»Die Gewalt muss endlich gesellschaftlich benannt und moralisch verurteilt werden«

»Die Gewalt muss endlich gesellschaftlich benannt und moralisch verurteilt werden«

Allein 2023 gab es in Ham­burg min­des­tens elf Femi­ni­zide. Offi­zi­elle Sta­tis­ti­ken über diese Morde an Frauen oder weib­lich gele­se­nen Per­so­nen gibt es aller­dings nicht. Für eine öffent­li­che Reak­tion sorgt das Anti-Feminizid-Netzwerk Ham­burg, das für jede die­ser Gewalt­ta­ten eine Kund­ge­bung abhält und eine eigene Zäh­lung vor­nimmt. Untie­fen sprach mit Viola vom Netz­werk über ihre Ziele, die Zusam­men­ar­beit mit staat­li­chen und lin­ken Akteur:innen sowie die theo­re­ti­schen Bezüge des Netzwerks.

Eine der Kund­ge­bun­gen des Anti-Feminizid-Netzwerks auf dem Alma-Wartenberg-Platz. Foto: Anti-Feminizid-Netzwerk

Untie­fen: Warum braucht Ham­burg ein Anti-Feminizid-Netzwerk?

Viola: Es braucht das Netz­werk, weil es Tötun­gen von Frauen und weib­lich gele­se­nen Per­so­nen gibt und weil das Pro­blem von staat­li­cher Seite zu wenig ange­gan­gen wird. Man muss es ein­fach stär­ker benen­nen. Man muss es sicht­ba­rer machen. Die gegen­wär­ti­gen Gesetze rei­chen nicht aus und auch nicht die Schutz­struk­tu­ren durch Frau­en­häu­ser, weil es zu wenig Plätze gibt, aber natür­lich schät­zen wir deren Arbeit sehr. Wir hat­ten vor Kur­zem eine Soli-Aktion am Cam­pus der Uni­ver­si­tät Ham­burg und selbst dort kam oft die Frage: »Was? Das gibt es in Deutsch­land?!« Das spricht schon für sich. Des­halb braucht es das Netz­werk: Um das Pro­blem zu benen­nen, es braucht einen Namen.

Untie­fen: Wie ist das Netz­werk ent­stan­den? Also, wie seid ihr zu dem Thema gekommen?

Viola: Es ist vor einem Jahr ent­stan­den, im Okto­ber 2022, als offe­nes Netz­werk aus einem Zusam­men­schluss von ver­schie­de­nen femi­nis­ti­schen Grup­pen und Ein­zel­per­so­nen. Einen beson­de­ren Anlass zur Grün­dung gab es nicht. Es war eher ein Gespräch zwi­schen ver­schie­de­nen sehr akti­ven Femi­nis­tin­nen, die gesagt haben: »Es ­­reicht.« Jeden drit­ten Tag geschieht ein Femi­ni­zid in Deutsch­land, das ist Anlass genug. Mit dem Thema befasst sich sonst nie­mand, auch andere femi­nis­ti­sche Grup­pen nicht dezi­diert, was trau­rig ist.

Untie­fen: Ihr habt einen soge­nann­ten »Wider­stands­platz gegen Femi­ni­zide« am Alma-Wartenberg-Platz in Otten­sen aus­ge­ru­fen. Wie hat sich das ent­wi­ckelt und warum habt ihr euch genau für die­sen Platz entschieden?

Viola: Den Wider­stand­platz haben wir kurz nach unse­rer Grün­dung im Novem­ber 2022 aus­ge­ru­fen. Mit der Aus­wahl die­ses Ortes möch­ten wir sowohl die inter­na­tio­na­lis­ti­sche Aus­rich­tung deut­lich machen, die einige von uns haben, als auch an eine lokale femi­nis­ti­sche Tra­di­tion anschlie­ßen. Alma War­ten­berg wurde in der Zeit des Kai­ser­reichs in Otten­sen (Hol­stein) gebo­ren. Sie war SPD-Politikerin und vor allem Femi­nis­tin, die sich beson­ders im Bereich Mut­ter­schutz, Emp­fäng­nis­ver­hü­tung und für sexu­elle Auf­klä­rung ein­ge­setzt hat.

Aber: Im Netz­werk wird der Platz durch­aus ambi­va­lent gese­hen, nicht alle haben einen star­ken Bezug dazu. Für man­che im Netz­werk könnte es auch ein ande­rer Ort sein. Wich­tig ist ein­fach, dass wir Raum ein­neh­men und das Thema Femi­ni­zide sicht­bar machen. Wir wür­den da auch gerne noch mehr machen.

Untie­fen: Du sprichst an, dass es euch auch darum geht, Raum ein­zu­neh­men und Auf­merk­sam­keit für das Thema zu erzeu­gen. Seht ihr, dass ihr damit einen Effekt auf die Stadt und auf die Öffent­lich­keit habt?

Viola: Die Stadt und die Öffent­lich­keit sind zwei unter­schied­li­che Berei­che. Ins­ge­samt aber schon. Wir hat­ten gerade einen Stra­te­gie­tag und haben dort reflek­tiert, was alles bis­her pas­siert ist. Dafür, dass wir ein Netz­werk sind, in dem so viele unter­schied­li­che Grup­pen und Ein­zel­per­so­nen zusam­men­sit­zen, ist es schon enorm, wie­viel Öffent­lich­keit und Auf­merk­sam­keit wir bis­her her­stel­len konn­ten. Wir bekom­men viele Inter­view­an­fra­gen und zu unse­ren Kund­ge­bun­gen kom­men immer mehr Leute.

Was die Stadt betrifft: Wir sind zuneh­mend zu städ­ti­schen Betei­li­gungs­run­den ein­ge­la­den. Das sind Räume, in denen auch auto­nome Frau­en­häu­ser, Frau­en­be­ra­tungs­stel­len und andere Grup­pie­run­gen von städ­ti­scher, behörd­li­cher Seite mit drin­sit­zen. Da wer­den wir dann zum Bei­spiel ein­ge­la­den, um uns vor­zu­stel­len. Wir haben etwa am »Run­den Tisch Gewalt« teil­ge­nom­men und sind beim »Arbeits­kreis Gewalt« ein­ge­la­den. Es inter­es­siert sich natür­lich keine Par­tei außer Die Linke dafür. Das muss man ehr­lich sagen. Mit Cansu Özd­emir (Die Linke-Fraktionsvorsitzende in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft, Anm. Untie­fen) gewinnt man tat­säch­lich viel. Sie macht sehr viel mög­lich. Wenn über sie nicht regel­mä­ßig kleine Anfra­gen zum Sach­stand von Femi­ni­zi­den gestellt wer­den würde, sähe die Daten­lage noch sehr viel schlech­ter aus.

Deut­lich sicht­bar ist auch, dass die Presse nun ver­sucht, anders über das Thema zu schrei­ben. Wir ver­öf­fent­li­chen nach jedem Fall eine Pres­se­mit­tei­lung. Die bür­ger­li­che Presse, wie das Abend­blatt und die MoPo, ach­ten schon ver­stärkt auf sen­si­blere Spra­che und haben mitt­ler­weile den Begriff Femi­ni­zid oder Femi­zid über­nom­men. Wir müs­sen nicht mehr dar­auf hin­wei­sen, dass es eben ein Femi­ni­zid ist und sie es so benen­nen sol­len. Trotz­dem beob­ach­ten wir wei­ter­hin sehr unsens­bile und vor allem unin­for­mierte Bericht­erstat­tung. Das betrifft einer­seits Femi­ni­zide im Alter, aber auch gene­rell weni­ger pro­mi­nente For­men von Femi­ni­zi­den, wie z.B. Femi­ni­zide die von Rechts­extre­men, Kin­dern oder Enkeln began­gen wer­den. Da ins­be­son­dere bei Rechts­extre­men immer miso­gyne Motiv­la­gen zu beob­ach­ten sind, müs­sen auch diese Morde klar als Femi­ni­zid ein­ge­ord­net werden.

Wenn man eine Bewe­gung auf­baut, läuft es oft erst­mal sehr schlep­pend. Jetzt haben wir aber das Gefühl, dass rich­tig viel zurück­kommt. Uns war es immer wich­tig, mit den Kund­ge­bun­gen nach Femi­zi­den für eine öffent­li­che Reak­tion zu sor­gen. Daran hal­ten sich viele fest, von uns und von außen. Des­we­gen ist es wich­tig, dass wir damit wei­ter­ma­chen. Das hat uns glaube ich auch dahin gebracht, wo wir jetzt sind. Selbst wenn es immer sehr anstren­gend ist, men­tal und organisatorisch.

»Wir müssen die Gewalt dort thematisieren, wo sie passiert«

Untie­fen: Wie du es beschreibst, kommt ihr mitt­ler­weile von dem Punkt weg, haupt­säch­lich Auf­merk­sam­keit zu gene­rie­ren und auf Begriffe hin zu wei­sen. Gibt es lang­fris­tige Ziele, die ihr dar­über hin­aus ver­folgt oder die als nächs­tes anstehen?

Viola: Als Netz­werk aus vie­len unter­schied­li­chen Grup­pen haben wir durch­aus Schwie­rig­kei­ten, uns auf ein­heit­li­che Ziele fest­zu­le­gen. Was wir gemein­sam for­dern, bezie­hungs­weise ver­fol­gen, ist ein gewalt­freies Leben für alle Men­schen. Zudem wol­len wir ein umfas­sen­de­res Ver­ständ­nis und beglei­tende For­schung von Femi­ni­zi­den und eine Doku­men­ta­tion der Fälle. Eine wei­tere Sache, die uns sehr wich­tig ist und für die wir uns ein­set­zen, ist die Prä­ven­ti­ons­ar­beit. Das beinhal­tet auch Bil­dungs­ar­beit, die wir mitt­ler­weile ver­mehrt machen. Ebenso Ver­an­stal­tun­gen außer­halb lin­ker Räume.

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Aspekt ist die Basis­ar­beit, was natür­lich mit Bil­dungs­ar­beit ein­her­geht. Wir wol­len da auch eine noch stär­kere Ver­net­zung in die Stadt­teile hin­ein. Wir tun das schon im Rah­men des »StoP«-Projekts (Stadt­teile ohne Part­ner­ge­walt, Anmer­kung Untie­fen) Es geht uns auch darum Ver­bin­dun­gen zu wich­ti­gen Multiplikator:innen in den Stadt­tei­len her­zu­stel­len. Wir haben als Netz­werk ein ernst­haf­tes Inter­esse daran, außer­halb unse­rer lin­ken Blase aktiv zu sein. Denn es hilft nicht, wenn wir nur inner­halb unse­res eige­nen Krei­ses spre­chen, dazu haben wir keine Lust mehr. Wir müs­sen die Gewalt dort the­ma­ti­sie­ren, wo sie pas­siert, sowohl inner­halb der Szene als auch dar­über hin­aus. Das bedeu­tet für uns, sich stark zu ver­net­zen, um ein brei­tes gesell­schaft­li­ches Anti-Feminizid-Netzwerk aufzubauen.

Ein für uns wich­ti­ges Ziel ist es, der Tat einen Namen zu geben. Es gibt zwar bei uns auch andere Ansätze und unter­schied­li­che Straf­be­dürf­nisse. Man­che for­dern Geset­zes­ver­schär­fun­gen, für andere spielt die straf­recht­li­che Bewer­tung nicht so eine große Rolle. Aber die Gewalt, die pas­siert, muss end­lich gesell­schaft­lich benannt und mora­lisch ver­ur­teilt werden.

Es gibt natür­lich auch libe­rale For­de­run­gen, die wir unter­stüt­zen, wie den Aus­bau von Frau­en­häu­sern. Wenn man aber weiß, wie mas­siv pro­ble­ma­tisch die aktu­elle Woh­nungs­po­li­tik ist, bringt diese For­de­rung nicht so viel. Die Frauen sol­len schließ­lich nicht in Frau­en­häu­sern blei­ben, son­dern wie­der ihr siche­res Umfeld haben. Von daher braucht es prag­ma­ti­sche Lösun­gen. Es gibt aber auch den Wunsch nach ande­ren Schutz­struk­tu­ren, die mehr auf Selbst­or­ga­ni­sie­rung set­zen. Ein Bei­spiel dafür ist das »StoP«-Projekt, indem es darum geht, sich im Stadt­teil gemein­sam zu orga­ni­sie­ren und Hilfs­struk­tu­ren für Betrof­fene auf­zu­bauen. Bei Selbst­or­ga­ni­sie­rung geht es nicht um eine rechte Bür­ger­wehr oder so etwas, son­dern zum Bei­spiel darum, dass wenn eine Frau bedroht ist, sie eine Num­mer anruft und dann direkt drei Leute ansprech­bar sind, die unter­stüt­zen. Alle müs­sen Ver­ant­wor­tung über­neh­men und wir müs­sen anfan­gen Ver­ant­wor­tungs­über­nahme anders zu den­ken. Das ist eben nicht nur die Auf­gabe des Staa­tes ist, son­dern von uns allen. Wir wol­len dahin, dass es eine gesamt­ge­sell­schaft­li­che Reak­tion gibt und Pro­teste auf die Straße getra­gen wer­den, wenn wie­der eine Frau oder weib­lich gele­sene Per­son ermor­det wird. Wir ver­fol­gen mit unse­rer Arbeit einen kul­tu­rel­len gesell­schaft­li­chen Wan­del, der patri­ar­chale Macht­struk­tu­ren ernst­haft auf­bricht und zerstört.

Untie­fen: Es gibt also For­de­run­gen an die staat­li­che Poli­tik und an die Gesell­schaft insgesamt?

Viola: Ja, genau. Die Istanbul-Konvention ist in Deutsch­land noch nicht rich­tig umge­setzt. Das ist eine For­de­rung, die häu­fig aus dem Gewalt­schutz kommt, von den Bera­tungs­stel­len und den Frau­en­häu­sern. Das ist auch für uns wich­tig. Dar­über hin­aus braucht es eine bun­des­weite Zäh­lung der Frauen*, die von ihren Part­nern getö­tet wur­den, weil es eben ein poli­ti­sches Pro­blem ist. In Ham­burg macht das der­zeit die Par­tei Die Linke. Deutsch­land­weit machen es vor allem ver­schie­dene lose Grup­pen. Für uns ist es müh­se­lig, immer wie­der die Medi­en­be­richte zu über­prü­fen: Ist wie­der etwas pas­siert, gab es wie­der einen Fall? Wir machen die Zäh­lun­gen ja selbst. Das kos­tet sehr viele Res­sour­cen und es ist gar nicht immer so leicht, zu sagen, was ein Femi­ni­zid ist.

»Ein Femizid ist immer nur die Spitze des Eisbergs«

Untie­fen: Daran anknüp­fend: Wie defi­niert ihr und zählt ihr Femi­ni­zide? Wo lie­gen da die Schwierigkeiten?

Viola: Wir haben meis­tens nur die Pres­se­be­richte und keine Akten­ein­sicht oder ähn­li­ches. Es gibt Fälle, die sind sehr ein­deu­tig: Ex-Partner tötet Frau im Streit, Mann erschießt seine Frau. Da gehen wir ein­fach davon aus, dass es das poli­ti­sche Motiv gab. Also, dass sie getö­tet wurde, weil sie eine Frau ist. Die­sen Struk­tu­ren, die dazu füh­ren, liegt das Patri­ar­chat zugrunde.

In Ham­burg hat­ten wir in den letz­ten Mona­ten aller­dings ein paar schwie­rige Fälle. Da ging es etwa um die Tötung von älte­ren Frauen, also der Groß­mutter durch den Enkel. Danach hat man aller­dings einen Abschieds­brief von der Frau gefun­den, dass sie sich tat­säch­lich umbrin­gen wollte, weil sie so krank war. Bis­her haben wir so agiert, dass wir, wenn es ein ver­wandt­schaft­li­ches Ver­hält­nis bezie­hungs­weise irgend­ein Ver­hält­nis gab, das poli­ti­sche Motiv und den Femi­ni­zid als gege­ben ange­nom­men haben. Wir muss­ten uns aber auch schon­mal kor­ri­gie­ren. Manch­mal wis­sen wir schlicht gar nichts, wie zum Bei­spiel bei der vor eini­gen Wochen in der Elbe gefun­de­nen Frau­en­lei­che. Was wir aber auf jeden Fall sagen kön­nen ist, dass Femi­ni­zide oft auch im Kon­text von psy­chi­schen Kri­sen, der aktu­el­len Pfle­ge­krise und in Ver­bin­dung mit zusätz­li­chen Dis­kri­mi­nie­run­gen vor­kom­men. Auch hier braucht es eine Sen­si­bi­li­tät für die Ver­schrän­kung ver­schie­de­ner Machtbeziehungen.

Wir haben auf jeden Fall aus dem einen Jahr gelernt, dass wir genauer hin­schauen müs­sen. Zwar sind die aller­meis­ten Fälle klas­sisch: Die Tat kurz nach der Tren­nung; in Fami­li­en­ver­hält­nis­sen geht es meist um junge Frauen und die Täter sind Väter, Brü­der, Söhne oder Enkel. Wir haben für uns aber fest­ge­stellt, dass es genaue Mar­ker oder Kri­te­rien braucht. Wir müs­sen gucken, ob es irgend­ein Beziehungs- oder Macht­ver­hält­nis gab. Wir müs­sen her­aus­fin­den, ob es Abschieds­briefe oder ähn­li­ches gab. Es ist aber nicht ein­fach, das Patri­ar­chat in Kri­te­rien auf­zu­tei­len. Man muss den Ein­zel­fall genau anschauen. Wir haben zuletzt viel über unser zukünf­ti­ges Vor­ge­hen gespro­chen. Wenn wir zum Bei­spiel nur wis­sen, dass eine Frau getö­tet wurde und es uns nicht ganz klar erscheint, ob es ein Femi­ni­zid ist, dann war­ten wir erst­mal, bis uns ein­deu­ti­gere Daten vor­lie­gen. Diese Arbeit ist auf­wen­dig und erfor­dert manch­mal sogar Akten­zu­gang, den wir zur­zeit nicht haben. 

Wir haben bis­her nur über die voll­ende­ten Femi­zide gespro­chen. In Deutsch­land heißt es von offi­zi­el­ler Seite immer »jeden drit­ten Tag wird eine Frau getö­tet«. Bei uns im Netz­werk arbei­ten viele in Schutz­ein­rich­tun­gen und sehen es in der Pra­xis: Es geschieht häu­fi­ger und wird mehr­mals pro Tag ver­sucht! Wir soll­ten des­halb, auch als Gesell­schaft, auf­hö­ren, uns immer so auf diese Zahl zu bezie­hen, son­dern ver­su­chen, eine andere Zähl­ba­sis zu fin­den. Die Erfah­run­gen von Frau­en­häu­sern, Bera­tungs­stel­len und ande­rer Schutz­ein­rich­tun­gen müs­sen dafür die Grund­lage sein. Die haben die Erfah­rung und ken­nen die Gewalt­dy­na­mi­ken. Ein Femi­zid ist immer nur die Spitze des Eis­bergs. Diese Erzäh­lung von »jedem drit­ten Tag« wird dem nicht gerecht. Es ist keine ein­stel­lige Zahl, son­dern es sind sehr viel mehr Fälle und Ver­su­che. Das macht ein­fach wütend.

Untie­fen: In ande­ren Städ­ten in Deutsch­land gibt es wei­tere Grup­pen, die diese Zäh­lun­gen durch­füh­ren. Seid ihr da vernetzt?

Viola: Unser Ziel ist es, eine ernst­zu­neh­mende soziale Bewe­gung zu sein. Dazu gehört auch, sich bun­des­weit zu ver­net­zen. Wir sind Teil eines Netz­werks, das Deutsch­land, Öster­reich und die Schweiz umfasst. Wir tau­schen uns da auch zu der Arbeit und unse­ren Kri­te­rien aus. Unsere Infor­ma­tio­nen hal­ten wir in einer Sta­tis­tik fest. Das geben wir an die über­re­gio­nale Ver­net­zung wei­ter und wol­len dazu auch Ver­öf­fent­li­chun­gen machen, damit alle damit arbei­ten können.

Die Zäh­lung ist aber nur ein Ziel. Im bes­ten Fall möch­ten wir Gewalt ver­hin­dern. Aus der über­re­gio­na­len Ver­net­zung sind schon prak­ti­sche Dinge ent­stan­den, etwa das Tool­kit »Was tun gegen Femi­ni­zid?!« oder gemein­sam ein­ge­wor­bene Gelder.

