noch auf Consus/Adler gesetzt und auf der einmal getroffenen Entscheidung beharrt – trotz der immer größeren Vorwürfe gegen den Investor. Anstatt das Scheitern des bisherigen Plans einzubekennen, erklärte die Bezirksamtsleiterin Stefanie von Berg noch vor zwei Wochen gegenüber dem Hamburger Abendblatt, die Verhandlungen lägen »auf Eis«, bis eine Finanzierungszusage vorliege: »Wir haben dazu auch keine Frist gesetzt, sondern warten ab.«
Dass nicht alle in der Stadtpolitik so geduldig sind, zeigte sich aber Anfang Mai, als der Landesbetrieb Immobilienmanagement und Grundvermögen (LIG) die Consus angeschrieben und um Verkaufsverhandlungen bat. Allerdings drängt sich der Eindruck auf, dass es sich hier um bloße Symbolpolitik handelt. Die Nachricht führte zu markigen Schlagzeilen wie »Hamburg macht Ernst: Stadt will Holsten-Quartier kaufen« (Abendblatt). Im ›Kleingedruckten‹ erfuhr man dann aber: Die Stadt würde die Fläche nur »zu einem angemessenen Preis« erwerben und nur dann, wenn der Investor überhaupt verkaufen will. Noch am 1. Juni, also nach dem offiziellen Planungsstopp, verkündete Stefanie von Berg: Wenn die Adler Group das Grundstück nicht zum Verkauf anbiete, »kann auch die Stadt nichts machen«.1Das Hamburger Abendblatt schreibt trotzdem und entgegen aller Fakten von einem »harten Kurs« der Stadt »gegen die Adler Group«.
Kurz: Die Krise bei Adler/Consus hat die Chance eröffnet, doch noch eine ökologische und soziale Entwicklung des Quartiers zu ermöglichen, – aber die Hamburger Politik macht den Eindruck, damit so gar nicht glücklich zu sein. Davon könnte man überrascht sein, hätte man die Slogans von Grünen (»Für Mieten ohne Wahnsinn«) und SPD (»Wachstum ja, aber nicht bei den Mieten«) zu den Bürgerschaftswahlen 2020 für bare Münze genommen. Blickt man allerdings auf das Vorgehen des SPD-geführten Senats und des unter grünem Vorsitz stehenden Bezirks Altona in Sachen Holstenareal, wird deutlich: Hier wurde von Beginn an alles unterlassen, was diesen Slogans auch nur ein klein wenig Substanz verliehen hätte.
Hamburger Investorenmonopoly
Das begann schon 2015. Damals entschied die Holsten-Brauerei, ihren bisherigen Standort an der Holstenstraße aufzugeben. Der Senat unter dem damaligen Bürgermeister Olaf Scholz hätte sein Vorkaufsrecht nutzen und das Gelände für ca. 55 Millionen Euro kaufen können – doch er hat es unterlassen (was inzwischen selbst die CDU anprangert). Stattdessen wurde das Gelände höchstbietend verkauft, womit ein kaum fassbares Investorenmonopoly in Gang gesetzt wurde. 150 Millionen Euro betrug der anfängliche Kaufpreis der Düsseldorfer Gerch-Gruppe. Seither wurde das Grundstück viermal in sogenannten share deals mit Gewinn weiterverkauft – bis Consus es schließlich 2019 für 320 Millionen Euro übernahm.
Dieser Bebauungsplan (Stand: November 2019) ist jetzt hoffentlich Geschichte. Quelle: hamburg.de
Angesichts dieses horrenden Kaufpreises war klar: Um die von einem börsennotierten Immobilienkonzern erwarteten Profite zu erwirtschaften, müsste hier extrem dicht bebaut und extrem teuer verkauft bzw. vermietet werden. Zur Verdeutlichung: Nicht-profitorientierte Genossenschaften hatten der Kampagne »So geht Stadt« zufolge für den Erwerb des Grundstücks maximal 50 Millionen Euro geboten, weil sie bei einem höheren Preis keine sozialverträglichen Mietpreise mehr möglich sahen. Dementsprechend hoch fallen die nun erwarteten Mieten – sowohl für Gewerbe als auch für Wohnen – aus: Für die frei vermieteten zwei Drittel der Wohnungen sei mit einer Nettokaltmiete von 23 Euro pro m² zu rechnen, schätzte die Initiative Knallt am dollsten im Dezember 2021.
Adler: Immobilienspekulation als Geschäftsmodell
Das Holstenareal ist bei weitem nicht das einzige Projekt der Adler Group. Insgesamt 47 sogenannte ›Entwicklungsprojekte‹, fünf davon in Hamburg, hat der Investor aktuell am Laufen – oder eben nicht. Denn bei der Mehrzahl der Projekte gibt es aktuell keine Baufortschritte. Wie beim Holstenareal, wo kürzlich zumindest langsam mit den Abrissarbeiten begonnen wurde, eigentlich aber schon längst hätte gebaut werden sollen, sieht es auch woanders aus. In Berlin etwa tut sich beim Hochhaus Steglitzer Kreisel schon seit Monaten nichts – der Rohbau wirkt wie eine sizilianische Bauruine (und gibt so einen Vorgeschmack davon, was mit dem Elbtower passieren könnte). Das brachliegende Neuländer Quarree in Harburg hatte Adler letztes Jahr an eine dubiose Fondsgesellschaft mit Sitz auf Guernsey verkauft – und nun vor wenigen Wochen wieder zurückgekauft. Der Verdacht, dass es sich hierbei um einen Scheinverkauf handelte, um die Bilanzen aufzubessern, liegt nahe.
Daran, die erworbenen Grundstücke tatsächlich zu bebauen, zeigt der Investor jedenfalls gar kein Interesse. Und warum auch: Die Grundstücke steigen angesichts der immer noch wachsenden Immobilienblase sukzessive im Wert, und die zuletzt stark gestiegenen Baukosten machen das Bauen weniger rentabel. Es überrascht nicht, dass auch Vonovia, Deutschlands größter Wohn-Immobilienkonzern und Enteignungskandidat Nummer eins, mit mehr als 20% an der Adler Group beteiligt ist, und dass ihr Verwaltungsratsvorsitzende Stefan Kirsten vorher CFO bei Vonovia war.
Viele offene Fragen
Doch wie kann es nun weitergehen? Die Initiative Knallt am dollsten fordert die Kommunalisierung des Areals, denn sie wäre die Grundvoraussetzung dafür, dass dort ein soziales, inklusives, ökologisches Quartier entstehen kann. Damit das möglich ist, müsste die Stadt nun eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme nach § 165 Baugesetzbuch für das Holstenareal beschließen. »Sie ist das wichtigste Instrument, mit dem effektiver Druck auf den Investor ausgeübt werden kann. Als ultima ratio schließt sie sogar eine Enteignung nicht aus«, erklärte Theo Bruns gegenüber Untiefen. Nur so könnte verhindert werden, dass das Areal einfach an den nächsten Investor verkauft wird.
Dass das gangbar ist, zeigen andere Beispiele: In Düsseldorf etwa hat die regierende Mehrheit aus CDU und Grünen einen Antrag auf Einleitung einer städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme beschlossen – mit Zustimmung der Linkspartei und selbst der FDP. In Harburg sind vorbereitende Untersuchungen für die beiden Adler/Consus-Projekte (neben dem Neuländer Quarree noch die New York-Hamburger Gummiwaarenfabrik) eingeleitet worden. Der Bezirk Altona lehnt dasselbe mit der abstrusen Begründung ab, es handele sich beim Holstenareal nicht um einen »Stadtteil mit herausgehobener Bedeutung«. Theo Bruns vermutet andere Gründe: Neben dem fehlenden politischen Interesse und der Weigerung, Fehler einzugestehen, vor allem »Mangel an Courage und Gestaltungswillen«. Eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme wäre für die Bezirksverwaltung nämlich eine äußerst zeit- und arbeitsaufwendige Angelegenheit. Aber selbst wenn die in Bezirk und Stadt maßgeblichen rot-grünen Mehrheiten sich trotzdem (und d.h. vor allem wegen des öffentlichen Drucks) für solch ein Vorgehen entschieden, blieben noch einige offene Fragen.
Die größte wäre natürlich der Preis: Das Grundstück steht mittlerweile mit einem Wert von 364 Millionen Euro in den Bilanzen der Adler Group – ein völlig unrealistischer, durch Spekulation in die Höhe getriebener Preis. Knallt am dollsten fordert dagegen, die Kalkulation umzudrehen und einen »sozial verträglichen Verkehrswert« für den Rückkauf anzulegen. Das heißt, nicht der Grundstückspreis soll die Mieten bestimmen, sondern umgekehrt: Ausgehend von einer angestrebten (Maximal-)Miete soll der Grundstückspreis berechnet werden.
