Angriff der Stuckstaffel

Angriff der Stuckstaffel

Die Ver­su­che kon­ser­va­ti­ver und rech­ter Akteure, durch die Rekon­struk­tion alter Gebäude das Stadt­bild gemäß ihrer poli­ti­schen Pro­gram­ma­tik umzu­ge­stal­ten, neh­men in vie­len deut­schen Städ­ten zu. Auch in Ham­burg plä­diert die AfD für den gebau­ten Geschichts­re­vi­sio­nis­mus. Am Schul­ter­blatt wur­den der­weil stei­nerne Tat­sa­chen geschaf­fen.

Der neue Alt­bau am Schul­ter­blatt 37–39 im Sep­tem­ber 2025, Foto: privat

Es gibt keine genuin rechte Archi­tek­tur, aber offen­sicht­lich gibt es Archi­tek­tur, die Kon­ser­va­ti­ven und Rech­ten gefällt. Ein Bei­spiel dafür fin­det sich seit eini­ger Zeit unweit der Roten Flora, am Schul­ter­blatt 37–39. Wo viele Jahre eine Bau­lü­cke klaffte, steht seit etwas mehr als zwei Jah­ren wie­der ein Wohn­haus. Durch seine grün­der­zeit­li­che Archi­tek­tur wirkt es, als bli­cke seine Fas­sade bereits seit der Jahr­hun­dert­wende über das Kopf­stein­pflas­ter. Es ist jedoch, wie gesagt, ein Neubau.

Der Ver­ein Stadt­bild Deutsch­land zeich­nete das Haus 2023 als »Gebäude des Jah­res« aus. Drei Jahre zuvor hatte er den umstrit­te­nen Wie­der­auf­bau des Ber­li­ner Stadt­schlos­ses prä­miert; 2018 ein Haus in der soge­nann­ten Neuen Frank­fur­ter Alt­stadt. Nicht zufäl­lig waren an den bei­den letzt­ge­nann­ten Pro­jek­ten auch Rechte und Rechts­extreme finan­zi­ell und ideell betei­ligt. Diese Form der Rekon­struk­ti­ons­ar­chi­tek­tur lässt sich mit dem Archi­tek­tur­kri­ti­ker Phil­ipp Oswalt als Iden­ti­täts­po­li­tik begrei­fen; der Archi­tek­tur­theo­re­ti­ker Ste­phan Trüby spricht von rech­ten Räu­men. Aus dem Stadt­bild wer­den sowohl die eman­zi­pa­to­ri­schen Ideen der Moderne als auch die Spu­ren natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Herr­schaft getilgt. Städ­te­bau­lich wird die Zeit zurück­ge­dreht: In der deut­schen Geschichte vor dem Ers­ten Welt­krieg fin­det sich eine ver­meint­lich unbe­las­tete Hei­mat, ein posi­ti­ver Identitätsanker. 

Pro­mi­nente Rekon­struk­ti­ons­ar­chi­tek­tur – das Ber­li­ner Stadt­schloss, Foto: Aus­le­se­Bee­ren, Wiki­me­dia Com­mons, CC BY-SA 4.0.

Der Ver­ein, der dem Haus am Schul­ter­blatt den Preis ver­lieh, lässt sich zumin­dest als rechts­of­fen ver­ste­hen. Etwa unter­stützte er auch den Wie­der­auf­bau der Gar­ni­son­kir­che in Pots­dam – für Trüby ein »Nexus von rech­tem Gedan­ken­gut, Geschichts­re­vi­sio­nis­mus und Rekon­struk­ti­ons­en­ga­ge­ment«, wie er 2024 in einem Bei­trag in der Zeit­schrift dérive schrieb. Womög­lich ist es auch kein Zufall, dass die Mit­glie­der des Ver­eins sich 2023 per Online-Abstimmung für ein Wohn­haus im Schan­zen­vier­tel ent­schie­den, das Unkun­di­gen nach wie vor als links­al­ter­na­tiv gilt.

Die Stadt als Arena des Kulturkampfes

Tat­säch­lich ist die gebaute Umwelt unse­rer Städte längst zu einer Arena des Kul­tur­kamp­fes gewor­den, den die Rechte immer erfolg­rei­cher bestrei­tet. Davon zeu­gen nicht zuletzt Instagram-Seiten und Facebook-Gruppen mit tau­sen­den Follower:innen wie der selbst­er­nann­ten »Architektur-Rebellion«. Als digi­ta­ler Arm der Stuck­staf­fel plä­die­ren auch ihre Mit­glie­der für alte Bau­stile als Aus­druck regio­na­ler Identitäten.

Die pro­mi­nen­tes­ten Rekon­struk­ti­ons­bau­ten fin­den sich in Deutsch­land bis­lang in Ber­lin, Pots­dam und Frank­furt. Doch auch in Ham­burg bringt sich die AfD-Fraktion seit eini­ger Zeit in Stel­lung, um das Stadt­bild ihrem poli­ti­schen Pro­gramm gemäß umzu­ge­stal­ten. In den Anträ­gen und Pres­se­mit­tei­lun­gen der Frak­tion ist etwa die Rede von einer Rück­kehr zu tra­di­tio­nel­len Bau­sti­len im All­ge­mei­nen und zur Back­stein­go­tik im Beson­de­ren sowie vom Erhalt älte­rer Gebäude aus iden­ti­tä­ren Grün­den. Gefor­dert wer­den zudem neue Stu­di­en­gänge, die sich der Rekon­struk­ti­ons­ar­chi­tek­tur wid­men sollen.

Die Ham­bur­ger AfD benennt auch kon­krete Vor­ha­ben. Dazu gehört – ana­log zum Frank­fur­ter Pro­jekt – die »Neue Alt­stadt Ham­burg«, wie es im Pro­gramm der Par­tei zur Bür­ger­schafts­wahl 2025 heißt. Diese soll rund um den Hop­fen­markt, der einst die Niko­lai­kir­che umgab, gebaut wer­den. In einem Antrag an die Ham­bur­gi­sche Bür­ger­schaft im Jahr 2021 for­derte die Frak­tion sogar, die im Zwei­ten Welt­krieg zer­störte Niko­lai­kir­che nach his­to­ri­scher Vor­lage wie­der­auf­zu­bauen. Die Ruine ist heute ein zen­tra­ler Ham­bur­ger Erin­ne­rungs­ort an die Opfer natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Herr­schaft. Könnte an des­sen Stelle nicht, wie es im Antrag heißt, eine »Frei­flä­che mit hoher Auf­ent­halts­qua­li­tät« entstehen?

Zusam­men mit wei­te­ren Vor­stö­ßen zum Erhalt des Bis­marck­denk­mals, aber auch zur Rück­kehr einer Sta­tue Kai­ser Wil­helms I. auf den Rat­haus­markt zeigt sich hier eine Funk­tion neu­rech­ter Archi­tek­tur: Sie soll die Spu­ren der NS-Herrschaft und der Erin­ne­rung an sie aus dem Stadt­bild til­gen. Wie auch in ihrer geschichts­po­li­ti­schen Pro­gram­ma­tik will die Ham­bur­ger AfD die »über tau­send­jäh­rige Geschichte Deutsch­lands« in ihren ver­meint­lich posi­ti­ven Sei­ten zei­gen und dar­über eine als ver­lo­ren gel­tende natio­nale Iden­ti­tät – und dazu gehö­ren ent­spre­chende Gebäude – wiederherstellen.

Ideologische Fassaden

Dass ein sol­ches Pro­gramm not­wen­di­ger­weise Illu­sio­nen und Ideo­lo­gie pro­du­ziert, liegt auf der Hand. Ein älte­res Bei­spiel Ham­bur­gi­scher Rekon­struk­ti­ons­ar­chi­tek­tur fin­det sich in der Neu­stadt. Unter ande­rem in der Peter- und der Nean­der­straße ließ der Kauf­mann Alfred Toep­fer seit den 1960er Jah­ren Wohn­häu­ser des 17. und 18. Jahr­hun­derts wie­der­auf­bauen, die einst an ande­ren Orten der Stadt das Groß­bür­ger­tum beher­berg­ten. Zu Recht stand Toep­fer, der sich im Natio­nal­so­zia­lis­mus auch durch volks­tums­po­li­ti­sches Enga­ge­ment her­vor­tat, mit sei­nem Vor­ha­ben schon sei­ner­zeit in der Kri­tik – befand sich doch mit der soge­nann­ten »Juden­börse« hier einst ein Ort jüdi­schen Lebens.

Rekon­struk­ti­ons­ar­chi­tek­tur der 1960er Jahre, Peter‑, Ecke Nean­der­straße, Foto: Pauli-Pirat, Wiki­me­dia Com­mons, CC BY-SA 4.0.

Die Neu­stadt war zudem, wie es an den Res­ten des Gän­ge­vier­tels noch zu erah­nen ist, zuvor ein pro­le­ta­ri­sches Vier­tel. Es zeich­nete sich also gerade nicht durch groß­zü­gi­ges Barock, son­dern durch beengte Miets­ka­ser­nen aus. Mit den neuen Bür­ger­häu­sern Toep­fers ver­schwand also auch das, was die AfD in ihrer Schwel­ge­rei für das Kai­ser­reich nur zu gerne ver­gisst: Die sozia­len Ver­wer­fun­gen der Indus­trie­mo­derne, die sich ins­be­son­dere in der beschleu­nig­ten Indus­tria­li­sie­rung des Deut­schen Reichs im aus­ge­hen­den 19. Jahr­hun­dert in den Groß­städ­ten zeigten.