Untie­fen: Du hast vor­hin die Zusam­men­ar­beit mit staat­li­chen und bür­ger­li­chen Orga­ni­sa­tio­nen erwähnt, wie gestal­tet sich die?

Das fängt gerade erst an. Erst­mal geht es meis­tens darum, dass wir unsere Arbeit vor­stel­len, wie etwa beim Run­den Tisch zum Thema Gewalt. Bei der Par­tei die Linke geht es um Ver­net­zung und Infor­ma­tio­nen. Zum Arbeits­kreis Gewalt wur­den wir ein­ge­la­den, er fand aller­dings noch nicht statt, wes­halb wir dazu noch nichts sagen können.

»Wir können keine weiteren 50 Jahre warten«

Untie­fen: Seht ihr auch eine Gefahr in der Zusam­men­ar­beit mit staat­li­chen Insti­tu­tio­nen? Zum einen in Hin­blick dar­auf, dass man ein­ge­hegt wird in den staat­li­chen Pro­zess des Gewalt­schut­zes, wie es der Frau­en­haus­be­we­gung teil­weise schon pas­siert ist, die nun durch­aus finan­zi­ell abhän­gig ist vom Staat. Zum ande­ren, dass man zum Aus­hän­ge­schild der Poli­tik wer­den kann, ohne dass der Staat selbst etwas unter­nimmt oder die Ver­hält­nisse sich ändern?

Viola: Klar, diese Gefahr gibt es. Wir haben in unse­rem Netz­werk aber sehr viele kri­ti­sche Per­so­nen und im Gegen­satz zu Frau­en­häu­sern sind wir vor allem Akti­vis­tin­nen. Wir kön­nen dem­entspre­chend andere Dinge tun und sagen. Das ist ein gro­ßer Vor­teil und etwas, das ich an der Arbeit im Netz­werk schätze. Natür­lich geht es oft Hand in Hand: Wir sind auch auf die Zusam­men­ar­beit mit Frau­en­häu­sern ange­wie­sen, aber gleich­zei­tig schätze ich, dass wir uns ganz anders posi­tio­nie­ren kön­nen. Wir haben uns auch gegrün­det, um zu zei­gen, dass die­ses Thema mehr ange­gan­gen wer­den muss. Das es mehr braucht, als bis­her getan wird. Zum einen muss da expli­zit der Staat in den Blick genom­men wer­den, zum ande­ren geht es da um gesell­schaft­li­che Selbst­or­ga­ni­sie­rung. Das sind bei­des Ebe­nen, die wir ver­su­chen zu vereinen.

Staat­li­che Koope­ra­tio­nen sind bei uns noch nicht son­der­lich aus­ge­prägt. An dem Punkt, dass die Gefahr der Instru­men­ta­li­sie­rung besteht, sind wir glaube ich noch gar nicht. Aber viel­leicht sollte man das immer im Hin­ter­kopf behal­ten. Wir haben uns schon die Frage gestellt, wie­weit unsere Arbeit gehen kann. Bei uns im Netz­werk sind Leute aus ver­schie­de­nen, auch staat­lich finan­zier­ten Orga­ni­sa­tio­nen, die sind aber bei uns auch als Ein­zel­per­so­nen aktiv. Und wir kri­ti­sie­ren dann durch­aus genau deren Geld­ge­ber. Unsere Kri­tik rich­tet sich nicht immer, aber häu­fig an den Staat. Wenn wir rich­tig unge­müt­lich wer­den, dann könnte das schwie­rig wer­den, aber so weit ist es noch nicht. Unser Fokus auf Selbst­or­ga­ni­sa­tion soll gerade in dem Vakuum wir­ken, wo der Staat ver­sagt Schutz zu gewähr­leis­ten. Wir kön­nen keine wei­te­ren fünf­zig Jahre war­ten, bis der Staat das Thema ernst nimmt und Geld zur Ver­fü­gung stellt. Die Bude brennt jetzt und heute!

Untie­fen: Wie gestal­tet sich eure Zusam­men­ar­beit mit ande­ren Akteur:innen aus der lin­ken Szene?

Viola: Als Netz­werk vie­ler Grup­pen sind wir uns nicht immer in allem einig. Aber wir sind uns einig in unse­rer Defi­ni­tion des Patri­ar­chats und dass es allem zugrunde liegt. Das Ange­nehme an unse­rer Arbeit ist, dass wir sehr fokus­siert am kon­kre­ten Thema »Femi­ni­zide« und Gewalt an Frauen arbei­ten. Andere Inhalte las­sen wir aus, weil klar ist, dass wir da unter­schied­li­che Ein­stel­lun­gen haben. Das ist in der lin­ken Szene natür­lich manch­mal schwie­rig, weil zu bestimm­ten The­men Stel­lung­nah­men ein­ge­for­dert wer­den, selbst wenn das nichts mit unse­rem inhalt­li­chen Schwer­punkt zu tun hat. Wenn wir ernst­haft an unse­rem Thema arbei­ten wol­len und die Pro­bleme vor Ort anschauen und ange­hen möch­ten, dann brau­chen wir jede Ein­zelne. Da ist es oft nicht ziel­füh­rend, sich an ein­zel­nen The­men so zu zer­rei­ßen und wir müs­sen da intern einen Umgang fin­den, wozu wir uns äußern und was wir auslassen.

In der femi­nis­ti­schen Bewe­gung ins­ge­samt ste­hen wir vor dem Pro­blem, dass wir viele ver­ein­zelte Grup­pen sind, die dann nicht oft oder gar nicht zusam­men­ar­bei­ten. Durch unsere Ver­net­zung wol­len wir diese Ver­ein­ze­lung und Spal­tung über­win­den und uns trotz der Unter­schiede zusam­men­tun. Das über­ge­ord­nete gemein­same Ziel ist es, alle For­men patri­ar­cha­ler Gewalt zu been­den. Denn von die­ser sind wir alle, wenn auch auf unter­schied­li­che Weise, betroffen.

Lei­der gilt das das Thema »Femi­ni­zide« schein­bar als »uncool«. Warum krie­gen wir es denn nicht hin, bei Gewalt an Frauen groß und prä­sent zu sein? Viel­leicht liegt es daran, dass das Thema nicht so anspre­chend ist – und natür­lich auch schwer. Es ist immer­hin nicht ange­nehm, die ganze Zeit über den Tod zu reden.

Untie­fen: Ihr bezeich­net euch selbst als Anti-Feminizid-Netzwerk, es gibt auch den Begriff Femi­zid: Wo liegt da der Unterschied?

Viola: Die Frage wird uns immer wie­der gestellt. Erst­mal ist es wich­tig, dass man über­haupt einen Begriff hat. Bei uns im Netz­werk kommt es daher, weil wir stark inter­na­tio­na­lis­tisch ori­en­tiert sind. Das »ni« als Zusatz stammt aus der latein­ame­ri­ka­ni­schen Bewe­gung. Damit soll die staat­li­che Ver­ant­wor­tung noch mehr her­vor­ge­ho­ben wer­den, weil es dort noch ganz andere Struk­tu­ren gibt als bei uns. Patri­ar­chale Gewalt gibt es über­all, aber in vie­len Län­dern Latein­ame­ri­kas ist der Staat aktiv daran betei­ligt. Hier in Deutsch­land ist der Staat auch an der Gewalt betei­ligt, aber eher passiv.

»Die wichtige Frage ist: Wie können wir Sicherheit schaffen?«

Untie­fen: Gibt es noch andere gemein­same theo­re­ti­sche Bezüge und Per­spek­ti­ven, die ihr in eurer Arbeit nutzt?

Viola: Gar nicht so viele. Wir sind uns einig darin, wie wir das Patri­ar­chat defi­nie­ren und wie es die Welt struk­tu­riert und bezie­hen uns dazu oft auf bell hooks. Das Patri­ar­chat ist für uns ein gesell­schaft­li­ches Sys­tem, dass auf der Vor­macht­stel­lung des Man­nes basiert und der Vor­stel­lung, dass Män­ner von Natur aus domi­nant und den Schwa­chen über­le­gen sind und diese domi­nie­ren kön­nen. Frauen gel­ten nach die­ser Logik als schwach und die männ­li­che Domi­nanz wird ihnen gegen­über unter ande­rem durch Gewalt auf­recht­erhal­ten. Diese Macht­struk­tur des Patri­ar­chats ermög­licht es erst, dass Femi­ni­zide pas­sie­ren. Das Patri­ar­chat formt alle Men­schen und wird gleich­zei­tig durch sie getra­gen und sta­bi­li­siert. Geschlecht ist in die­sem Sys­tem maß­geb­lich für Gewalt­er­fah­run­gen und wie stark man ihnen aus­ge­setzt ist. Gleich­zei­tig ist patri­ar­chale Unter­drü­ckung immer mit ande­ren struk­tu­rie­ren­den Macht­di­men­sio­nen wie Ras­sis­mus ver­schränkt. Wenn wir so den­ken, kom­men wir natür­lich manch­mal an den Punkt, an dem man sich die Frage stellt: Wenn das Patri­ar­chat allem zu Grunde liegt, ist dann nicht eigent­lich jeder Mord an einer Frau ein Femi­ni­zid? Des­we­gen ist es so wich­tig, Kate­go­rien für Femi­ni­zide zu definieren.

Dar­über hin­aus haben wir ganz unter­schied­li­che poli­ti­sche Hin­ter­gründe und Ori­en­tie­run­gen. Aber wir sind eben sehr prak­tisch aus­ge­rich­tet und füh­ren keine Theo­rie­streits. Wir fokus­sie­ren uns auf das kon­krete Pro­blem. Was nicht bedeu­tet, dass man nicht unter­schied­li­cher Mei­nung sein kann.

Wir sind aller­dings keine Strafrechtsfeminist:innen. Das ist eine Strö­mung, die ver­schärfte, also höhere Stra­fen für zum Bei­spiel Gewalt­straf­tä­ter gegen­über Frauen for­dert. Wir wis­sen aber aus der Kri­mi­no­lo­gie, dass Stra­fen nicht der Abschre­ckung die­nen. Man muss lei­der sagen, dass es tat­säch­lich unter­schied­li­che Straf­be­dürf­nisse gibt, auch bei den Frauen, die Gewalt erfah­ren haben. Man­che möch­ten, dass der Täter für immer im Gefäng­nis sitzt, andere möch­ten nur ihre Ruhe und sicher sein. Die wich­tige Frage ist da: Wie kön­nen wir Sicher­heit schaf­fen? Uns steht in unse­rer Gesell­schaft dafür zur­zeit eigent­lich nur das Straf­recht zur Ver­fü­gung. Gefäng­nisse füh­ren aller­dings nicht dazu, dass Täter Ver­ant­wor­tung für ihr Han­deln über­neh­men oder sich selbst reflektieren.

Fest steht: Femi­ni­zide müs­sen als sol­che benannt wer­den. Dazu, was danach pas­sie­ren soll, haben wir als Netz­werk noch kei­nen gemein­sa­men Stand­punkt. Es ist aber auch nicht an uns, die per­fek­ten Lösun­gen zu haben. Wenn es uns gelingt, das kon­krete Pro­blem der Femi­ni­zide zu redu­zie­ren, zum Bei­spiel durch Prä­ven­tion oder durch das Auf­bauen von Schutz­struk­tu­ren, dann ist schon­mal viel erreicht.

Untie­fen: Ist es im Patri­ar­chat schon eine Form das Sys­tem zu desta­bi­li­sie­ren, wenn auf diese Gewalt hin­ge­wie­sen wird?

Viola: Das ist für uns der erste Schritt. Den brau­chen wir, um dann wei­ter­zu­ar­bei­ten. Wei­tere Schritte sind Prä­ven­ti­ons­ar­beit und gesamt­ge­sell­schaft­li­che Ver­ant­wor­tung. Aber man kann nicht alles gleich­zei­tig ange­hen. Wir kön­nen nicht sagen, wie wir das Patri­ar­chat stür­zen kön­nen. Aber ein ers­ter Schritt ist es zu mobi­li­sie­ren, alle dar­auf hin­zu­wei­sen und dar­über auf­zu­klä­ren, dass das Patri­ar­chat der Gewalt zugrunde liegt.

Untie­fen: Spielt die Selbst­er­mäch­ti­gung gegen die Gewalt auch eine Rolle bei der Orga­ni­sie­rung im Netzwerk?

Viola: Die Gruppe ermäch­tigt schon, aber wir spre­chen ja für die Frauen, die nicht mehr da sind, und für die Über­le­ben­den. Aber wenn es nichts Empowern­des hätte, dann wür­den es viele von uns bestimmt nicht machen. Es kos­tet schon viel Kraft sich so einem Scheiß­thema in der eige­nen Frei­zeit zu wid­men. Die ganze Zeit über den Tod zu spre­chen und für Tote zu spre­chen. Wir ver­su­chen auch, so gut es geht Ange­hö­ri­gen­ar­beit zu machen. Wir rich­ten uns aber noch rela­tiv wenig nach ihnen, weil wir nicht immer Zugang zu den Ange­hö­ri­gen haben oder man­che das in dem Moment nicht schaf­fen und nicht sagen kön­nen, was sich die Ver­stor­bene gewünscht hätte. Das respek­tie­ren wir, gehen aber natür­lich trotz­dem raus. Die Kund­ge­bun­gen sind des­halb noch nicht so sehr auf die jewei­li­gen Per­so­nen aus­ge­rich­tet. Es ist gar nicht so leicht, zum einen immer wie­der die glei­che poli­ti­sche For­de­rung zu stel­len und gleich­zei­tig auf den indi­vi­du­el­len Fall zu gucken.

»Die Kämpfe in Lateinamerika sind viel radikaler und lauter«

Untie­fen: Kannst du kurz etwas zur Rolle des femi­nis­ti­schen Kampfs in Latein­ame­rika für die Anti-Feminizid-Bewegung sagen?

Viola: Die erste große Bewe­gung gegen Femi­ni­zide in Latein­ame­rika ist in den neun­zi­ger Jah­ren in Ciu­dad Juá­rez in Mexiko ent­stan­den, nach­dem dort Dut­zende, teil­weise ver­stüm­melte Frau­en­lei­chen gefun­den wor­den sind. Es hat damals keine Straf­ver­fol­gung gege­ben und die Medien haben Vic­tim Bla­ming betrie­ben, anstatt das Pro­blem ernst­haft auf­zu­grei­fen. Dar­auf­hin haben sich Frauen zusam­men­ge­tan. Das waren unter ande­rem Müt­ter von Opfern von Femi­ni­zi­den aber auch Politiker:innen und Feminst:innen. Diese haben dann Pro­teste orga­ni­siert und in die­sem Rah­men ent­stand dann auch die Bewe­gung Ni Una Más (»Keine mehr«). Eine ganze Zeit spä­ter ist 2015 in Argen­ti­nien Ni Una Menos (»Keine weni­ger«) in Reak­tion auf dor­tige Femi­ni­zide ent­stan­den. Die Bewe­gung in Argen­ti­nien hatte von Anfang an eine Ver­bin­dung zu der in Mexiko. Ni Una Menos wurde in Argen­ti­nien zur Mas­sen­be­we­gung und hat sich dann trans­na­tio­nal ver­brei­tet. Die latein­ame­ri­ka­ni­schen Bewe­gun­gen gegen den Femi­ni­zid haben gemein­sam, dass sie auf his­to­risch gewach­se­nen Struk­tu­ren von femi­nis­ti­schen Grup­pen und Frau­en­grup­pen auf­bauen kön­nen. Diese Grup­pen haben sich teil­weise schon in der Zeit der und als Reak­tion auf die Dik­ta­tu­ren in den acht­zi­ger Jah­ren in Latein­ame­rika gebildet.

Untie­fen: Was kann man von die­sen Kämp­fen für die Bewe­gung hier lernen?

Viola: Sie sind viel radi­ka­ler und lau­ter. Es wer­den auch ein­fach Dinge getan, zum Bei­spiel Häu­ser besetzt, um dar­aus ein Schutz­haus zu machen oder Anti­mo­nu­mente gegen Femi­ni­zide auf­ge­stellt. Die Öffent­lich­keit wird gestal­tet, ohne das mit den Behör­den abzu­spre­chen. Es ist eine Mas­sen­be­we­gung ent­stan­den, die ernst­haft den Sta­tus Quo angreift und auch eine »Bedro­hung« für den Staat dar­stellt. Das ist für den deutsch­spra­chi­gen Raum nur schwer vor­stell­bar. Sie neh­men auch viel mehr das Leben in den Blick: »Keine weni­ger«, »Keine mehr«. Das ist eben eine umge­kehrte Art zu den­ken. Es darf keine mehr feh­len, wir brau­chen alle, um uns zu schützen.

Was wir als aktu­elle Anti-Feminizid-Bewegung in Deutsch­land von den Freund:innen und Genoss:innen in Latein­ame­rika ler­nen kön­nen, ist die Form der Mobi­li­sie­rung und Orga­ni­sie­rung und wie sie es geschafft haben, Hun­der­tau­sende Men­schen auf die Straße zu krie­gen. Wie sie patri­ar­chale Gewalt zu einem Thema gemacht haben, das gesamt­ge­sell­schaft­lich rele­vant gewor­den ist. Wir müs­sen schauen, wie sie das gemacht haben, und wie es sich auf unse­ren Kon­text anwen­den lässt. Dabei geht es um die Frage, wie wir es als Linke schaf­fen kön­nen, zu ande­ren zu spre­chen und auch zu uns selbst.

Es wird auch immer gerne dar­auf ver­wie­sen, dass die femi­nis­ti­schen Bewe­gun­gen in Latein­ame­rika es in fast allen Län­dern geschafft haben, den Straf­tat­be­stand »Femi­zid« ein­zu­füh­ren. Das ist auf jeden Fall auch wich­tig, um das Pro­blem auf allen Ebe­nen sicht­bar zu machen und zu benen­nen, auch auf juris­ti­scher Ebene. Das ist aller­dings kein Aspekt, auf den sich unsere Kämpfe als Netz­werk konzentrieren.

Untie­fen: Was lässt sich nicht von Latein­ame­rika nach Deutsch­land übertragen?

Viola: In Deutsch­land haben wir nicht so starke, his­to­risch gewach­sene femi­nis­ti­sche Struk­tu­ren. Eine der wich­tigs­ten Auf­ga­ben, die wir jetzt gerade ange­hen, ist die Ver­net­zung und damit auch die Über­win­dung von min­des­tens zwei Hin­der­nis­sen in der femi­nis­ti­schen Bewe­gung. Zum einen ist das der his­to­ri­sche Bruch zwi­schen der Frau­en­be­we­gung der sieb­zi­ger und acht­zi­ger Jahre, die auch gegen patri­ar­chale Gewalt gekämpft hat, und den heu­ti­gen femi­nis­ti­schen Grup­pie­run­gen. Zum ande­ren, wie bereits ange­spro­chen, die Ver­ein­ze­lung und interne Spal­tung der aktu­el­len femi­nis­ti­schen Bewe­gung in Deutschland.

Ein wei­te­res Pro­blem in Deutsch­land ist das Meta­nar­ra­tiv, dass die Gleich­heit zwi­schen den Geschlech­tern bereits erreicht sei. Das müs­sen wir auf­bre­chen. Außer­dem geht die The­ma­ti­sie­rung patri­ar­cha­ler Gewalt in Medien und Poli­tik oft mit einer soge­nann­ten Eth­ni­sie­rung der Gewalt ein­her. Das bedeu­tet, dass Deutsch­land sich immer als poli­tisch und gesell­schaft­lich pro­gres­siv dar­stellt und gesell­schaft­li­che Pro­bleme auf spe­zi­fi­sche migran­ti­sche Grup­pen abge­wälzt wer­den. Dies führt zu einer Ver­la­ge­rung des Pro­blems, was nicht nur falsch ist, son­dern auch zu Dis­kri­mi­nie­rung führt und die Suche nach ernst­haf­ten Lösungs­an­sät­zen verhindert.

Inter­view: Elena Michel

Die Autorin lebt in Ham­burg und sieht in der prak­ti­schen Aus­rich­tung der poli­ti­schen Arbeit ein gro­ßes Poten­tial für die femi­nis­ti­sche Bewegung. 

Veranstaltung: »Gegen den Geist des Sozialismus«. Buchvorstellung mit Olaf Kistenmacher

Veranstaltung: »Gegen den Geist des Sozialismus«. Buchvorstellung mit Olaf Kistenmacher

Wie geht eine links­ra­di­kale Kri­tik des lin­ken Anti­se­mi­tis­mus? Der Ham­bur­ger His­to­ri­ker und Autor Olaf Kis­ten­ma­cher stellt sein Buch über Kri­tik der Juden­fein­schaft in der KPD der Wei­ma­rer Repu­blik vor: 01.11.2023, 19 Uhr, Mone­tastr. 4.