Aber auch die Frage, wie viel Zeit für all das noch bleibt, ist ungeklärt. Adler hat eine Insolvenz der Consus Real Estate zwar noch Mitte Mai offiziell ausgeschlossen, aber es erscheint nicht unwahrscheinlich, dass bald ein Insolvenzverfahren eröffnet wird. Für eine städtebauliche Entwicklungsmaßnahme wäre es dann wohl zu spät – als Teil der Insolvenzmasse müsste das Holstenareal höchstbietend weiterverkauft werden.
Für einen radikalen Neuanfang
Wünsche und Forderungen…… für ein lebenswertes Quartier. Foto: privat
Derweil hat Knallt am dollsten gemeinsam mit anderen Initiativen aber schon demonstrativ einen Neustart eingeläutet. Am 25. Mai versammelten sich dutzende Teilnehmer:innen vor dem Altonaer Rathaus zu einer »Bezirksversammlung von unten«. »Adler ist Geschichte, darüber muss man jetzt nicht mehr reden. Wir können jetzt einen Schritt weiter gehen«, sagte Theo Bruns in einem Redebeitrag. Es gehe jetzt darum, das Quartier neu zu denken und die Bürger:innen an der Planung zu beteiligen, so wie das im Falle der Esso-Häuser in St. Pauli mit der Planbude praktiziert wurde und wird.2Freilich sind die Esso-Häuser alles andere als ein gutes Beispiel für einen gelungenen Planungsprozess. An ›zu viel Bürger:innenbeteiligung‹ liegt das aber nicht – und es ist eine interessierte Falschbehauptung, wenn die Welt das in einem jüngst erschienenen Artikel so darstellt. Zu den Forderungen, die am offenen Mikrofon und an den aufgestellten Pinnwänden gesammelt wurden, zählen: geringere Verdichtung und Versiegelung, bezahlbare Mieten, mehr barrierefreie Wohnungen (die aktuelle Planung sieht sechs (!) rollstuhlgerechte Wohnungen im gesamten Holstenquartier vor), Raum für neue Wohnformen und die Verwendung ökologischer Baumaterialien.
Während die ›Bezirksversammlung von unten‹ vor dem Altonaer Rathaus Druck auf die Entscheider:innen aufbaute und Ideen für ein lebenswertes Quartier entwickelte, unternahm die zeitgleich stattfindende Bezirksversammlung im Rathaus – nichts. Da sich die Situation nicht verändert habe, gebe es auch nichts zu entscheiden. Man scheint dort auf weitere Winke des ›Schicksals‹ (d.h. des Marktes) zu warten. Dabei gälte es, jetzt umgehend zu handeln: den »Chaosinvestor« Adler/Consus enteignen, das Holstenareal vergesellschaften und es anschließend von gemeinwohlorientierten Genossenschaften und Baugemeinschaften bebauen lassen. Die Bewohner:innen Altonas hätten dafür jedenfalls schon einige Ideen.
Lukas Betzler
Der Autor ist Teil der Untiefen-Redaktion und schrieb hier bereits über das als Stadtmagazin firmierende Anzeigenblatt SZENE Hamburg.
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Das Hamburger Abendblatt schreibt trotzdem und entgegen aller Fakten von einem »harten Kurs« der Stadt »gegen die Adler Group«.
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Freilich sind die Esso-Häuser alles andere als ein gutes Beispiel für einen gelungenen Planungsprozess. An ›zu viel Bürger:innenbeteiligung‹ liegt das aber nicht – und es ist eine interessierte Falschbehauptung, wenn die Welt das in einem jüngst erschienenen Artikel so darstellt.
Die Bornplatzsynagoge im Grindelviertel soll wieder aufgebaut werden. Das beschloss die Bürgerschaft im Januar 2020. Über die genaue Umsetzung allerdings wird seither heftig gestritten. Das für Mitte des Jahres angekündigten Ergebnis einer Machbarkeitsstudie wird die nächste Runde der Debatte einläuten. Aber was steht hier eigentlich zur Diskussion?
Die Bornplatzsynagoge im Hamburger Grindelviertel wurde 1906 vom orthodoxen Synagogenverband in einer Zeit zunehmender politischer und juristischer Partizipation von Jüdinnen und Juden als Hauptsynagoge eröffnet. 1939, als die systematische Vertreibung der deutschen Juden einsetzte, erzwangen die Nazis ihren Abriss. Seit bald drei Jahren wird nun über die Form, den Ort und mögliche Folgen eines Wiederaufbaus diskutiert. Dabei geht es um weit mehr als Architektur: Zur Debatte steht die deutsche Shoa-Erinnerungskultur, die Repräsentation heterogener, jüdischer Gemeinden und letztlich die gesellschaftliche Teilhabe des deutschen Judentums am Hamburger Stadtbild.
Bürokratische Zerstörung…
1938 versuchten Hamburger Nazis die Bornplatzsynagoge während der Novemberpogrome durch einen Brandanschlag zu zerstören, was ihnen zunächst nicht gelang. Ihr momentanes Überleben verdankte die Synagoge aber nicht etwa Skrupeln oder Rücksichtnahme, sondern dem Willen, nicht-jüdische Kulturgüter zu retten, die unweit von ihr in Holzscheunen aufbewahrt wurden. Dieser Aufschub lenkte die Zerstörung in bürokratische Bahnen: Im Frühjahr 1939 ließen die Nazis die beschädigte Synagoge auf Kosten des jüdischen Religionsverbands Hamburg abreißen. Im April 1940 vermerkte das Amtsgericht Hamburg die Auflassung des Synagogengrundstücks, das Gelände ging in den Besitz der Stadt über. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde an dem nun leeren Platz ein Hochbunker errichtet.
1949 erhob die neu gegründete Jüdische Gemeinde in Hamburg (JGHH) Anspruch auf Rückgabe des Grundstücks. Allerdings führte faktisch die Jewish Trust Corporation (JTC) die jahrelangen Verhandlungen. Denn bei der Hamburger Gemeinde handelte es sich zu dieser Zeit um eine sogenannte »Liquidierungsgemeinde«. Ihr Ziel war nicht der Wiederaufbau jüdischer Kulturstätten in Deutschland, sondern die Koordination der Ausreise deutsch-jüdischer Personen. Für die JTC stand daher im Fokus, rückerstattetes Vermögen für den Aufbau des jüdischen Staates zu organisieren. Aufseiten der Hamburger Liegenschaftsabteilung verhandelte unter anderen Hans-Joachim Richter. Er war in seiner Position bereits vor dem Krieg für den Zwangsverkauf von Grundstücken der hamburgischen jüdischen Gemeinden verantwortlich gewesen.
… und bürokratische Restituierung
Auf diese personelle Kontinuität und die Tatsache, dass die Stadt das Gelände nicht direkt an die jüdische Gemeinde zurückgab, sondern mit einer ausländischen Organisation verhandelte, wird in der aktuellen Debatte wieder referiert. Der heutige Vorsitzende der JGHH, Philipp Stricharz, betrachtet das damalige Entschädigungsverfahren als eine zweite Enteignung. Miriam Rürup, Direktorin des Potsdamer Moses Mendelssohn Zentrums und ehemalige Leiterin des Hamburger Instituts für die Geschichte der deutschen Juden (IGDJ), sieht das anders. Sie betont das damalige Motiv der JTC, für die Enteignung des Geländes zügig, wenn auch unzureichend, entschädigt zu werden.
In der Debatte um einen Synagogenbau am heutigen Joseph-Carlebach-Platz nehmen Stricharz und Rürup oft entgegengesetzte Positionen ein. Stricharz vertritt dabei die Interessen der JGHH und fordert mehr Sichtbarkeit für das jüdische Leben, besonders im Grindelviertel. Rürup teilt den Wunsch nach mehr Sichtbarkeit, spricht aber als Historikerin, Mitglied des Vereins Tempelforum e.V. und Teil der deutlich kleineren Liberalen Jüdischen Gemeinde Hamburgs (LJGH).
Deutsches Geschichtsbewusstsein: Bis in die 1980er Jahre hinein wurde der Platz der ehemaligen Synagoge als Parkplatz genutzt, Foto: Denkmäler und Baudenkmale der Jüdischen Gemeinde in Hamburg – Kulturbehörde, Denkmalschutzamt1Die Rechteinhaber:innen konnten trotz intensiver Nachforschung nicht ermittelt werden. Diese haben die Möglichkeit, sich an uns zu wenden.
Die Verhandlungen zwischen dem Hamburger Senat und der JTC um das Grundstück mündeten 1953 in eines von mehreren sogenannten »Pauschalabkommen«. Neben dem Bornplatz betraf es elf weitere Hamburger Grundstücke. Die Vergleichssummen der gut gelegenen Immobilien lagen weit unter ihrem Wert. In den 1960er Jahren wurde das gesamte Areal am Grindelhof von der Universität genutzt. Der Bornplatz war bis in die 1980er Jahre ein schlammiger Parkplatz. Planungsrechtlich war das Gelände noch bis 1985 für eine Erweiterung der Universität vorgesehen. Parallel wurde es seit Ende der 70er auch als möglicher Ort für eine erinnerungskulturelle Nutzung entdeckt. Die Universität entschied sich schlussendlich gegen eine Erweiterung auf dem Bornplatz. Die Finanzierungsmittel konnten nicht aufgebracht werden, hieß es in einer entsprechenden Eingabe der Kultursenatorin Anfang der 1980er Jahre.