Aus die­ser bereits zeit­ge­nös­sisch wahr­ge­nom­me­nen Beschleu­ni­gung gin­gen nun wie­derum jene grün­der­zeit­li­chen Fas­sa­den her­vor, die heut­zu­tage nach­ge­bil­det wer­den und etwa am Schul­ter­blatt ein woh­li­ges Gefühl »guter alter Zeit« ver­mit­teln. Der wirt­schaft­li­che Auf­schwung nach der Reichs­grün­dung endete 1873 jäh im Grün­der­krach; ver­mehrt tra­ten nun im letz­ten Vier­tel des 19. Jahr­hun­derts die nega­ti­ven Fol­gen der Hoch­in­dus­tria­li­sie­rung ins Bewusst­sein. Die dar­auf­hin ein­set­zende konservativ-reaktionäre Kul­tur­kri­tik ent­deckte in ihrer Suche nach Ord­nung den Wert des Ver­gan­ge­nen. Nicht nur flo­rier­ten der Heimat- und Denk­mal­schutz, son­dern auch der Historismus.

Die rezente Rekon­struk­tion grün­der­zeit­li­cher Wohn­häu­ser wie­der­holt als Farce, was einst Tra­gö­die war. Die ver­zier­ten Fas­sa­den fun­gie­ren auch heute als Sta­bi­li­täts­an­ker in einer erneu­ten Phase erfah­re­ner Beschleu­ni­gung. Ein ent­fes­sel­ter Finanz­markt­ka­pi­ta­lis­mus, der auch die letz­ten Reste bür­ger­li­cher Behag­lich­keit ver­dampft, pro­du­ziert diese nun und für jeden sicht­bar als Schein. Die Investor:innen des Hau­ses am Schul­ter­blatt ent­schie­den sich offen­bar vor allem des­halb für die grün­der­zeit­li­che Archi­tek­tur, da sie auf dem Immo­bi­li­en­markt hohe Pro­fite ver­spricht. Das Geld für das bis heute nahezu unbe­wohnte Haus floss von der Fami­lie Land­schulze, die für ihre leer­ste­hen­den Grün­der­zeit­re­kon­struk­tio­nen berühmt und berüch­tigt ist – aus Spe­ku­la­ti­ons­grün­den, wie ange­nom­men wird. Die neo­li­be­rale Stadt kapi­ta­li­siert ein stär­ker wer­den­des – und von ihr pro­du­zier­tes – kom­pen­sa­to­ri­sches Bedürf­nis. Jene ver­meint­li­che Wur­zel­lo­sig­keit die der moder­nen Archi­tek­tur vor­ge­hal­ten wird, bringt heute ver­schnör­kelte Alt­bau­ten hervor.

Die Moderne als »Einheitsbrei«?

Es bedarf jedoch offen­bar mehr als Ideo­lo­gie­kri­tik, um dem rech­ten Rekon­struk­ti­ons­wahn etwas ent­ge­gen­zu­set­zen. Uner­war­tete Schüt­zen­hilfe kommt von der AfD selbst. Im Land­tag Sachsen-Anhalts brachte die dor­tige Frak­tion einen Antrag ein, der für eine »kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Bau­haus« plä­dierte, es sei ein »Irr­weg der Moderne« gewe­sen. Die Rech­ten stört unter ande­rem eine, wie sie es aus­drü­cken, »uni­ver­selle Ästhe­tik«, wodurch »indi­vi­du­elle und regio­nale Beson­der­hei­ten ver­lo­ren« gin­gen, ebenso wie die ver­meint­lich »tra­di­tio­nel­len und kul­tu­rel­len ver­an­ker­ten Vor­stel­lun­gen von Wohn- und Lebens­räu­men«. Neben der »Nähe zum Kom­mu­nis­mus« füh­ren die AfDler:innen auch den archi­tek­to­ni­schen »Ein­heits­brei« des Bau­hau­ses an, der »lokale Iden­ti­tä­ten« ver­dränge und »regio­nale Eigen­hei­ten« verwässere.

Im Jahr 2011 schrieb die heu­tige Lei­te­rin des Ham­bur­ger Orts­ver­ban­des des Ver­eins Stadt­bild Deutsch­land einen Leser­brief an das Ham­bur­ger Abend­blatt und sprach darin von der »aus­tausch­ba­ren Archi­tek­tur des nüch­ter­nen Prag­ma­tis­mus«. Es ging um die in der Tat wenig gelun­gene SAP-Zentrale am Rothen­baum. Doch geriet der Leser­brief zu einer Gene­ral­ab­rech­nung: »Die­ser moderne archi­tek­to­ni­sche Ein­heits­brei ist nicht mehr zu ertragen.«

Nun gibt es, wie ein­lei­tend erwähnt, keine rechte Archi­tek­tur – und damit ebenso wenig eine linke. Die als »Ein­heits­brei« dif­fa­mierte moderne Archi­tek­tur konnte ebenso vom Faschis­mus auf­ge­grif­fen wer­den, wie es sich im ita­lie­ni­schen Razio­na­lismo zeigt. Nichts­des­to­trotz exis­tiert offen­bar eine Form­spra­che, die im wahrs­ten Sinne des Wor­tes zu glatt für iden­ti­täre Sta­bi­li­täts­an­ker ist. Nicht zuletzt war das, was sei­tens der AfD und ande­ren als moderne Archi­tek­tur ver­schmäht wird, eine andere Ant­wort auf die Ver­wer­fun­gen der Indus­trie­mo­derne. Statt in eine ima­gi­näre Ver­gan­gen­heit zurück­zu­keh­ren, war es der Ver­such, mit den Mit­teln der Moderne eine bes­sere Stadt für alle zu schaffen.

»Genug Barock – erhal­tet unse­ren Block«: Pro­test gegen den Rekon­struk­ti­ons­wahn in Pots­dam, Foto: privat.

Nun gilt es zwar wie­derum nicht selbst die Ver­gan­gen­heit als Pro­blem­lö­se­rin zu mobi­li­sie­ren, aber: Ein wohl­fahrt­staat­lich orga­ni­sier­ter Städ­te­bau, der auf funk­tio­nale und schnör­kel­lose Gebäude setzt, könnte sowohl eine Ant­wort auf eine rechte Poli­tik regressiv-identitärer Archi­tek­tur als auch auf die neo­li­be­rale Stadt der hohen Mie­ten sein. Zudem zeigt sich bei einem Blick auf aktu­elle Ideen par­ti­zi­pa­ti­ver Stadt­pla­nung, wie sie etwa für das zum Spe­ku­la­ti­ons­ob­jekt ver­kom­mene Hols­ten­areal vor­lie­gen, zwei­er­lei. Ers­tens bedarf es kei­nes­wegs tra­di­tio­nel­ler Bau­stile und des Stucks, um abwechs­lungs­rei­che Stadt­vier­tel zu schaf­fen. Zwei­tens inte­griert der Ent­wurf auch grün­der­zeit­li­che Bestands­bau­ten, ohne sich in Ewig­gest­rig­keit zu ver­lie­ren. Gemein­schaft ent­stünde in sol­chen Stadt­vier­teln nicht durch das Ima­gi­näre der Nation, son­dern durch ein tat­säch­lich geleb­tes Miteinander.

Das Problem der Postmoderne 

Jedoch ist das, was die Rechte unter dem Sam­mel­be­griff moderne Archi­tek­tur fasst und ablehnt, auch von ande­rer Seite in die Kri­tik gera­ten. Ein Hang zu Regio­na­lis­men und iden­ti­tä­ren For­men zeigt sich auch in der hete­ro­ge­nen Strö­mung post­mo­der­ner Architektur.

Schul­bau nach Vor­lage tra­di­tio­nel­ler Bau­ern­häu­ser im Ham­bur­ger Süd­os­ten, Foto: privat.

Etwa wurde gegen Ende des Jah­res 2024 im Ham­bur­ger Süd­os­ten, in Kirch­wer­der, ein Schul­bau fer­tig­ge­stellt, der an die »orts­ty­pi­sche Bau­tra­di­tion« bäu­er­li­cher Lang­häu­ser ange­lehnt ist. Die­ser Bau, das sei hier unter­stri­chen, ist weder eine Rekon­struk­tion nach his­to­ri­schem Vor­bild noch wurde er von rech­ten Spender:innen finan­ziert. Und auch der Innen­aus­bau ist funk­tio­nal gehal­ten, unver­putz­ter Beton. Die Fas­sade des Hau­ses jedoch will die Eigen-Artigkeit der regio­na­len Kul­tur­land­schaft beto­nen, wie es in einer Pres­se­mit­tei­lung des Jah­res 2021 heißt. Als Vor­bild diente auch das Rieck Haus – eines der ältes­ten erhal­te­nen Bau­ern­häu­ser Nord­deutsch­lands, das seit 1940 unter Denk­mal­schutz steht. Der Archi­tekt des Schul­baus spricht von »iden­ti­täts­stif­ten­den his­to­ri­schen Baukörpern«.