Der mör­de­ri­sche Ter­ror der Hamas und des Isla­mi­schen Jihad gegen Israel wurde am 07. Okto­ber in einer neuen Qua­li­tät ent­fes­selt.
Wer in die­sen Tagen mit lin­ken und links­ra­di­ka­len Freund:innen und Bekann­ten spricht oder in den sozia­len Medien aus die­ser Ecke liest, sieht viel Mit­ge­fühl, Wut, Ver­zweif­lung ange­sichts des Ter­rors. Aber auch: Ver­harm­lo­sung, Gleich­gül­tig­keit bis hin zu offe­ner Bil­li­gung oder gar Befür­wor­tung für das Mor­den als ver­meint­li­chem »Wider­stand« oder »Befrei­ungs­kampf«.
Lei­der ist der linke Anti­se­mi­tis­mus, ohne den die­ser Abgrund nicht mög­lich wäre, keine neue und keine vor­über­ge­hende Erschei­nung. Wer wis­sen will, wie Anarchist:innen und Kommunist:innen schon in der Wei­ma­rer Repu­blik gegen ihn kämpf­ten und wie sie ihn kri­ti­sier­ten, kann das am kom­men­den Mitt­woch erfah­ren.
Der Ham­bur­ger His­to­ri­ker und Autor Olaf Kis­ten­ma­cher stellt sein neues Buch vor: »Gegen den Geist des Sozia­lis­mus. Anar­chis­ti­sche und kom­mu­nis­ti­sche Kri­tik der Juden­feind­schaft in der KPD zur Zeit der Wei­ma­rer Repu­blik« (ça ira).

Der poli­ti­sche Bil­dungs­ver­ein Bag­rut e.V. orga­ni­siert die Vor­stel­lung in Koope­ra­tion mit Untie­fen zu 19 Uhr in der Zen­tra­len Biblio­thek Frau­en­for­schung, Gen­der & Queer Stu­dies (Mone­tastr. 4). Die his­to­ri­sche Per­spek­tive wird auch Bezüge zum aktu­el­len lin­ken Elend und zur Ham­bur­ger Geschichte ermöglichen.

Die Ver­an­stal­tung wird im Rah­men der Akti­ons­wo­chen gegen Anti­se­mi­tis­mus von der Amadeo-Antonio-Stiftung gefördert.

Im Fol­gen­den doku­men­tie­ren wir den Klap­pen­text des Verlags.


Anti­se­mi­tis­mus in der poli­ti­schen Lin­ken wurde nicht erst nach 1945 zum Thema. Die Kri­tik daran ist so alt wie die Sache selbst. In der Wei­ma­rer Repu­blik waren es ehe­ma­lige Grün­dungs­mit­glie­der der KPD wie Franz Pfem­fert oder Anar­cho­syn­di­ka­lis­ten wie Rudolf Rocker, die die anti­se­mi­ti­sche Agi­ta­tion wäh­rend des Schlageter-Kurses kri­ti­sier­ten. Mitte der 1920er Jahre warnte Clara Zet­kin auf dem Par­tei­tag der KPD vor juden­feind­li­chen Stim­mun­gen an der Basis. 1929 erschien im Zen­tral­or­gan der um Hein­rich Brand­ler und August Thal­hei­mer gebil­de­ten KPD-Opposition eine der ers­ten radi­ka­len Kri­ti­ken des Anti­zio­nis­mus der KPD. Mit ihrer Kri­tik knüpf­ten die anar­chis­ti­schen und kom­mu­nis­ti­schen Lin­ken an Inter­ven­tio­nen von Rosa Luxem­burg oder Leo Trotzki an und reflek­tier­ten zugleich die Ent­wick­lung in Russ­land nach der bol­sche­wis­ti­schen Revo­lu­tion. Marx’ Anspruch, »alle Ver­hält­nisse umzu­wer­fen, in denen der Mensch ein ernied­rig­tes, ein geknech­te­tes, ein ver­las­se­nes, ein ver­ächt­li­ches Wesen ist«, schloss für sie den Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus auch in den eige­nen Rei­hen mit ein. Ihre Kri­tik kam nicht nur Jahr­zehnte vor der inner­lin­ken Debatte über Anti­se­mi­tis­mus von links, Luxem­burg und Pfem­fert nah­men auch Argu­mente der spä­te­ren anti­na­tio­na­len und anti­deut­schen Lin­ken vorweg.

Olaf Kis­ten­ma­cher
»Gegen den Geist des Sozia­lis­mus«. Anar­chis­ti­sche und kom­mu­nis­ti­sche Kri­tik der Juden­feind­schaft in der KPD zur Zeit der Wei­ma­rer Repu­blik
Novem­ber 2023, 156 Sei­ten
Fran­zö­sisch Bro­schur
20,00 €

Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Solidarität

Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Solidarität

Eine Ver­an­stal­tungs­reihe der Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb fragt nach anti­se­mi­ti­schen Welt­bil­dern in gegen­wär­ti­gen Kunst­dis­kur­sen. Die zweite Ver­an­stal­tung fin­det am 20.09.2023, 19.30 Uhr im Cen­tral Con­gress statt.

Nach­dem im Sep­tem­ber 2022 zwei Ver­tre­ter des indo­ne­si­schen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruan­grupa eine Gast­pro­fes­sur an der Ham­bur­ger HfbK antra­ten, ist die Aus­ein­an­der­set­zung über die von Ruan­grupa ver­ant­wor­tete anti­se­mi­ti­sche Kunst­schau auch zu einem Streit in Ham­burg gewor­den. Zwar gab es ver­dienst­volle, aber ver­ein­zelte Pro­teste, zurück­hal­tende Ermah­nun­gen aus der Lan­des­po­li­tik sowie einige wenig ergie­bige Inter­views und Ver­an­stal­tun­gen mit den Ruangrupa-Leuten. Ins­ge­samt aber ist von Betrof­fen­heit oder gar (Selbst-)Kritik inner­halb des Ham­bur­ger Kunst- und Kul­tur­be­triebs wenig zu ver­neh­men. Der HfbK-Präseident Köt­te­ring lügt die von ihm initi­ierte Gast­pro­fes­sur rück­bli­ckend zum Aus­lö­ser wich­ti­ger »Lern­pro­zesse« um, gar zum Beginn eines »Dia­logs«: »Zum ande­ren ist durch die bei­den DAAD-Gastprofessoren das Thema Anti­se­mi­tis­mus im Kunst­feld nach Ham­burg getra­gen wor­den, wor­auf wir mit vie­len Ver­an­stal­tun­gen reagiert haben, vor allem mit dem Sym­po­sium. Damit ist es uns seit der docu­menta erst­ma­lig gelun­gen, sehr diver­gente Posi­tio­nen zusam­men und in einen Dia­log zu brin­gen«. Auf die Frage, ob er die Ein­la­dung wie­der aus­spre­chen würde, ant­wor­tete er ent­spre­chend: »Das kann ich wirk­lich mit aller Deut­lich­keit und sehr klar sagen: Ja, unbe­dingt! Denn es ist die Auf­gabe und Pflicht von wis­sen­schaft­li­chen Insti­tu­tio­nen, sich die­sen kom­ple­xen und schwie­ri­gen Dis­kur­sen zu stel­len, um Lern­pro­zesse ent­ste­hen zu las­sen.« Anti­se­mi­tis­mus geht in der Kunst­welt also wei­ter­hin in Ord­nung, so lange man dabei das Gefühl hat, mit irgend­wem im Dia­log zu sein. Woher kommt diese Uner­schüt­ter­lich­keit – auch und gerade jen­seits des offen­sicht­lich unver­bes­ser­li­chen Ruangrupa-Kollektivs?

Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Ham­burg eine „Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb“ gegrün­det. In ihr haben sich in Kunst und Kul­tur Tätige zusam­men­ge­schlos­sen, die mit einer Ver­an­stal­tungs­reihe in das beredte Ham­bur­ger Schwei­gen inter­ve­nie­ren wol­len. Die Reihe unter­sucht anhand dreier für den gegen­wär­ti­gen Kunst­be­trieb zen­tra­ler Begriffe – Kol­lek­ti­vi­tät, Wider­stand und Soli­da­ri­tät – über wel­che Ein­falls­tore sich anti­se­mi­ti­sche Welt­bil­der im Kunst­dis­kurs immer wie­der ver­brei­ten können.

Die Reihe wird am 20.09. mit einer Ver­an­stal­tung zu „Kol­lek­ti­vi­tät“ fort­ge­setzt: 19.30 Uhr im Cen­tral Con­gress, Stein­straße 5–7.

Die Redak­tion Untie­fen unter­stützt diese Inter­ven­tion (wie auch der Bag­rut e.V., die Untüch­ti­gen sowie der Textem-Verlag) und doku­men­tiert im Fol­gen­den den Ankün­di­gungs­text der Veranstaltung.

Wei­tere Infor­ma­tio­nen wer­den zu gege­be­ner Zeit hier auf Untie­fen und auf dem Insta­gra­m­ac­count der Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb veröffentlicht.


Zahl­rei­che anti­se­mi­ti­sche Dar­stel­lun­gen auf der Docu­menta 15 haben einen seit Jah­ren schwe­len­den Kon­flikt in die breite Öffent­lich­keit geholt – und alt­be­kannte Front­bil­dun­gen ver­schärft. Mitt­ler­weile kann ohne Über­trei­bung von einem Kul­tur­kampf gespro­chen wer­den. Gestrit­ten wird über eine ver­meint­li­che Kon­kur­renz zwi­schen der Erin­ne­rung an die Shoah und der Erin­ne­rung an deut­sche Kolo­ni­al­ver­bre­chen. Gestrit­ten wird nicht zuletzt auch über das jewei­lige Ver­hält­nis zu Israel. Spä­tes­tens durch die Beru­fung zweier Mit­glie­der des Künst­ler­kol­lek­tivs Ruan­grupa an die HFBK ist dies auch ein Ham­bur­ger Streit. Gerade im Kunst­feld wird er vehe­ment geführt. Das lässt die Frage auf­kom­men, ob zen­trale Begriffe in der aktu­el­len Selbst­be­schrei­bung künst­le­ri­scher Pra­xis nicht selbst ideo­lo­gi­sche Ele­mente ent­hal­ten, die gewollt oder unge­wollt anti­se­mi­ti­sche Welt­bil­der repro­du­zie­ren. Anhand der Begriffe Kol­lek­ti­vi­tät, Soli­da­ri­tät und Wider­stand stel­len sich die Gäste unse­rer drei­tei­li­gen Ver­an­stal­tungs­reihe die­ser wich­ti­gen, aber in der bis­he­ri­gen Debatte ver­nach­läs­sig­ten Frage.

Zwei­ter Teil: Soli­da­ri­tät
20. Sep­tem­ber 2023 – 19:30 Uhr
Cen­tral Congress

Kol­lek­ti­ves Arbei­ten hat sich im Kunst­feld eta­bliert. Eine sei­ner Grund­la­gen ist der Ruf nach Soli­da­ri­tät. Die Geschichte die­ses Rufes ist geprägt von poli­ti­schen Eman­zi­pa­ti­ons­be­we­gun­gen, erlebte aber immer wie­der auch ideo­lo­gi­schen Miss­brauch. Der Ruf nach Soli­da­ri­tät kann instru­men­tel­len Cha­rak­ter anneh­men, gerade weil er oft­mals im Namen der „Ande­ren“ spricht. So defi­niert Soli­da­ri­tät eben nicht nur die eigene Gruppenzugehörigkeit.

Gerade im indi­vi­dua­lis­ti­schen Kunst­feld sind Erzäh­lun­gen von kol­lek­ti­ver Soli­da­ri­tät beson­ders attrak­tiv. Das dor­tige Selbst­ver­ständ­nis, an der Seite von Mar­gi­na­li­sier­ten und Unter­drück­ten zu ste­hen, begüns­tigt die Vor­stel­lung von einer manich­ä­isch in gut und böse auf­ge­teil­ten Welt. Diese stark ver­ein­fachte Welt­sicht ist für Anti­se­mi­tis­mus beson­ders anschluss­fä­hig. In Tei­len des post­ko­lo­nia­len Dis­kur­ses wer­den Jüdin­nen und Juden als pri­vi­le­giert ange­se­hen. Als Opfer dür­fen sie nur in der Ver­gan­gen­heit in Erschei­nung tre­ten. Nicht zuletzt die im Kunst­feld stark affir­mierte BDS-Bewegung pro­pa­giert eine Form der Soli­da­ri­tät, die Gewalt und Chau­vi­nis­mus igno­riert, solange sie von der ver­meint­lich rich­ti­gen Seite ausgehen.

Bei der zwei­ten Ver­an­stal­tung der Reihe „Welt­bil­der der zeit­ge­nös­si­schen Kunst“ dis­ku­tie­ren unsere Gäste über die Ein- und Aus­schlüsse von Soli­da­ri­täts­ap­pel­len und ihren mit­un­ter selbst­re­fe­ren­ti­el­len Cha­rak­ter. Sie spre­chen über die Attrak­ti­vi­tät des Soli­da­ri­täts­be­griffs für das Kunst­feld, über die Unmög­lich­keit, den Ruf nach Soli­da­ri­tät von Ambi­va­len­zen frei zu hal­ten und über einige klas­si­sche Ste­reo­type anti­se­mi­ti­scher Propaganda.

Es dis­ku­tie­ren:

- Vol­ker Weiß (His­to­ri­ker & Autor, Hamburg)

- Shahrzad Eden Osterer (Autorin & Jour­na­lis­tin, München)

- Petja Dimit­rova (Akti­vis­tin & Künst­le­rin, Wien)

mit einem Video-Input von Julia Bern­stein (Sozio­lo­gin & Mit­glied im Begleit­gre­mium der Docu­menta 15)

mode­riert von Fabian Bechtle & Leon Kahane (Künst­ler, Forum demo­kra­ti­sche Kul­tur und zeit­ge­nös­si­sche Kunst)

Eine Ver­an­stal­tung von: FORUM DEMOCRATIC CULTURE CONTEMPORARY ART & Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb
Geför­dert von: Bun­des­zen­trale für poli­ti­sche Bil­dung
Unter­stützt von: bag­rut e.V. & Die Untüch­ti­gen & Stadt­ma­ga­zin Untie­fen & Tex­tem Verlag

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10.09.: Bremer ›Arisierungs‹-Mahnmal (+Video Vortrag Henning Bleyl)

Der Stachel sitzt: Das Bremer ›Arisierungs‹-Mahnmal ist da

In Bre­men wird die­sen Sonn­tag, 10.09., ein lang erkämpf­tes Mahn­mal für den Raub jüdi­schen Eigen­tums im Natio­nal­so­zia­lis­mus ein­ge­weiht. Untie­fen ver­öf­fent­licht den Mit­schnitt der Dis­kus­si­ons­ver­an­stal­tung mit dem Initia­tor Hen­ning Bleyl vom letz­ten Jahr und erin­nert an die offe­nen Auf­ga­ben für Hamburg.

Die Bau­stelle des neuen Mahn­mals in Bre­men. Im Hin­ter­grund die Zen­trale von Kühne + Nagel. Foto: Evin Oettingshausen.

In Bre­men kommt die­sen Sonn­tag, den 10. Sep­tem­ber, eine lange Aus­ein­an­der­set­zung zu ihrem – vor­läu­fi­gen – Ende. Zwi­schen den Weser-Arkaden und der Wilhelm-Kaisen-Brücke, in Sicht­weite der Deutsch­land­zen­trale des Logis­tik­kon­zerns Kühne + Nagel, wird ein Mahn­mal zur Erin­ne­rung an den Raub jüdi­schen Eigen­tums wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus ein­ge­weiht. Die Nähe zu Kühne + Nagel ist gewollt: Der 1890 in Bre­men gegrün­dete, heute welt­weit dritt­größte Logis­ti­kon­zern hat von den han­se­städ­ti­schen Trans­port­un­ter­neh­men mit Abstand am meis­ten vom Raubs jüdi­schen Ver­mö­gens in der NS-Zeit pro­fi­tiert. Mit ihrem fak­ti­schen Mono­pol für den Abtrans­port geraub­ten jüdi­schen Eigen­tums aus Frank­reich und den Benelux-Ländern konnte Kühne + Nagel im Rah­men der soge­nann­ten „M‑Aktion“ (M für „Möbel“) des NS-Staates große Pro­fite machen und ihr Fir­men­netz­werk inter­na­tio­na­li­sie­ren. Der Anteils­eig­ner Adolf Maas, der den Ham­bur­ger Fir­men­stand­ort auf­baute – ein Jude – wurde 1933 aus der Firma gedrängt und spä­ter in Ausch­witz ermordet.

Trotz die­ser bekann­ten Zusam­men­hänge wei­gert sich Kühne + Nagel, vor allem in Per­son des Patri­ar­chen und Fir­men­er­ben Klaus-Michael Kühne (86) bis heute beharr­lich, die eigene Mit­tä­ter­schaft auf­zu­ar­bei­ten. Das nun fer­tig­ge­stellte Mahn­mal wider­spricht mit der Nähe zur K+N‑Zentrale die­ser spe­zi­el­len Ver­tu­schung. Es the­ma­ti­siert aber zugleich die gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Ver­drän­gung des Aus­ma­ßes der „Ari­sie­rung“ jüdi­sche Eigen­tums im Natio­nal­so­zia­lis­mus. Der Ent­wurf von Künstler*in Evin Oet­tings­hau­sen zeigt in einem lee­ren Raum nur Schat­ten geraub­ter Möbel – von die­sem Ver­bre­chen ist, ganz wört­lich, fast nichts zu sehen. Der Initia­tor der Mahnmals-Kampagne, der Bre­mer Jour­na­list Hen­ning Bleyl, schil­dert gegen­über Untie­fen, was die Kam­pa­gne für das Mahn­mal poli­tisch erreicht hat:

„Das Mahnmal-Projekt zeigt, dass man den Anspruch auf his­to­ri­sche Wahr­heit auch gegen­über einem hofier­ten Inves­tor durch­set­zen kann. Es war ein lan­ger Weg – aber jetzt führt die­ser Weg zur Ein­wei­hung eines unter brei­ter Bre­mer und inter­na­tio­na­ler Betei­li­gung ent­stan­de­nen Mahn­mals an der Weser, vor Küh­nes Haus­tür. Und das eigent­li­che Thema, Bre­mens Rolle als Hafen- und Logis­tik­stadt bei der euro­pa­wei­ten ‚Ver­wer­tung‘ jüdi­schen Eigen­tums, hatte im Lauf die­ses Pro­zes­ses viele Gele­gen­hei­ten, in der Gesell­schaft anzukommen.“

Klaus-Michael Kühne ist natür­lich auch in Ham­burg kein Unbe­kann­ter. Als Spon­sor und Mäzen stützt er den HSV, finan­ziert aber über seine Kühne-Stiftung auch das Phil­har­mo­ni­sche Staats­or­ches­ter, för­dert den Betrieb der Elb­phil­har­mo­nie und hob das das Har­bourfront Lite­ra­tur­fes­ti­val aus der Traufe. Dort finan­zierte er bis 2022 den jähr­lich ver­ge­be­nen Klaus-Michael Kühne-Preis für das beste Roman­de­büt. Bis letz­tes Jahr – nach einem Anschrei­ben der Untiefen-Redaktion – zwei der für den Preis nomi­nier­ten Autor:innen ihre Teil­nahme zurück­zo­gen. Grund war Kri­tik an der ver­wei­ger­ten Auf­ar­bei­tung der NS-Geschichte des Unter­neh­mens Kühne + Nagel. Diese Rück­tritte sorg­ten für einen Eklat, der einige öffent­li­che Kri­tik an Kühne nach sich zog, wäh­rend er und seine Stif­tung kei­ner­lei Ver­ständ­nis zeig­ten. Mit dem anschlie­ßen­den Rück­zug der Kühne-Stiftung aus der Finan­zie­rung des Fes­ti­vals und der Umbe­nen­nung des Prei­ses wurde die Debatte nach weni­gen Wochen vor­läu­fig beendet.

Im Novem­ber 2022 luden wir daher Hen­ning Bleyl ins Gän­ge­vier­tel ein, um über Kühne + Nagel und die Bre­mer Kam­pa­gne für ein ‚Arisierungs‘-Mahnmal zu spre­chen. Wer möchte kann Hen­ning Bleyls Vor­trag und das anschlie­ßende Dis­kus­sion nun hier auf You­tube nachhören.

