Seit der Präsentation des Entwurfs für den Opernneubau scheint die Kritik an den Plänen verstummt zu sein. Offenbar überzeugt die Oper auch durch das Angebot eines öffentlichen Parks. Unter dem Grün verschwindet jedoch nicht nur die NS-Vergangenheit Kühne + Nagels. Auch sind – wie der sogenannte »Grüne Bunker« zeigt – erhebliche Zweifel an dem Versprechen einer Freifläche für alle angebracht.
Wer die öffentliche Ausstellung im sogenannten Infocenter der HafenCity Hamburg GmbH betritt, möchte meinen, sich in der Tür geirrt zu haben. Das dortige Gruselkabinett stadtplanerischen Scheiterns wirkt doch eher wie eine Schauergeschichte aus dem nicht weit entfernten Hamburger Dungeon. So begrüßt die Ausstellung ihre Besucher:innen mit einem Aufsteller über eine prominente Bauruine: »Mit 245 Metern wird der Elbtower der SIGNA Prime Selection AG das höchste Gebäude in Hamburg«, heißt es dort nach wie vor – obwohl SIGNA längst insolvent ist und die Turmbaupläne schon auf 199 Meter gestutzt wurden. Rechts davon lobt ein weiterer Aufsteller die »Neuintepretation Hamburger Werte und Kultur«, die das Westfield Einkaufszentrum vorgenommen hätte. Feierte es zwar nach einiger Verzögerung im Frühjahr 2025 seine Eröffnung, gab es doch reichlich Kritik an dem Bau – nicht nur an seinem »gestalterische[n] Stumpfsinn« (Die ZEIT), sondern auch und vor allem an den katastrophalen Arbeitsbedingungen auf der Baustelle, denen mindestens sechs Arbeiter zum Opfer fielen.
Nun zeigt das Infocenter die Entwürfe des Architekturwettbewerbs für die Oper, die auf dem nahegelegenen Baakenhöft entstehen soll. Und es wäre zu hoffen, dass dieses Projekt sich bald in das Gruselkabinett stadtplanerischen Scheiterns einreiht, idealiter gar nicht erst gebaut wird. Seit der umjubelten Präsentation des Siegerentwurfs scheint das jedoch in weite Ferne gerückt zu sein. Die zuvor noch lautstark zu vernehmende Kritik an der Oper ist nahezu verstummt. Weder waren auf der Pressekonferenz am vergangenen Donnerstag kritische Fragen zu hören, noch überwog in der anschließenden Berichterstattung der Zweifel daran, ob Hamburg eine neue Oper braucht. Und – wird letzteres bejaht – ob sie an dem vorgesehenen Ort errichtet und dann auch noch von Klaus-Michael Kühne beziehungsweise von dessen Stiftung finanziert werden sollte.
Karte aus dem Jahr 1912 (Ausschnitt): Markiert sind rechts der Schuppen 25, oben der Hannoversche Bahnhof und unten links der Baakenhöft, auf dem heute die Oper gebaut werden soll.
Neben dem undemokratischen Verständnis einer Stadtplanung im Hinterzimmer und der kolonialen Vergangenheit des Ortes, an dem die Oper gebaut werden soll, war insbesondere die nichtaufgearbeitete GeschichteKühne + Nagels ins Blickfeld der Debatte um die Opernpläne geraten. Nachweislich hatte das Logistikunternehmen im Nationalsozialismus von der Verfolgung der europäischen Jüdinnen und Juden profitiert. Teile des von Kühne + Nagel transportierten Raubguts wurden sogar im Schuppen 25 zwischengelagert, der sich seinerzeit in unmittelbarer Nähe zum Baakenhöft befand. All das scheint nun vergessen: In seinem Kommentar für den Norddeutschen Rundfunk etwa bewertet der Theaterkritiker Peter Helling den Entwurf als »Gamechanger«. Hätte er die Opernpläne bislang aufgrund der NS-Verstrickungen von Kühnes Vater abgelehnt, sei er nun trotz »Bauchschmerzen« von dem Entwurf – »ein gebautes Bekenntnis zu Demokratie und Toleranz« – überzeugt. Im Verlauf der weiteren Planung müsse nur der »Umgang großer Hamburger Mäzene und Stiftungen mit ihrer NS-Vergangenheit« debattiert werden.
Das Versprechen – ein öffentlicher Park
Auch insgesamt waren die Reaktionen seitens Presse und Politik auf den mit großem Aufwand visualisierten Opernhausentwurf geradezu überschwänglich. Jedoch stand dabei gar nicht so sehr das Gebäude selbst als vielmehr das geplante Grün drumherum im Mittelpunkt. Auf der Pressekonferenz etwa betonten sowohl Peter Tschentscher und Carsten Brosda als auch ein Vertreter der Kühne-Stiftung, dass um und auf der Oper ein Park als öffentlicher Freiraum entstünde. Andreas Kleinau, Vorsitzender der Geschäftsführung der HafenCity Hamburg GmbH, verwies darauf, dass die Parkanlage nicht nur für alle begeh- und erlebbar sein, sondern dass sie auch einen Beitrag zur Biodiversität leisten werde. Katharina Fegebank meldete sich auf Instagram zu Wort: »So frisch, so grün!« Auch sie sprach von »Nachhaltigkeit und Biodiversität« sowie einer »Einladung […] an alle Menschen«.
Diese Reaktionen zeugen natürlich zunächst einmal vor allem von der Suggestivkraft, die von der Hochglanzästhetik des hyperrealistischen Renderings ausgeht. Aber tatsächlich verschwindet in dem gefälligen Entwurf des Architekten Bjarke Ingels das eigentliche Opernhaus hinter einem Park, der eine norddeutsche Küstenlandschaft imitiert. Auf einem sich um das Gebäude herum schwingenden Pfad würden die Besucher:innen emporsteigen sowie Ein- und Ausblicke erleben können, Terrassen mit Sitzgelegenheiten sollen zum Verweilen einladen. Die Oper wäre damit ein Ort für alle Hamburger:innen, wie es nahezu einstimmig vom Architekten sowie von Presse und Politik zu hören ist.
Falsche Versprechen – von grünen Bunkern und Opernhäusern
Unter dem Grün des Parks verschwindet jedoch nicht nur das Opernhaus, sondern auch die gerechtfertigte Kritik an dem Bau. Im wahrsten Sinne des Wortes scheint nun Gras – und Strandhafer – über die NS-Vergangenheit Kühne + Nagels sowie die Kolonialgeschichte des Ortes zu wachsen: Keine Geschichtsspur, kein Mahnmal stört die allseits betonte »Harmonie« des Entwurfs. Im von Fegebank so euphorisch begrüßten ›frischen Grün‹ sollen keine Erinnerungen an Vergangenes wach werden. Weder daran, dass von hier vor gut 120 Jahren die Kolonialtruppen zum Völkermord in Deutsch-Südwestafrika aufbrachen, noch daran, dass nur rund 500 Meter Luftlinie entfernt der ehemalige Hannoversche Bahnhof liegt, von dem unter anderem auch Adolf und Käthe Maass deportiert wurden.
Erstaunlich ist jedoch auch, dass das mit Verve vorgetragene Versprechen eines öffentlichen Parks bislang nicht auf eine gehörige Portion Skepsis gestoßen ist. Schließlich erinnert der Opernentwurf an den sogenannten »Grünen Bunker« an der Feldstraße, der seit vergangenem Sommer das Gruselkabinett stadtplanerischen Scheiterns erweitert.
Auch der Bunker war einst, um das Jahr 2015, als öffentlicher Park versprochen worden, von einem »Garten vieler« und sogar einer »völlig neuen Stadtnatur« war seinerzeit die Rede. Nun führt zwar in der Tat – ähnlich zum Opernentwurf – ein zumindest leicht begrünter Pfad um den Bunker herum und an dessen Ende wartet auch ein Dachgarten auf die Besucher:innen. Ein öffentlicher Park ist dort jedoch nicht entstanden: Nicht nur finden sich wenige Sitzgelegenheiten, die tatsächlich zum Verweilen einladen, wie es ebenfalls versprochen worden war, auch sind mitgebrachte Getränke und Speisen verboten, sodass der Weg recht bald wieder nach unten führen muss. Die Macher:innen des Bunkers hatten diese Verbote damit begründet, dass die Besucher:innen zu viel Müll hinterließen, doch hingen die Verbotsschilder spätestens am Tag nach der Eröffnung am Eingang. Letzterer wartet wiederum mit martialischen Toren auf, die von einem Sicherheitsdienst bewacht werden – der Zutritt ist stark begrenzt, häufig bilden sich lange Schlangen. Und auch die üppige Vegetation, wie sie auf ersten Visualisierungen des »Grünen Bunkers« und baldigen Planungsentwürfen zu sehen war, ist noch nicht in der versprochenen Form gewachsen.
Zur Marke gemacht – der »Grüne Bunker« im Sommer 2024, Foto: privat.
Vieles, was ansässige Initiativen am »Grünen Bunker« bereits um das Jahr 2015 kritisiert hatten, bewahrheitete sich also. Dazu gehört nicht zuletzt die Kritik an der weiteren Gentrifizierung des Viertels sowie der Aufwertung des Gebäudes über dessen Begrünung. Von dem wenigen Gestrüpp auf dem nach wie vor weitestgehend grauen Bunker profitieren heute weniger die Anwohner:innen als vielmehr der Investor, der die im Inneren des Bunkers und durch den Aufbau deutlich erweiterten Flächen vermietet und vermarktet.
Wer profitiert?
Wer profitiert also von einer begrünten Oper? Die Natur, wie es vonseiten der HafenCity GmbH oder auch von Fegebank zu hören ist, wohl nur bedingt: Ginge es tatsächlich um Biodiversität, bedürfte es anderer landschaftsgestalterischer Initiativen. Mit dem sogenannten »Platin-Standard des Hafencity Umweltzeichen« wurde übrigens auch das Betonungetüm Elbtower zertifiziert. Ob die Stadtgesellschaft tatsächlich eine neue Freifläche erhält, wie es von allen Beteiligten mit Nachdruck betont wird, ist mit Blick auf den »Grünen Bunker« zumindest fragwürdig: Wird man wirklich dort, wie es ein öffentlicher Park ermöglichen sollte, mit einem mitgebrachten Getränk die Aussicht genießen können? Skepsis ist zumindest angebracht.
Die Stadt hofft nicht nur auf einen kostengünstigen Opernneubau, der gerne als »Geschenk« Kühnes bezeichnet wird, sondern verspricht sich von dem aufsehenerregenden Entwurf auch, Hamburg als Kulturstadt in der Welt bekannt zu machen, wie es etwa Peter Tschentscher bei der Pressekonferenz ausdrückte. Dabei spielen sowohl spektakuläre Bauten – mittlerweile wird mit Bezug auf das von Frank Gehry gestaltete Guggenheim-Museum auch vom Bilbao-Effekt gesprochen – als etwa auch große Kultur- und Sportevents wie die Olympischen Spiele eine zentrale Rolle in der seit einigen Jahrzehnten zu beobachtenden globalen Konkurrenz der Metropolen um Human- und Finanzkapital.
Ob das wohl Strandkiefernholz ist? Modell des Siegerentwurfs der geplanten Kühne-Oper, Foto: privat.
Das Versprechen des öffentlichen Parks und damit einer Freifläche für alle dient insofern auch dazu, der lauten Kritik an der Kühne-Oper eine positive Vision entgegenzusetzen. Das begrünte Dach vermag – wie beim Bunker – ein Vehikel zu sein, der Stadtgesellschaft ein unbeliebtes Projekt schmackhaft zu machen. Damit hatte der Entwurf des Opernhauses offensichtlich bereits Erfolg. Das Problem ist nur: Hier geht es nicht allein um die Interessen von Investor:innen, sondern auch um erinnerungskulturelle Fragen und den Umgang der Stadt mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ansässiger Firmen und ihrer Inhaber:innen.
Kein grüner Schlussstrich
Wer es einmal trotz langer Schlangen und Einlasskontrollen auf den »Grünen Bunker« schafft und von dort aus gen Südosten schaut, könnte bei gutem Wetter und mit einem Fernglas bewaffnet womöglich Teile des Baakenhöfts sehen. Zwischen dem Ort der projektierten Oper und dem grüngrauen Dachgarten liegen wiederum die Großen Wallanlagen – mittlerweile ein Teil von Planten un Blomen. Sie lassen sich auch ganz ohne Fernglas vom Bunkerdach beobachten. Dieser tatsächlich öffentliche Park wurde nach dem Zweiten Weltkrieg aus nicht weiter verwertbaren Trümmern der zerbombten Stadt modelliert. Wie an vielen Orten dieser und weiterer deutscher Großstädte entstanden aus Schuttmassen öffentliche Grünflächen. In den Augen der seinerzeitigen Planer waren die aus den Trümmern wachsenden Pflanzen nicht nur ein Zeichen der Hoffnung, sondern auch eine Möglichkeit des Vergessens. Unter Bäumen, Sträuchern und Gräsern verschwand so manches, was an Schuld und Krieg erinnerte. Einen weiteren grünen Schlussstrich sollten wir nicht zulassen.
Johannes Radczinski, November 2025
Der Autor empfiehlt eine (Re-)Lektüre des im vergangenen Sommer auf Untiefen erschienenen Artikels über den sogenannten »Grünen Bunker« und weist auf die Petition gegen die geplante Oper hin.
Die Versuche konservativer und rechter Akteure, durch die Rekonstruktion alter Gebäude das Stadtbild gemäß ihrer politischen Programmatik umzugestalten, nehmen in vielen deutschen Städten zu. Auch in Hamburg plädiert die AfD für den gebauten Geschichtsrevisionismus. Am Schulterblatt wurden derweil steinerne Tatsachen geschaffen.
Der neue Altbau am Schulterblatt 37–39 im September 2025, Foto: privat
Es gibt keine genuin rechte Architektur, aber offensichtlich gibt es Architektur, die Konservativen und Rechten gefällt. Ein Beispiel dafür findet sich seit einiger Zeit unweit der Roten Flora, am Schulterblatt 37–39. Wo viele Jahre eine Baulücke klaffte, steht seit etwas mehr als zwei Jahren wieder ein Wohnhaus. Durch seine gründerzeitliche Architektur wirkt es, als blicke seine Fassade bereits seit der Jahrhundertwende über das Kopfsteinpflaster. Es ist jedoch, wie gesagt, ein Neubau.
Der Verein Stadtbild Deutschland zeichnete das Haus 2023 als »Gebäude des Jahres« aus. Drei Jahre zuvor hatte er den umstrittenen Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses prämiert; 2018 ein Haus in der sogenannten Neuen Frankfurter Altstadt. Nicht zufällig waren an den beiden letztgenannten Projekten auch Rechte und Rechtsextreme finanziell und ideell beteiligt. Diese Form der Rekonstruktionsarchitektur lässt sich mit dem Architekturkritiker Philipp Oswalt als Identitätspolitik begreifen; der Architekturtheoretiker Stephan Trüby spricht von rechten Räumen. Aus dem Stadtbild werden sowohl die emanzipatorischen Ideen der Moderne als auch die Spuren nationalsozialistischer Herrschaft getilgt. Städtebaulich wird die Zeit zurückgedreht: In der deutschen Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg findet sich eine vermeintlich unbelastete Heimat, ein positiver Identitätsanker.
Prominente Rekonstruktionsarchitektur – das Berliner Stadtschloss, Foto: AusleseBeeren, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0.
Der Verein, der dem Haus am Schulterblatt den Preis verlieh, lässt sich zumindest als rechtsoffen verstehen. Etwa unterstützte er auch den Wiederaufbau der Garnisonkirche in Potsdam – für Trüby ein »Nexus von rechtem Gedankengut, Geschichtsrevisionismus und Rekonstruktionsengagement«, wie er 2024 in einem Beitrag in der Zeitschrift dériveschrieb. Womöglich ist es auch kein Zufall, dass die Mitglieder des Vereins sich 2023 per Online-Abstimmung für ein Wohnhaus im Schanzenviertel entschieden, das Unkundigen nach wie vor als linksalternativ gilt.
Die Stadt als Arena des Kulturkampfes
Tatsächlich ist die gebaute Umwelt unserer Städte längst zu einer Arena des Kulturkampfes geworden, den die Rechte immer erfolgreicher bestreitet. Davon zeugen nicht zuletzt Instagram-Seiten und Facebook-Gruppen mit tausenden Follower:innen wie der selbsternannten »Architektur-Rebellion«. Als digitaler Arm der Stuckstaffel plädieren auch ihre Mitglieder für alte Baustile als Ausdruck regionaler Identitäten.
Die prominentesten Rekonstruktionsbauten finden sich in Deutschland bislang in Berlin, Potsdam und Frankfurt. Doch auch in Hamburg bringt sich die AfD-Fraktion seit einiger Zeit in Stellung, um das Stadtbild ihrem politischen Programm gemäß umzugestalten. In den Anträgen und Pressemitteilungen der Fraktion ist etwa die Rede von einer Rückkehr zu traditionellen Baustilen im Allgemeinen und zur Backsteingotik im Besonderen sowie vom Erhalt älterer Gebäude aus identitären Gründen. Gefordert werden zudem neue Studiengänge, die sich der Rekonstruktionsarchitektur widmen sollen.
Die Hamburger AfD benennt auch konkrete Vorhaben. Dazu gehört – analog zum Frankfurter Projekt – die »Neue Altstadt Hamburg«, wie es im Programm der Partei zur Bürgerschaftswahl 2025 heißt. Diese soll rund um den Hopfenmarkt, der einst die Nikolaikirche umgab, gebaut werden. In einem Antrag an die Hamburgische Bürgerschaft im Jahr 2021 forderte die Fraktion sogar, die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Nikolaikirche nach historischer Vorlage wiederaufzubauen. Die Ruine ist heute ein zentraler Hamburger Erinnerungsort an die Opfer nationalsozialistischer Herrschaft. Könnte an dessen Stelle nicht, wie es im Antrag heißt, eine »Freifläche mit hoher Aufenthaltsqualität« entstehen?
Zusammen mit weiteren Vorstößen zum Erhalt des Bismarckdenkmals, aber auch zur Rückkehr einer Statue Kaiser Wilhelms I. auf den Rathausmarkt zeigt sich hier eine Funktion neurechter Architektur: Sie soll die Spuren der NS-Herrschaft und der Erinnerung an sie aus dem Stadtbild tilgen. Wie auch in ihrer geschichtspolitischen Programmatik will die Hamburger AfD die »über tausendjährige Geschichte Deutschlands« in ihren vermeintlich positiven Seiten zeigen und darüber eine als verloren geltende nationale Identität – und dazu gehören entsprechende Gebäude – wiederherstellen.
Ideologische Fassaden
Dass ein solches Programm notwendigerweise Illusionen und Ideologie produziert, liegt auf der Hand. Ein älteres Beispiel Hamburgischer Rekonstruktionsarchitektur findet sich in der Neustadt. Unter anderem in der Peter- und der Neanderstraße ließ der Kaufmann Alfred Toepfer seit den 1960er Jahren Wohnhäuser des 17. und 18. Jahrhunderts wiederaufbauen, die einst an anderen Orten der Stadt das Großbürgertum beherbergten. Zu Recht stand Toepfer, der sich im Nationalsozialismus auch durch volkstumspolitisches Engagement hervortat, mit seinem Vorhaben schon seinerzeit in der Kritik – befand sich doch mit der sogenannten »Judenbörse« hier einst ein Ort jüdischen Lebens.
Rekonstruktionsarchitektur der 1960er Jahre, Peter‑, Ecke Neanderstraße, Foto: Pauli-Pirat, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0.
Die Neustadt war zudem, wie es an den Resten des Gängeviertels noch zu erahnen ist, zuvor ein proletarisches Viertel. Es zeichnete sich also gerade nicht durch großzügiges Barock, sondern durch beengte Mietskasernen aus. Mit den neuen Bürgerhäusern Toepfers verschwand also auch das, was die AfD in ihrer Schwelgerei für das Kaiserreich nur zu gerne vergisst: Die sozialen Verwerfungen der Industriemoderne, die sich insbesondere in der beschleunigten Industrialisierung des Deutschen Reichs im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Großstädten zeigten.
Aus dieser bereits zeitgenössisch wahrgenommenen Beschleunigung gingen nun wiederum jene gründerzeitlichen Fassaden hervor, die heutzutage nachgebildet werden und etwa am Schulterblatt ein wohliges Gefühl »guter alter Zeit« vermitteln. Der wirtschaftliche Aufschwung nach der Reichsgründung endete 1873 jäh im Gründerkrach; vermehrt traten nun im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts die negativen Folgen der Hochindustrialisierung ins Bewusstsein. Die daraufhin einsetzende konservativ-reaktionäre Kulturkritik entdeckte in ihrer Suche nach Ordnung den Wert des Vergangenen. Nicht nur florierten der Heimat- und Denkmalschutz, sondern auch der Historismus.
Die rezente Rekonstruktion gründerzeitlicher Wohnhäuser wiederholt als Farce, was einst Tragödie war. Die verzierten Fassaden fungieren auch heute als Stabilitätsanker in einer erneuten Phase erfahrener Beschleunigung. Ein entfesselter Finanzmarktkapitalismus, der auch die letzten Reste bürgerlicher Behaglichkeit verdampft, produziert diese nun und für jeden sichtbar als Schein. Die Investor:innen des Hauses am Schulterblatt entschieden sich offenbar vor allem deshalb für die gründerzeitliche Architektur, da sie auf dem Immobilienmarkt hohe Profite verspricht. Das Geld für das bis heute nahezu unbewohnte Haus floss von der Familie Landschulze, die für ihre leerstehenden Gründerzeitrekonstruktionen berühmt und berüchtigt ist – aus Spekulationsgründen, wie angenommen wird. Die neoliberale Stadt kapitalisiert ein stärker werdendes – und von ihr produziertes – kompensatorisches Bedürfnis. Jene vermeintliche Wurzellosigkeit die der modernen Architektur vorgehalten wird, bringt heute verschnörkelte Altbauten hervor.
Die Moderne als »Einheitsbrei«?