Es geht nun nicht darum, die archi­tek­to­ni­sche Leis­tung zu schmä­lern – auch nicht das Gebäude selbst, das funk­tio­nal und in gewis­ser Hin­sicht auch ästhe­tisch anspre­chend ist. In einer Zeit jedoch, in der der gebaute Raum der Stadt wie­der der­art von Rech­ten poli­ti­siert und ver­ein­nahmt wird, gilt es Orte zu schaf­fen, die sich qua ihrer Form und Mate­ria­li­tät die­sen Ver­ein­nah­mun­gen auch dann wider­set­zen kön­nen, wenn die par­la­men­ta­ri­sche Ver­tre­tung der Stuck­staf­fel wei­ter auf dem Vor­marsch ist.

Johan­nes Rad­c­zinski, Sep­tem­ber 2025

Der Autor schrieb auf Untie­fen bereits über andere Abgründe in Stein gemei­ßel­ter Geschichts­po­li­tik wie den soge­nann­ten »Grü­nen Bun­ker« an der Feld­straße und das von dort nicht weit ent­fernte Bis­marck­denk­mal.

Antisemitismus als Nebenwiderspruch?

Antisemitismus als Nebenwiderspruch?

Dem Über­le­ben­den des rechts­ter­ro­ris­ti­schen Anschlags von Mölln, İbrahim Ars­lan, wurde auf der Bühne des Zeise Kinos Anti­se­mi­tis­mus vor­ge­wor­fen, weil er ein pro­pa­läs­ti­nen­si­sches T‑Shirt trug. Ein jüdi­scher Kino­gast ergriff das Wort und ver­tei­digte ihn. Für viele ein kla­rer Fall: Über­heb­li­ches deut­sches »Aufarbeitungsweltmeister«-Gebaren at its worst. Aber ist es wirk­lich so ein­fach? Ein Gast­bei­trag der Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb.

Im Otten­ser Zeise Kino kam es am ver­gan­ge­nen Diens­tag zu einem Eklat: İbrahim Ars­lan, Opfer und Über­le­ben­der des neo­na­zis­ti­schen Brand­an­schlags von Mölln im Jahr 1992, war im Rah­men einer Son­der­vor­stel­lung des Films »Die Möll­ner Briefe« im Zeise Kino zu Gast. Als Haupt­prot­ago­nist des Films sollte er an einer Podi­ums­dis­kus­sion teil­neh­men. Er hatte sich zu die­sem Anlass ein T‑Shirt ange­zo­gen, das das ehe­ma­lige Man­dats­ge­biet Paläs­tina – also das heu­tige Gebiet Isra­els, des West­jor­dan­lands und des Gaza-Streifens – in paläs­ti­nen­si­schen Natio­nal­fah­nen zeigt. Der Zeise-Chef Mat­thias Elwardt wollte das nicht unkom­men­tiert las­sen. In einer am dar­auf­fol­gen­den Tag ver­öf­fent­lich­ten Stel­lung­nahme erklärt er: »Ich habe ihn vor dem Film zusam­men mit dem Pro­du­zen­ten des Films ange­spro­chen, dass ich das als anti­se­mi­tisch und unpas­send emp­finde. Dar­auf­hin ist İbrahim Ars­lan auf die Bühne gegan­gen und hat meine Kri­tik vor einer Begrü­ßung öffent­lich gemacht.«

Der Eklat

Ein Video der dar­auf­fol­gen­den Situa­tion wurde von der Jour­na­lis­tin und BDS-Aktivistin Alena Jaba­rine bei Insta­gram ver­öf­fent­licht. Darin ist zu sehen, wie Elwardt seine Kri­tik an dem Motiv begrün­det, beglei­tet von Joh­len und auf­ge­brach­ten Zwi­schen­ru­fen aus dem Publi­kum: »Wir sind in dem Land, in dem es den Holo­caust gab. Ich kann doch nicht jeman­den auf die Bühne stel­len, der sagt, Juden dür­fen kein Land haben. Wir sind in Deutsch­land und haben eine Ver­pflich­tung, und es [i.e. »ein Land zu haben«] ist ein Recht von jüdi­schen Men­schen.« Im Ver­lauf der Situa­tion kommt ein Mann aus dem Publi­kum nach vorne: Joram Beja­rano, der Sohn der vor vier Jah­ren gestor­be­nen Auschwitz-Überlebenden Esther Beja­rano. Ars­lan ent­reißt Elwardt das Mikro und gibt es Beja­rano, der bekun­det, er habe »über­haupt nichts gegen die­ses T‑Shirt«: »Sie kom­men daher und sagen, Juden füh­len sich dis­kri­mi­niert? Nein, ich fühle mich nicht dis­kri­mi­niert.« Jubel im Saal.

Das Video wurde mitt­ler­weile meh­rere hun­dert­tau­send­mal ange­schaut und erhielt mehr als 11.000 Likes. In den aller­meis­ten Kom­men­ta­ren ebenso wie in einem Arti­kel, den Moha­med Amja­hid im Frei­tag ver­öf­fent­licht hat, ver­bin­den sich Empö­rung und Genug­tu­ung: Empö­rung über Elwardts Ver­hal­ten als Aus­druck von »ger­man white supre­macy« und deut­schem »Ver­söh­nungs­thea­ter«. Und Genug­tu­ung dar­über, dass sich in die­sem Fall migran­ti­sche und jüdi­sche Per­spek­ti­ven zusam­men die Deu­tungs­ho­heit wie­der erkämpft hät­ten. Oder, wie es die Thea­ter­re­gis­seu­rin und Autorin Ayşe Güvend­iren aus­drückt: »Ein Über­le­ben­der nimmt sich den Raum zurück und über­gibt ihn bewusst einer jüdi­schen Perspektive.«

Mat­thias Elwardt ver­öf­fent­lichte am Tag dar­auf eine Stel­lung­nahme. Er gesteht darin ein, von der Situa­tion über­rum­pelt wor­den zu sein und den fal­schen Ton gewählt zu haben. Und er bit­tet İbrahim Ars­lan um Ent­schul­di­gung. Die Ein­nah­men aus allen Vor­füh­run­gen von »Die Möll­ner Briefe« ver­spricht er, an Arslans Orga­ni­sa­tion »reclaim&remember« zu spen­den. Auch Ars­lan mel­dete sich noch ein­mal zu Wort. In einem auf Insta­gram ver­öf­fent­lich­ten Video bekun­det er, er sei empört, trau­rig und wütend über den Vor­fall, und deu­tet ihn als Bei­spiel für eine ras­sis­ti­sche Miss­ach­tung der Per­spek­ti­ven Betrof­fe­ner. Für die­ses Video erhält er viel Zuspruch, Soli­da­ri­täts­be­kun­dun­gen kom­men u.a. von Amnesty Inter­na­tio­nal Deutsch­land, von Debo­rah Feld­man und Hanno Hauenstein.

Der Nahe Osten ohne Israel

Aus­lö­ser des Eklats: Der Nahe Osten ohne Israel. Quelle: Insta­gram
Die Rück­seite des Shirts zeigt Hand­ala, das Haupt­sym­bol der BDS-Kampagne.

Was aller­dings weder in Arslans Stel­lung­nahme noch in sons­ti­gen Kom­men­ta­ren noch eine Rolle spielt, ist der Aus­lö­ser des Eklats. Das ist eine fatale Ver­schie­bung. Auf Arslans T‑Shirt, das er selbst­ver­ständ­lich auch nach dem Eklat für den gesam­ten Rest des Abends trug, war das Gebiet des heu­ti­gen Israel und der paläs­ti­nen­si­schen Gebiete in den paläs­ti­nen­si­schen Natio­nal­far­ben zu sehen. Die­ses Motiv kann als bild­li­cher Aus­druck der Parole »From the river to the sea – Pal­es­tine will be free« gel­ten, des Wun­sches also, dass Israel von der Land­karte ver­schwin­den möge.1Vgl. dazu z.B. die Bro­schüre »Wel­cher Fluss und wel­ches Meer?« der Bil­dungs­stätte Anne Frank. Es ima­gi­niert einen Nahen Osten ohne jüdi­schen Staat und das heißt – solange der mör­de­ri­sche Anti­se­mi­tis­mus von Hamas, Hiz­bol­lah, ira­ni­schen Mul­lahs und Co. nicht end­gül­tig Geschichte ist – einen Nahen Osten ohne Jüdin­nen und Juden. Kurz: Die­ses T‑Shirt ist antisemitisch. 