Aufbereitung der Lücke
Ende der 1970er Jahre sollte eine archäologische Grabung am Bornplatz die Grundlage für eine Erinnerungsstätte ergeben. Durchgeführt wurde sie vom Fachbereich Archäologie der Uni Hamburg, der noch heute im Hochbunker angesiedelt ist. Die Grabung offenbarte, dass das Fundament der Bornplatzsynagoge größtenteils erhalten ist. Allerdings bat die Jüdische Gemeinde aus Rücksichtnahme auf jüdisches Recht darum, es nicht offenzulegen. Stattdessen beauftragte die Kulturbehörde 1983 die Hamburger Künstlerin Margrit Kahl, Visualisierungsvorschläge für die Aufbereitung der Lücke anzufertigen. Über die Vorschläge stimmten auch Vertreter der Jüdischen Gemeinde ab. Das Synagogegenmonument sollte die Leerstelle sichtbar machen und damit der politischen Forderung nach Erinnerungskultur in der postfaschistischen BRD nachkommen. Am 50. Jahrestag der Novemberpogrome, dem 9. November 1988, wurde Kahls Mosaik auf dem heutigen Joseph-Carlebach-Platz eingeweiht. Es befindet sich dort bis heute.
Die Stadt verstand die Instandhaltung des Monuments bis 2019 nicht als ihre Aufgabe. Gedenkinitiativen nutzten den Ort, um sich an Jahrestagen dort zusammenzufinden, und Schulklassen kümmerten sich um die Denkmalpflege. Stadttouren halten hier, Menschen aus dem Viertel und der Universität passieren den Platz täglich. Manche betonen die bemerkenswerte Wirkung der subtilen Aufbereitung zu einem Raum, der sie zur Reflektion über die Shoa anhält. Die israelische Kunsthistorikerin Galit Noga-Banai bezeichnete das Synagogenmounument am Bornplatz auf einem Symposium im September 2021 als eines von drei Gegendenkmalen, die zukunftsweisend für die deutsche Gedenkkultur gewesen seien. Andere nehmen das Mosaik kaum wahr oder bezweifeln seine mahnende Wirkung.
»Nein zu Antisemitismus, ja zur Bornplatzsynagoge«
Am 9. Oktober 2019 verübte der rechte Terrorist Stephan B. einen Anschlag auf die Synagoge von Halle. Neben verharmlosenden Deutungen, demnach man es mit einem psychisch kranken Einzeltäter zu tun habe, folgten darauf auch politische Versprechungen, Antisemitismus stärker zu bekämpfen. In der Hamburger Bürgerschaft brachte ein fraktionsübergreifender Antrag die Unterstützung des Wiederaufbaus als eine mögliche politische Antwort auf den Anschlag ins Spiel. Der Kampf gegen Antisemitismus, so die im Antrag vorgebrachte Argumentation, müsse mit einer Sichtbarmachung der positiven Aspekte jüdischen Lebens kombiniert werden. Am 28. Januar 2020 beschloss die Hamburger Bürgerschaft einstimmig, das Bauvorhaben mit dem Antrag für eine Machbarkeitsstudie vom Bund zu unterstützen.2Siehe dazu auch: https://www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/wird-hamburgs-einst-groesste-synagoge-wieder-aufgebaut/
Der Wunsch, auf dem Joseph-Carlebach-Platz wieder eine Synagoge zu errichten, ist allerdings deutlich älter. Zuletzt wurde er 2010 von Ruben Herzberg, dem damaligen Vorsitzenden der JGHH, anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Synagoge Hohe Weide formuliert: »Die Einweihung der Synagoge Hohe Weide war ein weithin sichtbares klares Zeichen, dass jüdisches Leben nicht vernichtet werden konnte. Das Herz des jüdischen Hamburg aber schlägt im Grindelviertel, dort neben der Talmud-Tora-Schule, unserem heutigen Gemeindezentrum mit der Joseph-Carlebach-Schule […]. Wir wünschen uns die Rückkehr an unseren alten Ort, denn der leere Platz ist eine Wunde in unserem Leben.« Dieser Wunsch fand damals keine politische Unterstützung.
Zehn Jahre später, nach dem Terroranschlag von Halle, finanziert der Bund nun die Machbarkeitsstudie für den Wiederaufbau mit 600.000€. Zuvor startete unter dem Slogan »Nein zu Antisemitismus. Ja zur Bornplatzsynagoge« eine medienwirksame Unterstützungskampagne für den Bau einer neuen Synagoge am alten Platz. Unter den circa 107.000 Unterzeichner:innen finden sich namhafte Persönlichkeiten vor allem aus Hamburg, aber auch aus der Bundespolitik und aus Israel. Neben lokalen Unternehmer:innen, Wissenschaftler:innen und Künstler:innen warb etwa auch Olaf Scholz per Videobotschaft für das Vorhaben.
Kritik am historisierenden Wiederaufbau
Bereits zu Beginn dieser Kampagne wurden öffentlich Stimmen hörbar, die befürchteten, dass das Bodenmosaik der Realisierung weichen müsse. Resümierendsagte Miriam Rürup im März 2021, das Synagogenmonument »war eine Avantgarde-Bewegung von Juden und Nichtjuden. Darauf sollte man sehr stolz sein. […] Dürfen wir uns davon schon abwenden?« Mit dem Mosaik würde ein wichtiger Ort der Erinnerungskultur in Hamburg verschwinden. Das Gegenargument lautet: Das Bodenmosaik habe seinen Zweck erfüllt, denn für wen und auf wessen Kosten solle die schmerzhafte Lücke beibehalten werden? Sie sei besetzt worden, bis wieder eine Synagoge auf den Platz zurückkehren könne. Philipp Stricharz drückte es schon im November 2019 gegenüber der taz so aus: »Jeden Tag, an dem ich da vorbeikomme, empfinde ich eine große und weiter bestehende historische Ungerechtigkeit. […] Da steht einerseits ein Platz leer – da sollte aber eine Synagoge stehen. Stattdessen steht da dieser sogenannte Hochbunker«. Das Areal »wieder jüdisch zu machen, das mag pathetisch klingen, wäre ein später Sieg«.
Als das Areal am Grindelhof noch jüdisch war: Blick auf das Ensemble von Talmud-Tora-Schule und Synagoge, 1914. Quelle: Hamburg und seine Bauten, Band 1. Dölling und Galitz, Hamburg 1914.
Gegen eben dieses Pathos verwehren sich Rürup und andere Hamburger:innen. Das dokumentierte etwa eine Veranstaltung der Körber Stiftung vom Februar 2021. Zu Beginn der Debatte schürte besonders die Rede von »Wiederaufbau« und »Rekonstruktion« die Sorge, der Bau könne zu historischem Revisionismus führen. Rürup warnte im Rahmen einer von der Patriotischen Gesellschaft organisierten Diskussionsveranstaltung: »Wenn wir historisierend bauen, fantasieren wir uns in eine gute alte Zeit«. Sie fragte, welche ungewollte Wirkung der Wiederaufbau noch haben könnte und befürchtete eine »moralische Elbphilharmonie«.
Ein Prestigeprojekt wie die Elbphilharmonie?
In Analogie zur Elbphilharmonie waren die ersten Debattenbeiträge von der Kritik geprägt, Hamburg verfolge nun auch im Kampf gegen den Antisemitismus ein Prestigeprojekt. Mit dem Slogan »Nein zu Antisemitismus. Ja zur Bornplatzsynagoge« würde jede Kritik am Bauvorhaben als antisemitisch diskreditiert. Dabei gäbe es gute Gründe, kritisch nachzufragen, weshalb die neu gewonnene Unterstützung der Öffentlichkeit und Politik sich so auf den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge konzentriere. Der Unmut über die Missachtung anderer jüdischer Kulturstätten in Hamburg überschattete die Freude über die politische Unterstützung des Synagogenbauprojekts.
So hatte die Initiative Tempel Poolstraße bereits vor dem antisemitischen Anschlag in Halle für das Jahr 2019 eine Kampagne zur Rettung und kulturellen Aufbereitung der Tempelruine in der Hamburger Neustadt geplant. Nach dem Anschlag fand sich der dafür gegründete Verein Tempelforum e.V. in der ungewollten Lage, dass sein Anliegen in Konkurrenz zu den Forderungen nach einer neuen Bornplatzsynagoge gesehen wurde. Als Mitglied des Vereins sprach Miriam Rürup sich in der ersten Runde der Debatte im Dezember 2019 für eine Öffnung der geplanten Machbarkeitsstudie aus. Das Ziel sei, viele verschiedene Orte in die Wideraufbaupläne einzubeziehen. Harald Schmid von der Bürgerstiftung Schleswig-Holsteinische Gedenkstätten äußerte auf einem Symposium im September 2021 rückblickend, dass die frühzeitige Festlegung der politischen Förderung auf den rekonstruierenden Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge für die Kontroverse mitverantwortlich gewesen sein könnte.