Es bedarf jedoch offenbar mehr als Ideologiekritik, um dem rechten Rekonstruktionswahn etwas entgegenzusetzen. Unerwartete Schützenhilfe kommt von der AfD selbst. Im Landtag Sachsen-Anhalts brachte die dortige Fraktion einen Antrag ein, der für eine »kritische Auseinandersetzung mit dem Bauhaus« plädierte, es sei ein »Irrweg der Moderne« gewesen. Die Rechten stört unter anderem eine, wie sie es ausdrücken, »universelle Ästhetik«, wodurch »individuelle und regionale Besonderheiten verloren« gingen, ebenso wie die vermeintlich »traditionellen und kulturellen verankerten Vorstellungen von Wohn- und Lebensräumen«. Neben der »Nähe zum Kommunismus« führen die AfDler:innen auch den architektonischen »Einheitsbrei« des Bauhauses an, der »lokale Identitäten« verdränge und »regionale Eigenheiten« verwässere.
Im Jahr 2011 schrieb die heutige Leiterin des Hamburger Ortsverbandes des Vereins Stadtbild Deutschland einen Leserbrief an das Hamburger Abendblatt und sprach darin von der »austauschbaren Architektur des nüchternen Pragmatismus«. Es ging um die in der Tat wenig gelungene SAP-Zentrale am Rothenbaum. Doch geriet der Leserbrief zu einer Generalabrechnung: »Dieser moderne architektonische Einheitsbrei ist nicht mehr zu ertragen.«
Nun gibt es, wie einleitend erwähnt, keine rechte Architektur – und damit ebenso wenig eine linke. Die als »Einheitsbrei« diffamierte moderne Architektur konnte ebenso vom Faschismus aufgegriffen werden, wie es sich im italienischen Razionalismo zeigt. Nichtsdestotrotz existiert offenbar eine Formsprache, die im wahrsten Sinne des Wortes zu glatt für identitäre Stabilitätsanker ist. Nicht zuletzt war das, was seitens der AfD und anderen als moderne Architektur verschmäht wird, eine andere Antwort auf die Verwerfungen der Industriemoderne. Statt in eine imaginäre Vergangenheit zurückzukehren, war es der Versuch, mit den Mitteln der Moderne eine bessere Stadt für alle zu schaffen.
»Genug Barock – erhaltet unseren Block«: Protest gegen den Rekonstruktionswahn in Potsdam, Foto: privat.
Nun gilt es zwar wiederum nicht selbst die Vergangenheit als Problemlöserin zu mobilisieren, aber: Ein wohlfahrtstaatlich organisierter Städtebau, der auf funktionale und schnörkellose Gebäude setzt, könnte sowohl eine Antwort auf eine rechte Politik regressiv-identitärer Architektur als auch auf die neoliberale Stadt der hohen Mieten sein. Zudem zeigt sich bei einem Blick auf aktuelle Ideen partizipativer Stadtplanung, wie sie etwa für das zum Spekulationsobjekt verkommene Holstenareal vorliegen, zweierlei. Erstens bedarf es keineswegs traditioneller Baustile und des Stucks, um abwechslungsreiche Stadtviertel zu schaffen. Zweitens integriert der Entwurf auch gründerzeitliche Bestandsbauten, ohne sich in Ewiggestrigkeit zu verlieren. Gemeinschaft entstünde in solchen Stadtvierteln nicht durch das Imaginäre der Nation, sondern durch ein tatsächlich gelebtes Miteinander.
Das Problem der Postmoderne
Jedoch ist das, was die Rechte unter dem Sammelbegriff moderne Architektur fasst und ablehnt, auch von anderer Seite in die Kritik geraten. Ein Hang zu Regionalismen und identitären Formen zeigt sich auch in der heterogenen Strömung postmoderner Architektur.
Schulbau nach Vorlage traditioneller Bauernhäuser im Hamburger Südosten, Foto: privat.
Etwa wurde gegen Ende des Jahres 2024 im Hamburger Südosten, in Kirchwerder, ein Schulbau fertiggestellt, der an die »ortstypische Bautradition« bäuerlicher Langhäuser angelehnt ist. Dieser Bau, das sei hier unterstrichen, ist weder eine Rekonstruktion nach historischem Vorbild noch wurde er von rechten Spender:innen finanziert. Und auch der Innenausbau ist funktional gehalten, unverputzter Beton. Die Fassade des Hauses jedoch will die Eigen-Artigkeit der regionalen Kulturlandschaft betonen, wie es in einer Pressemitteilung des Jahres 2021 heißt. Als Vorbild diente auch das Rieck Haus – eines der ältesten erhaltenen Bauernhäuser Norddeutschlands, das seit 1940 unter Denkmalschutz steht. Der Architekt des Schulbaus spricht von »identitätsstiftenden historischen Baukörpern«.
Es geht nun nicht darum, die architektonische Leistung zu schmälern – auch nicht das Gebäude selbst, das funktional und in gewisser Hinsicht auch ästhetisch ansprechend ist. In einer Zeit jedoch, in der der gebaute Raum der Stadt wieder derart von Rechten politisiert und vereinnahmt wird, gilt es Orte zu schaffen, die sich qua ihrer Form und Materialität diesen Vereinnahmungen auch dann widersetzen können, wenn die parlamentarische Vertretung der Stuckstaffel weiter auf dem Vormarsch ist.
Johannes Radczinski, September 2025
Der Autor schrieb auf Untiefen bereits über andere Abgründe in Stein gemeißelter Geschichtspolitik wie den sogenannten »Grünen Bunker« an der Feldstraße und das von dort nicht weit entfernte Bismarckdenkmal.
Update: Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg
***Update Februar 2025*** Die deutsche Geschichte ist für radikal rechte Parteien ein zentrales Agitationsfeld. Auch die Hamburger AfD verbreitet einerseits immer wieder klassisch revisionistische Thesen, die vor allem den Holocaust und die Kolonialgeschichte umdeuten. Vor allem aber vertritt sie einen nostalgischen Nationalismus, der für die eigene politische Agenda durch gezieltes Auswählen und Verschweigen Mythen über die deutsche Vergangenheit entwirft.
Bezugspunkt des rechten Revisionismus: Der erste Reichskanzler und Sozialistenjäger Otto von Bismarck. Das deutschlandweit größte Denkmal für ihn steht auf St. Pauli. Foto: Marco Hosemann
Wie wir im März letzten Jahres festgestellt haben, wird die geschichtspolitische Strategie der AfD Hamburg von einem nostalgischen Nationalismus bestimmt. Der offene Geschichtsrevisionismus, das Leugnen und Umdeuten historischer Verbrechen, ist dabei nicht im Vordergrund, kann aber jederzeit mit eingebaut werden. In den vergangenen Monaten ließ sich beobachten, dass vor allem die Kolonial- und Kaiserreichsapologetik von der AfD Hamburg vermehrt in politische Praxis übersetzt wird. Kritische Aufarbeitung der deutschen Geschichte versuchen sie als »Umerziehung« oder »Umschreiben der Geschichte« verächtlich zu machen. Drei Beispiele können das illustrieren:
Im April 2024 positionierte die AfD sich in der Bürgerschaft gegen den Erhalt der Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“. Die LINKE hatte eine Debatte um Zukunft der auslaufenden Forschungsstelle beantragt. Unter anderem sprach sich Norbert Hackbusch klar für ihren Erhalt aus. In seinem Redebeitrag betitelt der stellvertretende Fraktionsvorsitzende und kulturpolitische Sprecher der AfD in der Bürgerschaft, Dr. Alexander Wolf, den Inhaber der Professur an der Forschungsstelle, Prof. Dr. Jürgen Zimmerer, als »der als Wissenschaftler verbrämte Polit-Aktivist“. Er bezeichnet es als „Gewinn für unsere Stadt“, würde „diesem ‚Professor‘“ der „Geldhahn“ abgedreht. Über das allgemeine Projekt einer Dekolonisierung Hamburgs heißt es, es solle von „links-rot-grün die Geschichte umgeschrieben“ und die Menschen „umerzogen werden“.
Am 18.12.2024 beschlossen SPD und Grüne in der Bürgerschaft mit dem Doppelhaushalt für 2024 und 2025, die Forschungsstelle – wie von Beginn an vorgesehen – durch auslaufende Finanzierung faktisch einzustellen.
Auch im Sommer 2024 schoss die AfD gegen die Forschungsstelle „Hamburgs (post-)koloniales Erbe“. Deren App „Koloniale Orte“ kritisiert sie in einer kleinen Anfrage wegen der aus ihrer Perspektive großen Diskrepanz zwischen den registrierten Downloads und den Entwicklungskosten. Daraus leiteten sie die Forderung ab, es solle Schluss sein mit „Umerziehung und noch mehr Steuergeldverschwendung im Rahmen der ‚Dekolonisierung‘ Hamburgs!“
Im Oktober 2024 schließlich richtete sich die Schlussstrichforderung gegen das Museum am Rothenbaum für Kunst und Kulturen der Welt, kurz MARKK (ehemals »Völkerkundemuseum«). Mit einer kleinen Anfrage zielt die AfD wiederum auf die Kosten bzw. die Besucher:innenzahlen seit dem (noch laufenden) Umbau vom „Völkerkundemuseum“ zum MARKK. Wolf hatte sich schon 2017 kritisch zur Umbenennung geäußert und damals resümiert, das „Volk“ solle abgeschafft werden. Demagogisch stellte er damals das Staatsvolk, den fiktiven Souverän des Grundgesetzes, und ethnisch definierte Völker in eine Reihe. In einer Pressemitteilung zur Antwort des Senates auf die kleine Anfrage der AfD-Fraktion lässt Wolf sich am 18. Dezember 2024 wie folgt zitieren. Das »linksgrüne Erziehungsmuseum« sei gescheitert. Die Bürger:innen wollten »nicht bevormundet und beim Denken betreut werden«, vielmehr zeigten sie »der sogenannten kolonialistischen Schuld die kalte Schulter«. Die Forderung ergeht: »Wir wollen unser Völkerkundemuseum ohne linksgrünem (sic!) Tamtam zurück!“
Diese Anfragen und Pressemitteilungen zielen offenbar vor allem darauf ab, ein gesundes Volksempfinden herbeizureden, das sich nicht für eine »woke« Geschichtserzählung interessiere. Die angestrebte Normalisierung der deutschen Nationalgeschichte – also die guten 1000 minus die 12 »dunklen« Jahre – wird durch Angriffe auf Institutionen vermeintlicher linker »Umerziehung« vorangetrieben. Diesen Zusammenhang bringt eine Stellungnahme Wolfs aus dem Mai 2024 auf den Punkt. Wolf sprach mit Blick auf das städtische Erinnerungskonzept zum Umgang mit dem kolonialen Erbe, das im Mai 2024 vorgestellt wurde, von einem „linke[n] Kulturkampf“, der „Unsummen an Steuergeldern“ verschlinge. Vor allem: „Kein normaler Bürger legt Wert auf Straßenumbenennungen, bloß weil die Namen angeblich kolonial belastet seien. Kein normaler Bürger hat ein Problem mit Statuen von Christoph Kolumbus. Kein normaler Bürger hasst die eigene deutsche Geschichte so sehr wie linksgrüne Bilderstürmer.“
Die geschichtsrevisionistische Agitation der AfD Hamburg ist mustergültiges Beispiel der pathischen Projektion in der rechtsextremen Propaganda. Die AfD wirft sich in die Brust gegen eine angeblich umerziehende, bevormundende und geschichtsfälschende Erinnerungspolitik, während sie in Wahrheit natürlich selbst genau das verfolgt. Die hamburgische und die deutsche Geschichte überhaupt sollen, wenn’s nach ihnen ginge, nur noch glorreich, großartig und verdienstvoll gewesen sein. Was dazu nicht passt, soll beschwiegen werden. Und wer daran Kritik anmeldet, muss verblendet sein und also unterdrückt werden.
Redaktion Untiefen, Februar 2025
Das Verhältnis zur deutschen Vergangenheit ist die zentrale Eintrittskarte in den politischen Diskurs der BRD. Offene Holocaustleugnung oder ‑relativierung sind nicht nur strafbar, sondern auch politisch äußerst schädlich. Bei der populistischen, als Verteidigerin der Demokratie auftretenden AfD spielen sie daher auch in Hamburg nur eine untergeordnete Rolle. Dennoch wird immer wieder erkennbar, dass es sich hier um strategische Zurückhaltung handelt.
Offener Revisionismus
Bekannt sind etwa NS-Relativierungen des Hamburger AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Baumann, frühere revisionistische Kommentare des derzeitigen Hamburger AfD-Pressesprechers Robert Offermann und der Verdacht auf antisemitische Aussagen eines Mitarbeiters der Bürgerschaftsfraktion. Am meisten Aufsehen erregte wohl der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD in der Bürgerschaft, Alexander Wolf. 2017 wurde bekannt, dass er 1994 eine Sammlung von NS-Liedern unter dem Titel „Schlachtruf“ herausgab, in deren Vorbemerkungen er mit Blick auf die Kapitulation Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg zu einem „entschlossenen ‚Nie wieder!’“ aufrief.
Überhaupt, Alexander Wolf: Er ist in der Bürgerschaftsfraktion der Mann für die provokanten historischen Thesen. So behauptete er etwa im März 2023 in der Bürgerschaft, die Nazis hätten sich „keineswegs als rechts, sondern bewusst als Sozialisten“ verstanden. Die DDR und den NS-Staat parallelisierte er als „Diktaturen“, um sogleich zu seinem eigentlichen Anliegen zu kommen, nämlich der Lüge, auch der heutige Kampf gegen Rechts sei wieder ähnlich eine ähnliche „Freiheitseinschränkung“ und „Ausgrenzung“.
„Vogelschiss“ als Programm: der nostalgische Nationalismus
Diese offenen Relativierungen sind aber die Ausnahme. Die wirkliche geschichtspolitische Strategie der Hamburger AfD besteht darin, die Gaulandsche Rede vom „Vogelschiss“ in die Praxis umzusetzen. In den Beiträgen der AfD-Abgeordneten findet sich kaum eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oder mit der Kolonialgeschichte. Und wenn diese Themen berührt werden, dann geht es stets darum, für die radikal rechte Politik nostalgisch-nationalistische, positive Ankerpunkte in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu finden.
Historische Würdigung fordert die AfD etwa für folgende Gruppen: die Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg („Höhepunkt des deutschen Widerstands“), die Opfer der alliierten Bombardierung Hamburgs im Juli 1943 („Kriegsverbrechen“), die Aufständigen vom 17. Juni 1953 in der DDR („identitätsstiftendes Datum“) sowie für die an der Grenzen zwischen DDR und BRD Ermordeten und den Mauerbau 1961 („Schicksalsdatum der deutschen Nation“).
Und die im Jahr 2020 aufgekommenen Rufe nach einem Denkmal für die Leistungen der sogenannten türkischen „Gastarbeiter“ konterte Wolf im November 2021 mit der Forderung, stattdessen ein Denkmal für „Trümmerfrauen“ zu schaffen.
Das Kaiserreich soll rechtsradikale Herzen wärmen
Neben den deutschen Opfern alliierter Bomben und kommunistischer SED-Herrschaft sowie patriotischen konservativen Generälen steht vor allem das Deutsche Kaiserreich im Zentrum der AfD-Geschichtspolitik. Eine Folge des Podcasts „(Un-)Erhört!“ der Hamburger AfD-Fraktion vom Januar 2021 zum 150. Jahrestag der Reichsgründung 1871 illustriert das.
Zum eingangs gespielten „Heil dir im Siegerkranz“ spricht Wolf von einem „der glücklichsten Momente der deutschen Geschichte“. Heutige Politiker:innen würden sich jedoch der Erinnerung daran verweigern, sie hätten ein „gestörtes Verhältnis zur „eigenen Geschichte“. So hätte die „über tausendjährige Geschichte Deutschlands“ zwar „problematische Seiten“, doch sei sie eben auch „mehr“. Ab dort verschwindet der Nationalsozialismus aus dieser Erzählung und das heutige Deutschland wird schlicht in Kontinuität zum Kaiserreich gesetzt. Das ist eine ganz bewusste Konstruktion einer Tradition, die nur über Auslassung funktioniert. An die „positiven Momente der Geschichte“ soll erinnert werden, so Wolf weiter, „weil das unsere Identität prägt. Eine Nation lebt nicht nur von der Ratio und von der Verfassung, sondern auch von einem positiven Gemeinschaftsgefühl.“ Nur daraus könnten „Solidarität und Miteinander erwachsen.“
Gereinigt werden soll die deutsche Geschichte also nicht, indem der Holocaust geleugnet wird. Der „Schuldkult“-Vorwurf wird hier subtiler formuliert: Der bedingten Anerkennung der Verbrechen in den 12 Jahren NS-Herrschaft wird eine saubere Version der vermeintlich anderen 988 Jahre deutscher Geschichte und deutschen Glanzes entgegengestellt.
Bismarck, Begründer des deutschen Kolonialreiches, strahlt frisch renoviert.Foto: Marco Hosemann
Mit Bismarck gegen die Wahrheit
Diese Strategie zeigt sich auch an der Position der AfD zur Debatte um das Otto von Bismarck-Denkmal auf St. Pauli. In einer Folge des besagten Podcasts vom Juli 2021 zeichnet Wolf den ersten Reichskanzler als eine positive Figur der deutschen Geschichte. Die geforderte Neu-Kontextualisierung des Denkmals sei selbst Geschichtsrevisionismus, schließlich würde Bismarck dabei „aus dem Blickwinkel eines Antifanten und einer Feministin“ gesehen. Die sogenannte Westafrika-Konferenz 1884/85 in Berlin, zu der Bismarck einlud und bei der die europäischen Großmächte den afrikanischen Kontinent als Kolonialbesitz unter sich aufteilten, verschweigt Wolf dabei nicht. Aber er stellt sie als rein friedensstiftende Maßnahme zur Sicherung der innereuropäischen Ordnung dar. Das funktioniert wiederum nur durch Ausblenden der Folgen für die kolonisierten Bevölkerungen außerhalb Europas. Aber mehr noch: Kolonialismus ist für Wolf „nicht per se von vornherein schlecht“. Denn es sei „viel Positives geleistet worden, Infrastruktur, Gesundheit etc.“ Es dürfe eben nicht „einseitig die negative Brille“ aufgesetzt werden, wie es bei der Black Lives Matter-Bewegung geschehen sei. So hält Wolf dann auch die gängige Forschungsposition, dass die Deutschen 1904/5 in Südwestfrika einen Völkermord begangen haben, für „absurd“, ja „Quatsch“. Man sieht: Obwohl nostalgischer Nationalismus die Kernstrategie der AfD Hamburg ausmacht, ist der Schritt zu offenem Revisionismus schnell gemacht.
Mit der »Active City«-Strategie will Hamburg sich als Sportstadt profilieren, den Stadtraum eventisieren und die Bevölkerung aktivieren. Es geht also um mehr als etwas Bewegung im Alltag. Der Sport wird zum Transmissionsriemen des voranschreitenden Umbaus von Stadt, Staat und Gesellschaft entlang neoliberaler Programme. Nun steht eine erneute Olympia-Bewerbung im Raum.
Mehr als nur etwas Bewegung im Alltag: Die »Active City«-Strategie ist auch Ausdruck des Umbaus der Stadt entlang neoliberaler Programme. Paradigmatisch dafür ist die HafenCity – sie wird diesen Artikel fotografisch begleiten. Hier zu sehen ist ein Teil des »Baakenparks«. Foto: privat.
Es ist keine zehn Jahre her: Ende November 2015 stimmte eine Mehrheit der Hamburger:innen aus guten Gründen dagegen, dass sich ihre Stadt als Austragungsort der olympischen Spiele 2024 bewirbt. Geworden ist es dann Paris. Die Bilder der diesjährigen Sommerspiele waren für Sportsenator Andy Grote »mitreißend und inspirierend«. Vor allem, so Grote, hätten sie »einen Eindruck« davon vermittelt, »wie es auch für Deutschland sein könnte.« Kein ›hätte sein können‹, sondern ein in die Zukunft gerichteter Konjunktiv: Tatsächlich läuft die Stadt sich wieder einmal warm, um die olympische Fackel nach Hamburg zu tragen – dieses Mal soll es das Jahr 2040 werden.
Diese Pläne stehen im Zusammenhang mit der vom Hamburger Senat im Jahr 2022 beschlossenen »Active City«-Strategie. Sie ist den meisten Hamburger:innen wohl bislang eher beiläufig begegnet, etwa in Form einer temporären Sportarena auf dem Heiligengeistfeld. Ein genauerer Blick auf diese Strategie lohnt sich jedoch. Sie ist Teil des voranschreitenden Umbaus von Stadt, Staat und Gesellschaft. So besteht ein Element besagter Strategie, die auch aus der gescheiterten Olympia-Bewerbung hervorgegangen ist, darin, noch mehr Großevents nach Hamburg zu holen. Ironman-Triathlons, Beachvolleyball-Weltmeisterschaften und nun wohl auch Olympia tragen, so die Idee, nicht nur zu einem der verkündeten Ziele bei – der Aktivierung der Bevölkerung. Die Groß-Events sollen der »Marke Hamburg« auch zu weiterer internationaler Bekanntheit verhelfen. Vor dem Hintergrund globaler Standortkonkurrenz ist das schließlich notwendig und verspricht nicht zuletzt Gewinne in staatlichen wie privaten Kassen.
Es geht also um deutlich mehr als ein wenig Sport und Bewegung im Alltag. Das verschweigt das Strategiepapier auch gar nicht und darin liegt nicht das Problem – ebenso wenig wie im (Breiten-)Sport selbst und seiner Förderung, die einen weiteren großen Teil der Strategie ausmacht. Der moderne Sport war und ist seit jeher Produkt und Produzent gesellschaftlicher Verhältnisse. Die Frage ist jedoch, welche Vorstellungen von Gesellschaft über den Sport in die politische Praxis überführt werden. Im Falle der »Active City«-Strategie zeigt sich, wie eng sozialdemokratisches Regieren mittlerweile mit einer neoliberalen Programmatik verwoben ist. Auszahlen dürfte sich das indes nur für die wenigsten Hamburger:innen. Die Strategie verspricht zwar mehr »Lebensqualität« für alle – neunzehnmal kommt der Begriff allein im Konzeptpapier vor. Die Kehrseite der Klimmstange im Park und des eventisierten Stadtraums wird sich jedoch unter anderem in steigenden Mieten und sozialen Ausschlüssen zeigen.