İbrahim Ars­lan betont in sei­ner Stel­lung­nahme, dass er sich seit Jah­ren nicht nur gegen Ras­sis­mus, son­dern auch gegen Anti­se­mi­tis­mus ein­setzt, und plä­diert »für eine Erin­ne­rungs­kul­tur, die nicht spal­tet, son­dern ver­bin­det«. Mit sei­nem poli­ti­schen Enga­ge­ment und sei­ner Bil­dungs­ar­beit hat er tat­säch­lich genau das seit vie­len Jah­ren auf bewun­derns­werte Weise gemacht. Er hat maß­geb­lich dazu bei­getra­gen, dass Über­le­bende und Ange­hö­rige von Opfern ras­sis­ti­schen und anti­se­mi­ti­schen Ter­rors wie in Halle, in Hanau oder beim Münch­ner OEZ-Anschlag sich ver­netzt haben, er hat dafür gekämpft, dass die Stim­men der Betrof­fe­nen gehört und ihre Per­spek­ti­ven berück­sich­tigt wer­den. Auch in Ham­burg hat er mit Rede­bei­trä­gen auf Kund­ge­bun­gen immer wie­der seine Soli­da­ri­tät in die­sem Sinne aus­ge­drückt, z.B. bei der Initia­tive zum Geden­ken an Châu und Lân

Selektive Solidarität

Umso bestür­zen­der ist es, dass die Per­spek­tive der Betrof­fe­nen in die­sem Fall nicht zu gel­ten scheint. Denn auch wenn es in die­sem kon­kre­ten Fall ein nicht­jü­di­scher Deut­scher war, der die Kri­tik for­mu­liert hat: Pri­mär sind es Jüdin­nen und Juden, die die Land­karte Paläs­ti­nas ohne Israel als Bedro­hung wahr­neh­men, als Aberken­nung des Exis­tenz­rechts nicht nur des israe­li­schen Staa­tes, son­dern auch der in ihm leben­den Jüdin­nen und Juden. Dass Joram Beja­rano diese Ansicht nicht teilt oder »kein Pro­blem« damit hat, wenn Jüdin­nen und Juden in Israel das Recht auf Selbst­be­stim­mung aberkannt wird, kann schlecht als Gegen­ar­gu­ment ange­führt wer­den. Es gibt Roma, die kein Pro­blem mit dem Z‑Wort haben, es gibt Schwarze Republikaner:innen, die Donald Trump von jeg­li­chem Ras­sis­mus frei­spre­chen, und es gibt Schwule und Les­ben in der AfD. Führt man sol­che Stim­men als Recht­fer­ti­gung ins Feld und igno­riert alle ande­ren, offen­bart sich darin genau der instru­men­telle und selek­tive Umgang mit Betrof­fen­heit, den Ars­lan ansons­ten zu Recht scharf kritisiert. 

Ars­lan hat sich ent­schie­den, das Gros der von Anti­se­mi­tis­mus Betrof­fe­nen (und im Übri­gen auch der Anti­se­mi­tis­mus­for­schung) zu igno­rie­ren, das in dem Motiv auf sei­nem T‑Shirt einen Aus­druck von Anti­se­mi­tis­mus sieht. Würde er sei­nem eige­nen erin­ne­rungs­po­li­ti­schen Anspruch gerecht wer­den wol­len, müsste er auch die­sen Stim­men Gehör schen­ken und nicht nur jenen, die (wie Joram Beja­rano oder die erwähnte Debo­rah Feld­man) israel­be­zo­ge­nen Anti­se­mi­tis­mus nicht erken­nen kön­nen oder wollen.

In sei­ner Stel­lung­nahme behaup­tet Ars­lan, er habe das T‑Shirt »als Zei­chen der Soli­da­ri­tät mit einer von Völ­ker­mord betrof­fe­nen Bevöl­ke­rung« getra­gen. An sol­chen Zei­chen gibt es nun ja aller­dings kei­nen Man­gel: Es gibt alle mög­li­chen Klei­dungs­stü­cke und Acces­soires in den paläs­ti­nen­si­schen Natio­nal­far­ben, es gibt Sym­bole wie Was­ser­me­lo­nen, Gra­nat­äp­fel und Frie­dens­tau­ben, es gibt die Handala-Figur und natür­lich die Kufiya und ihr cha­rak­te­ris­ti­sches Mus­ter. Nicht alles davon ist völ­lig unpro­ble­ma­tisch.2Zu Hand­ala etwa schreibt Sebas­tian Leber: »In des­sen Geschich­ten wer­den Israe­lis grund­sätz­lich mit Haken­nase dar­ge­stellt. Sie bege­hen jüdi­sche Ritu­al­morde, ver­füh­ren ara­bi­sche Frauen, kön­nen bloß durch Maschi­nen­ge­wehre gestoppt wer­den.« Aber wohl gegen kei­nes die­ser »Zei­chen der Soli­da­ri­tät« hätte der Geschäfts­füh­rer des Zeise Kinos etwas ein­ge­wen­det. Ars­lan jedoch hat ein Sym­bol gewählt, das die Aus­lö­schung Isra­els impliziert.

Kritik – nicht »silencing«

Dass er dafür kri­ti­siert wor­den ist, sieht er als Sym­ptom dafür, dass »man uns immer wie­der zum Schwei­gen brin­gen will, gerade dann, wenn unsere Per­spek­ti­ven unbe­quem sind«. Er stellt den Vor­fall im Zeise Kino damit in eine Reihe mit Situa­tio­nen, in denen Betrof­fene rech­ter Gewalt her­ab­las­send und empa­thie­los behan­delt wur­den, in denen sie zurecht­ge­wie­sen und ihre Per­spek­ti­ven miss­ach­tet wur­den (wie es etwa Anfang die­ses Jah­res in Hanau gesche­hen ist). Aber die Kri­tik an einem anti­se­mi­ti­schen Motiv ist kein »tone poli­cing« und auch kein »silen­cing« unbe­que­mer Per­spek­ti­ven. Viel­mehr geht es darum, dass der bild­lich aus­ge­drückte Wunsch, den Juden­staat von der Land­karte ver­schwin­den zu las­sen, eben keine akzep­ta­ble »Per­spek­tive« ist, son­dern: Anti­se­mi­tis­mus. Wer die­sen Wunsch äußert, spielt da keine Rolle. Zudem kann keine Rede davon sein, dass man Ars­lan »zum Schwei­gen brin­gen« wollte. Er selbst hat den Kon­flikt mit Elwardt auf die Bühne des Kino­saals ver­legt, weil er wusste, dass er mit laut­star­ker Zustim­mung rech­nen konnte – nicht nur von Beja­rano, mit dem er gut bekannt ist, son­dern auch von vie­len Gästen.

Man muss außer­dem davon aus­ge­hen, dass Ars­lan das Sym­bol in genauem Wis­sen sei­nes Gehalts trug. Schließ­lich wurde er schon mehr­fach mit der Kri­tik daran kon­fron­tiert. Erst vor weni­gen Wochen wurde zeit­wei­lig ein Fern­seh­bei­trag mit Ars­lan aus der Media­thek ent­fernt. Der Grund: Betrof­fene hat­ten den Sen­der dar­auf hin­ge­wie­sen, dass Ars­lan in dem Bei­trag deut­lich sicht­bar eine Hals­kette mit einem Anhän­ger in den Umris­sen des ehe­ma­li­gen Man­dats­ge­biets trug. Ars­lan wusste also, dass das Motiv als anti­se­mi­ti­sche Chif­fre kri­ti­siert wird. Und trotz­dem hat er für die Ver­an­stal­tung im Zeise Kino erneut genau die­ses Sym­bol gewählt.

Das lässt sich nur als eine stra­te­gi­sche Ent­schei­dung ver­ste­hen, mit der er die­je­ni­gen, die ihn ein­la­den, bewusst vor die Wahl stellt: Ent­we­der sie tole­rie­ren kom­men­tar­los ein anti­se­mi­ti­sches Sym­bol und tra­gen damit zur Nor­ma­li­sie­rung und Baga­tel­li­sie­rung des Anti­se­mi­tis­mus bei, oder sie pro­du­zie­ren einen Eklat, der vom Thema des Films ablenkt – dem rech­ten Ter­ror der neun­zi­ger Jahre und dem unem­pa­thi­schen, struk­tu­rell ras­sis­ti­schen Umgang des deut­schen Staa­tes mit den vom Ter­ror Betrof­fe­nen – und für Ars­lan selbst zwei­fel­los auch ver­let­zend wirkt. Die Empö­rung dar­über, dass Elwardt Ars­lan die Bühne genom­men habe, greift darum ins Leere. Eher ist es so: Um ein anti­is­rae­li­sches State­ment zu set­zen, nimmt Ars­lan in Kauf, dass die­ses State­ment seine Erin­ne­rungs­ar­beit ver­drängt oder überlagert.

Unbequeme Antisemitismuskritik

Des­halb gilt: Der Zeise-Geschäftsführer ver­dient für sein Ver­hal­ten Unter­stüt­zung. Er hat Anti­se­mi­tis­mus erkannt und benannt und ihn nicht, was der beque­mere Weg gewe­sen wäre, igno­riert. In die­sem Sinne hat sich nun auch das Netz­werk jüdi­scher Hoch­schul­leh­ren­der in einer Stel­lung­nahme geäu­ßert, in der es unter ande­rem heißt: »Für uns steht fest: Zivil­cou­rage und die klare Benen­nung von Anti­se­mi­tis­mus sind keine Ver­feh­lun­gen, son­dern Aus­druck demo­kra­ti­scher Verantwortung.« 

Wie Elwardt die Situa­tion gehand­habt hat, lässt sich aller­dings im Ein­zel­nen pro­ble­ma­ti­sie­ren. Dass er etwa ein Opfer neo­na­zis­ti­schen Ter­rors daran erin­nert, dass es sich im Land der Täter der Shoah befinde, ist unan­ge­bracht und muss in Arslans Ohren zynisch klin­gen. Der Ver­weis auf die deut­sche Spe­zi­fik geht hier außer­dem am Kern des Pro­blems vor­bei. Das T‑Shirt wäre ja auch dann anti­se­mi­tisch, würde Otten­sen noch zu Däne­mark gehö­ren. Und die an Joram Beja­rano gerich­tete Frage »Wo sol­len Juden denn Ihrer Mei­nung nach leben?«, ist eine sehr unge­lenke Art, nach dem Schick­sal der jüdi­schen Israe­lis in einem ange­streb­ten, mehr­heit­lich ara­bi­schen Paläs­tina zu fra­gen. Bei allen Vor­be­hal­ten gegen­über kon­kre­ten For­mu­lie­run­gen gilt es hier aber zu berück­sich­ti­gen, dass Elwardt nicht vor­hatte, das Thema öffent­lich anzu­spre­chen, und von der Situa­tion ver­ständ­li­cher­weise über­for­dert war.