»Für einen breiten, offenen Diskurs«
Im Dezember 2020 wurde über die Patriotische Gesellschaft eine öffentliche Stellungnahme mit dem Titel »Für einen breiten, offenen Diskurs über den Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge« veröffentlicht. Zu den Erstunterzeichnenden zählten neben Miriam Rürup der Historiker und ehemalige Direktor des Richard-Koebner-Zentrums für deutsche Geschichte an der Universität Jerusalem Moshe Zimmermann sowie Ingrid Nümann-Seidewinkel, ehemalige Eimsbütteler Bezirksamtsleiterin.
Das von Margrit Kahl gestaltete Bodenmosaik liegt im Schatten des Hochbunkers, Foto: Privat.
Die mit der Stellungnahme als ein auch internationaler Standpunkt in der Debatte etablierte Kritik richtete sich gegen die Idee eines historisierenden Wiederaufbaus. Die Stellungnahme kritisierte die Rekonstruktion kriegerisch zerstörter Bauten im Allgemeinen und die der Bornplatzsynagoge im Besonderen. Der Vorwurf lautete, mit dieser Idee würde – wenn auch nicht intendiert – ein historischer Revisionismus der antisemitischen Zerstörung im Stadtbild betrieben. Zugleich werde mit dem Synagogenmonument von Margrit Kahl ein zentraler Erinnerungsort und Teil des kulturellen Erbes der Stadt zerstört. Die Unterzeichnenden forderten stattdessen »eine breite Diskussion darüber, wie jüdisches Leben im Grindelviertel neu gedacht und in zeitgemäßer, zukunftsgerichteter Form gestaltet werden kann unter Einbeziehung der vorhandenen Gegebenheiten«. Denn Städtebau sei »das Ergebnis der Integration vieler gesellschaftlicher Interessen und Sichtweisen«.
Zynismus deutscher Erinnerungspolitik
Der Ton spitzte sich zu, als Nümann-Seidewinkel die Ansicht äußerte, ein historisierender Wiederaufbau »hätte für mich etwas von Disneyland«.3Der entsprechende NDR-Artikel ist nur noch in einer archivierten Fassung erreichbar. Sie war in ihrer Zeit als Leiterin des Bezirksamts Eimsbüttel an der Umsetzung des Synagogenmonuments beteiligt und sah nun die lokale Erinnerungspolitik in Gefahr. Für die Verfechter:innen einer Rekonstruktion wies Stricharz diese Kritik als akademisiert zurück. Er betonte, dass sie zwar bereit seien »sich einiges anzuschauen«, wenn es um die architektonischen Umsetzungsmöglichkeiten geht. Den Wunsch jedoch, den Platz komplett leer zu belassen, lehnte er ab.
Schon 2019 hatte der World Jewish Congress 2019 entsprechende Ideen als »zynisch« kritisiert: »Stimmen, die fordern, dass der Bornplatz leer bleiben müsse, um zu zeigen, was der Jüdischen Gemeinde angetan wurde, erteilen wir eine klare Absage. Unrecht gegen die Jüdische Gemeinde zu perpetuieren, nur um zu zeigen, dass es stattfand, würde die Hamburger Jüdische Gemeinde ein weiteres Mal zum Objekt äußerer Interessen machen«.
Die Rede von ›äußeren Interessen‹ knüpft an den Vorwurf an, die kritischen Stimmen kämen in erster Linie von nicht-jüdischen Akteur:innen. Dieser Ansicht wurde und wird unter anderen von Miriam Rürup vehement widersprochen. Philipp Stricharz hob jedoch hervor, dass die Gestaltung des Platzes in letzter Konsequenz die Entscheidung der jüdischen Gemeinde sei. Den Wunsch der Gemeinde nach einem historisierenden Synagogenbau begründete er auf dem AIT-ArchitekturSalon im Mai 2021 folgendermaßen: »Wir leben jetzt in einer Zeit, in der Juden wirklich Bedenken haben, sich öffentlich auf der Straße zu zeigen. Öffentliche Verkehrsmittel, ein Fußweg von nach kann problematisch sein und in dieser Zeit sehnt man sich ein bisschen nach einem Gebäude, das nicht nur ausdrückt: Wir sind da und ihr müsst es akzeptieren. Sondern: Wir sind auf eine ganz imposante Art und Weise da und wir sind hier nicht irgendwer und wir sind hier nicht gerade erst mit dem Ufo gelandet«.
Integration durch Homogenisierung?
Ob ein originalgetreuer Wiederaufbau der Bornplatzsynagoge diesen Effekt für alle jüdischen Konfessionsgruppen in Hamburg haben kann, zweifelt Miriam Rürup allerdings an. Was in der Debatte fehle, ist ihr zufolge die Anerkennung eines heterogenen Judentums und seiner kulturellen Erzeugnisse in Hamburg. Sie kritisierte Anfang des Jahres, dass durch die gedachte Trennung zwischen »Hamburger Stadtgesellschaft« und »jüdischer Einheitsgemeinde« das Jüdischsein an die Gemeindemitgliedschaft gekoppelt wird. Diese Aufteilung werde weder den Positionen in der Debatte, noch dem jüdischen Kulturerbe in Hamburg gerecht.
Dass jüdische Gebets- und Kulturstätten erst nach einem Terroranschlag politische Unterstützung erhalten und dass diese Unterstützung zu Streit zwischen heterogenen jüdischen Traditionen um Teilhabe am Stadtbild führt, zeigt: Den jüdischen Gemeinden wird heute die Rolle zugewiesen, sich in eine als nicht-jüdisch verstandene Stadtgesellschaft zu integrieren. Das ist schon für sich genommen problematisch. Dazu kommt, dass viele nicht-jüdische Hamburger:innen sowie Mitglieder der Bürgerschaft nur die jüdische Einheitsgemeinde kennen. Dabei ist Hamburg international auch als die Wiege des liberalen Judentums bekannt.
In dieser Situation lässt sich die Kritik am Fokus auf den Wiederaufbau einer imposanten Synagoge, die für ein orthodoxes Judentum stand4Vgl. Ina Lorenz/Jörg Berkemann, Die Hamburger Juden im NS-Staat 1933 bis 1938/39. Band 1 – Monografie, Göttingen 2016, S. 136. Online unter: http://www.igdj-hh.de/files/IGDJ/pdf/hamburger-beitraege/lorenz-berkemann_hamburger-juden-im-ns-staat‑1.pdf, auch als die Sorge verstehen, dass Hamburg sich zum Zweck der Integration eine homogene jüdische Lokalgeschichte und ‑kultur imaginiert. Während die gewonnene politische Unterstützung zu begrüßen ist, darf sie die Vernachlässigung jüdischen Kulturerbes in Hamburg nicht vergessen machen. Die Befürchtung, dass eine zu heterogen auftretende jüdische Interessensvertretung dem gemeinsamen Wunsch nach urbaner Teilhabe schaden könnte, zeugt von einem besorgniserregenden deutschen Selbstverständnis.
Abkehr von der Idee eines originalgetreuen Wiederaufbaus
Spätestens 2021 änderte sich der Ton, als unter anderem Daniel Sheffer, Initiator der Kampagne »Nein zu Antisemitismus. Ja zur Bornplatzsynagoge«, die Idee eines originalgetreuen Wiederaufbaus relativierte. Mittlerweile bestreitet er gar, dass es sie in der Form jemals gab. Für Philipp Stricharz bleibt nichtsdestoweniger die Frage offen, weshalb eine Vollrekonstruktion nur im Falle eines Synagogenwiederaufbaus von vornherein ausgeschlossen sein soll. Er zieht eine historische Linie von der Shoa bis dahin, dass jüdische Bauten von der Tendenz, urbane Architektur originalgetreu zu rekonstruieren, bislang ausgeschlossen wurden. In Hamburg erhielten der Michel oder auch das Haus der Patriotischen Gesellschaft in den 1950er Jahren städtische Unterstützung für ihren Wiederaufbau. Für die Bornplatzsynagoge hingegen gab es, wie oben beschrieben, lediglich ein Pauschalabkommen ohne Einbeziehung der Hamburger Gemeinde.