Die Kehrseite der Klimmstange im Park: steigende Mieten und soziale Ausschlüsse. Foto: privat.
Ein Blick zurück: Olympia und die »wachsende Stadt« um das Jahr 2000
Der olympische Traum begann in Hamburg vor über 20 Jahren. Im Jahr 2002 hatte der Hamburger Senat unter Ole von Beust das Leitbild »Metropole Hamburg – Wachsende Stadt« verabschiedet. Ein Teil dieser Strategie bestand darin, die Sommerspiele im Jahr 2012 nach Hamburg holen zu wollen. In dem Leitbild, so wird es auch anhand eines 2004 veröffentlichten Artikels aus der Feder von Beusts deutlich, war das Sportevent vor allem ein Marketingvehikel. Galt es doch angesichts beschworener globaler Standortkonkurrenz »Hamburg zu einer unverwechselbaren Marke [zu] machen«. Ganz neu war diese Idee nicht: Bereits im Jahr 1983 hatte der damalige sozialdemokratische Bürgermeister Klaus von Dohnanyi vom »Unternehmen Hamburg« gesprochen, das sich auf eine neue Standortpolitik einstellen müsse.
Aber wieso eigentlich sollte Hamburg als Unternehmen agieren und sich selbst vermarkten? Dafür lohnt es, in gebotener Kürze beim Leitbild der 2000er Jahre und der historischen Situation, die es hervorgebracht hat, zu verweilen. Denn nicht nur findet sich der Begriff der »wachsenden Stadt« auch noch im aktuellen Strategiepapier der »Active City« wieder. Sondern darüber hinaus wird in der Zeit um die Jahrtausendwende eine stadtpolitische Matrix sichtbar, die bis heute prägend ist.
Das Leitbild der »wachsenden Stadt« war eine Reaktion auf die langanhaltende Krise der fordistischen Produktionsverhältnisse und des interventionistischen Wohlfahrtsstaates seit den 1970er Jahren.1Diese hatten sich im wirtschaftlichen Aufschwung des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet. Ein hohes Wirtschaftswachstum ging insbesondere aufgrund des boomenden industriellen Sektors mit Vollbeschäftigung einher. Ideen staatlicher Planung und ökonomischer Globalsteuerung gedachten nicht nur die Marktkräfte zu besänftigen, sondern auch den Klassenkompromiss durch Teilhabe aller an Wohlstand und Konsum zu befördern. Ab den 1970er Jahren geriet dieses Modell jedoch vor dem Hintergrund einer kriselnden Weltwirtschaft in die Schieflage. Erstmalig stiegen seit Ende des Krieges die Arbeitslosenzahlen wieder, Industriebetriebe mussten schließen. Sinkende Steuereinnahmen brachten auch den immer umfangreicheren Wohlfahrstaat an seine Grenzen. Nun wurden Stimmen lauter, die Konzepte forderten, die sich bereits in den 1930er Jahren herausgebildet hatten, dem damaligen Abgesang auf den laissez-faire-Kapitalismus in der Weltwirtschaftskrise jedoch nichts entgegensetzen konnten. Diese werden heute gemeinhin unter dem Label Neoliberalismus gefasst. Es speist sich aus Konzepten, die heute gemeinhin unter dem Label Neoliberalismus gefasst werden und unter anderem auf den Abbau (wohlfahrts-)staatlicher Eingriffe, eine Hinwendung zum Markt und die zunehmende Privatisierung staatlichen Eigentums zielen.
Konkurrenz um Humankapital: Im Leitbild der »wachsenden Stadt« galten großzügige und damit hochpreisige Eigentumswohnungen – hier der Marco-Polo-Tower – als Standortfaktor. Foto: privat.
In Hamburg äußerte sich die Krise fordistischer Produktionsverhältnisse darin, dass sich für die Stadt zentrale Industriezweige wie etwa der Schiffsbau samt Zuliefererbetrieben nur bedingt halten konnten. Auch die Einwohner:innenzahl nahm bis Ende der 1990er Jahre kontinuierlich ab. Ergo musste die Stadt wachsen, konnte dafür jedoch nicht auf die bisherige industrielle Produktion setzen. Verstärkt konzentrierte man sich etwa auf den Dienstleistungssektor, den Tourismus und auf die sogenannte Kreativbranche. Hamburg verstand sich zunehmend als Medien- und bald auch als Musicalstadt. Die Stadt sah sich darin jedoch einem globalen Wettbewerb um Human- und Finanzkapital ausgesetzt. Und dieses Kapital strömt, so die Vorstellung, insbesondere in jene Metropolen, die über entsprechende Standortfaktoren – und die entsprechende Bekanntheit – verfügen. Hier schließt sich nun der Kreis zu Olympia. Die Stadt setzte nämlich nicht nur vermehrt auf weiche Standortfaktoren wie Kultur und Sportevents. Gerade während der Olympia-Bewerbung, so schrieb es Ole von Beust in obigem Artikel, stellte der Senat fest, »dass das Standortmarketing […] verstärkt werden muss«.
Eine weitere Folge der neujustierten Stadtpolitik war die massive Privatisierung zuvor staatlichen und genossenschaftlichen Wohnraums sowie des zukünftigen Wohnungsbaus. Einerseits ließen sich so die klammen Staatskassen sanieren. Andererseits galten größere und luxuriösere (Eigentums-)Wohnungen als Standortfaktor im Wettbewerb um die begehrten unternehmerischen und kreativen Köpfe. Der Anteil an Sozialwohnungen sank in Hamburg von 45 Prozent im Jahr 1980 auf 11 Prozent im Jahr 2010.2Ich verdanke der Lektüre von Arndt Neumanns Unternehmen Hamburg viele der hier nur knapp und daher sehr verkürzt wiedergegebenen Einsichten. Vgl. Arndt Neumann, Unternehmen Hamburg. Eine Geschichte der neoliberalen Stadt, Göttingen 2018. Zwar ist das keine unmittelbare Folge der Olympia-Bewerbung, doch korrespondiert die Vermarktung beziehungsweise Vermarktlichung des Stadtraums notwendigerweise mit seiner Privatisierung.
Die Stadt als Unternehmen…
Das Leitbild der »wachsenden Stadt« war vor allem von einem Papier der Unternehmensberatung McKinsey inspiriert. Wie es Dohnanyi gefordert hatte, gerierte sich Hamburg ab den 2000er Jahren zunehmend als Unternehmen. Für die »Active City«-Strategie beauftragte die Behörde für Inneres und Sport nun keine Unternehmensberatung, sondern das privatwirtschaftliche Hamburgische WeltWirtschaftsinstitut (HWWI), das daraufhin im Jahr 2020 eine Studie über die Ökonomischen Effekte einer vitalen Sportstadt veröffentlichte. Gegenüber dem Leitbild der »wachsenden Stadt« zeigt sich: Sport und Sportevents sollen nicht mehr ausschließlich der Hamburg-PR dienen. Es geht auch nicht mehr allein um die Förderung des Breiten- und Leistungssports, wie noch bei den Vorgängerinnen der aktuellen Strategie.3Verwiesen sei auf den 2016 beschlossenen »Masterplan ActiveCity« und die »Dekadenstragie Sport« aus dem Jahr 2011. Mit der »Active City«-Strategie sollen durch eine aktivierte Bevölkerung, so die Studie, nun auch »Produktivitätseffekte« auf individueller Ebene erzielt werden: »geringere Ausfallzeiten, bessere psychische Gesundheit und höhere Motivation«.
In der Logik der HWWI-Studie fungiert die Stadt in der Tat als Unternehmen. Sie tätigt Investitionen in der Erwartung von Gewinnen. Es geht nicht zuvorderst um das das gute Leben für alle, sondern um schwarze Zahlen in der Staatskasse. So errechneten die Wissenschaftler:innen des HWWI für das Jahr 2017 einen »Gesamteffekt von rund 2,4 Milliarden Euro Wertschöpfung«. Jeder von der Stadt in den Sport investierte Euro generiere »langfristig eine ökonomische Wertschöpfung von rund zwei Euro«. Über die Hälfte dieser Einnahmen solle sich wiederum aus sogenannten Gesundheits- und Wohlfahrtseffekten speisen. Eine aktivierte Bevölkerung sei nicht nur seltener krank, verursache weniger Kosten und habe mehr Zeit zu arbeiten. Der Sport hätte auch »positive Auswirkungen auf die Motivationsfähigkeit von Menschen, deren Produktivität oder Teilhabe am sozialen Leben«.
…und das unternehmerische Selbst
Bewegung, Sport und Spiel sind diesem Denken zufolge nicht in erster Linie wichtig, weil sie etwa Freude bereiten. Sie werden zunächst und vor allem als Investitionen verstanden. Eine Investition, die der Stadtstaat in den Kollektivkörper der Bevölkerung tätigt, sowie Investitionen, die die angerufenen Subjekte in ihre Individualkörper vornehmen.
Doch wie wird aus dieser marktförmigen Logik eine alltägliche Praxis? Ein Beispiel dafür ist die »Active City«-App, die die Stadt vor einigen Jahren entwickeln ließ. Diente sie anfänglich vor allem dazu, einen Überblick über Sportangebote zu erhalten, kamen nach und nach neue Funktionen hinzu. Die App adaptierte darin Techniken des sogenannten Self-Trackings – also der individuellen Datenaufnahme zur Selbstoptimierung. Aus dem Stadtraum wurde ein virtueller »Playground«. Die Nutzer:innen zeichnen darin per Schrittzähler ihre Aktivität etwa bei der Laufrunde im Park auf und sammeln »Coins«. Für »jede Bewegung«, so heißt es in der Beschreibung der App, werden »Punkte gutgeschrieben«. Die »Coins« bringen »satte Extra-Punkte«. In diesem digitalen Panoptikum, so die Idee, stacheln die Nutzer:innen sich selbst und untereinander zu mehr Bewegung an und verbessern stetig ihr »Wochen-Level« – Verlosungen für die Bestplatzierten inklusive. Dass die Nutzer:innen nun Münzen sammeln, während sie sportlich aktiv sind, ist eine schöne Allegorie: So wie die Stadt als Unternehmen tätig ist, sollen ihre Einwohner:innen zu Unternehmer:innen ihrer selbst werden.
Diese Logik kommt nicht von ungefähr. Das HWWI ist ein privatwirtschaftlich finanzierter neoliberaler Think Tank, der seit jeher personell wie ideologisch mit einschlägigen Institutionen wie der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft oder der Stiftung Ordnungspolitik verbunden ist. Dass die dort verbreiteten Ideen mittlerweile fester Bestandteil sozialdemokratischer Politik sind, wurde zu Beginn der 2000er Jahre mit dem Wandel vom sorgenden zum aktivierenden Sozialstaat in der »Agenda 2010« der rotgrünen Koalition deutlich. Der derzeitige rotgrüne Hamburger Senat schreibt im Strategiepapier aus dem Jahr 2022: »Active Citizens« sollen »Verantwortung übernehmen« und »nicht die Frage stellen, was der Staat für sie tun kann«. Die aktivierten Einwohner:innen »fragen, was sie für ihre Stadt, ihren Staat und ihre Gesellschaft tun können.«
In den neuen Regimen der Arbeit lassen sich Arbeits- und Freizeit kaum mehr trennen. Der Sport dient nicht allein der Steigerung der Produktivität der Mitarbeiter:innen – er wird selbst zu einer marktförmigen Praxis. Foto: privat.
Im »Zeitalter der Fitness«
Dass eine weitere Privatisierung und Eventisierung des Stadtraums – auch durch eine nun drohende Olympia-Bewerbung – mit steigenden Mieten einhergeht und den ökonomischen Druck auf den Einzelnen erhöht, hat die Kampagne NOlympia bereits im Jahr 2015 kritisiert. Aber wo liegt das Problem einer aktivierenden Politik, die wie im Fall der »Active City«-Strategie doch vordergründig zu mehr Bewegung im Alltag anregen möchte? Der Historiker Jürgen Martschukat spricht, so auch der Titel seines Buchs, vom »Zeitalter der Fitness«, dessen Beginn nicht nur zeitlich, sondern auch ideologisch mit der neoliberalen Wende seit den 1970er Jahren zusammenfiel. »Das Individuum soll an sich arbeiten, das Leben im Griff haben, sich fit machen, für die eigene Leistung Sorge tragen«. Die Ökonomisierung des Sozialen und die stärker eingeforderte Eigenverantwortung produzierten jedoch neue soziale Ausschlüsse und verschärften bestehende (Klassen-)Gegensätze.
Das »Active City«-Strategiepapier schwärmt indes vom inklusiven Charakter des Sports. Dagegen lässt sich mit Martschukat einwenden, dass Fitness stets um Fatness kreist und gerade Übergewichtige häufig mehrfacher Diskriminierung entlang von race, class und gender ausgesetzt sind – der Historiker verweist hier auf die Situation in den USA. Die neuen Exklusionsmechanismen werden jedoch nicht mehr biologisiert in dem Sinne, dass sie als unveränderbar gelten. Für die Fitness ist das Individuum ebenso verantwortlich wie für die damit verbundene eigene Gesundheit und vor allem auch den wirtschaftlichen Erfolg. Wer, aus welchen guten Gründen auch immer, nicht mithalten kann, hat eben nicht genug investiert und bleibt auf der Strecke.
Wohl nicht zufällig schweigt das »Active City«-Strategiepapier zu ökonomischer Ungleichheit. So verspricht die neoliberale Stadt, deren Konturen sich seit den 2000er Jahren immer deutlicher abzeichnen, in ihren Programmen und Leitbildern zwar eine höheren Lebensqualität für alle. Von großen Sportevents und einer aktivierten Bevölkerung werden jedoch nur wenige profitieren. Einer erneuten Olympia-Bewerbung gilt es daher wieder entschieden entgegenzutreten. Wenn sie tatsächlich kommt, wäre sie jedoch als PR-Vehikel für die »Marke Hamburg« vor allem Ausdruck einer tieferliegenden Ursache: des Umbaus von Stadt, Staat und Gesellschaft entlang neoliberaler Programme.
Johannes Radczinski, Oktober 2024
Der Autor überdenkt seine Argumente am liebsten bei bei einer Joggingrunde im Park – »Coins« sammelt er dabei aber noch nicht. Auf Untiefen schrieb er zuletzt über den sogenannten »grünen Bunker«.
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Diese hatten sich im wirtschaftlichen Aufschwung des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg herausgebildet. Ein hohes Wirtschaftswachstum ging insbesondere aufgrund des boomenden industriellen Sektors mit Vollbeschäftigung einher. Ideen staatlicher Planung und ökonomischer Globalsteuerung gedachten nicht nur die Marktkräfte zu besänftigen, sondern auch den Klassenkompromiss durch Teilhabe aller an Wohlstand und Konsum zu befördern. Ab den 1970er Jahren geriet dieses Modell jedoch vor dem Hintergrund einer kriselnden Weltwirtschaft in die Schieflage. Erstmalig stiegen seit Ende des Krieges die Arbeitslosenzahlen wieder, Industriebetriebe mussten schließen. Sinkende Steuereinnahmen brachten auch den immer umfangreicheren Wohlfahrstaat an seine Grenzen. Nun wurden Stimmen lauter, die Konzepte forderten, die sich bereits in den 1930er Jahren herausgebildet hatten, dem damaligen Abgesang auf den laissez-faire-Kapitalismus in der Weltwirtschaftskrise jedoch nichts entgegensetzen konnten. Diese werden heute gemeinhin unter dem Label Neoliberalismus gefasst.
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Ich verdanke der Lektüre von Arndt Neumanns Unternehmen Hamburg viele der hier nur knapp und daher sehr verkürzt wiedergegebenen Einsichten. Vgl. Arndt Neumann, Unternehmen Hamburg. Eine Geschichte der neoliberalen Stadt, Göttingen 2018.
Chronik antisemitischer Vorfälle in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023
Seit dem Massaker der Hamas am 07. Oktober 2023 gibt es auch in Hamburg eine Welle antisemitischer Vorfälle. Wir haben gemeinsam mit dem Bildungsverein Bagrut e.V. eine Chronik über das vergangene Jahr erstellt, um das Ausmaß und die Formen des Antisemitismus sichtbar zu machen.
Antisemitische Bilder, Tags und Graffiti aus Hamburg nach dem 07.10.2023. Bild: Untiefen
Am 7.10.2023 verübte die islamistische Terrororganisation Hamas auf israelischem Boden ein genozidales, antisemitisches und misogynes Massaker. Die grausame und wahllose Ermordung von 1.200 Menschen, die Vergewaltigung zahlreicher Frauen und die Entführung von 250 Personen bedeuteten eine Zäsur selbst in der an gewaltvollen Ereignissen kaum armen Geschichte des Judenhasses. Die libanesische, vom Iran gesteuerte Miliz Hisbollah startete am 8.10.2023 in Solidarität mit der Hamas eine neue Angriffswelle gegen Israels Norden; die Houthi-Milizen im Jemen schlossen sich mit ähnlichen Angriffsversuchen an. Die militärische Reaktion der israelischen Streitkräfte dauert bis heute an. Die Kämpfe haben im Gazastreifen bereits viele Tausend zivile Opfer gefordert und große Teile der dortigen Infrastruktur zerstört.
Weltweit, und auch in Hamburg, formierte sich nach einer nur kurzen Schockstarre eine Welle antisemitischer und israelfeindlicher Gewalt in Wort und Tat – auf Wänden, auf den Straßen, in den Hörsälen, in den digitalen Medien. Die Gewalt richtet sich gegen (vermeintliche) Jüdinnen und Juden, gegen (vermeintlich) jüdische und israelische Einrichtungen, gegen mit Israel solidarische oder auch lediglich antisemitismuskritische Demonstrierende, Aktivist:innen oder Künstler:innen, Kulturzentren, Clubs oder Bars und viele weitere.
Die Folgen für jüdisches Leben in Hamburg
Welche Folgen dieses gewalttätige Klima für Jüdinnen und Juden in Hamburg hat, berichtete uns eindrücklich Rebecca Vaneeva. Sie ist derzeit Präsidentin des Verbands jüdischer Studierender Nord. Die Zunahme antisemitischer Anfeindungen führt ihr zu Folge unter den Mitgliedern ihres Verbandes zu einem Rückzug in die Anonymität. Jüdische Identität wird versteckt. Im öffentlichen Auftreten zensieren Jüdinnen und Juden sich zunehmend selbst, um keine Angriffsfläche zu bieten: »Besonders an den Hochschulen war die ständige Präsenz israelfeindlicher und antisemitischer Proteste schwer erträglich«, so Vaneeva.
Besonders an den Hochschulen war die ständige Präsenz israelfeindlicher und antisemitischer Proteste schwer erträglich
Gegenüber dem Zeitraum vor dem 07. Oktober hat sich in ihrer Wahrnehmung die Lage »auf jeden Fall verschlimmert«. Vaneeva kritisiert gegenüber Untiefen: »Jüdische Studierende und unser Verband erfahren zwar vereinzelt Solidarität, aber es gibt keine aktive Gegenbewegung gegen Antisemitismus.« Woran fehlt es aus ihrer Sicht konkret? »Es bräuchte Safe Spaces, Anlaufstellen, die konsequente Moderation von Online-Inhalten und auch strafrechtliche Konsequenzen für Terror-Propaganda. Würde das ähnliche engagiert verfolgt wie etwa die rassistischen Gesänge in dem berüchtigten ›Sylt-Video‹, wäre schon viel gewonnen«. Die Hochschulen machen es sich ihrer Meinung nach etwa bei antisemitischen und israelfeindlichen Verstaltungen zu bequem. Terror-relativierende Seminare und Vorträge, die unter dem Deckmantel von Hochschulgruppen nahezu anonym organisiert werden können, werden fast immer toleriert, selbst wenn einschlägige Aktivist:innen beteiligt sind.
Es gibt einen verbreiteten Selbstbetrug über die Komplexität des Phänomens Antisemitismus.
Den Umgang mit den verschiedenen Formen von Antisemitismus bezeichnet Rebecca Vaneeva insgesamt als »selektiv«, denn: »Es gibt einen verbreiteten Selbstbetrug über die Komplexität des Phänomens Antisemitismus. Rechtsextremer Antisemitismus wird zum Glück weitgehend verurteilt. Es handelt sich aber auch um ein muslimisches und ein linkes Phänomen. Unsere Mitglieder berichten uns, dass sogar die Mehrzahl der Anfeindungen, die sie erleben, aus muslimischen und linken Milieus kommen«.
Wie ist die Datenlage in Hamburg?
Dieser »selektive Umgang« wird in Hamburg auch dadurch gestützt, dass es, anders als in anderen Bundesländern, keine öffentliche Dokumentation antisemitischer Vorfälle gibt. Abseits der v.a. durch Kleine Anfragen in der Hamburgischen Bürgerschaft[1] veröffentlichten Daten der Polizei, die auf zur Anzeige gebrachten Delikten von Hasskriminalität basieren, existiert offenbar keine systematische Sammlung. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum haben sich laut diesen Daten die Fälle antisemitischer Hasskriminalität im 4. Quartal 2023 verfünffacht. Bundesweite Zahlen des Bundeskriminalamts zur „politisch motivierten Kriminalität“ (PMK) und des Bundesverbands Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) weisen in dieselbe Richtung.
Das zivilgesellschaftliche Monitoring betreibt in Hamburg die 2021 gegründete, öffentlich geförderte digitale Hinweis- und Meldestelle memo. Sie veröffentliche allerdings bislang die Fallzahlen für rechte, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe nur zusammengefasst. In einem im Sommer 2024 vorgelegten Bericht veröffentlichte die Trägerin der Meldestelle, die Beratungsstelle empower, für 2023 genauere Zahlen und berichtete 282 dort bekannt gewordene Fälle von Antisemitismus in Hamburg. Nach dem 7. Oktober verzeichnete man auch hier einen starken Anstieg.