Die Reak­tio­nen auf den Eklat illus­trie­ren, wie die berech­tigte Kri­tik am deut­schen »Ver­söh­nungs­thea­ter« (Max Czol­lek), dem es mehr um die Wie­der­erlan­gung einer posi­ti­ven natio­na­len Iden­ti­tät geht als um Auf­ar­bei­tung und Ein­ge­den­ken, in Erin­ne­rungs­ab­wehr und Rela­ti­vie­rung des Anti­se­mi­tis­mus umschla­gen kann. Vor allem in Moha­med Amja­hids Frei­tag-Arti­kel mit dem Titel »Der Deut­sche zeigt, wie deut­sches Erin­nern geht« wird das deut­lich: Er bezeich­net die Epi­sode im Zeise Kino als Bei­spiel für die »Absur­di­tät deut­scher Erin­ne­rungs­kul­tur«, für eine Erin­ne­rungs­kul­tur, die »ein Kul­tur­gut gewor­den« sei und bei der das »posi­tive Fee­ling« im Zen­trum stehe. Elwardt wirft er vor, »pfau­en­haft ein Ver­söh­nungs­thea­ter auf[zu]führen«.

Aber das ist ein halt­lo­ser Vor­wurf: Ein »posi­ti­ves Fee­ling« wäre ja gerade dann garan­tiert gewe­sen, wenn Elwardt nichts gegen das T‑Shirt gesagt hätte; wenn er sich zusam­men mit Publi­kum und Podium einig und auf der rich­ti­gen Seite hätte wäh­nen kön­nen. Amja­hid fasst seine Kri­tik am Ver­söh­nungs­thea­ter mit den Wor­ten zusam­men: »Haupt­sa­che, der Deut­sche wird wie­der gut.« Doch die­ser Satz trifft weni­ger Elwardt als viel­mehr das joh­lende Kino­pu­bli­kum und die zahl­lo­sen empör­ten Stim­men, die nun bei­spiels­weise den Boy­kott des Zeise Kinos for­dern. Vol­ler Inbrunst »Free Pal­es­tine from Ger­man Guilt« zu rufen, den Staat Israel als kolo­nia­les oder gar geno­zi­da­les Pro­jekt zu dämo­ni­sie­ren, Anti­se­mi­tis­mus zu leug­nen oder als Lap­pa­lie abzu­tun und sich dabei zusam­men mit gro­ßen Tei­len der Welt auf der »rich­ti­gen Seite der Geschichte« zu wäh­nen – wenn das keine deut­sche »Wie­der­gut­wer­dung« ist, was dann?

Abge­se­hen vom Netz­werk jüdi­scher Hoch­schul­leh­ren­der und vom Ham­bur­ger Anti­se­mi­tis­mus­be­auf­trag­ten hat bis­her nie­mand öffent­lich den Aus­lö­ser des Eklats, das T‑Shirt-Motiv, als anti­se­mi­tisch benannt. Das zeigt, wie ein­sam und leise die Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik inzwi­schen ist. Aus­nahms­los jedes Thema scheint mitt­ler­weile dem Kampf gegen Israel unter­ge­ord­net zu wer­den. Anti­se­mi­tis­mus wird dabei ent­we­der schlicht geleug­net oder zum Neben­wi­der­spruch erklärt.

Die Innen­re­vi­sion Kul­tur­be­trieb ist ein Ham­bur­ger Zusam­men­schluss von Men­schen der Kunst- und Kul­tur­szene gegen Antisemitismus.

  • 1
    Vgl. dazu z.B. die Bro­schüre »Wel­cher Fluss und wel­ches Meer?« der Bil­dungs­stätte Anne Frank.
  • 2
    Zu Hand­ala etwa schreibt Sebas­tian Leber: »In des­sen Geschich­ten wer­den Israe­lis grund­sätz­lich mit Haken­nase dar­ge­stellt. Sie bege­hen jüdi­sche Ritu­al­morde, ver­füh­ren ara­bi­sche Frauen, kön­nen bloß durch Maschi­nen­ge­wehre gestoppt werden.« 

Gegen ein »Kühne-Denkmal« in Hamburg

Gegen ein »Kühne-Denkmal« in Hamburg

Am 2. Sep­tem­ber prä­sen­tierte der Senat die aktua­li­sier­ten Pläne für den Opern­neu­bau in der Hafen­City. Nun hat eine Initia­tive, an der auch wir betei­ligt sind, ein Posi­ti­ons­pa­pier gegen den Opern­bau ver­öf­fent­licht. Wir doku­men­tie­ren hier die Peti­tion und rufen dazu auf, sie zu unter­stüt­zen: für eine demo­kra­ti­sche, geschichts­be­wusste und nach­hal­tige Stadtentwicklung!

Im Februar die­ses Jah­res stell­ten Senat, Kühne-Stiftung und Kühne Hol­ding AG bei einer Pres­se­kon­fe­renz ihren Plan für ein neues Opern­haus auf dem Baa­ken­höft in der Hafen­City vor. Seit­dem ist viel Kri­tik an die­sem Vor­ha­ben und dem unde­mo­kra­ti­schen Ver­fah­ren for­mu­liert wor­den. Den­noch steht zu erwar­ten, dass die Pläne schon bald unver­än­dert der Bür­ger­schaft zur Abstim­mung vor­ge­legt wer­den. In die­sem Posi­ti­ons­pa­pier haben wir die Kri­tik­punkte gebün­delt. Wir laden alle ein, es zu unter­schrei­ben und damit Ein­fluss auf das wei­tere Vor­ge­hen des Senats und der Bür­ger­schaft zu nehmen!

Für eine trans­pa­rente Öffent­lich­keits­be­tei­li­gung! Ob Ham­burg Bedarf an einer neuen Oper hat und wie das letzte freie, für eine öffent­li­che Nut­zung vor­ge­se­hene Grund­stück in der Hafen­City genutzt und gestal­tet wird, soll­ten nicht der Mil­li­ar­där Klaus-Michael Kühne und die Regie­ren­den ent­schei­den, die er für seine Idee gewin­nen konnte, son­dern die Hamburger:innen im Rah­men eines grund­le­gen­den Betei­li­gungs­ver­fah­rens. Das bis­he­rige, völ­lig intrans­pa­rente Ver­fah­ren scha­det dem Ver­trauen in Poli­tik und Demokratie.

Erin­ne­rung und Auf­ar­bei­tung sind keine Wort­hül­sen! Klaus-Michael Küh­nes Logistik-Unternehmen Kühne + Nagel hat im NS mas­siv von »Ari­sie­run­gen« und vom Raub jüdi­schen Eigen­tums pro­fi­tiert – das Raub­gut wurde unter ande­rem am Baa­ken­ha­fen zwi­schen­ge­la­gert. Der jüdi­sche Teil­ha­ber Adolf Maass wurde 1933 geschasst und spä­ter in Ausch­witz ermor­det. Kühne ver­hin­dert die unab­hän­gige Auf­ar­bei­tung die­ser Unrechts­ge­schichte und hält unlieb­same For­schungs­er­geb­nisse unter Ver­schluss. Mit der Oper würde Kühne sich in Ham­burg ein rie­si­ges Denk­mal set­zen, wäh­rend nichts an die aktive Betei­li­gung von Unter­neh­men, Stadt und Bevöl­ke­rung an Ent­eig­nun­gen und »Ari­sie­run­gen« erinnert.

Für die Bewah­rung von Erin­ne­rungs­or­ten! Der Baa­ken­ha­fen war Dreh­scheibe für den Trans­port von Sol­da­ten und Waf­fen für die deut­schen Kolo­nien und ab 1904 für den Völ­ker­mord an den Herero und Nama in der Kolo­nie »Deutsch-Südwestafrika« (heute Nami­bia). Das macht den Baa­ken­höft zum erin­ne­rungs­kul­tu­rell wich­tigs­ten unbe­bau­ten Grund­stück die­ser Stadt. Die­sen bedeu­ten­den Erin­ne­rungs­ort mit einem Opern­ge­bäude zu bebauen, wäh­rend die Stadt Ham­burg nach wie vor kei­nen Gedenk­ort für die Geschichte des kolo­nia­len Völ­ker­mords hat, käme einer Über­schrei­bung der Erin­ne­rung an die Kolo­ni­al­ver­bre­chen gleich und steht im Wider­spruch zu dem Beschluss der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft aus dem Jahr 2014, das kolo­niale Erbe Ham­burgs stadt­weit aufzuarbeiten.