Für Stricharz perpetuiert sich darin das Unrecht der Nazis: »Hätte man sich damals den Juden gegenüber genauso verhalten wie man sich der sonstigen Gesellschaft gegenüber verhalten hat, hätte man die Synagoge [bereits in den 50er Jahren] wieder aufgebaut«, sagte er im Rahmen des AIT-ArchitekturSalons. Es sei verkürzt, sich jüdische Rekonstruktion als eine schlichte Kopie vorzustellen oder sie gar mit Disneyland zu assoziieren: »Meine Meinung ist, dass ein nicht-historisierender Aufbau undenkbar ist.« Ein gelungener Entwurf für die Synagoge müsse dem Anspruch der jüdischen Gemeinde Rechnung tragen, zu »zeigen, wo man herkommt«. Und er müsse sich auf die Sicht der jüdischen Gemeinde als jenen, »die außen vor gelassen wurden bei diesem Wiederaufbau«, einlassen. Stricharz betonte aber auch: Eine einfache Replikation sei aufgrund praktischer Sicherheitsanforderungen gar nicht möglich. Außerdem würde die alte Raumaufteilung im Inneren der Synagoge den gegenwärtigen Bedürfnissen der »jüdischen Gemeinden Hamburgs« nicht mehr entsprechen. Der von Stricharz hier verwendete Plural deutet darauf hin, dass die jüdischen Gemeinden den Neubau nun als Möglichkeit sehen, sich urbanen Raum gemeinsam neu anzueignen.
Zeichen der Annäherung
Sheffer bezeichnete es Anfang des Jahres entsprechend als kleinsten gemeinsamen Nenner, »einen Ort lebendigen jüdischen Lebens zu schaffen, der Raum gibt für dessen Vielfalt, also Gebetsräume für das liberale und orthodoxe Judentum gleichberechtigter Weise«. Dieser Vision konnte Rürup sich anschließen, forderte allerdings eine Reflexion über die Schwerpunktsetzung innerhalb dieser Vielfalt: Welches jüdische Erbe würde der Neubau aktualisieren, welche Identifikationsmöglichkeiten würde er ausklammern?
Neben dem Bodenmosaik und der Tempelruine in der Poolstraße nennt Rürup den Tempelbau in der Oberstraße, der von den Nazis enteignet wurde und bis heute ein NDR-Studio beherbergt: »Wenn wir nun den Joseph-Carlebach-Platz zum zentralen Ort für jüdisches Leben auswählen, müssen wir anerkennen, was es bereits gibt und auch direkt an dem Ort existiert«. Bliebe dies aus, ließen sich die vernachlässigten architektonischen Zeugnisse jüdischer Vergangenheit nicht mit dem hegemonialen Judentum der Gegenwart in Verbindung bringen. Sie als Jüdin fühle sich dann durch die gewonnene Repräsentanz nicht adressiert. Ein starkes Signal für das Judentum müsse dessen Vielfalt berücksichtigen.
Ein weiteres Anzeichen der Annäherung der unterschiedlichen Positionen ist die Tatsache, dass die JGHH das Architekturbüro Wandel Lorch Götze Wach mit der Erstellung der Machbarkeitsstudie beauftragt hat. Das spricht gegen eine ungebrochene Rekonstruktion, denn das Büro hat sowohl Erfahrungen mit modernem Synagogenbau (Neue Synagoge Dresden, Jüdisches Zentrum München) als auch mit Restaurationsprojekten (Bayreuther Synagoge), die eine Symbiose historisierender Bauart und zukunftsgewandter Gestaltung versuchen. Mit einer Veröffentlichung der Ergebnisse der Machbarkeitsstudie ist Mitte des Jahres zu rechnen.
Von den Täter:innen keine Rede: Der am Hochbunker angebrachten Gedenktafel zufolge wurde die Synagoge nicht von Hamburger Nazis, sondern »durch einen Willkürakt« zerstört, Foto: privat.
Erinnerungskultur im Wandel
Die Debatte der letzten drei Jahre zeugt somit von weitreichenden Aushandlungen: In den Bezügen auf das Synagogenmonument wird nicht nur die genaue Form des Wiederaufbaus verhandelt, sondern auch die Frage, an wen sich die deutsche Erinnerungskultur eigentlich richtet und wer an die Shoa erinnern soll bzw. muss. Ebenso stehen ihre Strategien der Erinnerung auf dem Prüfstand. Damit sind sogenannte authentische Orte des Grauens, wie KZ-Gedenkstätten, aber eben auch Orte der zerstörten Repräsentationen gemeint.
Die Debatte um den Bau einer Synagoge am Joseph-Carlebach-Platz stellt in dieser Hinsicht und durch seine Reichweite ein Novum dar: Wie geht eine Stadtgesellschaft damit um, wenn sich die Strategien der Erinnerung mit den Wünschen jüdischer Repräsentanz um ein- und denselben Platz streiten? Für Philipp Stricharz kann das Synagogenmonument, wenn die deutsche Erinnerungskultur die Verdrängung jüdischer Repräsentanz nicht perpetuieren wolle, nur als Platzhalter verstanden werden. Denn sonst blockiere das Bedürfnis der Hamburger Stadtgesellschaft, sich noch einmal zur deutschen Schuld zu bekennen, den einmal antisemitisch enteigneten Ort ein weiteres Mal – wenn auch mit guten Absichten: »Das ist dann sozusagen mein innerer Impuls: Ja dann macht das doch, aber doch nicht auf unserem Grund und Boden. Und das ist glaube ich auch eine Erklärung für diese Aufgebrachtheit die vielleicht in der Diskussion ein Stück weit vorhanden war. Von allen Seiten wollte man sozusagen das Richtige, aber es fühlt sich halt wirklich anders an«.
Die gesellschaftliche Debatte führte neben solchen Erkenntnissen auch zu Blüten, die noch eine ganz andere Art des historischen Revisionismus fürchten lassen. So präsentierten Architekturabsolvent:innen der BTU Cottbus-Senftenberg im Juni 2021 Entwürfe für mögliche Synagogenbauten am Joseph-Carlebach-Platz. Darunter fand sich auch der Vorschlag, die Synagoge auf den Hochbunker zu platzieren, um die bisherige Entwicklung des Areals in den Neubau zu integrieren. Der Entwurf imaginiert den Hochbunker, gebaut zum Schutz »arischer« Bürger:innen, versöhnlich als Fundament aktueller jüdischer Repräsentanz. Stattdessen sollte die Reflexion historischer Bezüge auf lokale Täterbauten erweitert werden. Darin treffen sich die sonst widerstreitenden Positionen innerhalb der Debatte: Würde der Bunker weichen, wäre mehr Platz. Den bislang wenig beachteten, denkmalgeschützten Hochbunker in Frage zu stellen, könnte die Debatte zwischen Erinnern und neuer jüdischer Repräsentanz um eine wesentliche Perspektive erweitern. Ein Abriss des Bunkers würde den Handlungsspielraum vergrößern und einen neuen Fokus darauf schaffen, woran erinnert und angeknüpft werden soll.
Grace Vierling, März 2022
Die Autorin verfolgt die Debatte beruflich und aus politischem Interesse. Dabei gilt ihre Aufmerksamkeit vor allem den deutschen Zuständen und denen, die unter ihnen zu leiden haben.
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Die Rechteinhaber:innen konnten trotz intensiver Nachforschung nicht ermittelt werden. Diese haben die Möglichkeit, sich an uns zu wenden.
Vgl. Ina Lorenz/Jörg Berkemann, Die Hamburger Juden im NS-Staat 1933 bis 1938/39. Band 1 – Monografie, Göttingen 2016, S. 136. Online unter: http://www.igdj-hh.de/files/IGDJ/pdf/hamburger-beitraege/lorenz-berkemann_hamburger-juden-im-ns-staat‑1.pdf
Paulihaus, Schilleroper und Sternbrücke sind Hamburgs umstrittenste Abriss- und Bauvorhaben. In der Tat sind sie nicht zu befürworten. Trotzdem überzeugt der Protest dagegen nicht. Denn: Was spricht gegen den Abriss maroder Bauten? Ein kleiner Spaziergang wirft die große Frage auf: Wo sind die stadtplanerischen Utopien der Moderne geblieben? (Teil I)
Antiabrisstische Aktion. Im Hintergrund: die Überreste der Schilleroper. Foto: privat
Am Neuen Pferdemarkt, Ecke Neuer Kamp, stand im Sommer noch ein backsteinerner Flachbau – die ehemalige Kantine der Rindermarkthalle. Das Gebäude beherbergte zuletzt ein indisches Restaurant und eine Autowerkstatt. Der Ende Juni erfolgte Abriss soll Platz schaffen für ein mehrstöckiges Bürogebäude: das sogenannte Paulihaus. Würde es schon stehen, so ließen sich von den oberen Stockwerken aus die kläglichen Überreste der Schilleroper erblicken. Sie liegt nur einige Gehminuten entfernt. Im Gegensatz zur Kantine steht ihr stählernes Gerüst unter Denkmalschutz. Nach Vorstellung der Investorin soll hier ein dreiteiliger Gebäudekomplex entstehen. Wer nun von der Schilleroper aus der Stresemannstraße gen Altona folgt, findet sich bald an der Sternbrücke wieder. Eine in die Jahre gekommene Stahlkonstruktion, die ein Hauch von Bronx in Hamburg umweht und unter der eine Reihe von Clubs beherbergt sind. Sie soll, man ahnt es, in ihrer bisherigen Form abgerissen werden und einer neuen, überdimensionierten Brücke weichen.