Aber: Alle verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass es ein großes Dunkelfeld gibt. In einer ebenfalls im Sommer 2024 veröffentlichten Studie der Akademien der Polizei Hamburg und Niedersachsen gaben 77 % der befragten Hamburger Jüdinnen und Juden an, innerhalb des vergangenen Jahres Antisemitismus erfahren zu haben. Die Studie schätzt den Anteil unbekannter Fälle auf 80 %. Und: die Daten verraten nichts über die konkreten Fälle. Wer sind die Täter, wer die Geschädigten? Welche Ideologien stehen jeweils dahinter?
Eine öffentliche Chronik für das Jahr nach 07/10
Aufgrund dieser offenen Fragen haben wir uns entschlossen, selbst eine Chronik antisemitischer Vorfälle in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023 anzulegen. Damit wollen wir einen Eindruck vom Ausmaß und den verschiedenen Formen des Antisemitismus in Hamburg vermitteln. Und Entgleisungen in Erinnerung halten, die meist allzu schnell in Vergessenheit geraten. Wir haben dazu aus verschiedenen Quellen eine Liste von derzeit 187 antisemitischen Vorfällen für den Zeitraum 7.10.2023 bis 7.10.2024 zusammengestellt. Darunter sind Presseberichte, online dokumentierte Vorfälle, persönliche Berichte aus der jüdischen Community und von anderen Betroffenen sowie die genannten, durch die Anfragen in der Bürgerschaft veröffentlichten Quartalszahlen zu Hasskriminalität. Diese Momentaufnahme für das Jahr nach dem 7. Oktober kann und will aber natürlich nicht eine systematische Erhebung und ein entsprechendes institutionalisiertes Monitoring ersetzen. Das bleibt notwendig.
Was wir erfasst haben – und was nicht
Bekanntlich ist die Frage, was als antisemitisch einzuordnen ist, durchaus umstritten. Wir haben uns an der Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) von 2019 sowie der Systematik des Bundesverbands RIAS orientiert. Diese unterscheidet „verletzendes Verhalten“, „Bedrohung“, „Angriff“, „(extreme) Gewalt“, „(gezielte) Sachbeschädigung“ und „Massenzuschriften“. Das bedeutet, die Fälle reichen potenziell von einschlägigen Äußerungen oder antisemitisch motivierten Veranstaltungen bis hin zu körperlicher Gewalt.
Bei einigen Vorfällen, die wir recherchieren konnten, ist nicht ohne Weiteres zu klären, ob sie nach der verwendeten Systematik antisemitisch genannt werden können.[2] Meist deshalb, weil über den Kontext und/ oder den konkreten Ablauf wenig bekannt ist. Wir haben daher nur Fälle aufgenommen, bei denen der antisemitische Gehalt bzw. eine entsprechende Intention deutlich erkennbar ist. Um unserer Verfahren transparent zu machen, haben wir in Anhang 1 (unter der Tabelle) drei Beispiele für Fälle, deren Kategorisierung wir intensiver diskutiert haben, zusammengestellt und unsere Entscheidung kurz skizziert.
Nicht aufgenommen haben wir etwa einige Fälle von – gleichwohl eindeutigem – Israelhass. Das meint die Dämonisierung Israels, z.B. als »Apartheidstaat« oder als »kolonial«, die durchaus in der Praxis meist antisemitisch, d.h. judenfeindlich gemeint sein kann bzw. die praktisch oft eine solche Wirkung hat. Ähnlich sind wir mit einigen offensichtlich falschen Darstellungen des 7. Oktobers (etwa als bloße Verteidigung, als Widerstand o.Ä.) umgegangen. Unser Hauptaugenmerk lag darauf, eine möglichst konsistente Liste zu erzeugen.
Das bedeutet auch: nicht nur gab es mit Sicherheit in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023 mehr Fälle der Art, wie wir sie zusammengetragen haben. Sondern Antisemitismus bedient sich im gegenwärtigen kulturellen Klima noch weiterer Sujets und Techniken. Dass sie nicht immer eindeutig als antisemitisch erkennbar sind, ist dabei durchaus beabsichtigt – und Teil des Problems im Umgang mit dem Antisemitismus. Er ist nach Auschwitz in der BRD – noch – mit einem öffentlichen Tabu belegt und wird eher indirekt geäußert. Die Kommunikation auf Umwegen, in Codes, Schlagworten und auf Einverständnis zielenden Andeutungen dient dazu, dieses Tabu zu umgehen. Kaum jemand bezeichnet sich selbst als Antisemiten. Im Gegenteil wird der Hinweis auf antisemitische Gehalte und Wirkungen in der Praxis allzu oft als „Antisemitismusvorwurf“ abgewehrt.[3]
Schlussfolgerungen
Unsere Liste bestätigt die politische Einschätzung Rebecca Vaneevas: bei den von uns recherchierten Fällen handelt es sich, soweit erkennbar, vielfach um selbsterklärt „pro-palästinensisch“, also nationalistisch und/oder antiimperialistisch gerechtfertigte Taten. Der rechtsextreme Antisemitismus mit positivem Bezug auf den Nationalsozialismus oder als Relativierung des Holocausts sowie ein Alltagsantisemitismus aus der „Mitte der Gesellschaft“ (z.B. Juden seien „ganz anders als wir“) spielen allerdings nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Rolle.
In der untenstehenden Tabelle haben wir nicht alle 187 Fälle aufgenommen, sondern nur exemplarische, die die verschiedenen Formen des Antisemitismus und ihre Gewichtung in Hamburg möglichst gut illustrieren. Der vollständige Datensatz kann auf Anfrage zugänglich gemacht werden.
Unsere Sammlung für das Jahr nach dem 7. Oktober 2023 kann aus den genannten Gründen keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität erheben. Die allermeisten Vorfälle werden nie gemeldet oder öffentlich bekannt. Daher möchten wir Sie herzlich bitten: Bringen Sie entsprechende Fälle ggf. zur Anzeige und melden Sie sie in jedem Fall einer Meldestelle wie dem Bundesverband RIAS. Falls Sie von weiteren Vorfällen im zurückliegenden Jahr in Hamburg wissen, berichten Sie uns bitte davon. Wir werden die Chronik dann aktualisieren.
Ein gemeinsames Projekt von Untiefen und dem Bildungsverein Bagrut e.V., bearbeitet von Felix Breuning und Florian Hessel.
Wann?
Was?
Wo?
Quelle
10/8/2023
Antisemitischer Kommentar auf der Instgram-Seite von Bagrut e.V.: »Dann verpisst euch einfach aus deren Gebieten! Wieso müsst ihr weiterhin solche kolonialisten [sic!] sein! Apartheids Südafrika und Nazi Deutschland können von euch noch ne Menge lernen [weinendes Emoji]«
Ottensen
Instagram
10/9/2023
Übergriff auf israelsolidarische Demonstrantinnen »In Hamburg sind nach einer Solidaritätskundgebung für Israel zwei Teilnehmerinnen angegriffen worden. […] Die beiden 32 und 47 Jahre alten Frauen waren nach der Kundgebung mit dem Abbau beschäftigt, als sie plötzlich attackiert wurden. Zwei junge Männer griffen sie von hinten an, schlugen und traten auf die Frauen ein. Dabei rissen sie ihnen auch eine Israel-Flagge aus der Hand und trampelten auf ihr herum.«
Altstadt
NDR
10/20/2023
Antisemitische Flyer in St. Georg »Einige Menschen verteilten dort [vor den gut besuchten Moscheen im Stadtteil St. Georg] Flyer, auf denen die Angriffe Israels auf den Gaza-Streifen kritisiert wurden.« Darauf verwendete Ausdrücke sind u.a.: »Verbrecherische Zionisten«, »Zionistengebilde«, »Genozid«. (Anm.: Der Begriff »Zionistengebilde« ruft das antisemitische Klischee auf, Juden wären nicht zum Aufbau eines »normalen« Staates fähig und/oder spricht dem Staat grundsätzlich das Existenzrecht ab.)
St. Georg
NDR
10/20/2023
NDR-Moderator und Centralcongress-Betreiber Michel Abdollahi nutzt in IG-Video antisemitische Stereotype, behauptet u.a., Israel wolle den Menschen im Gaza-Streifen »bis zum letzten Blutstropfen alles wegnehmen«.
Altstadt
X (Twitter)
10/23/2023
Ausschreitungen und Parolen in Harburg: »Am Montagabend hat es in Hamburg-Harburg Randale von Jugendlichen und jungen Männern gegeben. Vor Ort wurden rechtsextreme und israelfeindliche Botschaften verbreitet. Nach Angaben der Polizei versammelten sich ab 18 Uhr rund 40 Jugendliche und junge Männer am Harburger Ring. Bis 1 Uhr nachts sollen sie dort für Unruhe gesorgt haben. Unter anderem sprayten die Jugendlichen im Alter zwischen 13 und 21 Jahren israelfeindliche Parolen und zündeten offenbar auch Böller. Die Polizei spricht von politisch motivierten Straftaten im Zusammenhang mit den Nahost-Konflikt. Vor Ort äußerten sich einige Jugendliche rechtsextrem und israelfeindlich. Andere sagten, sie wollten ein Zeichen dafür setzen, dass sie auf der Seite von Palästina stünden und sich solidarisch zeigen.«
Harburg
NDR
10/24/2023
Plakatzerstörung an der Roten Flora: »Unbekannte [haben] das riesige Solidaritätsplakat [für die Opfer des Massakers am 7. Oktober] an der Flora-Fassade überklebt, die Worte „Jüdinnen“ und „Juden“ wurden entfernt. Viele Betrachter sind empört.«
Sternschanze
Mopo
10/27/2023
Die organisierenden Gruppen einer geplanten »Anti-Repressionsparty« im Centro Sociale (u.a. das Offene Antifaschistische Treffen Hamburg (OAT)), wollen sich nicht von den mitorganisierenden »Young Struggle« distanzieren, obwohl diese zuvor auf ihrer Website einen Artikel veröffentlicht haben, der das Massaker vom 07. Oktober 2023 als »Gefängnisausbruch des palästinensischen Volkes« verharmlost und legitimiert. Das Nutzer:innenplenum sagt daraufhin die Veranstaltung ab.
Sternschanze
Jungle World
10/28/2023
Islamistische Versammlung in St. Georg: »Etwa 500 Menschen haben sich am Sonnabend auf dem Steindamm im Hamburger Stadtteil St. Georg versammelt. Angeblich um für die Palästinenser und Palästinenserinnen im Gazastreifen zu demonstrieren. Doch hinter dem gewaltsamen Protest steckten offenbar radikale Islamisten. […] Die ausschließlich männlichen Demonstranten hätten außerdem dazu aufgerufen, auch in Deutschland die Scharia, das islamische Recht, einzuführen. Darüber hinaus sei die Rede davon gewesen, das Blut der Palästinenser und Palästinenserinnen in Gaza auch hier in Deutschland zu rächen.«
St. Georg
NDR
11/1/2023
Anruf in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: »Anrufer meldet sich mit ›Adolf Hitler‹ und verstellter Stimme… ›Steht denn die Dusche noch?‹, auf Nachfrage Wiederholung«
Neuengamme
Mitteilung Gedenkstätte
11/9/2023
Ganzseitiger Eintrag “Free Palestine” im Besucherbuch der Gedenkstätte Bullenhuser Damm (erinnert an 20 jüdische Kinder und mindestens 28 Erwachsene, die am 20. April 1945 im Keller des Gebäudes von SS-Männern ermordet wurden)
Mitte
Zeug*in
11/11/2023
Bombendrohung gegen Jüdisches Bildungszentrum (»Vor dem Jüdischen Bildungszentrum an der Rothenbaumchaussee hat ein unbekannter Mann per App ein Taxi bestellt; über die Chatfunktion schickt er dem Fahrer mehrere Nachrichten, behauptet unter anderem, er habe Sprengstoff in der Synagoge Hohe Weide platziert; er spricht von angeblichen erfolgten Straftaten, droht Taten an. Der Taxifahrer alarmiert die Polizei. Auf dem von der Polizei bewachten Gelände der Synagoge befindet sich zu dieser Zeit eine kleine Gruppe jüdischer Menschen; sie verbringen nach Abendblatt-Informationen eine Stunde voller Angst in einem Keller, bis die Polizei Entwarnung gibt. […] Es hätten sich keine Hinweise auf ›konkrete Gefährdungssituationen‹ ergeben, teilt die Polizei auf Anfrage mit. Gleichwohl laufen strafrechtliche Ermittlungen, geführt von der Staatsschutzabteilung des Landeskriminalamts.«
Rotherbaum
Abendblatt
11/21/2023
Antisemitische, nationalsozialistische Schmiererei (»NSDAP«) auf Plakatwand, die über jüdisches Leben (»Ist Chanukka das jüdische Weihnachten?«) informiert
Altona
X (Twitter)
11/26/2023
Großflächig rote Farbe auf das Synagogenmahnmal und Gestecke in Harburg gesprüht
Harburg
Zeug*in
1/19/2024
Rote-Hände Graffito in Kombination mit einer Palästinaflagge. (Die roten Hände beziehen sich positiv auf einen Lynchmord an israelischen Soldaten zu Beginn der Zweiten Intifada im Jahr 2000)
St. Pauli
Zeug*in
1/25/2024
Palästinaflagge mit Aufschrift »Free Gaza from Wiedergutmachung« (Der Slogan fordert ein Ende der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und/ oder suggeriert, diese würde im Dienste Israels bzw. gegen die Palästinenser geschehen)
Winterhude
ZEIT/Elbvertiefung Newsletter
1/25/2024
Keynote der antizionistisch-antisemitischen Klimaaktivistin Zamzam Ibrahim im Rahmen der Klima-Tagung »How Low Can We Go« auf Kampnagel. Ibrahim unterstützte zuvor bekanntermaßen die antisemitische BDS-Kampagne gegen Israel, setzte Israel mit dem NS gleich und legitimierte öffentlich den Terror von Hamas und Huthi-Rebellen. Sie trat u.a. im iranischen Staatsfernsehen auf.
Winterhude
Bericht Untiefen
1/25/2024
Gegendemonstration zu einer israelsolidarischen Demonstration vor Kampnagel, skandiert wird laut der ZEIT u.a. »Free Palestine from Wiedergutmachung«
Winterhude
Bericht Untiefen, ZEIT Newsletter
1/28/2024
»Der Verurteilten wurde vorgeworfen, am 28. Januar 2024 im Valentinskamp einer pro-israelischen Versammlungsteilnehmerin u.a. eine mitgeführte Israel-Flagge entrissen zu haben. Im Strafbefehlswege wurde sie zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen wegen Nötigung verurteilt.«
Neustadt
Mitteilung Staatsanwaltschaft
1/31/2024
Im Rahmen einer Podiumsdiskussion in den Bücherhallen tritt ein Störer auf, beleidigt nach Aufforderungen, den Raum zu verlassen, die jüdischen Diskutantinnen als »Nazis« und proklamiert, er lasse sich von ihnen »nicht ins KZ sperren«. Ein physischer Übergriff kann vom Moderator verhindert werden.
St. Georg
Zeug*in
2/4/2024
Parolen an einem Privathaus: »We stand with Palestine – Genocide apologists – zionists + other racists not welcome«; nach Mitteilung zuvor bereits angebracht: »Israels Staatsräson: Völkermord!«
Lokstedt
Zeug*in
2/8/2024
Störung der Jahresausstellungseröffnung der HfbK und Morddrohung gegen Besucher: »HFBK-Präsident Martin Köttering hatte gerade mit seiner Eröffnungsrede begonnen, als plötzlich Flugblätter durch die Eingangshalle flogen und eine Gruppe von circa zehn Menschen ›Free Palestine‹ (deutsch: Befreit Palästina) skandierte. Als jener Besucher sich daraufhin entschied, die Veranstaltung zu verlassen, und beim Hinausgehen mit den Worten ›from the Hamas Murders‹ (deutsch: von den Hamas-Mördern) auf die Rufe reagierte, wurde er von einem der Anwesenden mit dem Tod bedroht. Der Unbekannte hatte auf die Aussage des Besuchers mit der Drohung ›I will follow and kill you‹ (Ich werde dich verfolgen und töten) reagiert und sein Opfer damit erreicht.«
Barmbek-Süd
Abendblatt
2/9/2024
Verletzung eines Studierenden an der Uni Hamburg: »Ein jüdischer Studierender der Universität Hamburg [wurde] bei einem Handgemenge an der Hand verletzt. […] Nach Informationen des Abendblatts kam es zu dem Handgemenge wegen pro-palästinensischer Flugblätter, die in der Mensa verteilt worden waren. Der jüdische Studierende sammelte diese ein, der Flugblattverteiler konfrontierte ihn; es kam zum Streit, dann zum Gerangel – bei diesem Handgemenge wurde der Studierende an der Hand verletzt.« Der Betroffene wurde zudem als »Zionist« beschimpft.
Rotherbaum
Abendblatt; Zeug*in
2/19/2024
Heil Hitler‹-Schmiererei an Wand der Hauptausstellung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme
Neuengamme
Mitteilung Gedenkstätte
3/2/2024
Beleidigung auf der Mönckebergstraße: »Dem Verurteilten wurde vorgeworfen, am 2. März 2024 auf der Mönckebergstraße die Teilnehmer einer Mahnwache für Israel u.a. als „Scheiß Juden“ beschimpft zu haben. Er wurde deshalb wegen Volksverhetzung und Beleidigung zu einer Geldstrafe von 120 Tagessätzen verurteilt.«
Altstadt
Mitteilung Staatsanwaltschaft
4/10/2024
Transparent auf einer pro-palästinensischen Demonstration: »Free Gaza from Wiedergutmachung«
Zeug*in;
4/15/2024
Antisemitischer und israelfeindlicher Shitstorm gegen den Veranstalter des unabhängigen Musikfestivals »Booze Cruise«
St. Pauli
Jungle World
4/27/2024
Islamistische Demo der Gruppe Muslim Interaktiv (Tarnorganisation der verbotenen Hizb ut-Tahrir) am Steindamm, u.a. Forderung nach einem Kalifat in Deutschland.
St. Georg
Zeug*in
4/28/2024
Zahlreiche Plakate der Partei DIE GRÜNEN mit »Zionismus = Faschismus« beschmiert
Eimsbüttel
Zeug*in
5/2/2024
Aktivist*in »Heal d Wrld« filmt als Instagram Reel in einem Edeka im Grindelviertel »Hass-Avocados« mit der Herkunft Israel. Das Preisschild ist mit »IsraHell« beschmiert und mit einem »Fuck Zionism«-Sticker beklebt.
Rotherbaum
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus
5/3/2024
Graffito rotes Zieldreieck (Hamas-Propaganda) und Parole »All Eyes on Gaza«
St. Pauli
Instagram
5/6/2024
Einrichtung eines »Protest-Camps« auf der Moorweide (Nähe Universität) unter Beteiligung der palästinensisch-nationalistischen Gruppe »Thawra«. Aus dem Camp gehen bis September 2024 verschiedene antisemitische Aktionen hervor (siehe u.a. Eintrag »Tätlicher Angriff…« am 08.05.2024). Das rote Dreieck der Hamas-Propaganda ist immer wieder am Camp und im Umfeld zu sehen.
Rotherbaum
ZEIT; taz; Bürgerschafts-Drucksache 22/15817
7/5/2024
Sticker mit dem Motiv eines Panzers: »Widerstand ist Leben. Panzer für Palestina.«
Mitte
Zeug*in
5/7/2024
Graffito der genozidalen Parole »From the River to the Sea«
Rotherbaum
Instagram
5/8/2024
Tätlicher Angriff auf ein Vorstandsmitglied der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft nach einer Veranstaltung zu Antisemitismus an der Universität Hamburg; laut Presseberichten ist eine Täterin Mitanmelderin des „Protest-Camps“
Rotherbaum
ZEIT
5/8/2024
Auf einer Kundgebung des linken »Bündnis 8. Mai« auf dem Rathausmarkt wird eine Teilnehmerin, die ein Plakat hochhält (»Bring them home now«) von Menschen aus dem »Jugendblock« (bei dem auch »Young Struggle« mitläuft) angegriffen. Ihr Plakat wird ihr aus den Händen gerissen. Auch ein Antifaschist, der zu vermitteln versucht, wird beiseite gedrängt. Die Kundgebungsleitung bedauert den Zwischenfall.
Altstadt
Zeug*in
5/11/2024
Islamistische Demo der Gruppe Muslim Interaktiv (Tarnorganisation der verbotenen Hizb ut-Tahrir) am Steindamm, u.a. Forderung nach einem Kalifat im Nahen Osten (ca. 2300 Teilnehmer)
St. Georg
Hagalil
5/13/2024
Auf das Graffito einer palästinensischen Fahne wurde »Islamic Jihad muss sein« geschmiert
Rotherbaum
Instagram
5/14/2024
Aktion vor dem autonomen, besetzten Zentrum Rote Flora, gestreamt und beworben von pro-russischen, pro-islamistischen Medienkanälen (RedStream; Salah Said). Legitimiert wird die Aktion mit einer grundsätzlichen Ablehnung der Antisemitismuskritik, die von der Roten Flora zu verschiedenen Anlässen formuliert wurde. Diese wird als »antideutsch« diffamiert.