Für eine Oper in der Innen­stadt! Das denk­mal­ge­schützte Gebäude der Staats­oper an der Damm­tor­straße ist im Ver­gleich zum geplan­ten Opern­neu­bau in der Hafen­City sehr gut an den Nah- und Fern­ver­kehr ange­bun­den. Außer­dem spielt die Oper eine wich­tige Rolle für die Innen­stadt und belebt sie in Zei­ten, wenn die Geschäfte längst geschlos­sen sind. Ein Gut­ach­ten aus dem Jahr 2020 hat erge­ben, dass die Staats­oper für rund 150 Mio. Euro an heu­tige Anfor­de­run­gen des Opern­be­triebs ange­passt und saniert wer­den kann.

Für kli­ma­freund­li­ches Bauen im Bestand! Ein Neu­bau auf dem Baa­ken­höft würde viele CO2-Emissionen ver­ur­sa­chen. In Zei­ten des Kli­ma­wan­dels soll­ten wir uns gut über­le­gen, für wel­che Zwe­cke wir wirk­lich neu bauen sol­len und was wir bes­ser im Bestand lösen kön­nen. Eine Sanie­rung und Anpas­sung der Staats­oper an der Damm­tor­straße ist umwelt- und kli­ma­freund­li­cher als ein Neu­bau und lässt Platz auf dem Baa­ken­höft für andere Nutzungen.

Die neue Oper ist kein selbst­lo­ses Geschenk! Kühne erhielte mit der Oper ein Denk­mal, für die Stadt ent­stün­den dabei hohe Kosten.In dem Ver­trag mit Kühne-Stiftung und Kühne Hol­ding AG hat der Senat die Stadt dazu ver­pflich­tet, das wert­volle Grund­stück für das Bau­vor­ha­ben zur Ver­fü­gung zu stel­len und die Kos­ten von bis zu 147,5 Mio. Euro für Grün­dung und Hoch­was­ser­schutz des Neu­baus zu über­neh­men. Hinzu kom­men Kos­ten für die Räu­mung des Grund­stücks, die Pla­nung und Her­stel­lung der öffent­li­chen Frei­räume rings um die Oper, den Betrieb und die Instand­hal­tung eines zusätz­li­chen Hau­ses. Die denk­mal­ge­schützte Staats­oper an der Damm­tor­straße müsste trotz Neu­baus wei­ter von der Stadt instand­ge­hal­ten werden.

Nicht noch so ein »Leuchtturm«-Projekt! Die Hafen­City zieht schon heute Mas­sen von Besu­che­rin­nen an, was Bewohner:innen zuneh­mend belas­tet. Unweit der geplan­ten Oper wurde mit der Elb­phil­har­mo­nie erst 2017 nach jah­re­lan­gen Ver­zö­ge­run­gen und Kos­ten­ex­plo­sio­nen eine Sehens­wür­dig­keit fer­tig­ge­stellt. In Sicht­weite des Baa­ken­höfts steht die Bau­ruine des Elb­to­wers, an dem der Senat sich nicht finan­zi­ell betei­li­gen wollte. Nun prüft er die Anmie­tung oder den Ankauf von hoch­prei­si­gen Flä­chen für ein Natur­kun­de­mu­seum, damit das Hoch­haus an den Elb­brü­cken zu Ende gebaut wer­den kann. 

Für eine leben­dige Kul­tur und eine breite Kul­tur­för­de­rung! Die geplante Oper soll Ham­burg zum Anzie­hungs­ort für die »Welt­spitze« der Kul­tur machen. Aber Kul­tur ist nicht Leis­tungs­sport. Eine rei­che Kul­tur­land­schaft zeich­net sich nicht durch Super­la­tive und Star­kult aus, son­dern durch Breite und Vielstimmigkeit.

Erstunterzeichner:innen:

Orga­ni­sa­tio­nen:
anna elbe

Arbeits­kreis Ham­burg Postkolonial

Arca – Afri­ka­ni­sches Bil­dungs­zen­trum e.V.

AStA Hafen­City Uni­ver­si­tät Hamburg

Ber­lin Postkolonial

Bie­le­feld Postkolonial

Bismarck’s Cri­ti­cal Neighbors

Die Linke Hamburg

FSR Stadt­pla­nung der Hafen­City Uni­ver­si­tät Hamburg

FSR Urban Design der Hafen­City Uni­ver­si­tät Hamburg

fux eG

Gän­ge­vier­tel e.V.

Geno­cide and Repa­ra­tive Jus­tice Pur­suits, Nami­bia with a Glo­bal man­date and stewardship

Glo­bal Ova­herero Geno­cide Foun­da­tion, Namibia

Hafen­gruppe Hamburg

Holstenareal-Initiative »knallt am dollsten«

Initia­tive Deco­lo­nize Bismarck

Initia­tive Des­sauer Ufer

Initia­tive Sternbrücke

Inter­na­tio­nal Affairs, NTLA Nama Tra­di­tio­nal Lea­ders Asso­cia­tion, Namibia

Inter­na­tio­na­ler Jugend­ver­ein Ham­burg e.V.

Inter­ven­tion Bismarck-Denkmal Hamburg

ISD Initia­tive Schwarze Men­schen in Deutsch­land Bund e.V.

Kol­lek­tiv LU‘UM

Netz­werk Hafen­City e.V.

Netz­werk Recht auf Stadt Hamburg

No Amnesty on Genocide!/Völkermord ver­jährt nicht!

NTLA Nama Tra­di­tio­nal Lea­ders Asso­cia­tion, Namibia

Online­ma­ga­zin Untiefen

Ossara e.V.

Ros­tock Postkolonial

St. Pauli Archiv e.V.

Ver­ei­ni­gung der Ver­folg­ten des Nazi­re­gimes / Bund der Antifaschist:innen

Will­kom­mens­Kul­tur­Haus der Gemeinde Ottensen

Per­so­nen:

Andrea Gol­ler

Axel Büh­ler

Bea­trix Bursig

Ben­ja­min Hoesch

Chris­tian Kopp

Dr. Joa­chim Zeller

Dr. Yann LeGall

Eck­art Maudrich

Eli­sa­beth Hartmann

Emma Ditt­ler

Frauke Stein­häu­ser

Han­ni­mari Jokinen

Hen­ning Bleyl

Israel Kau­nat­jike

Jan Kawlath

Jochen Rothert

Katha­rina Kohl

Marco Hosemann

Michaela Plog­sties

Michael Joho

Nora Sdun

Prof. Dr. Ulrike Bergemann

Regine Chris­ti­an­sen

Sonja Schwit­ters

Teresa Mat­thies

Theo Bruns

»Die Eröffnung hätte nicht stattfinden dürfen«

»Die Eröffnung hätte nicht stattfinden dürfen«

Am 8. April wurde nach mehr­fa­cher Ver­zö­ge­rung die Westfield-Mall in der Hafen­city eröff­net. Weil auf der Groß­bau­stelle sechs Arbei­ter ver­un­glück­ten, rie­fen Gewerkschafter:innen zu Pro­tes­ten auf. Wir spra­chen mit Sam und Niklas von der Sek­tion Bau der FAU Hamburg.

»Keine Party auf Kos­ten der toten Arbei­ter!«: Pro­test gegen die Eröff­nungs­feier des Westfield-Einkaufszentrums. Foto: privat

Es ist das teu­erste Bau­pro­jekt Ham­burgs und das größte inner­städ­ti­sche Ent­wick­lungs­pro­jekt Euro­pas: das Über­see­quar­tier. Der Kern des Quar­tiers, eine gigan­ti­sche Shop­ping­mall des Inves­tors Unibail-Rodamco-Westfield (URW), wurde am ver­gan­ge­nen Diens­tag fei­er­lich eröff­net. Doch auf der Bau­stelle ver­un­glück­ten ins­ge­samt min­des­tens sechs Men­schen, dar­un­ter allein fünf alba­ni­sche Bau­ar­bei­ter beim Sturz in einen acht Stock­werke tie­fen Schacht im Okto­ber 2023. Nach dem Unfall kam her­aus: Schon mehr­fach waren zuvor gra­vie­rende Sicher­heits­män­gel auf der Bau­stelle fest­ge­stellt wor­den. Trotz­dem war die Bau­stelle nicht geschlos­sen wor­den – und auch nach dem Unfall ging alles wei­ter wie zuvor. Die Ange­hö­ri­gen der Ver­un­glück­ten war­ten bis heute auf Auf­klä­rung und Entschädigung.

Die Eröff­nung der Mall war des­halb von laut­star­kem Pro­test beglei­tet. Wäh­rend die Ham­bur­ger Würdenträger:innen Fei­er­laune aus­strahl­ten, waren etwa hun­dert Pro­tes­tie­rende den Auf­ru­fen der Jun­gen BAU und der anar­cho­syn­di­ka­lis­ti­schen Freien Arbeiter*innen-Union (FAU) zum Geden­ken an die Ver­un­glück­ten und zu Pro­tes­ten gegen die Fei­er­lich­kei­ten gefolgt. Die FAU betonte in ihrem (auf ihrer Web­site doku­men­tier­ten) Rede­bei­trag, dass der Tod der sechs Arbei­ter ver­meid­bar gewe­sen wäre und dass die Bedin­gun­gen, die zum Unglück führ­ten, sys­te­mi­sche Ursa­chen im Bau­ge­werbe haben – einer Bran­che, die auf dem Ver­schleiß der Arbei­ter1Da auf den Bau­stel­len nahezu aus­nahms­los Män­ner arbei­ten, wird hier keine gegen­derte Form ver­wen­det. beruhe, die oft pre­kär beschäf­tigt sind und mitt­ler­weile zu mehr als einem Drit­tel aus Ost­eu­ropa kommen.