Die zen­tra­len Fra­gen für Ham­burg blei­ben indes auch nach der Mahnmal-Einweihung in Bre­men unbe­ant­wor­tet: Warum gibt es in Ham­burg kei­nen kri­ti­schen Umgang mit der NS-Geschichte von Kühne + Nagel? Wie könn­ten Erin­ne­rung, Auf­klä­rung und Kon­se­quen­zen aus­se­hen? Wie kann mit Klaus-Michael Kühne als Kul­tur­spon­sor umge­gan­gen wer­den? Wel­che Pro­bleme der pri­va­ti­sier­ten Kul­tur­för­de­rung ste­hen dahinter?

Es bleibt span­nend, ob auch an der Elbe ein ein­deu­ti­ges Ein­tre­ten der Stadt­ge­sell­schaft für his­to­ri­sche Red­lich­keit erreich­bar ist

Die neue, 15. Aus­gabe des Harbour-Front-Literaturfestivals wird am 14. Sep­tem­ber eröff­net. Bleibt bis auf den Spon­so­ren­wech­sel und die Umbe­nen­nung in Sachen Kühne + Nagel in Ham­burg also alles beim schlech­ten Alten? Hen­ning Bleyl äußerte gegn­über Untie­fen die Erwar­tung, dass auch hier etwas pas­siert: „Es bleibt span­nend, ob auch an der Elbe ein ein­deu­ti­ges Ein­tre­ten der Stadt­ge­sell­schaft für his­to­ri­sche Red­lich­keit erreich­bar ist – trotz des von Kühne auf­ge­wen­de­ten enor­men kul­tu­rel­len und gesell­schaft­li­chen Kapi­tals. Denn das Eigen­tum der jüdi­schen Fami­lien, das Kühne + Nagel im Rah­men der ‚Aktion M‘ aus den besetz­ten Län­dern abtrans­por­tierte, wurde natür­lich auch in Ham­burg sehr bereit­wil­lig von gro­ßen Tei­len der Bevöl­ke­rung ‚über­nom­men‘. Die Stadt pro­fi­tierte in gro­ßem Stil von der Flucht jüdi­scher Men­schen, deren Eigen­tum im Hafen zurück­blieb, statt ver­la­den zu wer­den. Ich bin gespannt, wel­chen Umgang Ham­burg mit die­sem Erbe findet.“

Wie die Bre­mer Initia­tive erfolg­reich wurde, lässt sich in dem Mit­schnitt von Bleyls Vor­trag nach­hö­ren. Die Ein­wei­hung des Bre­mer Mahn­mals fin­det am Sonn­tag, 10.09., um 11 Uhr direkt vor Ort statt. Ab 18 Uhr folgt ein öffent­li­ches Vortrags- und Dis­kus­si­ons­pro­gramm in der Bre­mi­schen Bürgerschaft. 

Felix Jacob

Dokumente der Barbarei

Hermann Wilhelm Leopold Ludwig Wissmann, seit 1890 von Wissmann (* 4. September 1853 in Frankfurt (Oder); † 15. Juni 1905 in Weißenbach bei Liezen, Steiermark) war ein deutscher Abenteurer, Afrikaforscher, Offizier und Kolonialbeamter. Ursprünglicher Standort Dares Salam Tansania, später Universität Hamburg

Dokumente der Barbarei

Der Foto­graf Mar­kus Dorf­mül­ler erhielt 2022 für seine Arbeit zu den Spu­ren des Kolo­nia­lis­mus in Ham­burg den Georg-Koppmann-Preis. Gerade sind die Fotos im Museum der Arbeit zu sehen. Wir doku­men­tie­ren in unse­rer Foto­stre­cke eine Aus­wahl der Bilder.

Das Denk­mal von Her­mann Wiss­mann (1853–1905) wurde 1968 gestürzt. Foto (Aus­schnitt): M. Dorfmüller

»Es ist nie­mals ein Doku­ment der Kul­tur, ohne zugleich ein sol­ches der Bar­ba­rei zu sein. Und wie es selbst nicht frei ist von Bar­ba­rei, so ist es auch der Pro­zess der Über­lie­fe­rung nicht, in der es von dem einen an den ande­ren gefal­len ist.« Diese Sätze ste­hen in der sieb­ten der berühm­ten The­sen Über den Begriff der Geschichte, die Wal­ter Ben­ja­min 1940 nie­der­schrieb. Sie geben das Prin­zip der Arbei­ten Mar­kus Dorf­mül­lers vor, die aktu­ell in der Aus­stel­lung Eyes on Ham­burg im Museum der Arbeit zu sehen ist.

Unter Ben­ja­mins historisch-materialistischem Blick offen­ba­ren sich die ›Kul­tur­gü­ter‹ als Beute, die die Sie­ger der Geschichte in ihrem Tri­umph­zug mit­füh­ren. Die­sen ebenso prä­zi­sen wie kri­ti­schen Blick hat sich Dorf­mül­ler zu eigen gemacht. Seine Foto­gra­fien doku­men­tie­ren die Spu­ren des Kolo­nia­lis­mus ebenso wie sein Fort­wir­ken in der post­ko­lo­nia­len Gegen­wart Ham­burgs. Damit ste­hen sie quer zum auf­trump­fen­den Titel der Ausstellung.

Nicht immer sind die Spu­ren des Kolo­nia­lis­mus, dem sich der Reich­tum der Han­dels­stadt Ham­burg ver­dankt, über­haupt noch sicht­bar. Auch aus die­sem Grund sind die Fotos mit Bild­un­ter­schrif­ten ver­se­hen. Sie stel­len die ein­zel­nen Bil­der in ihren gesell­schaft­li­chen Zusam­men­hang, infor­mie­ren über his­to­ri­sche Kon­texte und benen­nen Täter und Pro­fi­teure kolo­nia­ler Gewalt und Aus­beu­tung. In der Aus­stel­lung wird die­ses Kennt­lich­ma­chen von Zusam­men­hän­gen und Struk­tu­ren noch unter­stützt durch die kon­stel­lie­rende Hängung. 

Gegenwärtige Vergangenheit

Man­che der abge­bil­de­ten Orte und ihre kolo­niale Geschichte sind weit­ge­hend bekannt – etwa das Bis­marck­denk­mal oder das Afri­ka­haus (siehe dazu auch unsere eigene Bil­der­stre­cke über kolo­niale Spu­ren in Ham­burg). Viele Gegen­stände und Zusam­men­hänge hin­ge­gen wer­den den meis­ten Besucher:innen neu sein: etwa dass die Pri­vat­bank Don­ner & Reuschel ihr Ver­mö­gen maß­geb­lich kolo­nia­ler Aus­beu­tung ver­dankt; oder dass die Vor­stands­kon­fe­ren­zen der Uni­le­ver bis zu ihrem Umzug in die Hafen­city 2009 vor einer Intar­si­en­wand mit kolo­nia­ler Bild­spra­che statt­fan­den. Andere Foto­gra­fien wie­derum doku­men­tie­ren Spu­ren, die man leicht über­sieht, etwa die Grab­stät­ten und Gedenk­steine für Gene­räle deut­scher Kolo­ni­al­trup­pen oder für Palmölfabrikanten.

Man­che Fotos zei­gen Über­wun­de­nes – beson­ders ein­drück­lich die 1968 von Stu­die­ren­den gestürzte Wissmann-Statue, die nun lädiert, besprüht und mit einer Hals­krause ver­se­hen in einer Depot­kiste liegt. Die Fotos machen aber auch kennt­lich, wie unmit­tel­bar die kolo­niale Ver­gan­gen­heit bis­wei­len in die Gegen­wart hin­ein­reicht. Unver­hoh­len zeigt sich das in einer Skulp­tur auf der soge­nann­ten »Cof­fee Plaza« in der Hafen­city. Sie wurde dort 2009 von der Neu­mann Kaf­fee Gruppe, dem welt­größ­ten Kaf­fee­im­por­teur, errich­tet. Die Inschrift der sti­li­sier­ten Kaf­fee­bohne zeugt von einer Unbe­darft­heit, die sich auf Ver­ro­hung reimt: »Über 1 Mrd. Men­schen trin­ken täg­lich 3 Mrd. Tas­sen Kaf­fee, die 25 Mio. Fami­lien in 70 tro­pi­schen Län­dern ihre Exis­tenz bieten.«

Das Form­prin­zip von Dorf­mül­lers Foto­gra­fien ist so sach­lich wie effekt­voll. In ana­lo­gem 4x5-inch-Format foto­gra­fiert, kom­men sie ohne Gim­micks aus. Es gibt weder dra­ma­ti­sierte Kon­traste, noch Unschär­fen oder extreme Per­spek­ti­ven. Die Wir­kung ver­dankt sich viel­mehr ganz sub­ti­len Ver­fah­ren: Durch distan­zierte Tota­len etwa wird reprä­sen­ta­ti­ven Gebäu­den ihre impo­sante Wir­kung genom­men;1Dass Dorf­mül­ler haupt­be­ruf­lich Archi­tek­tur foto­gra­fiert, macht sich auf die­sen Bil­dern beson­ders bemerk­bar. Auf dem gemein­sam mit sei­ner Kol­le­gin Johanna Klier betrie­be­nen Instagram-Account fin­den sich viele ein­drück­li­che Archi­tek­tur­fo­to­gra­fien, die nicht zuletzt Gebäude vor ihrem (dro­hen­den) Abriss doku­men­tie­ren. und frag­men­tie­rende Bild­aus­schnitte kon­ter­ka­rie­ren die Wir­kungs­in­ten­tion von Denk­mä­lern, ver­mei­den die Repro­duk­tion ras­sis­ti­scher oder ste­reo­ty­per Darstellungen.

Der his­to­ri­sche Mate­ria­list, schreibt Ben­ja­min, »betrach­tet es als seine Auf­gabe, die Geschichte gegen den Strich zu bürs­ten«. Mar­kus Dorf­mül­ler zeigt ein­drück­lich, wie man die­ser Auf­gabe mit den Mit­teln der Foto­gra­fie gerecht wer­den kann.

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Eine Bro­schüre mit Mar­kus Dorf­mül­lers Fotos und Tex­ten steht zum Ver­kauf in allen Muse­ums­shops der Stif­tung His­to­ri­sche Museen Ham­burg. Die Aus­stel­lung Eyes on Ham­burg ist noch bis zum 3. Okto­ber 2023 im Museum der Arbeit in Barm­bek zu sehen. Neben der Foto­se­rie von Mar­kus Dorf­mül­ler sind in ihr Arbei­ten von Axel Beyer, Robin Hinsch, Sabine Bungert/Stefan Dol­fen, Alex­an­dra Polina und Irina Rup­pert vertreten.

Wir dan­ken Mar­kus Dorf­mül­ler für die freund­li­che Geneh­mi­gung, hier eine Aus­wahl sei­ner Bil­der zei­gen zu dür­fen. Sämt­li­che Rechte an den Bil­dern sowie den Bild­un­ter­schrif­ten lie­gen bei ihm.2Die Bild­un­ter­schrif­ten las­sen sich in der Foto­stre­cke durch Kli­cken bzw. Tip­pen auf das jewei­lige Bild aus- und wie­der einblenden.

Redak­tion Untiefen

  • 1
    Dass Dorf­mül­ler haupt­be­ruf­lich Archi­tek­tur foto­gra­fiert, macht sich auf die­sen Bil­dern beson­ders bemerk­bar. Auf dem gemein­sam mit sei­ner Kol­le­gin Johanna Klier betrie­be­nen Instagram-Account fin­den sich viele ein­drück­li­che Archi­tek­tur­fo­to­gra­fien, die nicht zuletzt Gebäude vor ihrem (dro­hen­den) Abriss dokumentieren.
  • 2
    Die Bild­un­ter­schrif­ten las­sen sich in der Foto­stre­cke durch Kli­cken bzw. Tip­pen auf das jewei­lige Bild aus- und wie­der einblenden.

„Der Antifeminismus hat heute eine Scharnierfunktion“

„Der Antifeminismus hat heute eine Scharnierfunktion“

Mit Femi­nis­mus kann heute Staat gemacht wer­den. Zugleich schei­nen anti­fe­mi­nis­ti­sche Posi­tio­nen in den Main­stream vor­zu­drin­gen. Und auch die Gewalt gegen Frauen, Les­ben, Inter- und Trans­per­so­nen sowie Agen­der nimmt zu. Der Sozi­al­wis­sen­schaft­ler Flo­rian Hes­sel forscht zu Anti­fe­mi­nis­mus, Anti­se­mi­tis­mus und Ver­schwö­rungs­vor­stel­lun­gen, und ist Mit­glied des poli­ti­schen Bil­dungs­ver­eins Bag­rut e.V. Im Gespräch mit Untie­fen erklärt er, wie Anti­fe­mi­nis­mus heute funk­tio­niert und wer ihn in Ham­burg verbreitet.

Flo­rian Hes­sel beim Inter­view in der Zen­tra­len Biblio­thek Frau­en­for­schung, Gen­der und Queer Stu­dies. Foto: Untiefen

Untie­fen: Lie­ber Flo, Du hast Ende Juni in der Zen­tra­len Biblio­thek Frau­en­for­schung, Gen­der und Queer Stu­dies zusam­men mit Rebekka Blum sowie mit Ham­burg ver­netzt gegen Rechts eine Ver­an­stal­tung orga­ni­siert unter dem Titel „Anti­fe­mi­nis­mus (als anti­de­mo­kra­ti­sche Her­aus­for­de­rung) – All­tag und poli­ti­sche Mobi­li­sie­rung in Ham­burg”. Wir wür­den dazu gern ein paar Fra­gen ver­tie­fen und eure Ein­schät­zun­gen in Bezug auf Ham­burg auch jen­seits der Ver­an­stal­tung zugäng­lich machen. Zunächst würde uns aber inter­es­sie­ren wie Du eigent­lich, per­sön­lich und als Sozi­al­wis­sen­schaft­ler, zum Thema Anti­fe­mi­nis­mus gekom­men bist?

Flo­rian Hes­sel: Dafür war einer­seits ein per­sön­li­cher Kon­takt wich­tig: Meine Ver­eins­kol­le­gin Janne Misie­wicz hat ihre Bache­lor­ar­beit über die Bezie­hung von Anti­fe­mi­nis­mus und Anti­se­mi­tis­mus geschrie­ben und wir haben viel dis­ku­tiert und uns dann ent­schlos­sen, dazu gemein­sam einen Text zu schrei­ben. Auf der ande­ren Seite ist Anti­fe­mi­nis­mus ganz all­ge­mein in den letz­ten 10 Jah­ren viel sicht­ba­rer und wirk­mäch­ti­ger gewor­den. Die Grün­dung und Ent­wick­lung der AfD ist ein Grund dafür, aber viele andere Ent­wick­lun­gen spie­len mit hin­ein. Und als Per­son, als Wis­sen­schaft­ler, der sich im pro­gres­si­ven Spek­trum und als Femi­nist ver­or­tet, fühle ich mich auch ver­pflich­tet, jeder Form von Men­schen­feind­schaft ent­ge­gen zu treten.

Untie­fen: Ihr habt bei der Ver­an­stal­tung ja sicher nicht zufäl­lig den Begriff „Anti­fe­mi­nis­mus“ in den Mit­tel­punkt gestellt, und nicht etwa Frau­en­feind­schaft oder Sexis­mus. Warum habt ihr die­sen Fokus gewählt und was ver­stehst Du, was ver­steht ihr unter Antifeminismus?

Hes­sel: Ich würde die Begriffe erst­mal grund­sätz­lich so sor­tie­ren: Sexis­mus bezieht sich immer in irgend­ei­ner Form auf geschlechts­be­zo­gene Unter­schiede, aber nicht zwangs­läu­fig auf Frauen. Das kann posi­tiv oder nega­tiv for­mu­liert wer­den. Die klas­si­schen Aus­sa­gen, also etwa, dass Frauen emo­tio­na­ler seien und Män­ner sach­li­cher und so wei­ter, schrän­ken – jetzt allein auf die Indi­vi­duen bezo­gen – Men­schen glei­cher­ma­ßen ein, zum Bei­spiel wenn man sich als Mann ver­steht und dann meint, keine Gefühle zei­gen zu dürfen.

Frau­en­feind­schaft und Anti­fe­mi­nis­mus hin­ge­gen rich­ten sich immer gegen Frauen. Von­ein­an­der unter­schei­den las­sen sie sich am bes­ten his­to­risch. Frau­en­hass beglei­tet die gesamte Zivi­li­sa­ti­ons­ge­schichte, seit es patri­ar­chale Geschlecht­er­ord­nun­gen gibt. Anti­fe­mi­nis­mus ist dage­gen ein moder­nes Phä­no­men. Ursprüng­lich rich­tete er sich gegen den Kampf für das Frau­en­wahl­recht und die Gleich­be­rech­ti­gung von Frauen im Kai­ser­reich. Die deut­sche Publi­zis­tin Hed­wig Dohm hat mit ihrer Streit­schrift „Die Anti­fe­mi­nis­ten“ (1902) in die­sem Zusam­men­hang den Begriff erst­mals geprägt. Grund­sätz­lich defi­niert haben ihn dann Forscher:innen wie Her­rad Schenk in den 1980er Jah­ren und Ute Pla­nert in den 1990ern. Die Beschrei­bung, auf die man sich wis­sen­schaft­lich eini­gen kann, ist, dass Anti­fe­mi­nis­mus eine Reak­tion auf Bemü­hun­gen um Gleich­be­rech­ti­gung im Geschlech­ter­ver­hält­nis ist. Diese Defi­ni­tion bezieht sich also zum einen auf das Geschlech­ter­ver­hält­nis. Das mag uns zwar als tra­di­tio­nell und alt­her­ge­bracht erschei­nen. Aber was wir heute dar­un­ter ver­ste­hen, ist erst in der Moderne ent­stan­den, also die bür­ger­li­che Kern­fa­mi­lie, die nor­ma­tiv auf­ge­la­dene Arbeits­ver­tei­lung, die damit ver­bun­de­nen Geschlech­ter­rol­len und Rol­len­ste­reo­type und so wei­ter. Zum ande­ren geht es um die poli­ti­schen Kämpfe um Gleich­stel­lung, die auch ein Phä­no­men der Moderne sind.
Anti­fe­mi­nis­mus bezieht sich also ganz und gar auf die moderne, kapi­ta­lis­ti­sche Gesell­schaft und die eman­zi­pa­to­ri­schen Ten­den­zen in ihr. Als poli­ti­sche Bewe­gung rich­tet er sich offen gegen Gleich­be­rech­ti­gungs­be­mü­hun­gen. Ein his­to­ri­sches Bei­spiel ist der „Bund zur Ver­hin­de­rung der Frau­en­eman­zi­pa­tion“ im Kai­ser­reich. Auch heute gibt es solch einen orga­ni­sier­ten Anti­fe­mi­nis­mus, das hat etwa in der Grün­dung der AfD eine wich­tige Rolle gespielt. Noch wich­ti­ger als den Blick auf Anti­fe­mi­nis­mus als poli­ti­sche Bewe­gung finde ich aber, ihn auch als ein spe­zi­fi­sches Res­sen­ti­ment zu ver­ste­hen. Also als eine mit bestimm­ten Emo­tio­nen und Affek­ten auf­ge­la­dene und in ver­schie­de­nen Aus­prä­gun­gen auf­tre­tende, pro­jek­tive Ableh­nung der Ver­un­si­che­rung und des Unbe­ha­gens im Geschlech­ter­ver­hält­nis in der Moderne.

Untie­fen: Du unter­schei­dest also zwi­schen dem Res­sen­ti­ment als Mas­sen­phä­no­men und dem orga­ni­sier­ten Anti­fe­mi­nis­mus, also den Leu­ten, die sich poli­tisch unter die­sem Ban­ner zusam­men­fin­den. Gibt es denn, auch in Ham­burg, so etwas wie eine anti­fe­mi­nis­ti­sche Szene? Im Sinne von Leu­ten wie etwa Yan­nic Hendricks, die vor der Abschaf­fung des § 219a Ärzt:innen ange­zeigt haben, die Abtrei­bun­gen durch­füh­ren? Oder sind das in ers­ter Linie rechts­extreme Struk­tu­ren, die auch anti­fe­mi­nis­tisch sind? Wie wür­dest Du das einschätzen?