Sternschanze
taz
5/14/2024
Plakat im »Protest-Camp« Moorweide (»Zionism is Racism is Fascism«)
Rotherbaum
ZEIT/Elbvertiefung Newsletter
5/14/2024
Aufkleber zur Erinnerung an israelische Geisel mit »Israel Terror« beschmiert
Mitte
Instagram
5/15/2024
»Nakba«-Demonstration unter Beteiligung der palästinensisch-nationalistischen Gruppe Thawra. Laut ZEIT bleiben bei den Reden »die Opfer des Terroranschlags vom 7. Oktober unerwähnt. Auf der Bühne ist immer wieder von ›Besatzung, Kolonialisierung und Genozid‹ die Rede. Einmal wird Israel als ›genozidaler Staat‹ bezeichnet.«
St. Georg
ZEIT
5/15/2024
Antisemitische Parolen auf dem Campus der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW). Die Pressestelle der Universität schreibt: »Heute Morgen waren sie auf dem Campus am Berliner Tor zu lesen: Mit Sprühfarbe an den Mauern hinterlassene Parolen zum Krieg in Gaza mit antisemitischem Hintergrund. Die Sachbeschädigung wurde zur Anzeige gebracht, die Parolen dokumentiert, nun werden sie entfernt bzw. überstrichen.«
St. Georg
HAW
5/18/2024
Aufkleber mit rotem Dreieck angebracht
Mitte
Instagram
5/18/2024
Antisemitische Tafel des Künstlerkollektivs »New Red Order« in der Ausstellung »SURVIVAL IN THE 21ST CENTURY« in den Deichtorhallen. Bericht des NDR: »Auf einer Tafel neben dem eigentlichen Kunstwerk wird Israel die alleinige Schuld am Nahost-Konflikt gegeben und mit Nazi-Deutschland in eine Reihe gestellt. […] es ist nichts anderes als eine antisemitische Verschwörungserzählung, die da in der Ausstellung hängt. Der Massenmord an den Indigenen in den USA, die Shoa in Nazideutschland und die israelische Politik von heute seien strukturell alles dasselbe. Israel trage allein die Verantwortung für den Nahostkonflikt. Vom Hamas-Terror kein Wort. Von den iranischen Auslöschungsfantasien keine Silbe.«
Altstadt
NDR
5/19/2024
Antisemitisches und israelfeindliches Plakat in Planten un Blomen (»Zionismus = Kolonialismus, Rassismus, Terrorismus.«)
Mitte
Instagram
5/20/2024
Antisemitisches und israelfeindliches Plakat am Kulturzentrum B5 (»Israels Genozid, 83% der Grundwasserbrunnen […] zerstört.«)
St. Pauli
Instagram
5/24/2024
Pro-Palästina Aktivisten und Aktivistinnen hatten im Gebäude der Hochschule für bildende Künste (HfbK) antisemitische Graffitis und Plakate angebracht. Die Hochschule hat diese entfernt.
Barmbek-Süd
NDR/Meldung Hamburg Journal
5/27/2024
Kundgebung Thawra unter dem Motto »Israel sofort entwaffnen« bzw. »Boykottiert Israel«
St. Georg
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus
5/28/2024
Instagram Story der Gruppe Thawra aus dem »Protest-Camp«, mit Aufkleber »Free Gaza from German Antifa!«
Rotherbaum
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus
5/30/2024
Auf Instagram filmen sich Aktivist*innen von Thawra, wie sie im Auto über die Grindelallee fahren, aus den Seitenfenstern halten sie eine palästinensische Fahne, aus dem Autoradio tönt der Song »Free Palestine« vom Interpreten SEB!, in dem das Ende Israels herbeigesehnt wird.
Rotherbaum
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus
5/30/2024
Holocaustleugnung an der Universität Hamburg: »Ein Mann soll auf dem Campus der Universität Hamburg volksverhetzende Äußerungen gemacht haben. Was bekannt ist. Im Internet kursiert ein Video des Vorfalls. Darauf ist zu hören, wie der Mann die Frage, ob er den Holocaust leugne, bejaht. In einer anderen Aufnahme sagt er, Adolf Hitler habe versucht, Juden zu schützen. Laut Pressestelle der Polizei ermittelt das Landeskriminalamt gegen ihn. Der Vorfall soll sich gegen Mittag vor dem Audimax der Universität ereignet haben. Auf Fotos von Studierenden ist zu sehen, wie der 43-Jährige mit drei Flaggen vor dem Gebäude steht: mit einer Israelflagge, einer Reichsflagge mit Davidstern und einer Fahne, auf der ein Eisernes Kreuz abgebildet ist. Eine Gruppe von Studierenden soll den mutmaßlichen Holocaustleugner angesprochen haben, dabei sei auch das Video entstanden, erklärt die Gruppe Students for Palestine Hamburg, die die Aufnahmen online verbreitet hat. Laut einer Pressesprecherin der Polizei wurde der Mann von Studierenden angezeigt.«
Rotherbaum
Eimsbütteler Nachrichten
6/2/2024
Ehrenamtlicher Guide der Stiftung Historische Gedenkstätten und Lernorte berichtet von antisemitischen Äußerungen einer Besucherin in der Gedenkstätte Fuhlsbüttel
Fuhlsbüttel
Mitteilung Gedenkstätte
6/3/2024
Transparente mit roten Zieldreiecken (der Hamas-Propaganda) sowie »Yallah Intifada« am »Protest-Camp« Moorweide
Rotherbaum
Instagram
6/6/2024
Michel Abdollahi suggeriert als Moderator auf einer auf Kampnagel-Veranstaltung zu »Canceln und Boykott« eine proisraelische Lobby in Deutschland, die eine mccarthyistische Diskursverengung betreibe. Raunt verschwörungsideologisch, dass Theatermacher im Fokus einer »politischen Kampagne« stünden »weil bestimmte Institutionen Sorge haben, dass hier etwas apassiert, was ihnen nicht passt«. Jeder Protest dagegen würde als antisemitisch diffamiert etc. Die israelsolidarische Kundgebung gegen Zamzam Ibrahim vom 25.01.2024 auf Kampnagel bezeichnet er als »Neonazis in Israelfahnen«.
Winterhude
Zeug*in
6/8/2024
Thawra Aktivist »einfach_tarik« markiert Olaf Scholz in Instagram Story mit rotem Dreieck; schreit ihm »Kindermörder« zu
online
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus
6/9/2024
Instagram Story von Students4palestinehh dokumentiert »Zionism = Racism« Graffiti an der UHH Gebäude
Rotherbaum
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus
6/13/2024
Sticker zur Erinnerung an die Geiseln in Gaza wurde mit Sticker »Jüdische Stimme – Juden gegen Genozid« überklebt
Mitte
Hamburger Initiative gegen Antisemitismus
6/26/2024
Unangemeldete Demonstration gegenüber dem Eingang Ostflügel Hauptgebäude UHH gegen die dort stattfindende Veranstaltung zu »Antisemitismus & Kampf gegen Antisemitismus aus jüdischer Perspektive«. Teilnehmende rufen lautstark Parolen, u.a. »Unsere Kinder, Frauen, Männer wollen leben – Uni Hamburg ist dagegen« und »Gegen Zionismus – gegen Faschismus«.
Rotherbaum
Zeug*in
6/26/2024
Störungen der Veranstaltung »Antisemitismus & Kampf gegen Antisemitismus aus jüdischer Perspektive«: »Offenbar hatten sich im Hörsaal mehrere Aktivisten verteilt. Bei sich trugen sie kleine Lautsprecherboxen, aus denen sie dann – einer nach dem anderen – etwas abspielten. Ob es sich dabei um Parolen handelte, sei kaum zu verstehen gewesen, erzählt die schon erwähnte Besucherin, die ebenfalls anonym bleiben möchte. ›Es war in erster Linie laut und plärrend.‹ Immer wieder habe die Veranstaltung unterbrochen werden müssen. Die von der Universität engagierten Sicherheitsleute hätten einen Störenden nach dem anderen aus dem Saal geführt. Dann sei etwas geschehen, das für einen ›Schreckmoment‹ im Publikum gesorgt habe: In den Reihen seien zwei Männer mit Palästinensertüchern aufgestanden und langsam nach vorne gegangen. Dort hätten sie sich in der ersten Reihe neben einem weiteren Aktivisten niedergelassen – direkt vor dem Rednerpult. Einige im Publikum hätten gerufen: ›Jenny, pass auf!‹ Es sei eine ganz offensichtliche Drohgebärde gewesen, so die erwähnte Besucherin gegenüber dem Abendblatt.«
Die Sicherheitsleute hätten sich dann nahe bei den drei Männern postiert. Diese seien sitzen geblieben. Die sich an den Vortrag anschließende Gesprächsrunde habe einer der Männer mit Zwischenrufen gestört. Als die Veranstaltung endete, seien einige Besucher gebeten worden, den Saal über einen Seiteneingang zu verlassen.« (Abendblatt)
Rotherbaum
Abendblatt
6/26/2024
Einer Person, die ein T‑Shirt mit hebräischer Aufschrift trägt, wird am Dammtorbahnhof von einem Mann mehrmals der Hitlergruss gezeigt.
Rotherbaum
Betroffener
6/28/2024
Plakate zur Erinnerung an Hamas Geiseln wurden abgerissen und beschädigt
Ottensen
Zeug*in
7/1/2024
Aufkleber »Bring them home to Europe! Decolonize Palestine« (auf rotem Dreieck)
Eimsbüttel
Instagram
7/3/2024
Demonstration Haupteingang Universität, nähe Vorlesungsreihe zu Judenfeindschaft
Rotherbaum
Zeug*in
7/8/2024
Rotes Dreieck auf dem »Thawra Kalender« (Instagram)
Rotherbaum
Instagram
7/10/2024
Demonstration Haupteingang Universität, nähe Vorlesungsreihe zu Judenfeindschaft; ca. 150 Personen; Parolen u.a. »Gegen den Faschismus! Gegen Antisemitismus! Gegen Zionismus!«
Rotherbaum
Zeug*in
7/15/2024
Angriff, antisemitische Beleidigung: »Die 56 Jahre alte Fußgängerin hatte sich über die Radfahrerin, die auf dem Gehweg fuhr, geärgert und sie angesprochen. Der Polizei sagte sie später, die Radfahrerin habe sie daraufhin zunächst antisemitisch beleidigt. Und dann nach ihrer markanten Halskette gegriffen und sie gewürgt. Die Radfahrerin soll auch noch auf die bereits am Boden liegende Fußgängerin eingetreten haben.« (NDR)
Bahrenfeld
NDR
7/17/2024
Demonstration von Thawra von der Roten Flora nach Altona; auf Transparenten steht u.a.: »Intifada Generation«, »Das einzig rote an der Flora ist das Blut an ihren Händen«.
Sternschanze
Instagram; Abendblatt; Zeug*innen
7/17/2024
Eine Kundgebung gegen die zuvor genannte Demo (Rote Flora nach Altona) wird attackiert. Ein Mann versucht, eine Israel Fahne zu erobern, stürzt sich zwischen die TN der Kundgebung und verletzt TN. Er wird von der Polizei, die die Kundgebung absichert, festgenommen.
Sternschanze
Zeug*in
7/26/2024
Graffiti »Free Gaza« und Hammer und Sichel an einem von orthodoxen Juden bewohnten Haus
Eimsbüttel
Instagram; Auskunft Zeug*in
7/26/2024
Schmiererei an der Meinungswand der Hauptausstellung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme: »Man muss wohl die Öfen wieder anschmeißen«
Neuengamme
Mitteilung Gedenkstätte
8/3/2024
Auftritt der u.a. antisemitischen, verschwörungstheoretischen Deutsch-Rap-Crew »Rapbellions« in Bramfeld
Bramfeld
Instagram
9/19/2024
In einem Aufruf von »ahrar.de« (Instagram) zu einer Demonstration am 5. Oktober wird das Massaker vom 7. Oktober relativiert und gerechtfertigt, Israel dämonisiert, die Zerstörung Israels gefordert (»Wir werden nicht aufhören, wir werden nicht ruhen, bis jeder Zentimeter Palästinas frei ist.«
Altstadt
Instagram
10/5/2024
Palästinensisch-nationalistische »Massendemonstration« nach Aufruf von »ahrar.de« (siehe Eintrag 19.09.2024); u.a. Plakat »Deutsche Staatsräson: Palästinenser und Libanesen müssen heute für die deutschen Verbrechen von damals büßen. WARUM???«
Altstadt
Zeug*in
10/5/2024
Während der palästinensisch-nationalistischen »Massendemonstration« versuchen ca. 20 junge Männer zur »Mahnwache für Israel« durchzubrechen, wird von der Polizei verhindert, Ordner greifen ein
Altstadt
Zeug*in
10/5/2024
Im Umfeld der palästinensisch-nationalistischen »Massendemonstration« werden Sticker mit dem Davidstern in den ein rotes Dreieck integriert ist und der Aufschrift »Liberate Judaism from Zionism»gefunden
Altstadt
Instagram
Anhang – Erläuterungen
Beispiel 1:
18.10.2023
Am Mittwoch sind in der Hamburger Innenstadt erneut pro-palästinensische Demonstrierende auf die Straße gegangen. Unterdessen wurde das Verbot solcher Kundgebungen bis Sonntag verlängert. Auf dem Jungfernstieg hatten zunächst etwa 20 Menschen gegen die Angriffe Israels protestiert – unter anderem mit Pappplakaten auf denen eine Wassermelone zu sehen war, das altbekannte Zeichen der Palästina-Proteste. Vier junge Männer wurden von der Polizei in Gewahrsam genommen, wie NDR 90,3 berichtete. Laut Augenzeugen sollen sie zwei Palästina-Flaggen mit dem Abbild des irakischen Diktators Saddam Hussein gezeigt haben.«
Altstadt
NDR
In diesem Fall stehen uns keine ausreichenden Informationen für eine Kategorisierung zur Verfügung. Es ist aller Erfahrung nach wahrscheinlich, dass es im Rahmen dieser sog. pro-palästinensischen Kundgebung zu diesem Zeitpunkt zu Israel dämonisierenden, antisemitischen Aussagen kam; das Zeigen eines Bilds des ehemaligen irakischen Diktators Saddam Hussein, der 1991 im Rahmen des zweiten Golfkriegs Raketen auf Israel – das keine Kriegspartei darstellte – abfeuern ließ, kann so interpretiert werden. Kundgebungen stellen ein demokratisches Grundrecht dar. Wir folgen der Systematik der Recherche und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) und ordnen entsprechende Versammlungen nur als antisemitische Versammlungen ein, wenn „in Reden, Parolen, auf mitgeführten Transparenten oder in Aufrufen antisemitische Inhalte festgestellt“ werden. In diesem Fall „wird die gesamte Versammlung als ein antisemitischer Vorfall vom Typ verletztendes Verhalten registriert. Ereignen sich bei oder am Rande einer solchen Versammlung Angriffe oder Bedrohungen, so werden diese jeweils als zusätzliche antisemitische Vorfälle dokumentiert.“ (RIAS 2024)
Beispiel 2:
20.10.2023
Israelfeindliche, terrorrelativierende Aussage gegenüber NDR Kamerateam: »Israel hat zuerst Palästina angegriffen und Palästina hat sich verteidigt, meiner Meinung nach.»
St. Georg
NDR
Dieser Fall wurde von uns nicht als antisemitisch kategorisiert. Die im Interview mit dem NDR getätigte Aussage kann plausibel als Rechtfertigung antijüdischer Aggression und des Massakers vom 7. Oktober interpretiert werden. Allerdings stehen uns nicht genügend Informationen (insbesondere zum Gesprächsverlauf und ‑kontext) zur Verfügung, die eine seriöse Entscheidung absichern würden. In der ethnozentristischen Wahrnehmung zweier homogener Kollektive („Israel hat…“, „Palästina hat…“) liegt eine Logik absoluter Feindbestimmung, die auch ein Element des Antisemitismus darstellt.
Beispiel 3:
26.07.2024
Graffiti »Free Gaza« und Hammer und Sichel an einem von orthodoxen Juden bewohnten Haus
Eimsbüttel
Zeug*in
Dieser Fall wurde als antisemitisch eingeordnet. Es handelt sich um eine (gezielte) Sachbeschädigung, d.h. „die Beschädigung oder das Beschmieren jüdischen Eigentums“ (RIAS 2024). Obwohl der Gehalt der Schmierereien selbst nicht antisemitisch ist, werden hier praktisch deutsche Bürger:innen jüdischen Glaubens für ein (vermeintliches) Handeln des israelischen Staats verantwortlich gemacht. Auch dieser Vorfall illustriert exemplarisch, wie Antisemitismus als ein kulturelles Klima von Bedrohung und Ausschluss von Jüd:innen in Deutschland sowie der Rechtfertigung antijüdischer Aggression wirkt.
[1] Stellvertretend für alle engagierten Parlamentarier:innen sei hier die Arbeit von Cansu Özdemir und Deniz Celik (beide Mitglieder der Bürgerschaftsfraktion der Linkspartei) hervorgehoben, die durch ihre regelmäßigen Kleinen Anfragen dabei helfen, die notwendige Transparenz und Öffentlichkeit im Bereich Hasskriminalität herzustellen.
[2] Nach Mitteilung der Pressestelle der Staatsanwaltschaft Hamburg arbeitet die Zentralstelle Staatsschutz mit der Arbeitsdefinition Antisemitismus der IHRA; entsprechende Bewertungen könnten sich allerdings im Laufe von Ermittlungen und Verfahren ändern.
[3] In diesem Zusammenhang weisen wir nochmals auf den an dieser Stelle vor einigen Wochen erschienenen Text „Klima der Judenfeindschaft“ zum Antisemitismus in Hamburg von Florian Hessel hin; die dort skizzierten Überlegungen Begriffe und Analysen formulieren einige der Grundlagen und Grundannahmen des vorliegenden Chronikprojekts aus und geben weitere Literaturhinweise.
Der Überfall der radikal-islamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und das folgende Massaker mit über 1.200 Todesopfern sind eine Zäsur, selbst in der an grauenvollen Ereignissen keineswegs armen Geschichte des Antisemitismus. Ihre globalen Nachwirkungen – keine Ächtung anti-humanistischer Ideologien und Politik, sondern im Gegenteil eine Enthemmung der aggressiven Dämonisierung des Judenstaats und der Bedrohung von Jüdinnen und Juden – sind auch in Hamburg zu spüren.
Nichts Abweichendes mag noch ertragen werden: Plakate, die an die von der Hamas festgehaltenen Geiseln erinnern, werden auch in Hamburg abgerissen. Foto: privat
Schon der Blick auf die Zahlen ist erschreckend: Bundesweit ist die Zahl antisemitischer Vorfälle nach dem 7. Oktober dramatisch gestiegen, dasselbe gilt für Hamburg. Hier machte Antisemitismus 2023 24% aller erfassten Fälle von Hasskriminalität aus – wobei weniger als 0,2% der Hamburger:innen jüdischen Glaubens sind. Im vierten Quartal hat sich die Fallzahl gegenüber dem Vorjahreszeitraum verfünffacht, auf 67 gegenüber 12 Fällen (siehe die Kleinen Anfragen der Linksfraktion zur Hasskriminalität in Hamburg in 2022 und 2023). Im Rahmen einer im Sommer 2024 erschienenen Studie unter anderem der Hochschule der Akademie der Polizei Hamburg gaben mehr als drei Viertel der befragten Hamburger Jüdinnen und Juden an, innerhalb der letzten zwölf Monate Antisemitismus erfahren zu haben.
Nach allen Erkenntnissen bleibt ein großer Teil der dahinter liegenden Fälle antisemitischer Diskriminierung und Gewalt außerhalb der Wahrnehmung von Öffentlichkeit und Behörden – die erwähnte Studie schätzt den Anteil auf 80%. Zivilgesellschaftlich gesammelte Daten, die dieses große Dunkelfeld erfahrungsgemäß erhellen könnten, standen für Hamburg allzu lange nicht zur Verfügung: Die 2021 gegründete, öffentlich geförderte digitale Hinweis- und Meldestelle memo veröffentlicht im Gegensatz zu den Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) in anderen Bundesländern keine Fälle oder (aussagekräftige) Zahlen. Ein nun vom Träger der Meldestelle, der Beratungsstelle für Betroffene rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt Empower, vorgelegter Bericht gibt 282 Fälle von Antisemitismus in Hamburg für 2023 an – mehr als ein Drittel der ingesamt dort bekannt gewordenen menschenfeindlichen Taten; im Zeitraum nach dem 7. Oktober verdoppelten sich auch hier die Fälle.
Plakativer Judenhass
Die Wände und die Öffentlichkeit der Stadt erlauben uns einen weiteren Einblick in die Realität des Antisemitismus. Wenige Tage nach dem 7. Oktober beginnend, werden auf Hauswänden und Laternen fortlaufend sogenannte pro-palästinensische Slogans, Aufkleber etc. angebracht. Neben die seit Jahrzehnten obligatorischen nationalistischen Parolen wie »Free Palestine« treten immer wieder auch Israel dämonisierende, manifest antisemitische Bilder: So wurde laut Bericht eines Anwohners auf St. Pauli z.B. nach dem 7. Oktober ein Graffito mit blutroten Handabdrücken platziert – eine Chiffre, die sich zustimmend auf den Lynchmord an zwei israelischen Soldaten zu Beginn der Zweiten Intifada ab 2000 bezieht; aus Eimsbüttel meldeten Anwohner:innen der Instagramseite Civil-Watch against Anti-Semitism Anfang Juli 2024 Aufkleber mit dem roten Dreieck (der Zielmarkierung der Hamas-Propaganda) und dem Slogan »Bring Them Back to Europe – Decolonize Palestine«. Israelsolidarische oder auch nur antisemitismuskritische Botschaften, sogar Plakate, die an die von der Hamas festgehaltenen Geiseln erinnern, werden abgerissen, beschädigt oder übermalt.
Jegliche israelsolidarische Kundgebung und antisemitismuskritische Veranstaltung hat mit Störungen und mit mindestens verbalen Bedrohungen zu rechnen
Jegliche israelsolidarische Kundgebung und antisemitismuskritische Veranstaltung hat mit Störungen und mit mindestens verbalen Bedrohungen zu rechnen: Im Anschluss an eine Solidaritätskundgebung mit Israel Mitte Oktober 2023 etwa wurden zwei Organisator:innen beschimpft und physisch angegriffen, eine israelische Fahne wurde gewaltsam entwendet; auf einer Podiumsdiskussion in den Bücherhallen Ende Januar 2024 wurden die jüdischen Podiumsteilnehmerinnen als »Nazis« und »KZ-Wächter« beschimpft und physisch bedroht.