Auf der Westfield-Baustelle habe vor allem der vom Inves­tor wei­ter­ge­ge­bene Preis­druck zu Sicher­heits­män­geln geführt. URW habe dadurch schwere Unfälle mit Ver­letz­ten und Toten offen in Kauf genom­men. Die­sen Vor­wurf bekräf­tigt auch eine kurz vor der Eröff­nung erschie­nene SPIEGEL-Recherche. Unter­la­gen, die dem SPIEGEL vor­lie­gen, bele­gen, dass es schon lange vor dem Unfall lebens­ge­fähr­lich war, auf der Bau­stelle zu arbei­ten: »Der Inves­tor wusste das; er war gewarnt und wurde es immer wie­der, vor­her, nach­her, auch das ist belegt durch Mails. So wie es aus­sieht, nahm er mög­li­che Todes­op­fer und Ver­letzte in Kauf, damit der Ter­min­plan nicht noch mehr ins Rut­schen kam auf einer Bau­stelle, auf der Zeit- und Preis­druck, Chaos und Leicht­sinn, Gier und Gleich­gül­tig­keit gera­dezu chro­nisch waren.«

Doch nicht allein der Inves­tor steht in der Kri­tik. Ver­sagt haben der FAU zufolge auch die Bau­se­na­to­rin Karen Pein, der Senat und die Bür­ger­schaft, außer­dem »sämt­li­che Behör­den und Ämter für Arbeits­schutz sowie die oberste Bau­auf­sicht« und die Berufs­ge­nos­sen­schaft Bau. Und auch an der IG BAU, der Mut­ter­ge­werk­schaft der Jun­gen BAU, und an ihrem Grund­satz der Sozi­al­part­ner­schaft übt die FAU Kritik.

Doch worin genau liegt das Ver­sa­gen von Poli­tik, Bau­auf­sicht und Gewerk­schaf­ten? Dar­über sowie über die gene­rel­len Pro­bleme auf Bau­stel­len und über die Her­aus­for­de­run­gen für gewerk­schaft­li­che Arbeit und die pre­käre Situa­tion migran­ti­scher Bau­ar­bei­ter spra­chen wir mit Sam und Niklas von der Sek­tion Bau und Hand­werk der FAU Ham­burg. Im Inter­view erklä­ren sie, warum die Unfälle auf der Westfield-Baustelle ver­meid­bar gewe­sen wären – und warum die Mall in ihrem jet­zi­gen Zustand nicht hätte eröff­net wer­den dürfen.

Gut aus­ge­schil­dert ist das neue Ein­kaufs­zen­trum schon ein­mal. Foto: privat

Untie­fen: Die DGB-Gewerkschaft IG BAU hat nach dem Unglück im Okto­ber 2023 ein Spen­den­konto für die Ver­letz­ten und Hin­ter­blie­be­nen ein­ge­rich­tet, sie hat die Bedin­gun­gen auf der Bau­stelle im Beson­de­ren und im Bau­haupt­ge­werbe im All­ge­mei­nen kri­ti­siert und sie hat den Auf­ruf zur Kund­ge­bung der Jun­gen BAU unter­stützt. Trotz­dem übt ihr Kri­tik an der Gewerkschaft.

Niklas: Nicht die IG BAU selbst, son­dern ihre Jugend­or­ga­ni­sa­tion, die Junge BAU, hat das Thema auf­ge­grif­fen und den Auf­ruf ver­öf­fent­licht. Es war also zwar der­selbe Dach­ver­band, aber eben nicht die Chef­etage. Die IG BAU hat 2023 den Spen­den­auf­ruf orga­ni­siert, das war sehr gut, aber die Initia­tive dafür kam, wie die IG BAU selbst gesagt hat, von außen. Unser Vor­wurf ist aber vor allem, dass es für aus­län­di­sche Arbeiter:innen in Deutsch­land sehr schwer ist, sich in der IG BAU zu orga­ni­sie­ren. Man musste zum Bei­spiel noch bis vor Kur­zem min­des­tens drei Monate in der IG Bau sein, um Rechts­hilfe in Anspruch neh­men zu kön­nen.2Inzwi­schen gibt es eigens für Wanderarbeiter:innen die Mög­lich­keit einer Jah­res­mit­glied­schaft bei der IG BAU: https://igbau.de/Jahresmitgliedschaft.html (d. Red.). Um Arbei­ter aus dem Aus­land wird gar nicht aktiv gewor­ben, da schei­tert es oft schon allein an feh­len­den Über­set­zun­gen. Wir bei der Bau-FAU ver­su­chen hin­ge­gen, mög­lichst viele Spra­chen zu berück­sich­ti­gen. Den Auf­ruf zu unse­rer Kund­ge­bung haben wir in fünf nicht­deut­sche Spra­chen über­setzt: Eng­lisch, Rus­sisch, Tür­kisch, Alba­nisch und Rumä­nisch. Für eine Gewerk­schaft wie die IG BAU mit ihren Res­sour­cen sollte ein Auf­ruf in meh­re­ren Spra­chen ein Kin­der­spiel sein.

Sam: Wir machen der IG BAU nicht zum Vor­wurf, dass sie an der Bau­stelle ver­sagt hätte. Wir wis­sen, dass auf der Bau­stelle fast nie­mand in der IG BAU orga­ni­siert ist, und es wäre auch nicht deren Auf­gabe gewe­sen, die Bau­stelle dicht­zu­ma­chen. Aber die IG BAU hat es eben auch nicht geschafft, die Arbeits­be­din­gun­gen auf der Bau­stelle zu ver­bes­sern, obwohl sie viel eher die Mit­tel dazu gehabt hätte als wir. Sie hat keine ech­ten Anstren­gun­gen unter­nom­men, auch migran­ti­sche Beschäf­tigte zu mobi­li­sie­ren oder zu ver­tre­ten. Das Pro­blem liegt auf struk­tu­rel­ler Ebene: Wir in der FAU sind eine selbst­ver­wal­tete Basis­ge­werk­schaft. Wir füh­ren Arbeits­kämpfe so, dass immer die Men­schen in den Betrie­ben alle Ent­schei­dun­gen tref­fen. Kon­flikte wer­den inner­halb der Betriebs­gruppe aus­ge­han­delt und nicht von oben herab ent­schie­den. Die IG BAU als Stell­ver­tre­ter­ge­werk­schaft hand­habt das ganz anders. Sie ver­han­delt für ihre Mit­glie­der, und zwar häu­fig auch in völ­lig intrans­pa­ren­ten Hin­ter­zim­mer­ge­sprä­chen mit den Arbeitgebervertreter:innen.

Ihr seht also eine man­gelnde Orga­ni­sie­rungs­fä­hig­keit und ‑wil­lig­keit der IG BAU im Baugewerbe?

Sam: Wir haben schon das Gefühl, dass die IG BAU die Kri­tik in Tei­len auf­ge­nom­men hat. In der Ana­lyse der Pro­bleme passt das eini­ger­ma­ßen, auch wenn sie struk­tu­relle Ursa­chen nur ober­fläch­lich beschrei­ben. Aber in Bezug auf die Frage, was dar­aus für sie in ihrer Gewerk­schafts­pra­xis folgt, sind sie unse­rem Ein­druck nach kom­plett blank. Es gab eine Gedenk­kund­ge­bung, aber das bleibt ein »Lecken der Wun­den«, wenn überhaupt.

Niklas: Ein rela­ti­vie­ren­der Satz aber viel­leicht noch dazu: Auch wir haben es nicht geschafft, den Unfall zu ver­hin­dern. Aber wir set­zen uns dafür ein, dass die Arbeiter:innen selbst für sichere Bedin­gun­gen auf dem Bau sor­gen kön­nen, anstatt sich auf eine externe Stelle zu ver­las­sen. Wie wir in unse­rer Rede sagen: »Es wird schwer. Wir müs­sen Sprach­bar­rie­ren über­win­den. Aber vor allem müs­sen wir unsere Spal­tung überwinden.«

Die gewerk­schaft­li­che Pra­xis hinkt noch hin­ter­her: Bro­schüre der IG BAU von März 2024 (Aus­schnitt)

Inwie­fern hängt diese Kri­tik mit dem Kon­zept der Sozi­al­part­ner­schaft zusam­men, dem die IG BAU anhängt? In wel­cher Hin­sicht trägt es eurer Ansicht nach dazu bei, dass auf Bau­stel­len häu­fig Ver­hält­nisse herr­schen, die zu sol­chen Unfäl­len füh­ren wie bei der Westfield-Mall?