Hes­sel: Es gibt diese orga­ni­sier­ten Struk­tu­ren, auch in Ham­burg. Das genannte Bei­spiel ist ein klas­sisch anti­fe­mi­nis­ti­scher, frau­en­feind­li­cher Akteur. Zuerst aber: Gewalt gegen Frauen ist, auch in Ham­burg, weit ver­brei­tet. Für 2021 wur­den etwa 5000 Fälle von – teil­weise schwe­rer – Gewalt gegen Frauen gezählt. Und bei den Ham­bur­ger Frau­en­häu­sern suchen im Schnitt 4 Frauen pro Tag Hilfe, zugleich sind die Häu­ser durch­schnitt­lich zu 95 % belegt. Also oft voll­kom­men aus­ge­las­tet. Daher wird ja auch schon län­ger ein wei­te­res Frau­en­haus gefor­dert. Hof­fent­lich kommt das auch bald zu Stande.

Bevor wir zu kon­kre­ten anti­fe­mi­nis­ti­schen Akteur:innen in Ham­burg kom­men, ist es denke ich wich­tig noch etwas Kon­text her­zu­stel­len: Eine Beson­der­heit von Res­sen­ti­ments heute ist, dass sich fast nie­mand offen zu ihnen bekennt. Nie­mand will Ras­sist oder Anti­se­mit sein. Bei Anti­fe­mi­nis­mus ist das etwas anders: Er wird in der Öffent­lich­keit nur sehr sel­ten als Res­sen­ti­ment benannt, das Pro­blem ist wenig bekannt. Bestimmte Schlag­wör­ter wie „Gen­der­gaga“, „Gen­de­ris­mus“ oder „Frau­en­lobby“ sind in der Öffent­lich­keit ziem­lich frei im Umlauf, z.B. als Click­bait bei Spie­gel Online oder als Signal­wör­ter in sozia­len Medien. Anti­fe­mi­nis­mus hat daher heute eine starke Integrations- und Schar­nier­funk­tion, orga­ni­sa­to­risch aber auch ideo­lo­gisch. Die Poli­tik­wis­sen­schaft­le­rin Juliane Lang oder auch die Sozio­lo­gin Rebekka Blum haben das gut her­aus­ge­ar­bei­tet, sie spre­chen auch von einer „Brü­cken­ideo­lo­gie“. Das heißt ein­mal, Anti­fe­mi­nis­mus tritt heute meis­tens nicht allein auf, son­dern ver­bun­den mit ande­ren anti­mo­der­nen Res­sen­ti­ments. Wie diese Ver­schrän­kun­gen in Bezug auf Anti­fe­mi­nis­mus und Anti­se­mi­tis­mus, aber auch Ver­schwö­rungs­vor­stel­lun­gen funk­tio­nie­ren, haben Janne Misie­wicz und ich – hof­fent­lich anschau­lich – an einem exem­pla­ri­schen Fall ana­ly­siert. Der Kern ist in jedem Fall die Behaup­tung, gesell­schaft­li­che Ver­än­de­rungs­pro­zesse oder soziale Bewe­gun­gen seien min­des­tens von außen mani­pu­liert, wür­den viel­leicht gar als Instru­mente zu ande­ren Zwe­cken erzeugt. Damit ein­her geht die Schaf­fung ent­spre­chen­der, meist per­so­nal iden­ti­fi­zier­ba­rer Feindbilder.

Wei­ter wird Anti­fe­mi­nis­mus – wie gesagt – vor allem durch Chif­fren und Schlag­wör­ter kom­mu­ni­ziert. Ein Schlag­wort wie „Gen­der­gaga“ wirkt dann wie ein Schar­nier zwi­schen Spek­tren, von der extre­men, neo­na­zis­ti­schen, völ­ki­schen oder Neuen Rech­ten bis tief in die soge­nannte bür­ger­li­che Mitte hin­ein. Man meint nicht immer genau das Glei­che, aber man kann sich auf eine gewisse Grund­lage eini­gen. Unter ande­rem dar­auf, dass man heute das Geschlech­ter­ver­hält­nis und „die Fami­lie“ vor „dem Femi­nis­mus“ in Schutz neh­men müsse. Dass also die Eman­zi­pa­tion weit­ge­hend rea­li­siert sei und nun aber zu weit gehe, sich jetzt gegen die Frauen selbst richte. Die Scharnier- und Inte­gra­ti­ons­funk­tion ist in die­ser Form eine Beson­der­heit des Anti­fe­mi­nis­mus heute, auch daher fin­det man wenig ori­gi­när anti­fe­mi­nis­ti­sche Akteur:innen.

Am nächs­ten kommt dem in Ham­burg die AfD. Andreas Kem­per oder auch Juliane Lang wei­sen schon seit der Par­tei­grün­dung dar­auf hin, dass der orga­ni­sierte Anti­fe­mi­nis­mus eine zen­trale Säule die­ser Par­tei ist – ideo­lo­gisch und orga­ni­sa­to­risch. Das zeigt sich etwa an den klei­nen Anfra­gen der AfD Bür­ger­schafts­frak­tion. 2019 fragte etwa der dama­lige Abge­ord­nete Harald Fein­eis den Senat, wann auch in Ham­burg Mut­ter und Vater zu „Eltern­teil 1“ und „Eltern­teil 2“ gegen­dert wür­den (Druck­sa­che 21/17515). Kleine Anfra­gen sind natür­lich ein wich­ti­ges par­la­men­ta­ri­sches Instru­ment, aber sie die­nen der AfD auch dazu, Struk­tu­ren und Insti­tu­tio­nen zu beschäf­ti­gen und poli­ti­sche Punkte vor­zu­brin­gen. Die Stim­mungs­ma­che gegen die angeb­li­che Rede von „Eltern­teil 1“ und „Eltern­teil 2“ ist – neben dem grund­sätz­li­chen Lächer­lich­ma­chen rea­ler Dis­kus­sio­nen um For­men geschlech­ter­ge­rech­ter Spra­che – für ver­schie­dene Rechte anschluss­fä­hig. Sie ist etwa auch ein zen­tra­ler Tal­king point von Vla­di­mir Putin. Wie er setzt die AfD-Anfrage schon vor­aus, dass es da so etwas wie eine Agenda gibt, Mut­ter und Vater durch geschlechts­neu­trale Bezeich­nun­gen zu erset­zen und fragt nur noch: Wann wird das passieren?

Untie­fen: Und lei­der war die Ant­wort des Senats nicht: Danke, dass sie fra­gen, das wird dann und dann pas­sie­ren – son­dern gewohnt einsilbig.

Hes­sel: Ja, genau, der Senat sagt nur: „Die zustän­dige Behörde hat sich damit noch nicht befasst. Der zustän­di­gen Behörde lie­gen keine Daten ent­spre­chend der Fra­ge­stel­lung vor.“

In der­sel­ben Anfrage fragte Fein­eis den Senat: „Mit wel­chen geschlechts­neu­tra­len Sprach- und Wort­krea­tio­nen beschäf­ti­gen sich die bei der Han­se­stadt ange­stell­ten Mit­ar­bei­ter, vor allem jene im ‚Zen­trum Gen­der­wis­sen‘ [sic!] aktu­ell?“. Das Zen­trum Gen­der­Wis­sen war der Vor­gän­ger des Zen­trums Gen­der und Diver­sity, zu dem die Biblio­thek gehört, in der wir hier gerade spre­chen. Diese Anfra­gen lan­den dann bei den Mitarbeiter:innen, die sich dann mit der Beant­wor­tung befas­sen müs­sen. Mit dem Ergeb­nis: „Dem Senat ist der­zeit keine Beschäf­ti­gung des Zen­trums Gen­der­wis­sen [sic!] mit dem Thema ‚geschlecht­er­neu­trale Spra­che‘ bekannt.“ Von die­sen Anfra­gen zu Geschlech­ter­for­schung und Gleich­stel­lungs­po­li­tik gibt es Dut­zende, die gehen mitt­ler­weile wahr­schein­lich in den drei­stel­li­gen Bereich. Ebenso in ande­ren Bun­des­län­dern und im Bundestag.

Ein wei­te­rer wich­ti­ger Akteur mit Schar­nier­funk­tion ist zumin­dest ein Teil der CDU. Der ehe­ma­lige Lan­des­vor­sit­zende Chris­toph Ploß hat sich da ja sehr her­vor­ge­tan. Zum Auf­takt des letz­ten Bun­des­tags­wahl­kampfs gab es in Ham­burg einen Par­tei­tag unter sei­ner Füh­rung. Haupt­thema war die For­de­rung, „Gen­der­spra­che“ zu ver­bie­ten. Der Hin­ter­grund war der­selbe wie bei der klei­nen Anfrage der AfD, näm­lich, dass der Senat den Ham­bur­ger Behör­den erlaubt hat, gen­der­sen­si­ble oder gen­der­neu­trale Anre­den zu ver­wen­den. Die CDU hat dar­aus gemacht: Hier soll uns etwas ver­bo­ten wer­den – das gehört ver­bo­ten. In die­ser Kon­stel­la­tion, die­ser Ver­keh­rung, liegt eine anschau­li­che Illus­tra­tion der pro­jek­ti­ven Logik von Res­sen­ti­ments. Das zielte ganz ein­deu­tig auf eine öffent­li­che Wir­kung, auf Affekte und Emo­tio­nen. Die wollte man mobi­li­sie­ren und in Wäh­ler­stim­men ummünzen.

Bei der CDU ist das ziem­lich instru­men­tell gedacht. Man hat das auch jetzt im Früh­jahr gese­hen, bei der berüch­tig­ten Ham­bur­ger „Volks­in­itia­tive gegen das Gen­dern in Schu­len und Behör­den“. Die CDU hat sich einer­seits von der Orga­ni­sa­to­rin Sabine Mer­tens distan­ziert, weil die rechts­of­fen und homo­phob auf­tritt. Zugleich aber will sie von der Initia­tive und den dadurch erhoff­ten Wäh­ler­stim­men nicht ablas­sen. Sie ver­sucht also von den Affek­ten zu pro­fi­tie­ren, die­sem „Man will uns hier von oben etwas aufdrücken“.

Schließ­lich noch zu den akti­vis­ti­schen Milieus: Das sind ein­zelne Per­so­nen oder kleine, oft eher lose Grup­pen, ange­fan­gen mit den bereits von Dir erwähn­ten Abtreibungsgegner:innen oder christlich-fundamentalistischen Grup­pie­run­gen. Die schei­nen mir aller­dings für Ham­burg keine beson­dere Bedeu­tung zu haben. Wich­ti­ger sind da gerade Zusam­men­hänge wie das über­schau­bare Netz­werk von Per­so­nen, das aktu­ell die Initia­tive gegen „Gen­der­spra­che“ betreibt. Eine ähn­li­che Struk­tur hat auch die Querdenken-Szene, und hier wur­den anti­fe­mi­nis­ti­sche Topoi im bun­des­wei­ten Ver­gleich in Ham­burg sehr stark bedient. Dazu gibt es einen aktu­el­len Bericht, ver­fasst unter ande­rem von Larissa Denk. Vor allem über die schon klas­sisch zu nen­nende Chif­fre der Kin­der, die vor Mas­ken und Pan­de­mie­maß­nah­men geschützt wer­den müss­ten – oder auch vor staat­li­chen Schu­len und dem, was dort über Geschlecht und Sexua­li­tät gelehrt wird. Das zeigte sich dann an Initia­ti­ven wie „Eltern ste­hen auf“. Die knüpft an einen der Kris­tal­li­sa­ti­ons­punkte des orga­ni­sier­ten Anti­fe­mi­nis­mus in Deutsch­land an. In den Jah­ren 2014/2015 ent­stand aus der Agi­ta­tion gegen den Bil­dungs­plan in Baden-Württemberg die Bewe­gung „Demo für alle“. Diese „besorg­ten Eltern“ rich­te­ten und rich­ten sich gegen eine ver­meint­li­che „Früh­sexua­li­sie­rung“ und „Gen­de­ri­sie­rung“.

Trieb auch in Ham­burg sein Unwe­sen: Der anti­fe­mi­nis­ti­sche Akti­vist Yan­nic Hendricks. Foto: Hinnerk11 Lizenz: CC BY-SA 4.0

Untie­fen: Eine tra­gende Säule ist der Anti­fe­mi­nis­mus also bei den poli­ti­schen Par­teien eigent­lich nur bei der AfD. Auch die Taz hat die CDU im Zusam­men­hang mit der Volks­in­itia­tive gegen „Gen­der­spra­che“ als „nütz­li­che Idio­ten“ statt als Über­zeu­gungs­tä­ter bezeich­net. Und sicher stimmt es, dass der Ham­bur­ger Land­ver­band libe­ral ist. Aber: his­to­risch hat das die CDU ja nicht abge­hal­ten – siehe die von Beus/Schill-Koalition 2001–2003 – sich von popu­lis­ti­schen radi­ka­len Rech­ten zur Macht ver­hel­fen zu las­sen. Wenn wir momen­tan von einem Stimmen- und Macht­zu­wachs der AfD aus­ge­hen müs­sen: Könnte es sein, dass die CDU den Anti­fe­mi­nis­mus in Zukunft stär­ker als Thema (wieder-)entdecken wird? Eben weil er diese Schar­nier­funk­tion hat? Oder ist da das libe­rale Selbst­ver­ständ­nis doch zu wirksam?

Hes­sel: Libe­ral bedeu­tet bei der Ham­bur­ger CDU ja vor allem wirt­schafts­li­be­ral – im Sinne von: was gut für Hafen und Han­del ist, ist gut für die Stadt.

Untie­fen: Auch wenn das heißt, dass z.B. Frauen mit Kin­dern beim Container-Hafenbetrieb Euro­kai Teil­zeit­ar­beit sys­te­ma­tisch ver­wehrt wird.

Hes­sel: Ja. Aber die CDU ver­tritt den­noch einen moder­ni­sier­ten Kon­ser­va­tis­mus. Das ist ja eine der Errun­gen­schaf­ten der deut­schen poli­ti­schen Land­schaft nach 1945: Bestimmte Tra­di­ti­ons­li­nien der gro­ßen kon­ser­va­ti­ven poli­ti­schen Par­teien konn­ten wirk­lich abge­schnit­ten wer­den. Für Ham­burg teile ich die Ein­schät­zung der Taz, dass der aktu­elle Vor­sit­zende, Den­nis The­ring, kein Inter­esse an einer anti­fe­mi­nis­ti­schen Posi­tio­nie­rung hat. Aber den­noch will man es sich mit die­sem Wäh­ler­po­ten­tial nicht ver­scher­zen. Man manö­vriert, man ver­sucht es nicht zu offen­siv anzu­ge­hen, will sich diese The­men aber auch nicht ganz neh­men las­sen, weil es dann doch ein bestimm­tes inter­es­sier­tes Milieu gibt, das CDU wählt oder ver­meint­lich wäh­len könnte.

Bei der Bundes-CDU gibt es dage­gen sehr deut­li­che Zei­chen, dass das anti­fe­mi­nis­ti­sche Ticket stär­ker gezo­gen wer­den wird. Äuße­run­gen von Fried­rich Merz, aber auch die Rede von Clau­dia Pech­stein las­sen das erken­nen. Das ver­sucht einen recht weit ver­brei­te­ten libe­ra­len, bes­ser viel­leicht: liber­tä­ren Anti­li­be­ra­lis­mus zu mobi­li­sie­ren: Hier würde „dem Volk“ von „den Eli­ten“ in Ber­lin etwas auf­ge­drückt und das Leben mies­ge­macht. Wir sehen hier auch wie­der die schon erwähnte Ver­schrän­kung und Ver­mi­schung mit Ele­men­ten ande­rer Res­sen­ti­ments, von Intel­lek­tu­el­len­feind­lich­keit etwa, Ver­schwö­rungs­vor­stel­lun­gen und zumin­dest die Anschluss­fä­hig­keit an einen gewis­sen laten­ten Anti­se­mi­tis­mus. Mar­kus Söder hat schon im Früh­jahr gegen eine „Woke-Ideologie“ gewet­tert und gesagt: „Wir brau­chen keine Gedan­ken­po­li­zei, son­dern mehr Poli­zei auf den Stra­ßen.“ Sol­che Aus­sa­gen zei­gen schon in ihrer For­mu­lie­rung, man mobi­li­siert auto­ri­täre Bedürf­nisse en gros, gegen die Ver­un­si­che­run­gen und Her­aus­for­de­run­gen einer plu­ra­lis­ti­schen, diver­sen, hete­ro­ge­nen Gesellschaft.

Untie­fen: Wes­halb er dann auch die Grü­nen als poli­ti­schen Haupt­feind dar­stellt, statt die AfD, die ja poli­tisch offen­sicht­lich die viel grö­ßere Bedro­hung für die CDU/CSU ist.

Hes­sel: Genau. Und das ist nicht ein­mal stra­te­gisch klug. Die AfD ist mitt­ler­weile eine eta­blierte Par­tei und kann mit einem gewis­sen Erfolgs­ver­spre­chen locken. Gerade wenn Men­schen zwar gefühlt rebel­lie­ren wol­len, aber sich immer von Auto­ri­tä­ten und „der Mehr­heit“, vom „Wir“ gedeckt sehen wol­len, warum soll­ten die in die­ser Kon­stel­la­tion CDU wäh­len statt AfD? Der gefähr­li­che Effekt wird viel­mehr eine wei­tere Nor­ma­li­sie­rung auto­ri­tä­rer Hal­tun­gen und Ideo­lo­gie­frag­mente sein.

Untie­fen: Wenn wir noch­mal auf die Mas­se­ne­bene schauen: Anhand wel­cher Indi­ka­to­ren kann man able­sen, dass Anti­fe­mi­nis­mus als All­tags­phä­no­men zunimmt? Und: Was gibt er eigent­lich den Leu­ten, warum ver­fängt die­ses Res­sen­ti­ment immer wieder?

Hes­sel: Seit der vor­letz­ten Leip­zi­ger Auto­ri­ta­ris­mus­stu­die wer­den zum ers­ten Mal expli­zit anti­fe­mi­nis­ti­sche Ein­stel­lun­gen abge­fragt. Zum Bei­spiel durch Zustim­mung zu Aus­sa­gen wie: „Frauen machen sich in der Poli­tik häu­fig lächer­lich.“ Her­aus­ge­kom­men ist, dass aktu­ell 25 % der Befrag­ten ein zusam­men­hän­gen­des, anti­fe­mi­nis­ti­sches Welt­bild haben, bei Män­nern ist es jeder Dritte. Die Zustim­mung zu ein­zel­nen Items ist teil­weise noch höher. Wir kön­nen das aber auch able­sen an der Zunahme all­täg­li­cher, frauen- oder trans­feind­li­cher Gewalt – über ein paar Zah­len haben wir ja schon kurz gespro­chen – und an der Zunahme bestimm­ter Ver­öf­fent­li­chun­gen und öffent­li­cher Dis­kus­sio­nen, z.B. um gen­der­sen­si­ble Spra­che. Und nicht zuletzt eben am Erfolg der AfD, für die Anti­fe­mi­nis­mus von Beginn an zen­tral war.

Zur Frage, was es den Leu­ten gibt: Wie in allen Res­sen­ti­ments fin­det hier eine Umkeh­rung oder Ver­schie­bung statt. Kon­kret: Statt der Ver­un­si­che­rung und dem Unbe­ha­gen im Geschlech­ter­ver­hält­nis wird die Beschäf­ti­gung damit zum eigent­li­chen Pro­blem erklärt. Zum Bei­spiel in Form der Gen­der Stu­dies, über die Chif­fre „der Femi­nis­mus“, mit den Codes und Schlag­wör­tern, über die wir bereits gespro­chen haben. Es wird also auf eine auto­ri­täre, pro­jek­tive Weise auf gesell­schaft­li­che Wider­sprü­che und Kri­sen­ten­den­zen der moder­nen kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft reagiert. Man benennt angeb­lich Schul­dige und ver­sucht, das ganz reale Unbe­ha­gen durch eine „Rück­kehr“ zu einer Ord­nung zu besei­ti­gen, die es so nie gege­ben hat. Die vor­herr­schen­den Vor­stel­lun­gen von der bür­ger­li­chen Kern­fa­mi­lie – Vater, Mut­ter, gemein­same Kin­der, ver­hei­ra­tet, mit kla­rer Ord­nung von Auto­ri­tät und Macht – ent­spre­chen seit etwa 30 Jah­ren zuneh­mend weni­ger der Rea­li­tät. Fami­li­en­for­men haben sich ver­viel­fäl­tigt. Das hat natür­lich eman­zi­pa­to­ri­sche Momente, ist aber zugleich für uns alle auch höchst ver­un­si­chernd. Dahin­ter steht ja auch eine gesell­schaft­li­che Ver­än­de­rung, oft eine Pre­ka­ri­sie­rung der Arbeits­ver­hält­nisse und Berufs­bio­gra­phien, gene­rell eine Umver­tei­lung von Bil­dungs­res­sour­cen, von Lebens­chan­cen und von Reich­tum auf immer weni­ger Menschen.