Boykotte und alltäglicher Antisemitismus
Konkrete Positionierungen sind dabei zunehmend irrelevant: So war z.B. das Punkfestival Booze Cruise massiven Anfeindungen im Netz und international einem faktischen Boykott ausgesetzt, weil der Veranstalter als »Zionist« und »Gen0cide-Supporter« [sic!] markiert wurde. Seit Anfang Mai 2024 konnte nach US-amerikanischem Vorbild von palästinensisch-nationalistischen Gruppen und Aktivist:innen ein »Protest-Camp« am Rande der Universität Hamburg etabliert werden. Aus dessen Umfeld kam es am 8. Mai im Anschluss an eine antisemitismuskritische Vortragsveranstaltung in der Universität zu einer wohl spontanen, aber gezielten verbalen und physischen Attacke auf ein Vorstandsmitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, wenige Tage später zu einer als Angriff zu verstehenden kurzzeitigen Besetzung der Roten Flora.
Nach einer kurzen Phase medialer Diskussion direkt nach dem 7. Oktober sind die Hamburger Schulen aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden. Die Zahl von Anfragen für Antisemitismus-Workshops an Akteure der politischen Bildung ist jedoch seither weiter gestiegen und zumindest an einigen Schulen ist das Niveau der Vorfälle hoch. Wie Lehrer:innen von Harburger Schulen gegenüber Untiefen berichteten reichen diese Vorfälle bis hin zu demonstrativer Verherrlichung des antisemitischen Massenmords und der Bedrohung engagierter Lehrkräfte. Nur Weniges überschreitet die Schwelle der öffentlichen Wahrnehmung: In der Antwort des Senats auf eine Kleine Anfrage in der Bürgerschaft vom November 2023 werden vier Bombendrohungen gegen Schulen »im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt« erwähnt, die von der Polizei jedoch als »keine Gefährdungslage« eingestuft worden seien.
Wie sich deutlich zeigt, eröffnet die Dynamik der Ereignisse – von den Morden, Vergewaltigungen und Entführungen am 7. Oktober in Israel bis hin zum grausamen Kriegsgeschehen in Gaza und dessen medialer Dauerpräsenz – auch in Hamburg Möglichkeitsräume und Gelegenheitsstrukturen für judenfeindliche Aggressionen und Affekte. Gefüllt und genutzt werden diese Räume ebenso im persönlichen Umgang und Umfeld – offline oder online – wie von öffentlichen Akteur:innen.
In der Sache geeint: IslamistInnen und autoritäre Linke
Antisemitismus bezeichnet Judenhass – eine auf Jüdinnen und Juden bezogene Praxis der Gewalt in Wort und Tat und deren gleichzeitige Rechtfertigung, und tritt in allen gesellschaftlichen Schichten und politischen Spektren auf. Der Aussage, Israel mache im Prinzip mit den Palästinensern dasselbe wie die Nazis mit den Juden, stimmte zuletzt 2022 43% der deutschen Wohnbevölkerung zu. Gleichwohl sind es bestimmte Milieus, die gegenwärtig eine hervorgehobene Rolle spielen. Namentlich sind dies islamistische Milieus, Teile der autoritären Linken sowie aktivistische, selbsterklärt »pro-palästinensische« Kreise. Die Chiffre »Palästina« sowie Israelhass und Antisemitismus dienen hier – in jeweils unterschiedlicher Weise – als Agitationsmittel, die einen großen emotionalen Rückhall in postmigrantischen und/oder aktivistischen Milieus versprechen, vor allem unter Jugendlichen und bis in die bürgerlich-liberale Mitte hinein.
Vorfeldorganisationen der islamistischen Hizb ut-Tahrir hatten bereits kurz nach dem 7. Oktober in St. Georg eine »spontane« anti-israelische Kundgebung organisiert. 2024 folgten zwei weitere, angemeldete Demonstrationen, die bundesweit breit thematisiert wurden. Über Social Media als Bilder der Stärke inszeniert, sollen darüber Anhänger mobilisiert und Sympathisanten für eine misogyne, juden- und minderheitenfeindliche, insgesamt islamistische, demokratiefeindliche Agenda gewonnen werden. Autoritär-linke, »rote« oder »kommunistische« Gruppen veröffentlichten zügig Israel dämonisierende Statements (»Der Terrorist heißt Israel» u.ä.) und agitieren entsprechend. Die Bündnisdemo dieses Spektrums zum 1. Mai 2024 wurde weitgehend von palästinensisch-nationalistischen Parolen und Symbolen dominiert. Neben der Mobilisierung dient diese Positionierung als Instrument, um anti-autoritäre Linke im Kampf um Einfluss, Deutungen (v.a. von Antisemitismus) und Kontrolle von Räumen unter Druck zu setzen.
Gegenüber den islamistischen und autoritär-linken Gruppen ist das als aktivistisch umschriebene Milieu deutlich heterogener in Zusammensetzung und Ausrichtung. Anders als diese kann man eine Wirkung in die weitere politische Öffentlichkeit hinein entfalten. Dies gilt auch für organisierte Gruppen der »Palästina-Solidarität« wie Thawra, deren Grundstrukturen bereits länger etabliert sind und die mindestens ideologisch auch Überschneidungen mit den zuvor beschriebenen Gruppen aufweisen. Sie betreiben Kampagnenpolitik und radikalisieren sich in widerspruchsfreien Echokammern wie dem »Protest-Camp«. Wie bereits skizziert, werden entgegen der Selbstbeschreibung als sich der ganzen Macht von Staat und Gesellschaft entgegenstellenden Widerstandskämpfer:innen, vor allem »weiche«, nicht-staatliche und in diesem Sinn ungeschützte Ziele aus Subkultur und Bildungssektor gewählt: Man versucht jedweden linken Protest und jede Struktur vereinnahmend zu kapern und bedroht ein besetztes autonomes Zentrum; man demonstriert regelmäßig gegen eine universitäre Vorlesungsreihe zu Judenfeindschaft und stört diese mehr oder weniger organisiert. (Alles praktischerweise meist nur einen kurzen Fußweg oder eine S‑Bahnstation vom »Protest-Camp« entfernt.)
Von jeder Wand muss es herunterschreien: Anti-Israelische Raumnahme durch Graffiti. Foto: privat
Israelhass als kultureller Code
Eine wesentliche Zielgruppe dieser nationalistischen Kampagnenpraxis ist ein weiteres, eher diffuses, formal unorganisiertes, aktivistisch-künstlerisches Milieu von Personen an oder im Umfeld von Kulturinstitutionen oder Hochschulen, die sich mehrheitlich als links oder linksliberal verstehen würden. Im Fokus standen in jeweils anderer Weise die Hochschule für bildende Künste Hamburg (HfBK), das Kulturzentrum Kampnagel und seit dem Frühjahr 2024 zunehmend die Universität Hamburg.
Der Kampagnenpolitik im Sinne eines undifferenzierten, kompromisslosen palästinensischen Nationalismus wird im weiteren künstlerisch-aktivistischen Milieu von einer Haltung Raum gegeben, in der das Ressentiment gegen Israel (als Schlagwort: »die Israelkritik«) affektiv verankert ist. Durchaus auch aufgrund dieser jahrzehntealten nationalistischen Kampagnen wie des entsprechenden Erbes der Neuen Linken nach 1968, fungieren die »Israelkritik«, der »Anti-Zionismus«, die Dämonisierung Israels als ein kultureller Code, wie dies die Historikerin Shulamit Volkov benannt hat (2000: 84ff.), d.h. als »Erkennungszeichen der Zugehörigkeit zu einem bestimmten, subkulturellen Milieu« und einer emotionalisierten moralisch-politischen Haltung: Im Mittelpunkt, so Volkovs Analyse, stehen nicht die tatsächlichen Fragen, sondern »der symbolische Wert, ihnen gegenüber einen Standpunkt zu beziehen.« Und heute gilt umso deutlicher was Volkov bereits in den 1980er Jahren festgehalten hatte, dass global anscheinend »die Juden oft zum Symbol für all das geworden [sind][…], was man am Westen gehaßt und verabscheut hat«: namentlich Kolonialismus, Nationalismus und Rassismus, Ausbeutung, Ausgrenzung und Unterdrückung.[1]
Dämonisierender Israelhass muss nicht selbst propagiert werden, sondern dessen Normalisierung als ein kultureller Orientierungspunkt ist das entscheidende Moment, wie es Lukas Betzler an dieser Stelle anhand des Klimafestivals im Januar auf Kampnagel exemplarisch beschrieben hat. In diesem kulturellen Klima aus offener Aggression und bestenfalls verunsicherter Derealisierung angesichts eines »kontroversen Themas« – Antisemitismus und ein politisch komplexer, historisch aufgeladener Konflikt – bilden sich die Möglichkeitsräume und Gelegenheitsstrukturen, die ein Medium von Judenhass in der Gegenwart darstellen.
»Berechtigter« Antisemitismus?
Aufrufe zu Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, Israelis, »Zionisten« – auf Social Media oder zumindest einigen Hamburger Schulhöfen immer weniger codiert zu hören –, sind dabei ein Moment. Entscheidender sind die Derealisierung und Konsequenzlosigkeit der für sich sprechenden Taten und Tatsachen, die Verschiebung der Debatte auf den »Antisemitismusvorwurf« statt den Antisemitismus, und die Verweigerung von Empathie gegenüber den Erfahrungen von Jüdinnen und Juden. Entscheidender ist das Misstrauen, das derart entsteht. Die immer hemmungslosere Aggression zieht ihre Ziele – Jüdinnen und Juden; Akteure, die sich gegen Antisemitismus und Israelhass positionieren; beliebige Festivalveranstalter, die ein unterwerfendes Bekenntnis verweigern – mit in Verdacht. In diesem kulturellen Klima prägt sich Antisemitismus als sogenannter sekundärer aus, als Entlastungs- oder Schuldabwehrantisemitismus: Die Opfer werden für Gewalt, Hass und Verfolgung, die auf sie gerichtet werden, verantwortlich gemacht. Oder wie der Soziologe Detlev Claussen in Grenzen der Aufklärung sarkastisch formulierte (2005, XIV): »Unter Antisemitismus wird eine unberechtigte Aggression gegen Juden verstanden; aber berechtigte Angriffe sind denk- und artikulierbar geworden.«
Die Wände und Räume der Stadt sind ein passendes Bild für das, was heute Antisemitismus heißt, die aktuellste Rechtfertigung von antijüdischer Aggression in Wort und Tat: Von jeder Wand muss es herunter schreien. Jeder Raum soll mit der absoluten Gewissheit besetzt werden. Nichts Abweichendes mag noch ertragen werden. Der sich stetig selbst radikalisierende, kompromissunfähige, hoch emotionalisierte Modus der anti-israelischen Camps, Graffitis, Kampagnen und Bekenntnisse enthält das Ressentiment gegen Geist, Dialog und Reflexion und zwingt die unübersichtliche Welt in sein eindeutiges Schema von Gut und Böse. Und von solcher in widerspruchslosen Räumen verstärkten (Selbst-)Gewissheit ist es nur noch ein kurzer Weg dahin, den von den eigenen martialischen Parolen erzeugten Mythos als Rechts- und Machtanspruch in die (Gewalt-)Tat umsetzen zu dürfen, ja geradezu: umsetzen zu müssen.
Man wäge genau ab, wo man hingehe, berichtet eine aus der Ukraine geflüchtete Hamburger Jüdin der taz: »Ich frage mich: Wann werde ich angegriffen?« Die allgegenwärtige, Israel dämonisierende Propaganda, die Vereinnahmung des Raums der Stadt, das kulturelle Klima erzeugen für Jüdinnen und Juden eine Atmosphäre der Bedrohung und des Ausschlusses von Orten ihres Alltags. Gegen die allzu breit akzeptierte, falsche Wahrnehmung zweier gleichermaßen kompromiss- und dialogunfähiger »Gegner« ist festzuhalten: Während die anti-israelischen Aktivist:innen selbsterklärt für ein politisches Anliegen eintreten und die Freiheit reklamieren, Menschen mit abweichenden Haltungen zu bedrohen, wollen Jüdinnen und Juden einfach in Freiheit von solcher Drohung in ihrer Stadt leben.
– Dieser Artikel erschien in einer früheren Version auf vernetztgegenrechts.hamburg –
Der Autor dankt Janne Misiewicz und Olaf Kistenmacher sowie der Redaktion Untiefen.
[1] Ähnliches gilt auch für einige postmigrantische, stärker türkisch- oder arabisch-nationalistisch geprägte Milieus. Hier verbindet sich ähnlich wie im Islamismus der einigende, dämonisierende Israelhass mit Ressentiments gegen Minderheiten wie Kurd:innen oder Yezid:innen – gerade wo diese ihre eigene Verfolgungserfahrung im Massaker vom 7. Oktober und dessen Relativierung reflektiert sehen.
Im Herzen Hamburgs wurde der ehemalige Flakturm IV, der Bunker an der Feldstraße, aufgestockt und begrünt. In diesem Zuge sollte auch ein Dachgarten als Park für die Öffentlichkeit entstehen. Herausgekommen ist eine alles andere als einladende Dauerwerbefläche. Sie ist auch ein Fenster auf die derzeitige Stadtentwicklung und ‑verwertung.
Der Bunker an der Feldstraße kurz nach der Eröffnung des Dachgartenhotels. Foto: privat.
„Ein Park soll zum Verweilen einladen“, hieß es in der im Mai 2015 erschienenen zweiten Ausgabe des Ideenjournals für eine Stadtnatur auf St. Pauli. Herausgegeben hatte das Heft eine im Jahr 2014 gegründete Initiative von Anwohner:innen, die sich für die Begrünung des ehemaligen Flakbunkers an der Feldstraße einsetzte – so zumindest die öffentliche Darstellung. Kritik an dem Projekt gab es schon zu diesem Zeitpunkt. Neben Zweifeln an der Selbstdarstellung der Initiative warnten ansässige urban-gardening-Gruppen auch vor der Vereinnahmung stadteilpolitischer Anliegen durch Investoren und Kreativagenturen. In einer gemeinsamen Stellungnahme aus dem Jahr 2014 verurteilten sie „die marketingtechnisch gewitzte Präsentation des Großvorhabens“. Die „Bunkergroßbaustelle beschert uns eine grüne Aufwertungsspirale.“
Rund zehn Jahre später, im Juli 2024, feierten der Dachgarten und mit ihm unter anderem ein Hotel in seinem Inneren ihre Eröffnung. Die Kritik ist mittlerweile fast verstummt. Die Lokalpresse übernahm nicht nur den Marketing-Sprech vom „grünen Bunker“, sie bejubelt ihn nahezu durchgängig als „neues Wahrzeichen Hamburgs“. Doch ein Blick hinter die Fassade – oder besser: ihr Gestrüpp – eröffnet ein anderes Bild. Der Park, wenn er denn so genannt werden kann, lädt nicht gerade zum Verweilen ein. Vielmehr scheint der Dachgarten vor allem ein geschicktes Marketingtool zu sein, das nicht nur den Bunker aufstockt, sondern auch das fiktive Kapital von Immobilienportfolios. Zeit also für eine Bestandsaufnahme.
Das Versprechen des Parks
In der Moderne trug der Park ein Versprechen in sich. Im städtischen Raum gelegen, sollte er offen für alle und frei zugänglich sein; Erholung, Sport, Spiel und Entspannung vor allem jenen bieten, die – eingepfercht in Fabriken und beengte Wohnverhältnisse – keinen Zugang zur freien Natur hatten. Darin unterscheidet er sich vom herrschaftlichen Garten, der zuvorderst Macht und Reichtum repräsentiert und mehrt. Der Stadt- sowie der Altonaer Volkspark, die beide um die Jahrhundertwende erdacht und in der Folge gestaltet wurden, können als Beispiele öffentlicher Parks dienen. Sollte nun dieses Versprechen nicht in falscher Nostalgie als Folie der Kritik aufgespannt werden, so lag es jedoch auch dem nun begrünten Bunker zugrunde. In der ersten Ausgabe des oben erwähnten Ideenjournals war etwa die Rede von einer „völlig neuen Stadtnatur“, von „Gartenflächen, auf denen man sich zum Picknick trifft“, es sollte ein „Garten vieler werden“ – gar ein „Pilotprojekt“, das „nicht zuletzt für mehr Lebensqualität in der wachsenden Stadt“ sorgen sollte.
Wie dieser Park zum Verweilen oder Picknicken einladen soll, wenn selbst ein Butterbrot nicht erlaubt ist, bleibt unklar. Foto: privat
Die Realität sieht anders aus. Gleich am Eingang, der mit martialischen Drehkreuzen (Öffnungszeiten derzeit 9 bis 21 Uhr, nicht wie versprochen 7 bis 23 Uhr) aufwartet, prangen vier große Verbotsschilder: keine Hunde, keine mitgebrachten Speisen und Getränke, Rauchverbot. Durchgesetzt werden diese Verbote von einem privaten Sicherheitsdienst, der die Besucher:innen nicht nur auf Schritt und Tritt beäugt, sondern am Eingang bisweilen auch strengstens durchsucht. Der Zutritt zum Dachgarten fühlt sich an wie ein Grenzübertritt. Wer es dann über die Grenze schafft, sollte jedoch kein grünes Paradies erwarten. Denn wie dieser Park zum Verweilen oder Picknicken einladen soll, wenn selbst ein Butterbrot nicht erlaubt ist und Sitzmöglichkeiten – zumindest solche, für die nicht konsumiert werden muss – rar sind, bleibt unklar. Zumindest derzeit scheint es, als hoffe man auf einen möglichst kurzen Aufenthalt der Besucher:innen. Immerhin ist der Zutritt zum Garten auf 900 Personen begrenzt und es sollen ja möglichst viele über den sogenannten „Bergpfad“ auf den Bunker steigen, um zumindest das Versprechen eines öffentlichen Parks gewahrt bleiben zu lassen. Barrierefrei ist der Dachgarten indes nicht. Wer im Rollstuhl sitzt oder nicht gut zu Fuß ist, kommt „nur auf spezielle Nachfrage und in Begleitung“ ganz nach oben.
Der Dachgarten ist ein trojanisches Pferd aus Beton und Gestrüpp. Unter dem Schein der Gemeinnützigkeit lassen sich die innenliegenden Flächen nur umso besser vermarkten.
Aber wofür dann der große Aufwand und die in der Presse genannte Investitionssumme von 60 Millionen Euro? In der offiziellen Erzählung heißt es, dass die Vermietung der Räume im Inneren des aufgestockten Bunkers seine Begrünung finanziere und die laufenden Kosten decke. Nun, nach der Eröffnung, scheint doch eingetroffen zu sein, was manche schon vor einiger Zeit befürchtet hatten. Der Dachgarten ist ein trojanisches Pferd aus Beton und Gestrüpp. Unter dem Schein der Gemeinnützigkeit lassen sich die innenliegenden Flächen nur umso besser vermarkten. So geriert sich der grüne Bunker als Park für alle, fällt jedoch hinter sein Versprechen zurück. Entstanden ist ein neuartiger herrschaftlicher Garten – nicht eines frühneuzeitlichen Monarchen, sondern eines Unternehmers im Zeitalter des digitalen Finanzmarktkapitalismus. Der vermeintlich öffentliche Dachgarten soll nicht Reichtum zur Schau stellen, sondern ein profitables Investment ermöglichen und gegen Kritik schützen.
Öko-Gentrifizierung: die New Yorker High Line als zweifelhaftes Vorbild
Sowohl in der Lokalpresse als auch vonseiten der Macher:innen des Bunkers wird immer wieder auf die New Yorker High Line als Vorbild des städtischen Dachgartens verwiesen. Aus einer alten Bahntrasse wurde in der US-Metropole ein über zwei Kilometer langer, mittlerweile weltberühmter Park. Eine lokale Interessensgemeinschaft hatte sich Ende der 1990er Jahre zusammengefunden, um die Bahntrasse vor ihrem Abriss zu retten und in einen Park umzugestalten. Nach dessen Eröffnung wurde die High Line schnell zum Tourist:innen-Magnet. Insbesondere die umliegenden Gebäude erfuhren eine massive Wertsteigerung. Mittlerweile wird in Verbindung mit der High Line auch von Öko-Gentrifzierung gesprochen. Nun war diese Entwicklung kein genuines Anliegen der High Line-Interessensgemeinschaft; auch manche ihrer Gründer:innen kritisieren die massive Wertsteigerung im Umfeld des neugeschaffenen Parks.
Der Bunker ohne Dachgarten im Jahr 2018. Foto: privat.
In der Berichterstattung um den grünen Bunker sowie in der Selbstdarstellung seiner Macher:innen erfahren diese Folgen der High Line keine Erwähnung. Es verhält sich beim Bunker auch anders. Ist zwar zu vermuten, dass eine weitere Attraktion im Stadtteil zu dessen Aufwertung beiträgt, so steigert die Begrünung wohl vor allem den Wert des Bunkers selbst. Und: anders als bei der High Line war diese Entwicklung hier wohl von vornherein geplant. Bereits Jahre bevor die ersten Besucher:innen den Bunker erklimmen konnten und noch vor seiner tatsächlichen Begrünung, wurde er über letztere schon vorauseilend zur Marke gemacht. Der Instagram-Account unter den Namen „hamburgbunker“ setzte schon Ende 2021 seinen ersten Post ab. Nur durch die vermeintlich gemeinwohlorientierte Begrünung erfuhr der Bunker ein großes Medienecho. In den letzten Monaten berichte die Lokalpresse wöchentlich, zuletzt gar täglich über ihn.
Der Account verlinkt auf die offizielle Webseite der RIMC Bunker Hamburg Hotelbetriebsgesellschaft beziehungsweise der RIMC International Hotels & Resorts GmbH, die den Zuschlag für die Vermietung und Vermarktung der Innenflächen erhalten hatte. Dass die bekannte Hard Rock-Kette nach langem Hin-und-Her ihre neue Hotelmarke unter dem Namen „Reverb“ im Bunker platzieren konnte, dürfte sich für sie auszahlen, um diese, wie es im Jargon heißt, Brand Extension bekannt zu machen. Die Medienberichterstattung hämmerte den Leser:innen beiläufig nicht nur den Namen der neuen Hotelmarke ein, sondern auch einen offenbar aus firmeneigenen Pressemitteilugen abgeschrieben Passus. Dieses Hotel sei das erste seiner Art in Europa und damit wie der Bunker eine Attraktion, ja ein „Erlebnis“. Das anhaltende Medienecho dürfte sich in den kommenden Jahren für künftige Vermietungen auszahlen und insgesamt den Wert des Gebäudes steigern.