Die nur wenige Gehminuten voneinander entfernt liegenden Gebäude weisen noch eine weitere Gemeinsamkeit auf: Sie bilden die Hauptachse städtebaulichen Protests in der Hansestadt. Um alle Bauten haben sich Initiativen gegründet, die für ihren Erhalt einstehen, oder – im Falle der Rindermarktkantine – Einspruch gegen die Neubaupläne erheben. Im Fokus der Kritik steht, aller Unterschiede zum Trotz, der Abriss alter Bausubstanz und ein Plädoyer für den Erhalt gewachsener Strukturen. So heißt es in einer 2020 verfassten Pressemitteilung der Initiative St. Pauli Code JETZT!: Die Inhaberin des vom Abriss bedrohten Restaurants an der Rindermarkthalle kämpfe »für die Erhaltung des Ortes, der so wichtig für den Stadtteil St. Pauli ist«. Im selben Jahr schrieb die Anwohner-Initiative Schiller-Oper: »Kämpft mit uns weiter für den Erhalt dieses wichtigen Stück [sic] St. Pauli! Was wäre unser Viertel ohne solche prägenden Gebäude?« Die Initiative Sternbrücke schreibt, dass die Neubauplanung der Eisenbahnbrücke das »kulturelle Herz der Schanze« zerstören würde – vorbei wäre es dann mit der »lebendigen, kleinen und historisch gewachsenen Kreuzung im Herzen von Altona Nord«.
Konservieren als Widerstand?
In der Tat: Alle geplanten Neubauten an besagten Orten trügen sicher kaum zur Lebensqualität der Bewohner:innen der betroffenen Stadtviertel bei. Sie dienten vor allem den wenigen Profiteur:innen einer Stadtplanung, die Hamburg seit über 20 Jahren als Marke begreift und Kapitalinteressen allzu gern den Vorzug lässt. Insbesondere den Neubauplänen an Rindermarkthalle und Schilleroper gilt es entschiedenen Widerstand entgegenzusetzen. Nicht zuletzt, weil die an Astroturfing – die Simulation einer Bürger:innenbewegung – grenzenden Kampagnen der Investor:innen, etwa der Schilleroper Objekt GmbH, nur allzu gut zeigen, was es bedeuten könnte, in einer vollends zur Ware gewordenen Stadt zu leben. Wohnraum ist darin nicht mehr primär ein zu befriedigendes Grundbedürfnis, sondern ein für viele unbezahlbares Lifestyleobjekt.
Die Frage ist nur: Ist das Bewahren des Alten die richtige Form des Widerstands? Ist das »historisch Gewachsene« dem rational Geplanten immer vorzuziehen? Warum sollte, um bei diesem Gebäude zu bleiben, das, was von der Schilleroper übriggeblieben ist, nicht abgerissen werden und Neuem – etwa bezahlbarem Wohnraum – weichen? Die Anwohner-Ini verweist auf die »einzigartige Stahlkonstruktion« und damit den historischen Wert des »letzten festen Zirkusbau[s] aus dem 19. Jahrhundert in Deutschland«. Die Schilleroper sei ein »für den Stadtteil prägendes« und »identitätsstiftendes Gebäude«, »ein einmaliges Stück St. Pauli«. Sie sei Teil des »kulturellen Erbes der Stadt« und müsse daher erhalten werden. Etwas anders verhält es sich mit der Kantine an der Rindermarkthalle: In jüngster Zeit richtete sich der Appell des Erhaltens, nachdem die Kantine nun abgerissen wurde, auf die mittlerweile ebenfalls gefällten 21 Bäume auf dem Gelände des projektierten Bürogebäudes. Aber könnte nicht auch hier etwas Neues entstehen, das dem Stadtteil dienlicher ist als alte Flachbauten oder ein Bürogebäude – und für das ein paar gefällte Bäume womöglich kein zu großer Preis wären?
Ist also eine Kritik, die darin aufgeht, nicht abzureißen, und dadurch von der Argumentation des Denkmalvereins nicht mehr zu unterscheiden ist, die richtige Antwort auf die bestehenden Verhältnisse? Und wieso konzentrieren sich linke stadtpolitische Bewegungen derart auf das Erhalten alter Bausubstanz? Eine Antwort lässt sich womöglich finden, wenn die lokalen Hamburger Protestherde verlassen werden und ein Blick in die Geschichte des 20. Jahrhunderts geworfen wird: In den 1970er Jahren rückte die Linke nach und nach ab von modernen Visionen großangelegter Stadtplanung und besetzte dem Verfall preisgegebene innerstädtische Bauten. Instandbesetzen und Bewahren wurden zur widerständigen Praxis. Aus der Rückschau ist dies ein Kipppunkt, der genauere Betrachtung verdient. Er kann womöglich nicht nur den heutigen Hang zum Konservieren erklären, sondern auch, warum die einstigen verkommenen Stadtviertel mittlerweile im Zentrum der Kapitalverwertung stehen.
Könnte hier nicht etwas gänzlich Neues entstehen? Foto: privat
Als die Linke in den Altbau zog
Die 1970er Jahre gelten in den Geschichts- und Sozialwissenschaften mittlerweile aus vielerlei Hinsicht als Kulminationspunkt einer Entwicklung, die nach wie vor prägend für die Gegenwart ist. Sie waren eine Übergangsphase von der klassischen Moderne zur sogenannten Post- oder auch Spätmoderne. Sie zeichnen sich durch ökonomische und kulturelle Transformationen aus, die sich in wenigen skizzenhaften Strichen mit den Schlagwörtern Deindustrialisierung, strauchelnde Wohlfahrtsstaaten und neoliberale Wende sowie ökologische Krise beschreiben lassen. Die Moderne wurde, so hat es der Soziologe Ulrich Beck formuliert, reflexiv: Nicht mehr ungebrochener Fortschritt, sondern Erkenntnis und Bewältigung der negativen Folgen des Modernisierungsprozesses selbst rückten in den Vordergrund. In der Linken zeigte sich bisweilen Skepsis an den einst gehegten revolutionären Hoffnungen und eine Hinwendung zur Innerlichkeit – so manche Mitglieder ehemaliger K‑Gruppen fanden ihren inneren Frieden bald in einer Bhagwan-Kommune.
Aus städtebaulicher Sicht drückt sich dieser Bruch im 20. Jahrhundert auch im Phänomen der Hausbesetzungen aus, die insbesondere ab den 1970er und 1980er Jahren in vielen westeuropäischen Ländern auszumachen sind. Denn während sich der Wohnungsbau auf große Siedlungen am Stadtrand konzentrierte, verfielen Altbauwohnungen in den Innenstädten und sollten oftmals Neubauplänen weichen. Die moderne, geschichtsvergessene Planungseuphorie schuf jenen Raum, innerhalb dessen sich das Bewahren alter Bausubstanz als widerständige Praxis gegen eine Baupolitik nach den Maßgaben von Staat und Kapital formierte.
Diese Baupolitik war auch verkümmertes Produkt jener in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts progressiven Idee, den beengten innerstädtischen Wohnverhältnissen proletarischer Viertel qualitativ hochwertigen und erschwinglichen Wohnraum entgegenzusetzen. Die planerischen Visionen und Utopien der Moderne waren auch eine Antwort auf jene Verwerfungen, die die Industrialisierung und der Siegeszug der neuen Produktionsweise insbesondere in den Städten hinterließen. Die Antwort bestand in der rational entworfenen Stadt, die der noch zu begründenden egalitären Massengesellschaft Raum geben sollte. In den Bauten der Nachkriegsmoderne, für die der Architekturhistoriker Heinrich Klotz den Begriff des »Bauwirtschaftsfunktionalismus« prägte, war davon nicht mehr allzu viel übrig. Zu uniform erschienen die Wohnsilos wie die Großwohnsiedlung im Hamburger Stadtteil Steilshoop oder das Neue Zentrum Kreuzberg in Berlin, die in den 1970er Jahren entstanden. Zudem lagen die meisten dieser Bauten – entgegen den ursprünglichen Intentionen moderner Stadtplanung – an den Stadtgrenzen. Hausbesetzungen waren insofern immer auch mehr als nur pragmatische Politik, um günstigen innerstädtischen Wohnraum zu erhalten. Sie waren ein Labor alternativer Lebensformen, die sich der Normierung und Regulation durch Staat und Kapital widersetzten.