Dar­auf reagiert Anti­fe­mi­nis­mus, des­halb sind Men­schen auch jen­seits ultra­kon­ser­va­ti­ver Milieus für ihn emp­fäng­lich. Wie jedes Res­sen­ti­ment kann aller­dings auch der Anti­fe­mi­nis­mus das Ver­spre­chen einer sta­bi­len, beru­hi­gen­den Ord­nung nie erfül­len. Das Geschlech­ter­ver­hält­nis, so hat es Rebekka Blum tref­fend in unse­rem Podi­ums­ge­spräch for­mu­liert, ist ja immer in der Krise, da bleibt also immer eine offene Wunde. Agi­ta­to­ren wol­len diese Wunde auch offen hal­ten, die Unruhe immer wie­der auf­wüh­len und diese Ener­gien dann in ihrem eige­nen Inter­esse lenken.

Untie­fen: Leo Löwen­thal hat das mal so aus­ge­drückt, dass das Unbe­ha­gen wie ein Juck­reiz ist, und statt zu einer hei­len­den The­ra­pie rät der Agi­ta­tor zum Krat­zen, was den Juck­reiz noch steigert.

Hes­sel: Ja, genau!

Untie­fen: Wir haben jetzt über rech­ten und bür­ger­li­chen Anti­fe­mi­nis­mus gespro­chen. Wie steht es mit Anti­fe­mi­nis­mus in migran­ti­schen Com­mu­ni­ties, wo es patri­ar­chale, kon­ser­va­tive Strö­mun­gen des Islam gibt? Das ist sicher von der Zahl der Anhänger:innen und vom Mobi­li­sie­rungs­po­ten­tial her deut­lich klei­ner, zugleich gibt es da doch viel offe­nere und umfang­rei­chere patri­ar­chale Ansprü­che. Wenn wir allein an die Isla­mis­ten vom IZH an der Außen­als­ter den­ken, die das patri­ar­chale Regime im Iran stüt­zen, aber auch hier Iraner:innen bedro­hen, die femi­nis­tisch kämp­fen. Oder an das Al-Azhari Insti­tut in St. Georg mit dem Imam Mah­moud Ahmed, der durch krass patri­ar­chale Pre­dig­ten auf­ge­fal­len ist, und wo es Demos gab mit sepa­ra­ten Frau­en­blö­cken etc. Wie wür­dest Du das im Ver­hält­nis zum rech­ten Anti­fe­mi­nis­mus ein­schät­zen? Ist der zurecht als grö­ße­res Pro­blem stär­ker auf dem Schirm? Oder soll­ten wir uns mehr auch um den isla­mi­schen Anti­fe­mi­nis­mus küm­mern und das im Blick behalten?

Hes­sel: Ich bin lei­der kein wirk­li­cher Ken­ner der isla­mis­ti­schen Szene in Ham­burg. Aber ich glaube, das ist ein gro­ßes Pro­blem. Wenn etwa die Hizb ut-Tahrir oder ihre Front­or­ga­ni­sa­tio­nen es schaf­fen, über Jahre in Ham­burg immer wie­der Demos im drei­stel­li­gen oder gar vier­stel­li­gen Bereich zu orga­ni­sie­ren, dann muss einem das zu den­ken geben. Frau­en­feind­schaft ist ein Kern­be­stand­teil jedes Isla­mis­mus, jedes poli­ti­schen Islam, dazu kommt der Anti­fe­mi­nis­mus, als Ver­län­ge­run­gen des­sen auch Schwu­len­feind­lich­keit, Trans­feind­lich­keit, Res­sen­ti­ments gegen que­ere Men­schen. All das sta­bi­li­siert patri­ar­chale Herr­schaft. Selbst der öster­rei­chi­sche Ver­fas­sungs­schutz hat kürz­lich expli­zit davor gewarnt, dass sich extrem rechte und isla­mis­ti­sche Akteure bis hin zur ter­ro­ris­ti­schen Szene – zusätz­lich zum Juden­hass – genau dar­auf eini­gen kön­nen: auf Queer- und Trans­feind­lich­keit, Schwu­len­feind­lich­keit und Anti­fe­mi­nis­mus. Ich glaube nicht, dass sich da offene Alli­an­zen erge­ben wer­den, zumin­dest nicht in Ham­burg. Aber als ein Hin­ter­grund­rau­schen gibt das zu den­ken. Erst vor eini­gen Mona­ten wur­den ja in Ham­burg isla­mis­ti­sche Anschlags­pläne auf­ge­deckt und ver­hin­dert. Andere, rechts­ter­ro­ris­ti­sche, zumin­dest durch Anti­fe­mi­nis­mus mit grun­dierte Atten­tate konn­ten nicht ver­hin­dert wer­den, etwa der Anschlag auf die Ver­samm­lung der Zeu­gen Jeho­vas in Als­ter­dorf im März. Es kann jeder­zeit zu auch expli­zit anti­fe­mi­nis­ti­schen Anschlä­gen in Ham­burg kom­men. Wer immer sich femi­nis­tisch enga­giert, ist in den Köp­fen von extrem rech­ten, isla­mis­ti­schen und ande­ren Anti­fe­mi­nis­ten ein legi­ti­mes Ziel.

Dage­gen wäre es wich­tig, die gerade statt­fin­den­den Kämpfe gegen patri­ar­chale Herr­schaft aller Art mehr wahr­zu­neh­men und zu unter­stüt­zen, allen voran etwa für mehr Schutz­räume wie Frau­en­häu­ser, aber eben auch den Kampf der Deutsch- und Exil-Iraner:innen in Hamburg.

Untie­fen: Danke für das Gespräch!

Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Kollektivität

Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Kollektivität

Eine Ver­an­stal­tungs­reihe der Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb fragt nach anti­se­mi­ti­schen Welt­bil­dern in gegen­wär­ti­gen Kunst­dis­kur­sen. Die Auf­takt­ver­an­stal­tung fin­det am 03.05.2023, 19.30 Uhr im BARBONCINO zwöl­phi statt.

Im Sep­tem­ber 2022 tra­ten zwei Ver­tre­ter des indo­ne­si­schen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruan­grupa eine Gast­pro­fes­sur an der Ham­bur­ger HfbK an. Seit­dem ist die Aus­ein­an­der­set­zung über die von Ruan­grupa ver­ant­wor­tete anti­se­mi­ti­sche Kunst­schau auch zu einem Streit in Ham­burg gewor­den. Bis­her gab es zwar ver­dienst­volle, aber ver­ein­zelte Pro­teste, zurück­hal­tende Ermah­nun­gen aus der Lan­des­po­li­tik sowie einige wenig ergie­bige Inter­views und Ver­an­stal­tun­gen mit den Ruangrupa-Leuten. Ins­ge­samt aber ist von Betrof­fen­heit oder gar (Selbst-)Kritik inner­halb des Ham­bur­ger Kunst- und Kul­tur­be­triebs wenig zu ver­neh­men. Woran liegt das – auch und gerade jen­seits des offen­sicht­lich unver­bes­ser­li­chen Ruangrupa-Kollektivs?

Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Ham­burg eine „Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb“ gegrün­det. In ihr haben sich in Kunst und Kul­tur Tätige zusam­men­ge­schlos­sen, die mit einer Ver­an­stal­tungs­reihe in das beredte Ham­bur­ger Schwei­gen inter­ve­nie­ren wol­len. Die Reihe unter­sucht anhand dreier für den gegen­wär­ti­gen Kunst­be­trieb zen­tra­ler Begriffe – Kol­lek­ti­vi­tät, Wider­stand und Soli­da­ri­tät – über wel­che Ein­falls­tore sich anti­se­mi­ti­sche Welt­bil­der im Kunst­dis­kurs immer wie­der ver­brei­ten können.

Die Reihe beginnt am 03.05. mit einer Ver­an­stal­tung zu „Kol­lek­ti­vi­tät“.

Die Redak­tion Untie­fen unter­stützt diese Inter­ven­tion (wie auch der Bag­rut e.V., die Untüch­ti­gen sowie der Textem-Verlag) und doku­men­tiert im Fol­gen­den den Ankün­di­gungs­text der Veranstaltung.

Wei­tere Infor­ma­tio­nen zu den fol­gen­den Ver­an­stal­tun­gen wer­den zu gege­be­ner Zeit hier auf Untie­fen und auf dem Insta­gra­m­ac­count der Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb veröffentlicht.


Zahl­rei­che anti­se­mi­ti­sche Dar­stel­lun­gen auf der Docu­menta 15 haben einen seit Jah­ren schwe­len­den Kon­flikt in die breite Öffent­lich­keit geholt – und alt­be­kannte Front­bil­dun­gen ver­schärft. Mitt­ler­weile kann ohne Über­trei­bung von einem Kul­tur­kampf gespro­chen wer­den. Gestrit­ten wird über eine ver­meint­li­che Kon­kur­renz zwi­schen der Erin­ne­rung an die Shoah und der Erin­ne­rung an deut­sche Kolo­ni­al­ver­bre­chen. Gestrit­ten wird nicht zuletzt auch über das jewei­lige Ver­hält­nis zu Israel. Spä­tes­tens durch die Beru­fung zweier Mit­glie­der des Künst­ler­kol­lek­tivs Ruan­grupa an die HFBK ist dies auch ein Ham­bur­ger Streit. Gerade im Kunst­feld wird er vehe­ment geführt. Das lässt die Frage auf­kom­men, ob zen­trale Begriffe in der aktu­el­len Selbst­be­schrei­bung künst­le­ri­scher Pra­xis nicht selbst ideo­lo­gi­sche Ele­mente ent­hal­ten, die gewollt oder unge­wollt anti­se­mi­ti­sche Welt­bil­der repro­du­zie­ren. Anhand der Begriffe Kol­lek­ti­vi­tät, Soli­da­ri­tät und Wider­stand stel­len sich die Gäste unse­rer drei­tei­li­gen Ver­an­stal­tungs­reihe die­ser wich­ti­gen, aber in der bis­he­ri­gen Debatte ver­nach­läs­sig­ten Frage.

Ers­ter Teil: Kol­lek­ti­vi­tät
03. Mai 2023 – 19:30 Uhr
BARBONCINO zwöl­phi

Soviel steht fest: Kol­lek­ti­vi­tät liegt im Trend. Noch nie gab es so viele künst­le­ri­sche Kol­lek­tive wie heute. Sie gewin­nen renom­mierte Preise, lei­ten Thea­ter, Bien­na­len und Groß­ereig­nisse wie die Docu­menta 15. Ihre Popu­la­ri­tät ver­dan­ken sie einem Ver­spre­chen: Basis­de­mo­kra­tisch und anti-hierarchisch, gerecht und inklu­siv sol­len sie sein, nah­bar und zum Mit­ma­chen anre­gend. Über glo­bale Gren­zen hin­weg und gleich­zei­tig lokal ver­bun­den gel­ten sie als Weg­wei­ser zu einer neuen soli­da­ri­schen Sharing-Ökonomie, von der alle pro­fi­tie­ren. Auf grund­le­gende Ver­än­de­run­gen der Gesell­schaft – so die ver­brei­tete Vor­stel­lung – reagie­ren heu­tige Kol­lek­tive mit einer grund­le­gen­den Ver­än­de­rung der Kunst. Sie inte­grie­ren poli­ti­schen Akti­vis­mus, um gesell­schaft­li­chen Fort­schritt anzu­sto­ßen. Aber geht diese Rech­nung auf? Wel­ches Welt­bild ent­wirft die Idee des Kol­lek­tivs in der zeit­ge­nös­si­schen Kunst? Was sind die pro­ble­ma­ti­schen Impli­ka­tio­nen der damit ver­bun­de­nen Vor­stel­lung von Gemein­schaft und kul­tu­rel­ler Identität?

Es dis­ku­tie­ren:

- Tina Turn­heim (Thea­ter­ma­che­rin, Insti­tut für Neue Soziale Plastik)

- Ole Frahm (Bild­theo­re­ti­ker, Comic­ex­perte und Mit­glied des Künst­ler­kol­lek­tivs Ligna)

- Patrice G. Pou­trus (His­to­ri­ker, TU Berlin)

- Hami­deh Kazemi (Men­schen­rechts­ak­ti­vis­tin)

mode­riert von Fabian Bechtle & Leon Kahane (Künst­ler, Forum demo­kra­ti­sche Kul­tur und zeit­ge­nös­si­sche Kunst)

Eine Ver­an­stal­tung von: FORUM DEMOCRATIC CULTURE CONTEMPORARY ART & Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb
Geför­dert von: Bun­des­zen­trale für poli­ti­sche Bil­dung
Unter­stützt von: bag­rut e.V. & Die Untüch­ti­gen & Stadt­ma­ga­zin Untie­fen & Tex­tem Verlag

Hamburgs Baseballschlägerjahre

Hamburgs Baseballschlägerjahre

Am 21. Dezem­ber jährt sich der Mord an Rama­zan Avcı in Ham­burg. Die Gewalt­tat steht auch für die zuge­spitz­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Migra­tion und Ras­sis­mus in der Bun­des­re­pu­blik wäh­rend der 1980er Jahre. Ras­sis­ti­sche Stra­ßen­ge­walt war bru­ta­ler Aus­druck die­ser Ent­wick­lung.  

Gedenk­ver­an­stal­tung für Rama­zan Avcı. Foto: Ramazan-Avcı-Initiative. 

Am 21. Dezem­ber 1985 war­tete der Arbei­ter Rama­zan Avcı mit sei­nem Bru­der und einem Freund an einer Bus­hal­te­stelle bei der S‑Bahnstation Land­wehr in Ham­burg. Es war Avcıs 26. Geburts­tag und die drei waren auf dem Nach­hau­se­weg. Als einige junge rechte Skin­heads, die sich vor dem Ein­gang einer nahe­ge­le­ge­nen Kneipe auf­hiel­ten, auf die tür­ki­schen Män­ner auf­merk­sam wur­den, beschlos­sen sie spon­tan, die War­ten­den anzu­grei­fen. Die erste Atta­cke konn­ten Avcı und seine Beglei­ter noch mit Reiz­gas abweh­ren, doch die laut Pres­se­be­rich­ten 30-köpfige Skin­head­gruppe kehrte kurz dar­auf bewaff­net zurück. Wäh­rend seine Beglei­ter sich in einen Lini­en­bus ret­ten konn­ten, rannte Avcı in Panik auf die Fahr­bahn, wo ihn ein Auto­fah­rer anfuhr. Den am Boden Lie­gen­den trak­tier­ten die Angrei­fer mit Knüp­peln. Er starb drei Tage spä­ter auf einer Ham­bur­ger Inten­siv­sta­tion an den Fol­gen eines Schädelbruchs.

Die Täter waren Mit­glie­der der berüch­tig­ten »Loh­brügge Army«. Diese Skin­head­grup­pie­rung, benannt nach einem Ham­bur­ger Stadt­teil, gehörte der Hoo­li­gan­szene um den HSV an. Für viele Beobachter:innen war sofort klar, dass es sich um eine ras­sis­ti­sche Gewalt­tat han­delte. Der Vor­fall war nicht der erste rechte Mord in Ham­burg und Umge­bung. Im August 1980 hat­ten neo­na­zis­ti­sche Terrorist:innen bei einem Brand­an­schlag in der Hals­ke­straße zwei Geflüch­tete aus Viet­nam getö­tet. In Nor­der­stedt, einem Vor­ort Ham­burgs, hatte am 19. Juni 1982 ein ras­sis­ti­scher Mob den 26-jährigen Tev­fik Gürel ange­grif­fen und töd­lich ver­letzt. Wie­derum rechte Skin­heads hat­ten am 24. Juli 1985 in Hamburg-Langenhorn den jun­gen Bau­ar­bei­ter Meh­met Kay­makçı auf bru­tale Weise erschlagen.

Rama­zan Avcı. Foto: Ramazan-Avcı-Initiative. 

Indes folgte erst auf den Mord an Rama­zan Avcı im Dezem­ber 1985 eine auf­brau­sende öffent­li­che Reak­tion. Inten­sive Pres­se­be­richt­erstat­tung, Bür­ger­schafts­de­bat­ten und eine Demons­tra­tion anläss­lich des Todes Avcıs deu­ten dar­auf hin, dass die Aus­ein­an­der­set­zun­gen um Migra­tion und Ras­sis­mus eine neue Qua­li­tät erlangt hat­ten. Tat­säch­lich bro­delte es in Ham­burg und der Bun­des­re­pu­blik der 1980er Jahre um diese The­men, wäh­rend ras­sis­ti­sche Gewalt­ta­ten zunah­men. Im wei­te­ren Ver­lauf des Jahr­zehnts spitzte sich die­ser wider­sprüch­li­che Dis­kurs zu, zumal die Zuge­wan­der­ten mit ihren Stim­men gesell­schaft­lich mehr und mehr empor­dräng­ten und ihre Rechte einforderten.

Die doppelte Transformation der Bundesrepublik

Seit der ers­ten Hälfte der 1970er mach­ten die west­li­chen Län­der eine kri­sen­hafte Wand­lung durch, die den Beginn der neo­li­be­ra­len Epo­che mar­kierte. Mit der Abwick­lung wei­ter Teile der Indus­trie gal­ten die Arbeits­kräfte, die die Bun­des­re­gie­rung seit den 1950ern und 1960ern vor allem aus der Tür­kei, Grie­chen­land und Ita­lien ange­wor­ben hatte, als wirt­schaft­lich über­flüs­sig. Für große Teile der Öffent­lich­keit schie­nen sie außer­dem zuneh­mend die ver­meint­li­che eth­ni­sche Homo­ge­ni­tät Deutsch­lands zu stö­ren. »Über­frem­dung« war das ras­sis­ti­sche Schlag­wort der Stunde. Die Regie­run­gen Hel­mut Schmidts und Hel­mut Kohls ver­such­ten daher, die »Gastarbeiter:innen« mit Geld­prä­mien zur Rück­kehr in ihre Her­kunfts­län­der zu bewe­gen. Diese Rück­füh­rungs­po­li­tik ver­kehrte Kohls Parole »Deutsch­land ist kein Ein­wan­de­rungs­land« jedoch in ihr Gegen­teil. Vor die Wahl gestellt, mach­ten die meis­ten Arbeitsmigrant:innen die Bun­des­re­pu­blik zu ihrem dau­er­haf­ten Zuhause und hol­ten ihre Fami­lien nach. Hinzu kam eine wach­sende Zahl von Asyl­su­chen­den. Allein 1985 waren es 100.000 Anträge, auch wenn Bonn eine immer restrik­ti­vere Asyl­po­li­tik betrieb.

Im Jahr 1986 leb­ten in West­deutsch­land 4,5 Mil­lio­nen Men­schen ohne deut­sche Staats­an­ge­hö­rig­keit. Sie soll­ten die deut­sche Gesell­schaft nach­hal­tig prä­gen, blie­ben als »Ausländer:innen« jedoch vor­erst Bürger:innen zwei­ter Klasse. Die Ras­sis­mus­welle die­ser Jahre ist also vor dem Hin­ter­grund einer Phase der dop­pel­ten Trans­for­ma­tion zu sehen. Ers­tens begann sich die Bun­des­re­pu­blik zu einer neo­li­be­ra­len Dienst­leis­tungs­ge­sell­schaft zu wan­deln, was starke sozio­öko­no­mi­sche Frik­tio­nen ver­ur­sachte. Von der hohen Arbeits­lo­sig­keit waren vor allem die »Gastarbeiter:innen« betrof­fen. Zwei­tens bil­dete sich das Land zuneh­mend als plu­ra­lis­ti­sche und libe­rale, aber wider­sprüch­li­che Ein­wan­de­rungs­ge­sell­schaft her­aus, die das tra­di­tio­nelle natio­nale Selbst­ver­ständ­nis herausforderte. 