Der neue Geist des Kapitalismus und seine Gärten
„Aus grau wird bunt“, lautet das Motto des Bunkers beziehungsweise der Fläche, die die Betreibergesellschaft nun vermarktet. Ihr Logo setzt sich entsprechend aus verschiedenfarbigen Buchstaben zusammen. „Sankt Pauli bleibt bunt“, fordert ein, zu seinen Füßen gesprühtes Graffiti; unweit entfernt bekennt ein anderes ein „Herz für St. Pauli“. Unterschrieben ist dieses Graffiti auch mit Viva con Agua, einer ansässigen Non-Profit-Organisation, die jedoch in jüngerer Zeit in Kritik geriet – unter anderem wegen eines von ihr betriebenen Hotels unweit des Hamburger Hauptbahnhofs.
Die Vermarktung des Bunkers funktioniert also nicht nur über seine Begrünung, sondern ebenso über den Verkauf eines Lebensgefühls. Dieses Lebensgefühl generiert sich über den immer wieder genannten Stadtteil. Diesen kennzeichnete einst, gerade nicht vermarktbar, sondern widerständig zu sein. Das aber ist vollends vom Marketing aufgesogen worden. So lässt sich gar der im Inneren des Bunkers befindliche, bis heute jedoch nicht fertiggestellte Informations- und Erinnerungsort an Krieg und Zwangsarbeit in die Kampagnen integrieren. Das neue Hotel bewirbt seinen Standort nicht nur mit einem im nachbarlichen Stadtteil zu findenden „diverse mix of cultures“ und dem „artistic flair“, sondern beherbergte als ersten Gast auch öffentlichkeitswirksam einen Zeitzeugen. Die Webseite der Betreibergesellschaft lädt dazu ein, die „Magie dieses geschichtsträchtigen Ortes selbst zu erleben“. Dass die beworbene Immobilie ein Nazi-Bunker war, wird zum Unique Selling Point.
Eine ungeheure Markensammlung, Schild am Eingang des Bunkers. Foto: privat
Ohne die Begrünung, aber auch nicht ohne die ehrenamtliche Arbeit der nach wie vor tätigen Anwohner:innen-Initiative sowie die Aneignung ursprünglich linker (stadtteil-)politischer Anliegen hätte der Bunker wohl nie die ihm nun zukommende Aufmerksamkeit erfahren. Am Bunker lässt sich damit eine zwar nicht mehr neue, aber zunehmende Form der Stadtentwicklung und ‑kapitalisierung erkennen, die größere Aufmerksamkeit verdient. Denn die Verwertung der Stadt wird heute nicht mehr gegen ihre Kritik durchgesetzt, sondern mit ihr und über sie. Die Natur und ihre Renaturierung, die fehlenden Frei- und Kreativräume in der beengten Stadt, gar erinnerungspolitische Arbeit und damit die Spuren nationalsozialistischer Herrschaft, die im Wiederaufbau noch unter grauem Beton verschwanden, werden heute zu Elementen begehrter Investitionsobjekte.
Wie konnte das passieren? Einige Hinweise gibt die Analyse der Soziolog:innen Luc Boltanski und Ève Chiapello, die in Anlehnung an Max Weber von einem „neuen Geist des Kapitalismus“ sprechen. Dieser neue Geist, der im Allgemeinen die jeweils hegemoniale Form kapitalistischer Verhältnisse mit Sinn und Legitimation ausstattet, zeichnet sich gegenüber seinen älteren Formen dadurch aus, dass er die einst gegen ihn gewendete Kritik aufnahm und produktiv wendete. Zu Hochzeiten der Industriemoderne beziehungsweise des Fordismus in den 1960er Jahren wurde eine Kritik laut, die den Verhältnissen etwa Sinnverlust und Entfremdung und damit mangelnde Möglichkeiten der Selbstverwirklichung vorwarf. Es waren nun diese und andere Elemente der Künstlerkritik, wie es Boltanski und Chiapello ausdrücken, die sich der Kapitalismus in der Krise der 1970er mehr und mehr aneignete. Heute finden sie sich etwa in der Managementliteratur und der Figur kreativen Unternehmertums wieder. Aber nicht nur Arbeit wurde subjektiviert, sondern auch der Konsum – Produkte erzählen eine Geschichte, stiften Sinn und Selbstverwirklichung.
In Waren transformiert, rückt der Kapitalismus die einstmals gegen ihn gerichtete Kritik ins Zentrum der Verwertung. Foto: privat
Wie an anderer Stelle dieses Blogs gezeigt, lassen sich auch in der Stadtentwicklung die ökonomischen und kulturellen Transformationen der 1970er und fortfolgenden Jahrzehnte als Wendung vom Allgemeinen der Moderne zum Besonderen der Postmoderne beschreiben: Singularisierung statt Standardisierung. Gefragt ist nicht mehr der Wohnblock industriellen Bauens, sondern die verschnörkelte Altbauvilla, ähnliches gilt für Supermärkte und Hotels. Wer etwas verkaufen will, wirbt mit den Elementen der Künstlerkritik wie Authentizität, Individualität, Kreativität, Sinn und Selbstverwirklichung[1]. Dieses einst abgelehnte Besondere – beim Bunker etwa seine Geschichte und das ihn umgebende Stadtviertel – kann der Kapitalismus jedoch nur bedingt aus sich selbst heraus erzeugen. Er muss es aus externer Quelle aneignen. In Waren transformiert, rückt er die einstmals gegen ihn gerichtete Kritik ins Zentrum der Verwertung. Dass der einst versprochene Park nun als Dachgarten die spezifischen Qualitäten eines Parks, also seinen Gebrauchswert, verloren hat, liegt auch daran, dass er als Marketingtool vor allem Tauschwert ist. Zu hoffen bleibt derzeit nur, dass sich aus diesem Widerspruch – die Verwertung zehrt das Besondere als Abstraktes auf und beraubt sich somit ihrer eigenen Quelle – das baldige Ende dieser Form der Stadtentwicklung ergibt. Gegen diese Hoffnung sprechen jedoch die zahlreichen Apologet:innen der neoliberalen Stadt.
Die versuchte Ehrenrettung der neoliberalen Stadt
Es wird kaum jemanden überraschen, dass die Hamburger Sozialdemokratie nicht als Verteidigerin der Wohlfahrtsstaatlichkeit gegen die privatwirtschaftliche Aneignung der Stadt auftritt. Bereits im Jahr 1983 hatte der damalige Hamburger Bürgermeister und Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi das „Unternehmen Hamburg“ ausgerufen und die Stadt zur Marke gemacht, wie es Christoph Twickel in seinem nach wie vor lesenswerten Gentrifidingsbums beschreibt (kauft mehr Nautilus-Bücher!). Gerade diese Politik und damit die Privatisierung der Stadt(-entwicklung) als Ort der Kapitalakkumulation geriet jedoch im Herbst 2023 in die Krise. Der Elbtower ist – neben anderen innerstädtischen Brachflächen – deren sichtbarstes Zeichen. Die Pleite der von René Benko gegründeten Signa Holding führte indes nicht nur zum Baustopp zuvor gerühmter Prestigebauten, sondern auch zu Zweifeln, ob Investor:innen für die Gestaltung des öffentlichen Raumes verantwortlich sein sollten. Letztlich geriet die gesamte Erzählung, der neue Geist des Kapitalismus, ins Wanken: René Benko, einst zur Lichtgestalt kreativen Unternehmertums hochgeschrieben, ist ein Betrüger.
Das neue Antlitz der neoliberalen Stadt? Dieses Signa-Projekt am Gänsemarkt liegt seit längerer Zeit brach. Foto: privat.
Das seit Wochen zu vernehmende überschwängliche Lob des begrünten Bunkers dient insofern auch zur Ehrenrettung der neoliberalen Stadt und seiner Unternehmer:innen. Etwa war Andreas Dressel, Finanzsenator und Sozialdemokrat, bei der Eröffnungsfeier des grünen Bunkers „geflasht“. Er „lobte den Bauherren überschwänglich, der das gesamte Projekt“, wie die Hamburger Morgenpost schreibt, „ohne einen Euro öffentlichen Geldes durchzog.“ Gerettet ist damit offensichtlich die Idee der neoliberalen Stadt; einen öffentlichen Park gab es dafür jedoch nicht. Vor allem die Anwohner:innen profitieren nicht von den Früchten, die in den neuen Gärten des Kapitalismus wachsen – sie dürfen dort ja nicht einmal einen Apfel essen.
Johannes Radczinski, August 2024
Der Autor genoss beim Verfassen dieses Artikels alle Annehmlichkeiten eines öffentlichen Parks (u.a. Sitzgelegenheiten, mitgebrachte Getränke, Zigaretten) in Sichtweite des begrünten Bunkers. Auf Untiefen blickte er bereits auf andere, in Schieflage befindliche Orte der Hamburger Stadtentwicklung wie das Bismarckdenkmal oder auch die Rindermarkthalle.
[1] Dass die sogenannte Rindermarkthalle in Nachbarschaft des Bunkers, die durch die Freilegung ihrer Backsteinfassade vor rund zehn Jahren zu einem besonderen, da authentischen und geschichtsträchtigem Ort vermarktet wurde, nun mit dem grünen Bunker auf ihrer Webseite wirbt, ist kein Zufall.
Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg
Die deutsche Geschichte ist für radikal rechte Parteien ein zentrales Agitationsfeld. Auch die Hamburger AfD verbreitet einerseits immer wieder klassisch revisionistische Thesen, die vor allem den Holocaust und die Kolonialgeschichte umdeuten. Vor allem aber vertritt sie einen nostalgischen Nationalismus, der für die eigene politische Agenda durch gezieltes Auswählen und Verschweigen Mythen über die deutsche Vergangenheit entwirft.
Bezugspunkt des rechten Revisionismus: Der erste Reichskanzler und Sozialistenjäger Otto von Bismarck. Das deutschlandweit größte Denkmal für ihn steht auf St. Pauli. Foto: Marco Hosemann
Das Verhältnis zur deutschen Vergangenheit ist die zentrale Eintrittskarte in den politischen Diskurs der BRD. Offene Holocaustleugnung oder ‑relativierung sind nicht nur strafbar, sondern auch politisch äußerst schädlich. Bei der populistischen, als Verteidigerin der Demokratie auftretenden AfD spielen sie daher auch in Hamburg nur eine untergeordnete Rolle. Dennoch wird immer wieder erkennbar, dass es sich hier um strategische Zurückhaltung handelt.
Offener Revisionismus
Bekannt sind etwa NS-Relativierungen des Hamburger AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Baumann, frühere revisionistische Kommentare des derzeitigen Hamburger AfD-Pressesprechers Robert Offermann und der Verdacht auf antisemitische Aussagen eines Mitarbeiters der Bürgerschaftsfraktion. Am meisten Aufsehen erregte wohl der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD in der Bürgerschaft, Alexander Wolf. 2017 wurde bekannt, dass er 1994 eine Sammlung von NS-Liedern unter dem Titel „Schlachtruf“ herausgab, in deren Vorbemerkungen er mit Blick auf die Kapitulation Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg zu einem „entschlossenen ‚Nie wieder!’“ aufrief.
Überhaupt, Alexander Wolf: Er ist in der Bürgerschaftsfraktion der Mann für die provokanten historischen Thesen. So behauptete er etwa im März 2023 in der Bürgerschaft, die Nazis hätten sich „keineswegs als rechts, sondern bewusst als Sozialisten“ verstanden. Die DDR und den NS-Staat parallelisierte er als „Diktaturen“, um sogleich zu seinem eigentlichen Anliegen zu kommen, nämlich der Lüge, auch der heutige Kampf gegen Rechts sei wieder ähnlich eine ähnliche „Freiheitseinschränkung“ und „Ausgrenzung“.
„Vogelschiss“ als Programm: der nostalgische Nationalismus
Diese offenen Relativierungen sind aber die Ausnahme. Die wirkliche geschichtspolitische Strategie der Hamburger AfD besteht darin, die Gaulandsche Rede vom „Vogelschiss“ in die Praxis umzusetzen. In den Beiträgen der AfD-Abgeordneten findet sich kaum eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oder mit der Kolonialgeschichte. Und wenn diese Themen berührt werden, dann geht es stets darum, für die radikal rechte Politik nostalgisch-nationalistische, positive Ankerpunkte in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu finden.
Historische Würdigung fordert die AfD etwa für folgende Gruppen: die Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg („Höhepunkt des deutschen Widerstands“), die Opfer der alliierten Bombardierung Hamburgs im Juli 1943 („Kriegsverbrechen“), die Aufständigen vom 17. Juni 1953 in der DDR („identitätsstiftendes Datum“) sowie für die an der Grenzen zwischen DDR und BRD Ermordeten und den Mauerbau 1961 („Schicksalsdatum der deutschen Nation“).
Und die im Jahr 2020 aufgekommenen Rufe nach einem Denkmal für die Leistungen der sogenannten türkischen „Gastarbeiter“ konterte Wolf im November 2021 mit der Forderung, stattdessen ein Denkmal für „Trümmerfrauen“ zu schaffen.
Das Kaiserreich soll rechtsradikale Herzen wärmen
Neben den deutschen Opfern alliierter Bomben und kommunistischer SED-Herrschaft sowie patriotischen konservativen Generälen steht vor allem das Deutsche Kaiserreich im Zentrum der AfD-Geschichtspolitik. Eine Folge des Podcasts „(Un-)Erhört!“ der Hamburger AfD-Fraktion vom Januar 2021 zum 150. Jahrestag der Reichsgründung 1871 illustriert das.
Zum eingangs gespielten „Heil dir im Siegerkranz“ spricht Wolf von einem „der glücklichsten Momente der deutschen Geschichte“. Heutige Politiker:innen würden sich jedoch der Erinnerung daran verweigern, sie hätten ein „gestörtes Verhältnis zur „eigenen Geschichte“. So hätte die „über tausendjährige Geschichte Deutschlands“ zwar „problematische Seiten“, doch sei sie eben auch „mehr“. Ab dort verschwindet der Nationalsozialismus aus dieser Erzählung und das heutige Deutschland wird schlicht in Kontinuität zum Kaiserreich gesetzt. Das ist eine ganz bewusste Konstruktion einer Tradition, die nur über Auslassung funktioniert. An die „positiven Momente der Geschichte“ soll erinnert werden, so Wolf weiter, „weil das unsere Identität prägt. Eine Nation lebt nicht nur von der Ratio und von der Verfassung, sondern auch von einem positiven Gemeinschaftsgefühl.“ Nur daraus könnten „Solidarität und Miteinander erwachsen.“
Gereinigt werden soll die deutsche Geschichte also nicht, indem der Holocaust geleugnet wird. Der „Schuldkult“-Vorwurf wird hier subtiler formuliert: Der bedingten Anerkennung der Verbrechen in den 12 Jahren NS-Herrschaft wird eine saubere Version der vermeintlich anderen 988 Jahre deutscher Geschichte und deutschen Glanzes entgegengestellt.
Bismarck, Begründer des deutschen Kolonialreiches, strahlt frisch renoviert.Foto: Marco Hosemann
Mit Bismarck gegen die Wahrheit
Diese Strategie zeigt sich auch an der Position der AfD zur Debatte um das Otto von Bismarck-Denkmal auf St. Pauli. In einer Folge des besagten Podcasts vom Juli 2021 zeichnet Wolf den ersten Reichskanzler als eine positive Figur der deutschen Geschichte. Die geforderte Neu-Kontextualisierung des Denkmals sei selbst Geschichtsrevisionismus, schließlich würde Bismarck dabei „aus dem Blickwinkel eines Antifanten und einer Feministin“ gesehen. Die sogenannte Westafrika-Konferenz 1884/85 in Berlin, zu der Bismarck einlud und bei der die europäischen Großmächte den afrikanischen Kontinent als Kolonialbesitz unter sich aufteilten, verschweigt Wolf dabei nicht. Aber er stellt sie als rein friedensstiftende Maßnahme zur Sicherung der innereuropäischen Ordnung dar. Das funktioniert wiederum nur durch Ausblenden der Folgen für die kolonisierten Bevölkerungen außerhalb Europas. Aber mehr noch: Kolonialismus ist für Wolf „nicht per se von vornherein schlecht“. Denn es sei „viel Positives geleistet worden, Infrastruktur, Gesundheit etc.“ Es dürfe eben nicht „einseitig die negative Brille“ aufgesetzt werden, wie es bei der Black Lives Matter-Bewegung geschehen sei. So hält Wolf dann auch die gängige Forschungsposition, dass die Deutschen 1904/5 in Südwestfrika einen Völkermord begangen haben, für „absurd“, ja „Quatsch“. Man sieht: Obwohl nostalgischer Nationalismus die Kernstrategie der AfD Hamburg ausmacht, ist der Schritt zu offenem Revisionismus schnell gemacht.
Am 19.01. eröffnete im Hamburger Rathaus eine Sonderausstellung über »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute«. Unter den Macher:innen sind auch Betroffene und Angehörige von Opfern rechter Gewalt. Die Ausstellung bietet einen sehr guten Einstieg in die lokale Geschichte rechtsextremer Gewalt, ringt aber mit einigen Schwierigkeiten.
Ausschnitt des Ausstellungs-Plakats. Bild: Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte
Im großen Festsaal des Rathauses wurde gestern, am 19.01.2024, die neue Sonderausstellung »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute« eröffnet. Wie schon seit über 20 Jahren präsentiert die Bürgerschaft wieder anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar eine neue temporäre historische Ausstellung. Ungewöhnlich ist dieses Mal die große Aktualität. Denn die neue Ausstellung beleuchtet rechte Gewalt nach dem Zweiten Weltkrieg – bis heute. Verantwortet wird sie dabei wie immer von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Die Ausstellung eröffnet mit den persönlichen Geschichten von fünf Todesopfern rechter Gewalt in Hamburg:
Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân (1980; Nazi-Brandanschlag auf Flüchtlingsunterkunft in der Halskestraße), Mehmet Kaymakçı (1985; erschlagen von Skinheads im Kiwittsmoorpark), Ramazan Avcı (1985; erschlagen von Skinheads an der S‑Bahn-Station »Landwehr«) und Süleyman Taşköprü (2001; erschossen in der Schützenstraße von Terroristen des »NSU«).
Auch das letzte Wort haben die Betroffenen. In einer Videostation werden Ausschnitte aus Interviews mit Überlebenden rechter Gewalt und Angehörigen von Opfern gezeigt, die unter anderem von dem jahrzehntelangen Desinteresse von Staat und Gesellschaft und sogar Gedenkinitiativen an ihren Erfahrungen und Perspektiven berichten. Aber nicht nur in der Ausstellung kommen die Betroffenen zu Wort, auch in der Entstehung waren sie beteiligt. Im Gespräch mit Untiefen sagt Lennart Onken (KZ-Gedenkstätte Neuengamme), einer der Kurator:innen: »Insbesondere für die ersten fünf Tafeln haben wir eng mit Initiativen und Angehörigen zusammengearbeitet, haben Texte und Bildauswahl intensiv besprochen. Das war ein sehr spannender Prozess, bei dem auch wir sehr viel gelernt haben.«
İbrahim Arslan: »Ich führe das zurück auf unseren Widerstand und unsere Kämpfe«
Einer der Mitgestalter, der Aktivist İbrahim Arslan (Überlebender des rassistischen Brandanschlags 1992 in Mölln) betont gegenüber Untiefen: »Wir haben die gesamte Ausstellung gemeinsam konzipiert, haben die Vernetzung der Betroffenen und das Empowerment gemacht und unsere Expertise eingebracht.« Er findet die Ausstellung gelungen, denn: »Die Betroffenen sind zufrieden. Ihre Wünsche und Bedürfnisse stehen im Vordergrund. Das ist relativ neu, dass Antifaschist:innen und Antiras und Institutionen uns einbeziehen. Ich führe das zurück auf unseren Widerstand und unsere Kämpfe. Wir machen hervorragende Arbeit und langsam werden unsere Interventionen auch staatlich anerkannt.«
Die Ausstellung präsentiert auf über dreißig Tafeln die jeweils wichtigsten und prägnantesten Fälle rechter Gewalt für die Nachkriegsjahrzehnte, aber auch Widerstandsbewegungen finden Erwähnung. So bietet sie einen sehr guten Überblick über die Wellen rechter Gewalt – und eignet sich gut auch für jüngere Antifaschist:innen, die vielleicht das Gefühl haben, diese Geschichte Hamburgs bislang nur bruchstückhaft zu kennen. Aber auch für schon länger Interessierte gibt es neue Abgründe und bislang unbekannte Opfer zu entdecken, selbst für den Historiker Onken von der KZ-Gedenkstätte: »Besonders krass finde ich den Fall des Zeitungsboten Rudi M., der 1988 in Eimsbüttel von einem Skinhead erstochen wurde, weil er ihm angeblich homosexuelle Avancen gemacht hat. Ich hatte noch nie vorher von Rudi M. gehört. Sein Fall ist total unbekannt.«
Nicht viel bekannter dürfte das Schicksal des thailändischen Ingenieurs Prayong Rungjangs sein, der 1977 an den Folgen eines Neonazi-Übergriffs in der Talstraße starb. Hier hält lediglich sein Sohn, der Video- und Objektkünstler Arin Rungjang, die Erinnerung wach.
Der Gedenkstein für Süleyman Tasköprü in der Schützenstraße in Bahrenfeld. Foto: Kati Jurischka, Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte
Was tun mit den Tätern?