Das Allgemeine und das Besondere
Die ökonomischen und kulturellen Transformationen der 1970er Jahre hat der Soziologe Andreas Reckwitz jüngst als Wendung vom Allgemeinen zum Besonderen beschrieben. Die sich ab dem 18. Jahrhundert formierende klassische Moderne sei geprägt durch eine soziale Logik des Allgemeinen: Formalisierung, Generalisierung und Standardisierung. Die Spätmoderne hingegen folge einer entgegengesetzten Logik des Besonderen: Singularisierung. Diese Analyse ist nicht nur eine weitere Erklärung für jene Prozesse der 1970er Jahre und damit auch für die Praxis des Besetzens und Bewahrens. Sie vermag auch zu zeigen, warum die einst widerständige Praxis heute Gefahr läuft, sich in ihr Gegenteil zu verkehren.
Denn was einst auch als Protest gegen die Logik des Allgemeinen begann, steht heute längst im Zentrum der Verwertung. Um wieder auf den lokalen Protest um die Schilleroper zu kommen: Sowohl die Investor:innen als auch der sich gegen deren Pläne formierende Protest operieren, aller Unterschiede in der Zielsetzung zum Trotz, im selben strategischen Feld. Die Schilleroper Objekt GmbH spricht von der »besondere[n] Bedeutung im Quartier des Stadtteils St. Pauli« und von einem »traditionelle[n] Areal«. Die GmbH imitiert hier nicht nur den Sound der Anwohner:innen-Ini: Vielmehr stehen das Singuläre und Einzigartige des Ortes im Zentrum von dessen Vermarktung und Verkauf. Und auf der anderen Seite unterscheidet sich der vom Architekten Dirk Anders gemeinsam mit der Schilleroper-Ini vorgelegte Alternativentwurf kaum von ähnlichen städtebaulichen Strategien, historische Bausubstanz als dekoratives Element zu bewahren, um dem Neuen ein »historisches Flair« zu verschaffen. Ein flüchtiger Blick in die Exposés von Immobilienfirmen reicht aus: Das »andere Leben«, die »gewachsenen Viertel«, Subkultur und alternative Urbanität sind offenbar gute Argumente, um überteuerte Eigentumswohnungen zu verkaufen.
Auch das Paulihaus – oder besser: das Areal, auf dem es gebaut werden soll – weist in diese Richtung. Bis zum Jahr 2010 beherbergte die heutige Rindermarkthalle noch die Filiale einer großen Supermarktkette. Das Backsteingebäude war weitgehend mit weißem Trapezblech verkleidet. Es hätte in dieser Form auch an jeder anderen Ecke dieser oder in einer beliebigen Stadt stehen können. Es war, wie sein Inhalt, austauschbar. Nach dem Auszug des Supermarktes entstand eine Debatte um die Nutzung der Fläche. Gegen die Abrisspläne der Stadt – es sollte eine Konzerthallte entstehen – entstand so großer Widerstand, dass man sie schließlich verwarf. Das Trapezblech wurde entfernt, das Backsteingebäude saniert, die alten Reliefs wiederhergestellt. Nun war es nicht mehr irgendein beliebiges Gebäude, sondern es hatte Wiedererkennungswert. Die Rindermarkthalle St. Pauli ist nun ›einzigartig‹, mit ›Tradition‹ und ›Geschichte‹. So werden sie und die sich in ihr mittlerweile zu findenden Geschäfte auch vermarktet. Die »ganze Vielfalt St. Paulis auf einem Fleck«, heißt es auf der Webseite. Gemeint sind Einkaufsmöglichkeiten.
Bis 2011 mit Trapezblech verhüllt: die historische Fassade der Rindermarkthalle. Foto: GeorgDerReisende / Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY 4.0
Das Besondere, das Erhalten des historisch Gewachsenen, die Betonung von Identität, sind zu den Koordinaten eines kulturellen Systems geworden, das nicht mehr das Andere kapitalistischer Verwertung sucht, sondern mittlerweile in ihrem Zentrum steht. Jene Räume, in denen auch eine widerständige, sich nicht fügen wollende Subkultur entstand, verlieren nach und nach jegliches Moment von Nichtidentität und werden sowohl zur Bühne als auch zum konsumierbaren Beifang des Erwerbs von Eigentumswohnungen – oder handgemachter Backwaren. Und nun? Zurück zu Trapezblech und Beton?
Womöglich wäre es ein Weg, einen Teil der nichteingelösten Versprechen der Moderne, auch in Stadtplanung und Architektur, freizulegen und sie auf den Trümmern abgerissener Stahlkonstruktionen und Flachbauten entstehen zu lassen. -Fortsetzung folgt-
Johannes Radczinski, Januar 2022
Der Autor plädierte auf Untiefen bereits für den Abriss (oder zumindest die Umgestaltung) des Bismarckdenkmals und dafür, das Heiligengeistfeld ganzjährig als Freifläche den Bewohner:innen dieser Stadt zur Verfügung zu stellen.
In der HafenCity entsteht momentan das dritthöchste Gebäude Deutschlands. An dem Prestigeprojekt »Elbtower« offenbart sich die enge Verflechtung von Wirtschaft und Politik in Hamburg – und die besondere Rolle, die der ehemalige Bürgermeister Olaf Scholz dabei spielt.
Auf der Baustelle direkt neben der S‑Bahn-Haltestelle Elbbrücken ist schon Betrieb. (Foto: privat).
Hamburg wäre nicht Hamburg, wenn nicht alle paar Jahre irgendein neues, großartiges Bauprojekt um die Ecke gebogen käme. Aber wo so viel Licht ist, wie bei den Lobpreisungen des Elbtowers, gibt es auch Schatten. Die stadtpolitische Durchsetzung solcher Projekte erweckt den Eindruck, als wäre der alte Hamburger Filznoch immer in bester Verfassung.
Der Elbtower sieht, den Stararchitekt:innen von David Chipperfield zum Dank, so aus, als hätte ein Märchenriese seinen zu großen Stiefel in Hamburg stehen gelassen. Im Schatten dieser »Ouvertüre« derHafenCity stehen Aktiengesellschaften, ihre Stiftungen, der heutige Finanzminister Olaf Scholz und – nicht zu vergessen – die Bewohner:innen von Rothenburgsort.
Prestigeprojekt durchgewunken
Diesmal scheint alles perfekt zu sein. Hamburg hat Europas größtes Bauprojekt angeleiert. Top Lage in der Hafencity, direkt an der neuen S‑Bahn-Station Elbbrücken, und das Megaprojekt soll sogar nachhaltig sein – was auch immer das bei einem Projekt dieser Größenordnung heißen mag: Platinstandard des HafenCity-Umweltzeichens.1Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Jörg Hamann (CDU) vom 07.09.18 und Antwort des Senats. Drucksache 21/14277, 14.09.2018. [online]. Das dritthöchste Gebäude Deutschlands kann »endlich« gebaut werden.
Die Auslobung des Elbtowers fand Mitte 2017 statt. Anfang 2021 ist der Bebauungsplan schließlich durchgewunken worden. Der Tower wird 245 Meter hoch und damit noch zwölf Meter höher als ursprünglich geplant. Oder wie die geneigten User:innen von ScyscraperCity-Foren es sagen: »[D]a kann man Hamburg nur neidvoll gratulieren! 😊«.
Im Gegensatz zur Fangemeinde phallusartiger Denkmäler und Weltwunder des Kapitalismus werden die Rothenburgsorter:innen im wortwörtlichen Schatten des Elbtowersleben. Die Anzahl der Einwände und Beschwerden, die bei der Kommission für Stadtentwicklung vorgebracht wurden, fiel mit überschaubaren 26 dabei ziemlich niedrig aus. Rothenburgsort weist einen hohen Anteil von Migrant:innen, Sozialhilfeempfänger:innen und Alleinerziehenden auf. Dass die Kritik am Elbtower so schmal ausfällt, könnte damit zusammenhängen, dass die subalternen Klassen in Hamburg nicht gehört werden.
Wackelige Finanzierung
Den Zuschlag für den Bau des Gebäudes bekam die Signa Prime Selection AG. So wurden weder die Bestbietenden ausgewählt, noch bekam ein Gebäudeentwurf den Zuschlag, der voll auf Klimaneutralität setzte. Die Aktiengesellschafterhielt vielmehr den Zuschlag, weil sie der verlässlichste Geschäftspartner sei. Das sagt zumindest René Benko, der österreichische Gründer von Signa Prime. Und auch Olaf Scholz begründete die Vergabe seinerzeit damit, dass die Signa sehr finanzstark sei und ein A+ Rating innehat.