Die Baseballschlägerjahre begannen vor 1990

Die Migra­ti­ons­ab­wehr der Bon­ner Regie­run­gen konnte sich der ras­sis­ti­schen Zustim­mung brei­ter Bevöl­ke­rungs­teile sicher sein. Diese Kon­junk­tur drückte sich beson­ders scharf in einer viel­sei­ti­gen rech­ten Mobi­li­sie­rung aus, die auch die Han­se­stadt erfasste. Dazu zähl­ten die erwähn­ten Gewalt­ta­ten, aber auch das Auf­tre­ten ver­schie­de­ner Orga­ni­sa­tio­nen. Im Jahr 1982 grün­dete sich aus dem Umfeld der NPD eine »Ham­bur­ger Liste Aus­län­der­stopp«, die bei den Bür­ger­schafts­wah­len antrat und ähn­li­chen Par­teien in ande­ren Bun­des­län­dern als Vor­bild diente. Die seit 1979 exis­tie­rende rechts­extreme »Frei­heit­li­che Deut­sche Arbei­ter­par­tei« (FAP) wurde 1983 vom bekann­ten Ham­bur­ger Neo­nazi Michael Küh­nen und den Anhän­gern sei­ner »Akti­ons­front Natio­na­ler Sozia­lis­ten« (ANS) unter­wan­dert. Die ANS, die die Behör­den im glei­chen Jahr ver­bo­ten hat­ten, rekru­tierte ihre Mit­glie­der wie­derum in der ham­bur­gi­schen Skin­head­szene, der auch die Mör­der Rama­zan Avcıs angehörten.

Avcı, Kay­makçı und Gürel waren nicht die ein­zi­gen Opfer sol­cher Gewalt­tä­ter. In  ver­schie­de­nen Ham­bur­ger Vier­teln waren Jugend­gangs aktiv, doch die Hoo­li­gan­szene um den HSV ragte als stramm rechts und beson­ders gefähr­lich her­aus. Eine Son­der­aus­stel­lung des HSV-Museums doku­men­tierte 2022 eine lange Chro­nik rech­ter Über­griffe und Gewalt­ex­zesse, für die diese män­ner­bün­di­schen Fan­grup­pie­run­gen ver­ant­wort­lich waren. Die Morde an Avcı und Kay­makçı sowie die Tötung des Bre­mer Fuß­ball­fans Adrian Maleika bil­de­ten trau­rige Höhepunkte.

Auf­ruf zur Gedenk­de­mons­tra­tion 1986. Quelle: Archiv Info­la­den Schwarzmarkt.

Es ist jedoch davon aus­zu­ge­hen, dass die Chro­nik nur einen Bruch­teil der Taten doku­men­tiert. Sowohl Flug­blät­ter anti­fa­schis­ti­scher Grup­pen als auch Berichte eta­blier­ter Medien aus den 1980er Jah­ren ver­mit­teln ein Bild all­täg­li­cher Gefahr für Men­schen, die als »Ausländer:innen« iden­ti­fi­ziert wur­den. »Skin­heads schlu­gen wie­der zwei Aus­län­der nie­der« titelte das Ham­bur­ger Abend­blatt am 2. Januar 1986 und am 13. Januar: »Skin­heads über­fie­len Tür­ken in der S‑Bahn.« Im Archiv des Spie­gels sind ver­gleich­bare Berichte ein­seh­bar. In den Vor­jah­ren sah die Situa­tion nicht anders aus. In einem »Bericht über (neo)faschistische und anti­fa­schis­ti­sche Akti­vi­tä­ten in Ham­burg« aus der Feder einer Anti­fa­gruppe hieß es 1984: »Hamburg-Bergedorf 20.5.: 50 Skins prü­geln sich mit Tür­ken am Bhf. Ein Türke wird mit einem Holz­knüp­pel schwer ver­letzt.« Eine ähn­li­che Antifa-Recherche von 1983 berich­tet: »29.11. Das ›Broad­way‹ zeigt den Film ›Under Fire‹. Die ›Savage Army‹ lief auf, beschimpfte Aus­län­der und Linke und ver­prü­gelte eine chi­le­ni­sche Frau.«[1] Vor weni­gen Jah­ren wurde der Begriff »Base­ball­schlä­ger­jahre« geprägt, um die Hoch­phase rech­ter Stra­ßen­ge­walt im Deutsch­land der 1990er zu beschrei­ben. Die­ser Aus­druck ist auch für Ham­burg im Jahr­zehnt vor der Wende angemessen.

Migrantische Selbstorganisierung gegen Rassismus

Gegen­über der migra­ti­ons­feind­li­chen Poli­tik sowie dem Stra­ßen­ter­ror regte sich jedoch zuneh­mend Wider­stand. Auf Sankt Pauli hatte sich am 26. Mai 1982 die tür­ki­sche Arbei­te­rin und Dich­te­rin Semra Ertan aus Pro­test gegen die­sen Ras­sis­mus selbst ent­zün­det. Ein weni­ger tra­gi­scher Aus­druck des Auf­be­geh­rens war die Avcı-Demo am 11. Januar 1986, zu der ein brei­tes Bünd­nis von 23 deutsch-türkischen Orga­ni­sa­tio­nen und Gewerk­schaf­ten auf­ge­ru­fen hatte. Je nach Quelle folg­ten zwi­schen 10.000 und 15.000 Men­schen dem Auf­ruf, was eben­falls auf den gro­ßen gesell­schaft­li­chen Stel­len­wert des Vor­falls hin­weist. Die zahl­rei­chen tür­kisch­spra­chi­gen Trans­pa­rente und Papp­schil­der, die die Presse doku­men­tierte, bewie­sen den hohen Anteil tür­ki­scher bezie­hungs­weise migran­ti­scher Per­so­nen an dem Pro­test. Die­ser wandte sich gegen »Aus­län­der­feind­lich­keit«, wie Ras­sis­mus sei­ner­zeit genannt wurde, und for­derte die gene­relle Gleich­stel­lung der Immigrierten.

Migran­ti­sche Selbst­or­ga­ni­sie­rung war in der Bun­des­re­pu­blik seit den 1970er Jah­ren auf­ge­kom­men und spielte über­dies eine wich­tige Rolle in indus­tri­el­len Arbeits­kämp­fen der neo­li­be­ra­len Trans­for­ma­ti­ons­phase, bei­spiels­weise bei der spek­ta­ku­lä­ren Beset­zung der HDW-Werft im Ham­bur­ger Hafen 1983. Diese Aneig­nung poli­ti­scher Sub­jek­ti­vi­tät erhielt nach dem Mord an Avcı neuen Schwung. Organisator:innen des Pro­test grün­de­ten nun das »Bünd­nis Tür­ki­scher Ein­wan­de­rer«, aus dem zehn Jahre spä­ter die »Tür­ki­sche Gemeinde Deutsch­land« her­vor­ge­hen sollte. In der Tat spie­gelte sich diese eman­zi­pa­tive Ent­wick­lung auch im Bereich der Jugend­gangs. Die »Champs« auf Sankt Pauli waren etwa stark migran­tisch geprägt und setz­ten sich gegen die Über­griffe der Skin­head­ban­den zur Wehr.

Die Wahr­neh­mung der Betrof­fe­nen geriet nach Avcıs Tod wenigs­tens vor­rü­ber­ge­hend in den Fokus der Medien. Den Zuschauer:innen des Ham­burg Jour­nals des Nord­deut­schen Rund­funks erklärte ein jun­ger tür­ki­scher Mann Anfang 1986 zum Bei­spiel: »Ich hatte so viele Schei­ben in der S‑Bahn gese­hen und so, wo die da geschrie­ben haben, ›Scheiß­tür­ken, raus aus Deutsch­land‹. Also ehr­lich gesagt, ich trau mich nicht … Ich habe Angst in Deutsch­land zu leben, denn ich habe Angst, dass wir irgend­wann mal aus Deutsch­land raus­ge­schmis­sen wer­den und dass wir über­haupt keine Rechte haben wie ein Deutscher.«

Widersprüchliche Liberalisierung

Dass Reporter:innen Betrof­fene zu Wort kom­men lie­ßen, hing auch damit zusam­men, dass die west­deut­sche Gesell­schaft zumin­dest teil­weise eine neue Sen­si­bi­li­tät gegen­über Ras­sis­mus und rech­ter Gewalt ent­wi­ckelt hatte. Diese blieb jedoch wider­sprüch­lich. So sam­melte die Pres­se­stelle des Ham­bur­ger Senats nach der Tat vom 21. Dezem­ber 1985 hun­derte ein­schlä­gige Pres­se­ar­ti­kel größ­ten­teils Ham­bur­ger Zei­tun­gen, die meis­ten davon aus dem Jahr 1986. Die Medien berich­te­ten inten­siv zum Vor­fall, zu »Aus­län­der­feind­lich­keit« gene­rell sowie über Skin­heads. Deren Gewalt gegen migran­ti­sche Grup­pen und linke Punks framte man jedoch häu­fig als unpo­li­ti­sche Auseinandersetzungen.

Ange­sichts der inten­si­ven Bericht­erstat­tung war es kein Wun­der, dass sich auch die Bür­ger­schaft mit Avcıs Tod befasste. Die Frak­tio­nen der »Grün-Alternativen Liste« (GAL) und der SPD berie­fen in der Ple­nar­sit­zung am 15. Januar 1986 eine Aktu­elle Stunde ein, in der es zu hit­zi­gen Schlag­ab­täu­schen kam. Es ent­sprach einer unter Lin­ken und Migrant:innen weit­ver­brei­te­ten Auf­fas­sung, wenn die GAL ras­sis­ti­sche Über­griffe in direk­ten Zusam­men­hang mit der bun­des­deut­schen Migra­ti­ons­po­li­tik stellte: »Die Mord­ab­sicht der Skin­heads ist gegen die Lebens­in­ter­es­sen der Aus­län­der in die­ser Stadt gerich­tet. Das Son­der­ge­setz für Aus­län­der, die Lager­hal­tung von Men­schen und die Abschie­be­pra­xis sind es ebenso.« Der Erste Bür­ger­meis­ter Klaus von Dohn­anyi (SPD) deu­tete die anhal­ten­den ras­sis­ti­schen Angriffe einige Tage spä­ter hin­ge­gen als Schlä­ge­reien zwi­schen Jugend­li­chen um und ver­harm­loste sie auf diese Weise. Die Betref­fen­den rief er dazu auf, »diese Kette der Gewalt abzu­rei­ßen. Ham­burg will Frie­den. Ich weiß wohl: diese Vor­fälle sind nicht typisch für das Zusam­men­le­ben der Deut­schen und Tür­ken in Ham­burg. […] Aber eine böse Tat droht die nächste hervorzurufen.«

Zu der erwähn­ten, in den 1970er Jah­ren ein­set­zen­den Trans­for­ma­tion gehör­ten schwere Kämpfe der Mehr­heits­ge­sell­schaft um ihr wich­ti­ger wer­den­des Selbst­ver­ständ­nis als libe­rale Demo­kra­tie. So kri­ti­sier­ten links­li­be­rale Stim­men die restrik­tive und dis­kri­mi­nie­rende Aus­län­der­po­li­tik der Bun­des­re­gie­rung mas­siv. Auch für die radi­kale Linke wurde Ras­sis­mus und Rechts­extre­mis­mus zu bestim­men­den The­men. Der Dis­kurs war extrem pola­ri­siert und domi­nierte die Innen­po­li­tik in der zwei­ten Hälfte der 1980er. Kaum zufäl­lig fie­len in diese Phase erin­ne­rungs­kul­tu­relle Weg­mar­ken wie der »His­to­ri­ker­streit« oder die Aner­ken­nung »ver­ges­se­ner Opfer« des Natio­nal­so­zia­lis­mus. Ein wei­te­rer Grad­mes­ser ist der enorme Erfolg von Gün­ther Wal­raffs Buch »Ganz unten«, das zwei Monate vor dem Über­fall auf Rama­zan Avcı erschie­nen war und die Lage tür­ki­scher Arbeitsmigrant:innen skan­da­li­sierte. Nach zwei Wochen waren 650.000, nach vier Mona­ten vier Mil­lio­nen Exem­plare ver­kauft. Wall­raff sprach dann auch bei der Groß­demo am 11. Januar 1986 in Ham­burg. Wei­ter­hin fiel der Start einer anti­ras­sis­ti­schen Kam­pa­gne des Deut­schen Gewerk­schafts­bun­des unter der Parole »Mach‘ mei­nen Kum­pel nicht an« in den Auf­ruhr um den Mord an Avcı.

Diese Libe­ra­li­sie­rungs­ten­den­zen in Gesell­schaft und Geschichts­po­li­tik waren kei­nes­wegs ein­deu­tig und unum­strit­ten, son­dern kon­kur­rier­ten etwa mit einem erin­ne­rungs­kul­tu­rel­len Hype um »Preu­ßen«. Nicht zuletzt stand die pro­gres­sive Ent­wick­lung dem all­täg­li­chen und dem insti­tu­tio­nel­len Ras­sis­mus gegen­über, der sich auch im Urteil gegen die Mör­der Rama­zan Avcıs zeigte: Das Land­ge­richt Ham­burg ver­ur­teilte die Haupt­tä­ter im Juli 1986 zwar zu mehr­jäh­ri­gen Gefäng­nis­stra­fen wegen Tot­schlags, wei­gerte sich jedoch eine ras­sis­tisch moti­vierte Mord­ab­sicht anzu­er­ken­nen. Die Folge war ein empör­ter Tumult im Gerichtssaal.

Auf Betrei­ben der Ramazan-Avcı-Initiative 2012 vom Ham­bur­ger Senat ein­ge­weih­ter Gedenk­stein. Foto: privat. 

Trotz der inten­si­ven Aus­ein­an­der­set­zung um den Mord im Früh­jahr 1986, scheint diese Geschichte – wie der Ter­ror in der Hals­ke­straße – eben­falls im Schat­ten der extrem rech­ten Mobi­li­sie­run­gen der 1990er zu ste­hen. In der Tat ist die ras­sis­ti­sche Gewalt in West­deutsch­land vor 1990 heute gene­rell weit­ge­hend ver­drängt wor­den. In der Regel fokus­siert die Geschichte des rech­ten Ter­rors in der Bun­des­re­pu­blik auf die Zeit nach der »Wie­der­ver­ei­ni­gung« und die neuen Bun­des­län­der, was erin­ne­rungs­kul­tu­rell pro­ble­ma­tisch ist. So erschei­nen ras­sis­ti­sche Mobi­li­sie­run­gen zuvör­derst als ost­deut­sches Phä­no­men, wäh­rend die Kon­ti­nui­tät des bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Rechts­extre­mis­mus hin­ter der Nebel­wand der Epo­chen­grenze ver­schwin­det. Die west­deutsch domi­nierte Ber­li­ner Repu­blik kann unan­ge­nehme Aspekte der natio­na­len Ver­gan­gen­heit damit als Pro­blem post­so­zia­lis­ti­scher »Ossis« externalisieren.

Auch des­we­gen ist eine umfas­sende Gedenk­kul­tur um die Opfer rech­ter Gewalt umso wich­ti­ger. Anschub, die Erin­ne­rung an den Mord an Avcı wenigs­tens lokal wach­zu­ru­fen, kam »von unten«, aus den Rei­hen eines migran­ti­schen Zusam­men­hangs. Nach­dem sich 2010 eine Geden­kinitia­tive gegrün­det hatte, weihte der Ham­bur­ger Senat 2012 auf deren Betrei­ben einen Gedenk­stein ein und benannte den Platz bei der S‑Bahnstation Land­wehr nach Rama­zan Avcı fei­er­lich um. Jähr­lich am 21. Dezem­ber hält die Initia­tive eine Gedenk­ver­an­stal­tung am Ort des Gesche­hens, bei der Ange­hö­rige von Rama­zan Avcı spre­chen. Auch an den Mord an Meh­met Kay­makçı erin­nert seit Som­mer 2021 ein Mahn­mal im Kiwittsmoor-Park in Lan­gen­horn, jedoch besuch­ten nur rela­tiv wenige Men­schen die Ein­wei­hungs­ze­re­mo­nie. Das Geden­ken an die Ham­bur­ger Base­ball­schlä­ger­jahre erhält noch nicht die Auf­merk­sam­keit, die es verdient. 

Felix Mat­heis, Dezem­ber 2022. 

Der Autor ist His­to­ri­ker in Ham­burg. Auf Untie­fen schrieb er bereits über die Rolle Ham­bur­ger Kauf­leute im Natio­nal­so­zia­lis­mus sowie über den ras­sis­ti­schen Ter­ror in der Ham­bur­ger Hals­ke­straße im Jahr 1980.


[1] Die Doku­mente fin­den sich im Archiv des Ham­bur­ger Info­la­dens Schwarz­markt, Signa­tur A 5.1.1.

45 Jahre Frauenhäuser in Hamburg

45 Jahre Frauenhäuser in Hamburg

Im August 1977 eröff­nete das erste der auto­no­men Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser. Seit­dem sind sie uner­läss­lich für den Schutz vor Gewalt. Doch die Plätze sind rar und die Finan­zie­rung von poli­ti­schem Wohl­wol­len abhän­gig. Aus einer femi­nis­ti­schen Pra­xis sind pre­käre Insti­tu­tio­nen gewor­den. Anläss­lich des Inter­na­tio­nen Tags gegen Gewalt an Frauen fragt unsere Autorin eine Mit­ar­bei­te­rin: Wie geht es den Ham­bur­ger Frau­en­häu­sern heute?

Die For­de­rung bleibt bestehen. Trans­pa­rent auf einer »One Billion-Rising«-Aktion gegen Gewalt an Frauen 2014 in Ham­burg. Foto: www.sommer-in-hamburg.de Lizenz: CC BY-SA 2.0

Für die Frau­en­be­we­gung der 1970er-Jahre war die Orga­ni­sie­rung gegen Gewalt gegen Frauen zen­tra­ler Bestand­teil der poli­ti­schen Arbeit. Gewalt in der Bezie­hung galt zuvor lange als »Ein­zel­schick­sal«. Die Frauen der zwei­ten Welle des Femi­nis­mus the­ma­ti­sier­ten diese männ­li­che Gewalt durch Selbst­er­fah­rungs­grup­pen und Orga­ni­sie­rung als struk­tu­rel­les Pro­blem von Frauen im Patri­ar­chat. Auch in Ham­burg orga­ni­sier­ten sich im Jahr 1976 Frauen, um gegen geschlechts­spe­zi­fi­sche Gewalt zu kämp­fen. Sie grün­de­ten den Ver­ein Frauen hel­fen Frauen e.V. und erschu­fen inner­halb eines Jah­res das erste auto­nome Ham­bur­ger Frau­en­haus. Das Selbst­ver­ständ­nis damals: Das Frau­en­haus ist ein Teil der Frau­en­be­we­gung und soll unab­hän­gig sein – alle Frauen ent­schei­den gemein­sam, was pas­sie­ren soll.

Da die Finan­zie­rung noch nicht staat­lich abge­si­chert war, muss­ten die Frauen zunächst alles selbst machen – reno­vie­ren, Möbel orga­ni­sie­ren, Spen­den sam­meln, das Haus schüt­zen. So erin­nert sich auch eine Zeit­zeu­gin in der fil­mi­schen Doku­men­ta­tion »Juli 76 – Das Pri­vate ist Poli­tisch« an die ers­ten Jahre des Hau­ses: »Selbst­or­ga­ni­sa­tion. Selbst­be­stim­mung. Das ist auch eine Uto­pie gewe­sen.« Das Frau­en­haus selbst war femi­nis­ti­sche Praxis.

Selbstorganisation und Professionalisierung

Die Selbst­or­ga­ni­sa­tion stieß jedoch auch an zeit­li­che, finan­zi­elle und emo­tio­nale Gren­zen, wie die ehe­ma­lige Redak­teu­rin der Ham­bur­ger Frau­en­zei­tung Dr. Andrea Lass­alle in einer Chro­nik der Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser im digi­ta­len deut­schen Frau­en­ar­chiv nach­zeich­net. Inner­halb der Frau­en­be­we­gung wur­den daher Debat­ten um die Orga­ni­sie­rung und Struk­tur der Frau­en­häu­ser geführt, die eng ver­zahnt waren mit den dama­li­gen poli­ti­schen und theo­re­ti­schen Ana­ly­sen um (unbe­zahlte) Sor­ge­ar­beit, Hier­ar­chie­frei­heit und Unabhängigkeit.

Mitt­ler­weile wur­den Frau­en­häu­ser durch bezahlte Mit­ar­bei­te­rin­nen aus der Sozia­len Arbeit pro­fes­sio­na­li­siert. Dadurch ent­stand ein Wider­spruch zwi­schen Selbst­wirk­sam­keit und Pro­fes­sio­na­li­tät, der im All­tag der Mit­ar­bei­te­rin­nen und Bewoh­ne­rin­nen bis heute eine Rolle spielt. Im Gespräch mit Untie­fen berich­tet eine Mit­ar­bei­te­rin eines Frau­en­hau­ses in der Metro­pol­re­gion Ham­burg, die Pro­fes­sio­na­li­sie­rung sei grund­sätz­lich der anspruchs­vol­len Arbeit mit Frauen und Kin­dern aus aku­ten Gewalt­si­tua­tio­nen ange­mes­sen. In vie­len auto­no­men Frau­en­häu­sern über­neh­men aller­dings auch die Bewoh­ne­rin­nen selbst noch Teile der täg­li­chen Arbeit, bei­spiels­weise die nächt­li­che Aufnahme.