Auch auf der Täter:innenseite liefert die Ausstellung einen Überblick über die Organisationen und zentralen Personen. Nazi-Haufen wie die »Hamburger Bruderschaft«, »Aktionsfront Nationaler Sozialisten«, die »Wehrwolf-Gruppe«, die »Deutschen Aktionsgruppen« und natürlich der »NSU« werden vorgestellt. Dabei verzichten die Kurator:innen auf persönliche Anekdoten und letztlich auch auf Thesen dazu, warum bestimmte Milieus und Personen erstens für rechtsextreme Ideologie empfänglich sind und zweitens den Schritt zur Gewalt gehen. Lediglich für die unmittelbare Gegenwart verweist die Ausstellung darauf, dass die Zustimmungswerte der AfD mit Beginn des Krieges gegen die Ukraine und der zunehmenden Inflation gestiegen seien. Die theoretische Zurückhaltung ist vor dem Hintergrund der Fokussierung auf die Opfer und aus Platzgründen zwar verständlich, erschwert es aber, Schlussfolgerungen für die Gegenwart zu ziehen. Das Video-Interview am Ende der Ausstellung schließt mit Worten Thời Trọng Ngũs, Überlebender des Anschlags in der Halskestraße von 1980 und Aktiver der »Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân«: »Wie kann man weitere Taten vermeiden? Das ist die Frage.« Die Ausstellung antwortet auf ihren letzten Tafeln: durch antifaschistischen und migrantischen Widerstand sowie durch breites gesellschaftliches Engagement und staatliche Maßnahmen gegen Rechts. Das ist natürlich unerlässlich. Aber bleibt der antifaschistische Widerstand nicht im Modus des ewigen Reagierens, wenn er über kein Konzept der gesellschaftlichen Hintergründe rechter Gewalt verfügt? Wenn er nicht nach der psychischen und ökonomischen Funktionalität von Ressentiment und Gewalt fragt?
İbrahim Arslan hebt im Gespräch auch hier die Bedeutung der Betroffenenfokussierung hervor: »Migrantisch situiertes Wissen hat schon in den 1980ern rassistisch motivierte Taten vorhergesagt.« Seiner Wahrnehmung nach konnte man sich auch bei dieser Ausstellung nicht von »einer gewissen Täterfokussierung« befreien. Das Interesse an den Täter:innen und den Tathintergründen sei zwar verständlich, grade jetzt angesichts der ans Licht gekommenen Deportations-Pläne im Umfeld der AfD. Aber das führe eben immer wieder zu der Vorstellung, man habe es nun mit etwas Neuem zu tun. Stattdessen sei klar: »Die AfD wird von Neonazis getragen. Diese Pläne gibt es schon seit der Gründung der AfD.« Und würde man Betroffenen zuhören, so Arslan weiter, wüsste man, dass sie auch darauf schon lange hinweisen.
Was ist »rechte Gewalt«?
Eine konzeptuelle Unklarheit der Ausstellung ist derweil deutlich spürbar. »Rechtsextremes Denken« wird zunächst breit gefasst, im Sinne einer allgemeinen, gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit: »Grundlegend ist die Auffassung von einer generellen Ungleichwertigkeit der Menschen.« Laut Lennart Onken hat das Ausstellungsteam in dieser Perspektive allein durch eigene Recherchen eine Liste von 500 dokumentierten Fällen zusammengestellt, die von Beleidigungen bis zum Mord reichen. Ein parallel laufendes Forschungsprojekt der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg (FZH), der KZ-Gedenkstätte sowie der Landeszentrale für politische Bildung unter dem Titel »HAMREA – Hamburg rechtsaußen« hat laut Onken für Hamburg und das Umland seit 1945 schon »über 1000 Fälle« zusammengetragen – mit einer vermutlich deutlich höheren Dunkelziffer. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts werden fortlaufend sehr anschaulich auf der neuen Website veröffentlicht: https://rechtegewalt-hamburg.de/ Selbstverständlich können aber 1000 oder auch nur 500 Fälle nicht in einer Ausstellung präsentiert werden. Angesichts der Fülle rechter Taten fokussieren die Kurator:innen notwendig auf bestimmte Opfer- und Tätergruppen. Laut Onken haben die Kurator:innen versucht, für jedes Nachkriegsjahrzehnt die zentralen Fälle darzustellen: »Wir haben uns gefragt: Was ist jeweils das bestimmende Thema, das bestimmende Feindbild der extremen Rechten gewesen?« Nur die sieben dokumentierten Todesopfer rechter Gewalt wurden ohne solche Gewichtung aufgenommen. Darunter ist auch der Fall des Bauingenieurs Neşet Danış, der 1977 in Norderstedt bei einem Überfall von türkischen Rechten aus dem Umfeld der »Grauen Wölfe« lebensgefährlich verletzt wurde und später seinen Verletzungen erlag. Das wirft die Frage auf: Zählen solche nicht-deutschen extremistischen Gewalttaten zu »rechter Gewalt«? Und wie ist es mit islamistischer oder israelfeindlicher Gewalt, die ja auch antisemitisch motiviert ist? In der Ausstellung tauchen etwa von den späten 1970ern bis in die 2020er keine antisemitischen Gewalttaten auf.
Onken erläutert den Umgang des Kurator:innen-Teams so: »Wir haben recht früh gesagt, dass wir uns auf die biodeutsche extrem rechte Szene fokussieren.« Und für die wäre der Antisemitismus zwar in den Nachkriegsjahren sehr wichtig gewesen, in den 1980ern habe sich das Feindbild allerdings deutlich auf Migrant:innen verlagert. »Beim Antisemitismus kommt noch hinzu, dass es kein Alleinstellungsmerkmal der extremen Rechten ist, sondern da unterschiedliche Gruppe zur Tat schreiten.« Bei der Fokussierung habe auch die Sorge eine Rolle gespielt, sich durch weitere Themen in Diskussionen zu verstricken, die von der Kontinuität deutscher extrem rechter Gewalt ablenken könnten. Onken ergänzt allerdings: »Grade im Nachgang des 7. Oktober 2023 ist fraglich, ob das so auch in Zukunft weiter klug und machbar ist. Mit Blick auf den Islamismus würde es aus meiner Sicht Sinn machen, die extreme Rechte und den Islamismus enger zusammen zu denken. Denn beide teilen die Modernitätsfeindschaft und den virulenten Antisemitismus.«
Die Fokussierung schafft es aber, zumindest für die deutsche extrem rechte Gewalt, einen guten Überblick über Opfer, Täter und Kontinuitäten zu geben. Vielleicht kann sie den Wunsch der Mehrheitsgesellschaft unterlaufen, in den kommenden rechten Mobilisierungen und den staatlichen Reaktionen wieder eigentlich doch längst Überwundenes, Ewiggestriges aus einer ganz anderen Zeit zu sehen. Gülüstan Avcı, die Witwe des 1983 ermordeten Ramazan Avcı, beklagte bei der Eröffnung der Ausstellung am Freitag unter anderem, dass in Hamburg bis heute kein Untersuchungsausschuss zum Mord des „NSU“ an Süleyman Taşköprü eingerichtet wurde. Auch das kann man im Gedächtnis behalten, wenn man dieser Tage mit der »Mitte« und den regierenden Parteien gegen Rechts demonstriert.
Felix Jacob
Die Ausstellung »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute« ist vom 19.01.2024 bis zum 18.02.2024 kostenlos in der Rathausdiele zu sehen. Öffnungszeiten:
Die Website des Forschungsprojektes »Hamburg rechtsaußen. Rechtsextreme Gewalt- und Aktionsformen in, mit und gegen die städtische Gesellschaft« ist unter https://rechtegewalt-hamburg.de/ zu erreichen.
Im August 1977 eröffnete das erste der autonomen Hamburger Frauenhäuser. Seitdem sind sie unerlässlich für den Schutz vor Gewalt. Doch die Plätze sind rar und die Finanzierung von politischem Wohlwollen abhängig. Aus einer feministischen Praxis sind prekäre Institutionen geworden. Anlässlich des Internationen Tags gegen Gewalt an Frauen fragt unsere Autorin eine Mitarbeiterin: Wie geht es den Hamburger Frauenhäusern heute?
Die Forderung bleibt bestehen. Transparent auf einer »One Billion-Rising«-Aktion gegen Gewalt an Frauen 2014 in Hamburg. Foto: www.sommer-in-hamburg.de Lizenz: CC BY-SA 2.0
Für die Frauenbewegung der 1970er-Jahre war die Organisierung gegen Gewalt gegen Frauen zentraler Bestandteil der politischen Arbeit. Gewalt in der Beziehung galt zuvor lange als »Einzelschicksal«. Die Frauen der zweiten Welle des Feminismus thematisierten diese männliche Gewalt durch Selbsterfahrungsgruppen und Organisierung als strukturelles Problem von Frauen im Patriarchat. Auch in Hamburg organisierten sich im Jahr 1976 Frauen, um gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu kämpfen. Sie gründeten den Verein Frauen helfen Frauen e.V. und erschufen innerhalb eines Jahres das erste autonome Hamburger Frauenhaus. Das Selbstverständnis damals: Das Frauenhaus ist ein Teil der Frauenbewegung und soll unabhängig sein – alle Frauen entscheiden gemeinsam, was passieren soll.
Da die Finanzierung noch nicht staatlich abgesichert war, mussten die Frauen zunächst alles selbst machen – renovieren, Möbel organisieren, Spenden sammeln, das Haus schützen. So erinnert sich auch eine Zeitzeugin in der filmischen Dokumentation »Juli 76 – Das Private ist Politisch« an die ersten Jahre des Hauses: »Selbstorganisation. Selbstbestimmung. Das ist auch eine Utopie gewesen.« Das Frauenhaus selbst war feministische Praxis.
Selbstorganisation und Professionalisierung
Die Selbstorganisation stieß jedoch auch an zeitliche, finanzielle und emotionale Grenzen, wie die ehemalige Redakteurin der Hamburger Frauenzeitung Dr. Andrea Lassalle in einer Chronik der Hamburger Frauenhäuser im digitalen deutschen Frauenarchiv nachzeichnet. Innerhalb der Frauenbewegung wurden daher Debatten um die Organisierung und Struktur der Frauenhäuser geführt, die eng verzahnt waren mit den damaligen politischen und theoretischen Analysen um (unbezahlte) Sorgearbeit, Hierarchiefreiheit und Unabhängigkeit.
Mittlerweile wurden Frauenhäuser durch bezahlte Mitarbeiterinnen aus der Sozialen Arbeit professionalisiert. Dadurch entstand ein Widerspruch zwischen Selbstwirksamkeit und Professionalität, der im Alltag der Mitarbeiterinnen und Bewohnerinnen bis heute eine Rolle spielt. Im Gespräch mit Untiefen berichtet eine Mitarbeiterin eines Frauenhauses in der Metropolregion Hamburg, die Professionalisierung sei grundsätzlich der anspruchsvollen Arbeit mit Frauen und Kindern aus akuten Gewaltsituationen angemessen. In vielen autonomen Frauenhäusern übernehmen allerdings auch die Bewohnerinnen selbst noch Teile der täglichen Arbeit, beispielsweise die nächtliche Aufnahme.
In Hamburg ist dafür seit 2016 die 24/7, die zentrale Notaufnahme für die Hamburger Frauenhäuser, zuständig. Die Mitarbeiterinnen nehmen die akut betroffenen Frauen auf und vermitteln sie dann an Häuser weiter. Dies entlaste die Bewohnerinnen von den nächtlichen und wöchentlichen Notdiensten, so die Mitarbeiterin. Gleichwohl könne es den Bewohnerinnen auch Stärke zurückgeben, einen Teil beizutragen und andere Frauen zu unterstützen. Allerdings übernehmen die Bewohnerinnen diese Aufgaben nicht in erster Linie aufgrund dieser ermächtigenden Wirkung, sondern schlichtweg, weil das Personal fehle.
Kein Frauenhaus, sondern der Sitz von Frauen helfen Frauen e.V., der anderen Trägervereine der autonomen Frauenhäuser sowie der Koordinationsstelle der 24/7 in der Amandastraße. Foto: Dirtsc Lizenz: CC BY-SA 3.0
Die befürchtete Hierarchie zwischen professionalisierten und ehrenamtlich arbeitenden Frauen in den Häusern konnte trotz basisdemokratischer Struktur nicht vermieden werden. Da die Frauenhäuser mittlerweile öffentlich finanziert und tariflich gebunden sind, werden auch die Anforderungen an die Qualifikationen der Mitarbeiterinnen höher – und schließen damit viele Frauen, auch ehemalige Bewohnerinnen, aus. Doch gerade diese Frauen bringen oft sowohl eigene Erfahrung mit partnerschaftlicher Gewalt und dem Leben im Frauenhaus mit als auch Sprachkenntnisse, die dem Leben im Haus zuträglich sein könnten. Die geringe Anerkennung ausländischer Abschlüsse in der Sozialen Arbeit und die strukturelle Ungleichheit im Bildungssystem in Deutschland tragen dazu bei, dass die Mitarbeit im Frauenhaus nicht allen gleichermaßen zugänglich ist – und die Teams ihrem Anspruch an Diversität nicht immer gerecht werden können.
Feministische Debatten in der Frauenhauspraxis
Mit dem Auftreten antirassistischer Diskurse an den Universitäten und in der feministischen Szene entbrannten auch innerhalb der Frauenhäuser Debatten über Rassismus und Diskriminierung, im Zuge derer mit Quotierungen in den Teams und bei den Aufnahmen experimentiert wurde. Weniger diskutiert wurde hingegen jahrelang das hot topic der aktuellen feministischen Debatten: Was ist eine Frau? Bis vor wenigen Jahren, so eine Mitarbeiterin, war die Diskussion darum, was Geschlecht eigentlich ist, in Frauenhäuser nicht anschlussfähig. Dies ändert sich jedoch derzeit, insbesondere durch jüngere Kolleginnen.
Die etwa in der Debatte um das »Selbstbestimmungsgesetz« geäußerte Befürchtung einiger Feministinnen, Frauenschutzräume könnten unterlaufen werden, wenn Geschlecht an eine empfundene Identität statt an körperliche Merkmale geknüpft ist, erscheint angesichts des von der Mitarbeiterin beschriebenen Frauenhausalltags weniger eine praktische als vielmehr eine theoretische Frage zu sein: »Die Frau kommt – die kann mir auch irgendwas erzählen, wer sie ist – sie muss mir auch nicht ihren Perso zeigen. So arbeiten wir nicht. Die Frau erzählt, und wenn sie von häuslicher Gewalt betroffen ist, dann wird sie aufgenommen.« Der rechtliche Personenstand spielt in der Praxis keine Rolle. Jede Aufnahme ist außerdem eine Einzelfallentscheidung und berücksichtigt die Erfahrungen der Bewohnerinnen. Und: nicht jede sei für diese Art des Zusammenwohnens geeignet, auch das spielt bei den Aufnahmegesprächen eine Rolle.
In Hamburg wurde zudem vor zwei Jahren das 6. Frauenhaus gegründet, das sich explizit als Schutzraum für trans Frauen positioniert und die seit Jahren gängige Praxis untermauert. Viel wichtiger als die theoretische Definition von Geschlecht erscheint jedoch die Frage, ob in den Häusern überhaupt genug Plätze vorhanden sind. Zu Beginn der Pandemie fehlten in Hamburg rund 200 Frauenhausplätze.
Zu wenige Plätze, zu wenig Geld, zu wenig Personal
Obwohl aktuelle innerfeministische Debatten durchaus zum Thema werden, nimmt das alltägliche Rotieren, auch aufgrund fehlenden Personals, in den Häusern einen Großteil der Zeit ein. Die Art und Weise der öffentlichen Finanzierung unterscheidet sich je nach Bundesland und Gemeinde. Während in Hamburg, Schleswig-Holstein und Berlin die autonomen Frauenhäuser durch eine Pauschale pro Platz im Haus finanziert werden, ist die Finanzierung in anderen Bundesländern direkt an die betroffene Frau gekoppelt. Da sie in einigen Ländern über das Sozialhilfegesetz abgewickelt wird, sind Frauen mit eigenem Einkommen, Studentinnen und Frauen mit unsicherem Aufenthaltsstatus davon ausgeschlossen. Diese Frauen werden, wenn möglich, in Ländern mit Pauschalfinanzierung untergebracht, da sie die Plätze sonst selbst zahlen müssten – vorausgesetzt, Aufenthaltsbestimmungen oder der Job lassen einen Umzug zu und es sind freie Plätze vorhanden. Die Zentrale Informationsstelle der autonomen Frauenhäusern (ZIF) fordert dementsprechend eine bundesweite einzelfallunabhängige Finanzierung der Frauenhäuser.
Doch auch die pauschale Finanzierung bringt Schwierigkeiten mit sich. Der Erhalt sowie die Ausweitung der Plätze sind vom Wohlwollen der jeweiligen Landesregierungen abhängig. Um einer drohenden Schließung zu entgehen, wurden im Jahr 2006 das 1. und das 3. Autonome Frauenhaus zusammengelegt. Der CDU-geführte Senat hatte Kürzungen beschlossen, da die Versorgungslage in Hamburg besser sei als in anderen Großstädten.
Feministische Perfomance »Der Vergewaltiger bist du« des Kollektivs Las Tesis aus Argentinien, die mittlerweile auch in Hamburg regelmäßig zum 25. November im Rahmen von Demonstrationen aufgeführt wird. Foto: Paulo Slachevsky Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0
Männergewalt und Femizide
Laut behördlicher Auskünfte wurden in Hamburg im laufenden Jahr insgesamt 16 Frauen getötet, sechs davon von ihrem (Ex-)Partner, bei den zehn anderen ist die Einordnung unklar. Die Zahl der Femizide, also der Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts, ist in jedem Fall alarmierend. Allerdings ist Femizid im deutschen Recht kein eigener Tatbestand, er wird unter Partnerschaftsgewalt subsumiert. Studien und genaue Fallzahlen zu Femiziden fehlen entsprechend im deutschsprachigen Raum weitgehend. Die frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft Cansu Özdemir kritisierte daher jüngst den Senat für seine Weigerung, eine Untersuchung zu Femiziden in Hamburg als »nötige wissenschaftliche Basis für ein zielgerichtetes und wirkungsvolles Präventionskonzept« in Auftrag zu geben.
Bewohnerinnen und ehemaligen Bewohnerinnen von Frauenhäusern steht die Gefahr, Opfer eines Femizids zu werden, besonders deutlich vor Augen. 2018 wurde die 42-Jährige Juliet H. von ihrem Expartner ermordet. Nachdem sie in einem Hamburger Frauenhaus Schutz gesucht hatte, zog sie mit ihren Kindern in eine eigene Wohnung, wo sie von ihrem Exmann getötet wurde. Doch nicht nur für die Bewohnerinnen sind solche Fälle alarmierend. Es setzt auch die Mitarbeiterinnen enorm unter Druck, die mit knappen Ressourcen und staatlichen Hürden kämpfen, um den Frauen Schutz und eine Perspektive zu bieten.
Väterrechte stehen über dem Schutz von Frauen und ihren Kindern. Die Veränderungen im Familienrecht der letzten Jahre machen die Situation von Frauen aus Gewaltbeziehungen gefährlicher. Die Zeit unmittelbar nach der Trennung vom gewalttätigen Partner birgt das höchste Risiko, Opfer eines (versuchten) Femizids zu werden. Umso wichtiger ist dann ein unkomplizierter Zugang zu einem Frauenhaus. Dieser Schutz wird allerdings durch das familienrechtlich angestrebte Wechselmodell untergraben.
Das von der jetzigen Bundesregierung in den Mittelpunkt von Sorge- und Umgangsrecht gestellte Wechselmodell soll eigentlich zu einer gleichberechtigten Aufteilung der Erziehung und Verantwortung für gemeinsame Kinder führen. Es bedarf jedoch einer Kommunikation auf Augenhöhe, um die nötigen Absprachen für dieses Arrangement zu treffen. Übt der Vater Gewalt über die Mutter aus, ist diese Augenhöhe offensichtlich nicht gegeben. Aus der Praxis berichtet die Mitarbeiterin, dass dem Vater durch das Umgangsrecht in diesen Fällen ermöglicht wird, weiterhin Kontrolle und Gewalt auszuüben. Das Wechselmodell steht deshalb bei Feministinnen und Initiativen für Alleinerziehende Mütter in der Kritik.
Gerichte ordnen sogar bei Müttern, die im Frauenhaus leben, das Wechselmodell an. Die Mitarbeiterin des Frauenhauses beschreibt: »Wenn die [Frau] Kinder hat, geht’s sofort los mit Kontakt zu Jugendamt, Kontakt zu Anwälten, dann wird irgendwer versuchen sofort das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu beantragen, es werden Sofortumgänge in die Wege geleitet mit den gewalttätigen Vätern – und das ist krass.«
Die Gerichte gingen ohne weiteres davon aus, dass die Gewalt durch den Auszug der Mutter aufgehört habe und also bei Verfahren zum Sorge- und Umgangsrecht nicht berücksichtigt zu werden brauche. Die Mütter müssten daher irgendwie Vorkehrungen treffen, um dem gewalttätigen Mann die Kinder zu übergeben, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Durch Personalmangel ist es den Mitarbeiterinnen in den Frauenhäusern oft nicht möglich, Frauen zu diesen Übergaben zu begleiten.
Nach 45 Jahren sind autonome Frauenhäuser also zwar anerkannte Institutionen zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Aber ihre Existenz bleibt prekär und die Situation der Frauen selbst wird komplexer. Die Mitarbeiterin und ihre Kolleginnen erwarten vom Senat und der Bundesregierung eine Erhöhung der Anzahl der Plätze und eine bundesweite pauschale Finanzierung. Im Sorge- und Umgangsrecht müsse das Personal geschult werden, um den Gewaltschutz konsequenter berücksichtigen. Nicht die Frauen sollten im Haus Schutz suchen und dann um ihre Kinder kämpfen müssen, sondern die Männer sollten beweisen, dass sie nicht gefährlich sind, schließt die Mitarbeiterin.
Lea Remmers
Die Autorin schrieb für Untiefen bereits über die Herbertstraße als Symbol männlicher Herrschaft.