Es geht schließlich um (nach aktueller Planung) 700 Millionen Euro für den Bau. Die Signa möchte den Turm komplett aus eigener Tasche finanzieren – mit Büromieten um die 28 Euro pro Quadratmeter. Mindestens fünf Jahre soll das Unternehmen für die Instandhaltung des Gebäudes aufkommen. Für die Stadt Hamburg gebe es »kein Risiko«, behauptet Jürgen Bruns-Berentelg, Vorsitzender der Geschäftsführung der stadteigenen HafenCity Hamburg GmbH.2Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Protokoll/Wortprotokoll der öffentlichen/nichtöffentlichen Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses, 22. Oktober 2018, S. 15 [online]. Das ist allerdings gar nicht so einfach nachzuvollziehen. Denn große Teile des Kaufvertrags sind, wie Heike Sudman von der Linksfraktion festgestellt hat, geschwärzt und somit für die Bürger:Innen Hamburgs nicht einsehbar. Was passiert, wenn dem Unternehmen das Geld ausgeht, wird noch diskutiert. Allerdings wäre es aus Sicht der Stadt wohl unsinnig, das Projekt nicht fortzuführen, wenn etwa ein 120 Meter hoher, nicht fertiggestellter Turm dasteht. Ganz abwegig ist es nicht, dass es zu finanziellen Problemen kommen wird. Das Mutterunternehmen Signa Holding ist auch Eigentümerin von Karstadt – und die gehen bekanntlich gerade insolvent. Des Weiteren macht das Unternehmen es fast unmöglich, einzusehen, woher es welche Gelder für welche Projekte bezieht.
Noch der Anblick dieser Baustellen-Ödnis ist erfreulicher als der vom Investor angepriesene bzw. angedrohte »neue Blick […] auf die Belange der Welt«, den der Elbtower eröffnen werde. (Foto: privat)
Hamburger Filz
Bei der Vergabe des Bauprojekts hatten alle Bürgermeister der letzten Jahre einen Auftritt. Christoph Ahlhaus, der in seiner kurzen Amtszeit kein Großprojekt durchsetzen konnte, hatte sich mit seinem eigenen Immobilienunternehmen beworben. Zu mehr hat es dann aber auch nicht gereicht. Ole von Beust – hauptverantwortlich für den Bau der Elbphilharmonie – hat inzwischen ein Beratungsunternehmen, welches einen Beraterauftrag von der Signa innehat. Von Beust trat, selbstbekennend, als Lobbyist für die Signa im Zuge des Elbtower-Projekts auf.
Unter den Beratern der Signa finden sich neben Ole von Beust dann auch (alte) Genossen von Olaf Scholz: Alfred Gusenbauer (SPÖ) war von 2008 bis 2009 österreichischer Bundeskanzler und tut sich seit seinem Rücktritt als umtriebiger Lobbyist hervor, etwa für den kasachischen Diktator Nursultan Nasarbajew. Zu Scholz steht er in guten Beziehungen. Das schreibt Olaf Scholz zumindest in seinem Buch Hoffnungsland.
Gusenbauer (Team Benko) und Scholz (Team Hamburg) waren im gleichen Zeitraum in der International Union of Socialist Youth (IUSY) aktiv, einem internationalen Zusammenschluss verschiedener sozialdemokratischer und sozialistischer Jugendorganisationen, dem auch die Jusos und die Falken angehören. Gusenbauer war bis 1989 einige Jahre Vizepräsident der IUSY, genau wie Scholz. Von seinem Netzwerk aus dieser Zeit profitiert Scholz heute noch, worüber er jedoch ungern redet.
Wirtschaft und Politik
Die Verflechtungen von Politik und Unternehmen werden besonders an politischen Stiftungen deutlich. Sie dienen der Machtakkumulation auf beiden Seiten: Die Stiftungsunternehmen erhalten eine starke Interessensvertretung. Den Mitgliedern der Stiftungen, die in der Politik aktiv sein können, winken dagegen gut bezahlte Aufsichtsratsposten und Rückendeckung bei Entscheidungen von den Stiftungsunternehmen.3vgl. Marc Eulerich/Martin K. Welge, Die Einflussnahme von Stiftungen auf die unternehmerische Tätigkeit deutscher Großunternehmen, Düsseldorf 2011, S.73ff. [online].
So ist auch Olaf Scholz seit 2018 geborenes Mitglied des Kuratoriums der RAG-Stiftung. Sie ist Teilhaberin am KaDeWe, einem Tochterunternehmen der Signa Holding. Weitere fünf Prozent hält die Stiftung seit 2017 an der weiteren Tochter Signa Prime, die den Elbtower baut. Die Anteile an den Unternehmen, haben der RAG-Stiftung dieses Jahr bereits einen kleinen »Geldregen« beschert, was noch einmal aufzeigt, dass die RAGdavon profitiert, wenn es der Signa gut geht. Und Prestigeobjekte wie der Elbtower sind meistens gut für das Geschäft.
Wenn die RAG-Stiftung durch ihre Beteiligungen an Unternehmen wie der Signa Prime also Dividenden einkassiert, im Fall der Signa in Höhe von vier Prozent, ist das nicht nur für die Stiftung und die Stiftungsunternehmen gut. Vielmehr kann die RAG mithilfe dieses Geldes ihre Marktmacht steigern, sich an mehr Unternehmen beteiligen und mehr Unternehmen als Stiftungsunternehmen aufnehmen. By the way: Armin Laschet, Peter Altmaier, Norbert Lammert und Heiko Maas sind ebenso Mitglieder des RAG-Kuratoriums.
Das bedeutet für die Stiftungsmitglieder im Kuratorium ein wachsendes Netzwerk von Unternehmen, mit denen sie zusammenarbeiten können. Die RAG und die in ihr organisierten Unternehmenerhöhen so ihre Einflussmöglichkeiten auf die Politik. Die Stiftung sieht ihren Aufgabenbereich hauptsächlich im Bereich des Steinkohlebergbaus in NRW – dahin fließt also ein Teil des Gewinns aus den Dividenden der fünf Prozent Anteile an der Signa, die einen klimafreundlichen Turm in Hamburg bauen möchte: in den Kohlebergbau.
Chefsache
Der Tower wird nicht nur Höhepunkt der Hafencity, sondern gleich das mit Abstand höchste Gebäude der Stadt. Dementsprechend motiviert und emotional soll Scholz schon bei der Präsentation des Gebäudes gewesen sein. »Hervorragend«, »elegant«, »raffiniert«, waren die Begriffe, die Scholz zur Beschreibung des Projekts wählte. Als Scholz noch in Hamburg weilte, nahm er sich des Projekts daher auch persönlich an; machte es zur »Chefsache«, wie die lokale Presse schrieb, und verdonnerte den Oberbaudirektor und die Stadtentwicklungssenatorin auf die billigen Plätze.
Parteigenossen von Scholz haben der MoPo zufolge gefrotzelt: »Kleiner Mann, großer Turm.« Aber lassen wir uns vom Napoleon-Komplex nicht beirren. Es war nicht Olaf Scholz’ Körpergröße, die zu der zwielichtigen Vergabe des Bauauftrags führte. Aber mit dem Baubeginn 2021 wird Scholz ein Denkmal gesetzt. Das offenbart eher einen »Cheops-Komplex«, der sich an die ägyptischen Pyramiden zum Zweck der Machtdemonstration anlehnt. Immerhin wird die Elbphilharmonie dann nicht mehr der unangefochtene Höhepunkt der Stadt sein.
Scholz setzte das Projekt mit viel Krafteinsatz durch und tat dies »mit einem guten Gewissen«, denn, so seine bestechende Argumentation, das Ergebnis werde sehr gut sein. Falls das Ergebnis nicht »sehr gut« wird, sollten wir ihn besser an sein Engagement erinnern. Immerhin ist seit seinem Einsatz für die Warburg Bank in Hamburg hinlänglich bekannt, dass der Herr Finanzminister Probleme mit der Erinnerung hat, wenn es um größere Geldsummen geht.
Joe Chip
Der Autor hat zwölf Jahre im Hafen gearbeitet, der Arbeit den Rücken gekehrt und Soziologie studiert. Als Gewerkschafter bleibt er mit den besitzenden Klassen in Verbindung. Seine Erfahrungen verarbeitet er in Kurzgeschichten und Polemik.
1
Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Jörg Hamann (CDU) vom 07.09.18 und Antwort des Senats. Drucksache 21/14277, 14.09.2018. [online].
2
Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Protokoll/Wortprotokoll der öffentlichen/nichtöffentlichen Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses, 22. Oktober 2018, S. 15 [online].
3
vgl. Marc Eulerich/Martin K. Welge, Die Einflussnahme von Stiftungen auf die unternehmerische Tätigkeit deutscher Großunternehmen, Düsseldorf 2011, S.73ff. [online].
Die deutsche Phase direkter Kolonialherrschaft war im europäischen Vergleich kurz, dafür nicht minder gewalttätig. Ihre Spuren hat sie insbesondere in Hamburg, einem zentralen Ort des deutschen Kolonialismus, hinterlassen – sie sind bis heute sichtbar. Diese Fotoreihe führt ins Zentrum der Stadt. Erstaunlich ist vor allem der Kontrast zwischen den bisweilen an den Gebäuden angebrachten »Blauen Tafeln« des Denkmalschutzamtes und der hier erzählten Geschichte.