In Ham­burg ist dafür seit 2016 die 24/7, die zen­trale Not­auf­nahme für die Ham­bur­ger Frau­en­häu­ser, zustän­dig. Die Mit­ar­bei­te­rin­nen neh­men die akut betrof­fe­nen Frauen auf und ver­mit­teln sie dann an Häu­ser wei­ter. Dies ent­laste die Bewoh­ne­rin­nen von den nächt­li­chen und wöchent­li­chen Not­diens­ten, so die Mit­ar­bei­te­rin. Gleich­wohl könne es den Bewoh­ne­rin­nen auch Stärke zurück­ge­ben, einen Teil bei­zu­tra­gen und andere Frauen zu unter­stüt­zen. Aller­dings über­neh­men die Bewoh­ne­rin­nen diese Auf­ga­ben nicht in ers­ter Linie auf­grund die­ser ermäch­ti­gen­den Wir­kung, son­dern schlicht­weg, weil das Per­so­nal fehle.

Kein Frau­en­haus, son­dern der Sitz von Frauen hel­fen Frauen e.V., der ande­ren Trä­ger­ver­eine der auto­no­men Frau­en­häu­ser sowie der Koor­di­na­ti­ons­stelle der 24/7 in der Aman­da­straße.
Foto: Dirtsc Lizenz: CC BY-SA 3.0

Die befürch­tete Hier­ar­chie zwi­schen pro­fes­sio­na­li­sier­ten und ehren­amt­lich arbei­ten­den Frauen in den Häu­sern konnte trotz basis­de­mo­kra­ti­scher Struk­tur nicht ver­mie­den wer­den. Da die Frau­en­häu­ser mitt­ler­weile öffent­lich finan­ziert und tarif­lich gebun­den sind, wer­den auch die Anfor­de­run­gen an die Qua­li­fi­ka­tio­nen der Mit­ar­bei­te­rin­nen höher – und schlie­ßen damit viele Frauen, auch ehe­ma­lige Bewoh­ne­rin­nen, aus. Doch gerade diese Frauen brin­gen oft sowohl eigene Erfah­rung mit part­ner­schaft­li­cher Gewalt und dem Leben im Frau­en­haus mit als auch Sprach­kennt­nisse, die dem Leben im Haus zuträg­lich sein könn­ten. Die geringe Aner­ken­nung aus­län­di­scher Abschlüsse in der Sozia­len Arbeit und die struk­tu­relle Ungleich­heit im Bil­dungs­sys­tem in Deutsch­land tra­gen dazu bei, dass die Mit­ar­beit im Frau­en­haus nicht allen glei­cher­ma­ßen zugäng­lich ist – und die Teams ihrem Anspruch an Diver­si­tät nicht immer gerecht wer­den können.

Feministische Debatten in der Frauenhauspraxis

Mit dem Auf­tre­ten anti­ras­sis­ti­scher Dis­kurse an den Uni­ver­si­tä­ten und in der femi­nis­ti­schen Szene ent­brann­ten auch inner­halb der Frau­en­häu­ser Debat­ten über Ras­sis­mus und Dis­kri­mi­nie­rung, im Zuge derer mit Quo­tie­run­gen in den Teams und bei den Auf­nah­men expe­ri­men­tiert wurde. Weni­ger dis­ku­tiert wurde hin­ge­gen jah­re­lang das hot topic der aktu­el­len femi­nis­ti­schen Debat­ten: Was ist eine Frau? Bis vor weni­gen Jah­ren, so eine Mit­ar­bei­te­rin, war die Dis­kus­sion darum, was Geschlecht eigent­lich ist, in Frau­en­häu­ser nicht anschluss­fä­hig. Dies ändert sich jedoch der­zeit, ins­be­son­dere durch jün­gere Kolleginnen.

Die etwa in der Debatte um das »Selbst­be­stim­mungs­ge­setz« geäu­ßerte Befürch­tung eini­ger Femi­nis­tin­nen, Frau­en­schutz­räume könn­ten unter­lau­fen wer­den, wenn Geschlecht an eine emp­fun­dene Iden­ti­tät statt an kör­per­li­che Merk­male geknüpft ist, erscheint ange­sichts des von der Mit­ar­bei­te­rin beschrie­be­nen Frau­en­haus­all­tags weni­ger eine prak­ti­sche als viel­mehr eine theo­re­ti­sche Frage zu sein: »Die Frau kommt – die kann mir auch irgend­was erzäh­len, wer sie ist – sie muss mir auch nicht ihren Perso zei­gen. So arbei­ten wir nicht. Die Frau erzählt, und wenn sie von häus­li­cher Gewalt betrof­fen ist, dann wird sie auf­ge­nom­men.« Der recht­li­che Per­so­nen­stand spielt in der Pra­xis keine Rolle. Jede Auf­nahme ist außer­dem eine Ein­zel­fall­ent­schei­dung und berück­sich­tigt die Erfah­run­gen der Bewoh­ne­rin­nen. Und: nicht jede sei für diese Art des Zusam­men­woh­nens geeig­net, auch das spielt bei den Auf­nah­me­ge­sprä­chen eine Rolle.

In Ham­burg wurde zudem vor zwei Jah­ren das 6. Frau­en­haus gegrün­det, das sich expli­zit als Schutz­raum für trans Frauen posi­tio­niert und die seit Jah­ren gän­gige Pra­xis unter­mau­ert.  Viel wich­ti­ger als die theo­re­ti­sche Defi­ni­tion von Geschlecht erscheint jedoch die Frage, ob in den Häu­sern über­haupt genug Plätze vor­han­den sind. Zu Beginn der Pan­de­mie fehl­ten in Ham­burg rund 200 Frau­en­haus­plätze.

Zu wenige Plätze, zu wenig Geld, zu wenig Personal

Obwohl aktu­elle inner­fe­mi­nis­ti­sche Debat­ten durch­aus zum Thema wer­den, nimmt das all­täg­li­che Rotie­ren, auch auf­grund feh­len­den Per­so­nals, in den Häu­sern einen Groß­teil der Zeit ein. Die Art und Weise der öffent­li­chen Finan­zie­rung unter­schei­det sich je nach Bun­des­land und Gemeinde. Wäh­rend in Ham­burg, Schleswig-Holstein und Ber­lin die auto­no­men Frau­en­häu­ser durch eine Pau­schale pro Platz im Haus finan­ziert wer­den, ist die Finan­zie­rung in ande­ren Bun­des­län­dern direkt an die betrof­fene Frau gekop­pelt. Da sie in eini­gen Län­dern über das Sozi­al­hil­fe­ge­setz abge­wi­ckelt wird, sind Frauen mit eige­nem Ein­kom­men, Stu­den­tin­nen und Frauen mit unsi­che­rem Auf­ent­halts­sta­tus davon aus­ge­schlos­sen. Diese Frauen wer­den, wenn mög­lich, in Län­dern mit Pau­schal­fi­nan­zie­rung unter­ge­bracht, da sie die Plätze sonst selbst zah­len müss­ten – vor­aus­ge­setzt, Auf­ent­halts­be­stim­mun­gen oder der Job las­sen einen Umzug zu und es sind freie Plätze vor­han­den. Die Zen­trale Infor­ma­ti­ons­stelle der auto­no­men Frau­en­häu­sern (ZIF) for­dert dem­entspre­chend eine bun­des­weite ein­zel­fall­un­ab­hän­gige Finan­zie­rung der Frauenhäuser.

Doch auch die pau­schale Finan­zie­rung bringt Schwie­rig­kei­ten mit sich. Der Erhalt sowie die Aus­wei­tung der Plätze sind vom Wohl­wol­len der jewei­li­gen Lan­des­re­gie­run­gen abhän­gig. Um einer dro­hen­den Schlie­ßung zu ent­ge­hen, wur­den im Jahr 2006 das 1. und das 3. Auto­nome Frau­en­haus zusam­men­ge­legt. Der CDU-geführte Senat hatte Kür­zun­gen beschlos­sen, da die Ver­sor­gungs­lage in Ham­burg bes­ser sei als in ande­ren Großstädten.

Femi­nis­ti­sche Per­fo­mance »Der Ver­ge­wal­ti­ger bist du« des Kol­lek­tivs Las Tesis aus Argen­ti­nien, die mitt­ler­weile auch in Ham­burg regel­mä­ßig zum 25. Novem­ber im Rah­men von Demons­tra­tio­nen auf­ge­führt wird. Foto: Paulo Sla­chevsky Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

Männergewalt und Femizide

Laut behörd­li­cher Aus­künfte wur­den in Ham­burg im lau­fen­den Jahr ins­ge­samt 16 Frauen getö­tet, sechs davon von ihrem (Ex-)Partner, bei den zehn ande­ren ist die Ein­ord­nung unklar. Die Zahl der Femi­zide, also der Tötung von Frauen und Mäd­chen auf­grund ihres Geschlechts, ist in jedem Fall alar­mie­rend. Aller­dings ist Femi­zid im deut­schen Recht kein eige­ner Tat­be­stand, er wird unter Part­ner­schafts­ge­walt sub­su­miert. Stu­dien und genaue Fall­zah­len zu Femi­zi­den feh­len ent­spre­chend im deutsch­spra­chi­gen Raum weit­ge­hend. Die frau­en­po­li­ti­sche Spre­che­rin der Links­frak­tion in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft Cansu Özd­emir kri­ti­sierte daher jüngst den Senat für seine Wei­ge­rung, eine Unter­su­chung zu Femi­zi­den in Ham­burg als »nötige wis­sen­schaft­li­che Basis für ein ziel­ge­rich­te­tes und wir­kungs­vol­les Prä­ven­ti­ons­kon­zept« in Auf­trag zu geben.

Bewoh­ne­rin­nen und ehe­ma­li­gen Bewoh­ne­rin­nen von Frau­en­häu­sern steht die Gefahr, Opfer eines Femi­zids zu wer­den, beson­ders deut­lich vor Augen. 2018 wurde die 42-Jährige Juliet H. von ihrem Expart­ner ermor­det. Nach­dem sie in einem Ham­bur­ger Frau­en­haus Schutz gesucht hatte, zog sie mit ihren Kin­dern in eine eigene Woh­nung, wo sie von ihrem Exmann getö­tet wurde. Doch nicht nur für die Bewoh­ne­rin­nen sind sol­che Fälle alar­mie­rend. Es setzt auch die Mit­ar­bei­te­rin­nen enorm unter Druck, die mit knap­pen Res­sour­cen und staat­li­chen Hür­den kämp­fen, um den Frauen Schutz und eine Per­spek­tive zu bieten.

Väter­rechte ste­hen über dem Schutz von Frauen und ihren Kin­dern. Die Ver­än­de­run­gen im Fami­li­en­recht der letz­ten Jahre machen die Situa­tion von Frauen aus Gewalt­be­zie­hun­gen gefähr­li­cher. Die Zeit unmit­tel­bar nach der Tren­nung vom gewalt­tä­ti­gen Part­ner birgt das höchste Risiko, Opfer eines (ver­such­ten) Femi­zids zu wer­den. Umso wich­ti­ger ist dann ein unkom­pli­zier­ter Zugang zu einem Frau­en­haus. Die­ser Schutz wird aller­dings durch das fami­li­en­recht­lich ange­strebte Wech­sel­mo­dell untergraben.

Das von der jet­zi­gen Bun­des­re­gie­rung in den Mit­tel­punkt von Sorge- und Umgangs­recht gestellte Wech­sel­mo­dell soll eigent­lich zu einer gleich­be­rech­tig­ten Auf­tei­lung der Erzie­hung und Ver­ant­wor­tung für gemein­same Kin­der füh­ren. Es bedarf jedoch einer Kom­mu­ni­ka­tion auf Augen­höhe, um die nöti­gen Abspra­chen für die­ses Arran­ge­ment zu tref­fen. Übt der Vater Gewalt über die Mut­ter aus, ist diese Augen­höhe offen­sicht­lich nicht gege­ben. Aus der Pra­xis berich­tet die Mit­ar­bei­te­rin, dass dem Vater durch das Umgangs­recht in die­sen Fäl­len ermög­licht wird, wei­ter­hin Kon­trolle und Gewalt aus­zu­üben. Das Wech­sel­mo­dell steht des­halb bei Femi­nis­tin­nen und Initia­ti­ven für Allein­er­zie­hende Müt­ter in der Kri­tik.

Gerichte ord­nen sogar bei Müt­tern, die im Frau­en­haus leben, das Wech­sel­mo­dell an. Die Mit­ar­bei­te­rin des Frau­en­hau­ses beschreibt: »Wenn die [Frau] Kin­der hat, geht’s sofort los mit Kon­takt zu Jugend­amt, Kon­takt zu Anwäl­ten, dann wird irgend­wer ver­su­chen sofort das Auf­ent­halts­be­stim­mungs­recht zu bean­tra­gen, es wer­den Sofort­um­gänge in die Wege gelei­tet mit den gewalt­tä­ti­gen Vätern – und das ist krass.«

Die Gerichte gin­gen ohne wei­te­res davon aus, dass die Gewalt durch den Aus­zug der Mut­ter auf­ge­hört habe und also bei Ver­fah­ren zum Sorge- und Umgangs­recht nicht berück­sich­tigt zu wer­den brau­che. Die Müt­ter müss­ten daher irgend­wie Vor­keh­run­gen tref­fen, um dem gewalt­tä­ti­gen Mann die Kin­der zu über­ge­ben, ohne sich selbst in Gefahr zu brin­gen. Durch Per­so­nal­man­gel ist es den Mit­ar­bei­te­rin­nen in den Frau­en­häu­sern oft nicht mög­lich, Frauen zu die­sen Über­ga­ben zu begleiten.

Nach 45 Jah­ren sind auto­nome Frau­en­häu­ser also zwar aner­kannte Insti­tu­tio­nen zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Aber ihre Exis­tenz bleibt pre­kär und die Situa­tion der Frauen selbst wird kom­ple­xer. Die Mit­ar­bei­te­rin und ihre Kol­le­gin­nen erwar­ten vom Senat und der Bun­des­re­gie­rung eine Erhö­hung der Anzahl der Plätze und eine bun­des­weite pau­schale Finan­zie­rung. Im Sorge- und Umgangs­recht müsse das Per­so­nal geschult wer­den, um den Gewalt­schutz kon­se­quen­ter berück­sich­ti­gen. Nicht die Frauen soll­ten im Haus Schutz suchen und dann um ihre Kin­der kämp­fen müs­sen, son­dern die Män­ner soll­ten bewei­sen, dass sie nicht gefähr­lich sind, schließt die Mitarbeiterin.

Lea Rem­mers

Die Autorin schrieb für Untie­fen bereits über die Her­bert­straße als Sym­bol männ­li­cher Herrschaft.

Kühne + Nagel: ›Arisierung‹, Sponsoring und Schweigen

Kühne + Nagel: ›Arisierung‹, Sponsoring und Schweigen

Am 27.11.2022 um 19 Uhr spre­chen wir mit Hen­ning Bleyl über die NS-Geschichte von K+N, ihre Nicht-Aufarbeitung durch Klaus-Michael Kühne, über die Debatte um das ›Arisierungs‹-Mahnmal in Bre­men und um den Kühne-Preis in Ham­burg. Eine Veranstaltungsankündigung.

Kühne ver­dankt sei­nen Reich­tum auch Möbel­trans­por­ten im NS. Er selbst steht gern im Ram­pen­licht, die »unschö­nen Dinge« aus der Ver­gan­gen­heit aber sol­len, geht es nach ihm, lie­ber im Dun­keln bleiben.

Die ursprüng­lich in Bre­men und Ham­burg behei­ma­tete Firma Kühne + Nagel (K+N), heute dritt­größ­tes Logis­tik­un­ter­neh­men der Welt, ist tief in die Ver­bre­chen des Natio­nal­so­zia­lis­mus ver­strickt. 1933 dräng­ten die Inha­ber Alfred und Wer­ner Kühne ihren jüdi­schen Teil­ha­ber, den Ham­bur­ger Kauf­mann Adolf Maass, aus dem Unter­neh­men. Spä­ter pro­fi­tierte K+N von den ›Ari­sie­run­gen‹ in den von Deutsch­land besetz­ten Län­dern: Im Zuge der soge­nann­ten ›M‑Aktion‹ trans­por­tierte K+N im gro­ßen Maß­stab Möbel aus den Woh­nun­gen geflo­he­ner und depor­tier­ter Jüdin­nen und Juden nach Deutschland.

Das Unter­neh­men hat diese Ver­stri­ckung lange ver­schwie­gen und nie auf­ge­ar­bei­tet; der Patri­arch und Fir­men­erbe Klaus-Michael Kühne wehrt sich bis heute dage­gen, seine Familien- und Unter­neh­mens­ge­schichte öffent­lich unter­su­chen zu las­sen. In Ham­burg, wo der 1944 in Ausch­witz ermor­dete Adolf Maass tätig war und wo lange Zeit der Haupt­sitz von K+N lag, erin­nert nichts an die Betei­li­gung des Unter­neh­mens an NS-Verbrechen. Zugleich ist Klaus-Michael Kühne in Ham­burg vor allem als wohl­tä­ti­ger Sport- und Kul­tur­mä­zen bekannt und omnipräsent.

Eines von Küh­nes Pres­ti­ge­pro­jek­ten ist das Har­bour Front Lite­ra­tur­fes­ti­val. Die Kühne-Stiftung war maß­geb­lich an sei­ner Grün­dung betei­ligt, fun­gierte seit­her als Haupt­spon­sor und finan­zierte den jähr­lich ver­ge­be­nen Klaus-Michael Kühne-Preis für das beste Roman­de­büt. Die­ses Jahr zogen zwei der für den Preis nomi­nier­ten Autor:innen ihre Teil­nahme zurück – mit Ver­weis auf die ver­wei­gerte Auf­ar­bei­tung der NS-Geschichte. Diese Rück­tritte sorg­ten Anfang Sep­tem­ber für einen Eklat, der einige öffent­li­che Kri­tik an Kühne nach sich zog, wäh­rend er und seine Stif­tung kei­ner­lei Ver­ständ­nis zeig­ten. Mit dem Rück­zug der Kühne-Stiftung aus der Finan­zie­rung des Fes­ti­vals und der Umbe­nen­nung des Prei­ses wurde die Debatte nach weni­gen Wochen vor­läu­fig beendet.

Die ent­schei­den­den Fra­gen, die der Eklat um den Kühne-Preis frei­ge­legt hat, sind aller­dings immer noch offen. Wir wol­len daher mit etwas zeit­li­chem Abstand zu die­sem Eklat dis­ku­tie­ren: Warum gibt es in Ham­burg kei­nen kri­ti­schen Umgang mit der NS-Geschichte von Kühne + Nagel? Wie könn­ten Erin­ne­rung, Auf­klä­rung und Kon­se­quen­zen aus­se­hen? Wie kann mit Klaus-Michael Kühne als Kul­tur­spon­sor umge­gan­gen wer­den? Wel­che Pro­bleme der pri­va­ti­sier­ten Kul­tur­för­de­rung ste­hen dahin­ter? Und was ist in der im Hin­blick auf diese Fra­gen in der öffent­li­chen Dis­kus­sion um den Kühne-Preis gut gelau­fen, was blieb unterbelichtet?

Vor­trag und Dis­kus­sion mit:

Hen­ning Bleyl, Jour­na­list und Initia­tor des Bre­mer ›Arisierungs‹-Mahnmals

Mode­ra­tion: Redak­tion des Blogs Untie­fen – Das Stadt­ma­ga­zin gegen Ham­burg (www.untiefen.org)

27.11.2022 | 19 Uhr | Semi­nar­raum der Fabri­que im Gän­ge­vier­tel (Valen­tins­kamp 34a, Zugang über Speck­straße) | Ein­tritt frei

Orga­ni­siert in Koope­ra­tion mit der Heinrich-Böll-Stiftung Ham­burg sowie der Rosa-Luxemburg-Stiftung Ham­burg, geför­dert durch die Lan­des­zen­trale für poli­ti­sche Bil­dung Hamburg.