Niklas: Der Begriff Sozi­al­part­ner­schaft bezeich­net ja die Idee, dass Unter­neh­men und Lohn­ab­hän­gige zusam­men­ar­bei­ten, dass »alle im sel­ben Boot sit­zen« und dass es gelin­gen könne, die Wider­sprü­che zwi­schen Kapi­tal und Arbeit aus­zu­glei­chen, indem man Kom­pro­misse schließt – vor allem natür­lich durch einen Tarif­ver­trag. Das setzt aber ein beid­sei­ti­ges Ver­trauen vor­aus: Einer­seits das Ver­trauen der Unter­neh­men in ihre Arbeiter:innen, etwa dass sie ihre Maschi­nen nicht zer­stö­ren oder dass sie zur Arbeit kom­men; ande­rer­seits aber auch das Ver­trauen der Arbeiter:innen gegen­über den Unter­neh­men, etwa dass sie zuver­läs­sig den Lohn zahlen.

In man­chen Bran­chen in Deutsch­land funk­tio­niert das Kon­zept noch ganz gut, auch für die Arbeiter:innen, etwa in der Metall­in­dus­trie oder im Hand­werk. Das sind Bran­chen, wo Arbeiter:innen unter rela­tiv guten Bedin­gun­gen arbei­ten – rela­tiv auch des­we­gen, weil auf dem Bau zu arbei­ten immer ein gefähr­li­cher und ver­schlei­ßen­der Job ist. Aber wenn man sich die Real­lohn­ver­luste in den letz­ten Jah­ren und die pre­kä­ren Arbeits­be­din­gun­gen gerade im Bau anschaut, kann ich nicht ver­ste­hen, dass Gewerk­schaf­ten immer noch dar­auf ver­trauen. Das zeigte sich auch an den Tarif­ver­hand­lun­gen im Bau­haupt­ge­werbe Anfang 2024. Da wurde zum ers­ten Mal seit 20 Jah­ren wie­der gestreikt. Die Abschlüsse haben auch teil­weise ganz gute Ergeb­nisse gebracht, etwa die weit­ge­hende Anglei­chung der Löhne in Ost- und West­deutsch­land. Aber in der Summe bedeu­tet die Tarif­ei­ni­gung unse­ren eige­nen Berech­nun­gen zufolge trotz­dem einen Real­lohn­ver­lust von zwei Pro­zent im Jahr 2026 ver­gli­chen mit 2021. Da wer­den die Gren­zen von sozi­al­part­ner­schaft­lich ver­han­del­ten Ver­trä­gen deutlich.

Ein ande­rer Akteur, den ihr in eurem Rede­bei­trag kri­ti­siert habt, ist die Berufs­ge­nos­sen­schaft der Bau­wirt­schaft (BG BAU). Was wäre deren Auf­gabe gewe­sen, und wo hat sie versagt?

Sam: Vor dem Unfall im Okto­ber 2023 gab es meh­rere Bege­hun­gen auf der Bau­stelle, bei denen Sicher­heits­män­gel fest­ge­stellt wur­den. Dass Män­gel bean­stan­det wer­den, ist nicht so unge­wöhn­lich. Aber ins­ge­samt bestan­den hier so gra­vie­rende Män­gel, dass man hätte sagen müs­sen: Die Bau­stelle muss dicht­ge­macht wer­den, bis diese Män­gel besei­tigt sind. Inso­fern – und das behaup­ten nicht nur wir, son­dern u.a. sogar ein Mit­ar­bei­ter der BG selbst – hätte der Unfall auf jeden Fall ver­hin­dert wer­den können.

Um ein greif­ba­res Bei­spiel zu nen­nen: Von Leu­ten, die selbst auf der Bau­stelle gear­bei­tet haben, wis­sen wir, dass 2022, also noch lange vor dem Unfall, ein sechs oder sie­ben Stock­werke hohes Fas­sa­den­ge­rüst falsch herum demon­tiert wurde. Die Bau­ar­bei­ter, sicher keine gelern­ten Gerüst­bauer, haben von unten ange­fan­gen das Gerüst abzu­bauen! Das kom­plette Gebiet musste gesperrt und eva­ku­iert wer­den, weil das Gerüst umzu­kip­pen drohte. Wenn man als BG so etwas erfährt, muss man doch erken­nen: Das ist nicht nur das Pro­blem eines ein­zel­nen Unter­neh­mens, son­dern zeigt: Das gesamte Sys­tem Westfield-Baustelle ist voll­kom­men inakzeptabel.

Die BG hätte also die Mög­lich­keit gehabt zu sagen, bis zur Behe­bung die­ser Sicher­heits­män­gel muss die Bau­stelle geschlos­sen werden?

Sam: Ja, oder von mir aus auch Berei­che. Ein Pro­blem ist auch, dass diese Bau­stelle ein­fach so groß war. Die BG ist per­so­nell sehr schlecht auf­ge­stellt. Die paar Hand­voll Kontrolleur:innen der BG kön­nen gar nicht jedes Gerüst kon­trol­lie­ren, die sehen immer nur Teil­be­rei­che der Bau­stelle. Aber selbst nach dem Unfall wurde kein Arbeits­ver­bot aus­ge­spro­chen. Spä­tes­tens zu die­sem Zeit­punkt hätte man diese Bau­stel­len dicht­ma­chen müs­sen. Statt­des­sen war der Schacht drei oder vier Tage spä­ter wie­der gestri­chen und es wurde wei­ter­ge­ar­bei­tet, als sei nichts gesche­hen. Da frage ich mich: Wozu hat man dann die BG?

Aller­dings hat da nicht nur die BG ver­sagt, son­dern auch andere Akteure wie das Amt für Arbeits­schutz, die Stadt­ent­wick­lungs­be­hörde usw. Es gab meh­rere Stel­len, die von die­sen Zustän­den wuss­ten und nichts unter­nom­men haben. Wir wis­sen von Betrie­ben, die sich von der Bau­stelle zurück­ge­zo­gen haben, weil sie gesagt haben, sie kön­nen so nicht arbei­ten, etwa wegen des man­gel­haf­ten Brand­schut­zes. Und wir tref­fen immer wie­der Leute, die sagen: Es ist eigent­lich ein Wun­der, dass auf die­ser Bau­stelle »nur« sechs Leute gestor­ben sind.

Die FAU war ja auch schon vor zehn Jah­ren an Arbeits­kämp­fen im Zuge des Baus der Mall of Ber­lin betei­ligt, wo rumä­ni­schen Arbei­tern ihr Lohn nicht bezahlt wurde. Wür­det ihr sagen, dass Bau­stel­len von Shop­ping Malls beson­ders pro­ble­ma­tisch sind in Bezug auf die Arbeits­be­din­gun­gen? Oder hat das womög­lich ein­fach mit der Größe der Bau­stelle zu tun, weil auf so einer rie­si­gen Bau­stelle, auf der hun­derte Unter­neh­men und Sub­un­ter­neh­men arbei­ten, nie­mand den Über­blick hat?

Sam: Ich würde nicht behaup­ten, dass große Bau­stel­len per se pro­ble­ma­tisch sind. Im Gegen­teil, es kann auch Groß­bau­stel­len geben, auf denen es gut läuft. Aber klar, auf die­ser Bau­stelle haben 700 Unter­neh­men mit­ein­an­der zusammengearbeitet.

Niklas: Die Bau­un­ter­neh­men wuss­ten teil­weise selbst nicht, wer »am ande­ren Ende« der Sub­un­ter­neh­mer­kette für sie arbei­tet. Da herrsch­ten Zustände wie in der Tex­til­in­dus­trie, wo nie­mand weiß, woher die auf dem Markt gehan­delte Baum­wolle stammt. Diese Struk­tur ist unge­heuer intrans­pa­rent. Wir ken­nen viel­leicht zehn Unter­neh­men vom Namen her oder aus Erzäh­lun­gen. Ganz genau wis­sen wir daher auch nicht, was die Gründe für die Zustände auf der Bau­stelle sind. Nicht auf jeder URW-Baustelle lief es so kata­stro­phal. Das Chaos auf der Westfield-Baustelle ist aber auf jeden Fall auch ent­stan­den, weil es keine Haupt­bau­lei­tung gab, in deren Hän­den alles zusam­men­ge­lau­fen ist. Es gab kein Team, das den Über­blick hatte, bzw. eben nur den Inves­tor URW selbst, der aber kein Bau­un­ter­neh­men ist. Und es gab auf der Bau­stelle teil­weise ein­fach nie­man­den, der Deutsch gespro­chen hat, und auch keine Übersetzer:innen. Die Toten, der man­gelnde Brand­schutz, man­gel­hafte Pro­to­kolle sind Sym­ptome der kata­stro­pha­len Pla­nung und Organisation.

Wie viele Kräne pas­sen auf eine Bau­stelle? 2023 stie­ßen zwei Kräne zusam­men. Foto (2021): Lusi Lindwurm/Wiki­me­dia.

Im Rede­bei­trag spracht ihr auch vom Zeit- und Preis­druck, den der Inves­tor aus­ge­übt habe.

Niklas: Ja, der Haupt­fak­tor für die Pro­ble­ma­tik der Überseequartier-Baustelle war mei­ner Mei­nung nach Geld: An allen Ecken und Enden sollte gespart wer­den. Es gab einen unge­heu­ren Preis­druck, auch wegen äuße­rer Fak­to­ren wie den Kos­ten­stei­ge­run­gen seit Beginn des Krieg in der Ukraine 2022. Es gab gro­ßen poli­ti­schen Druck, dass das Pro­jekt umge­setzt wird. Das konnte man auch jetzt bei der Eröff­nung mit Peter Tsch­ent­scher erken­nen. Für die Poli­tik war klar: Das Pro­jekt darf nicht schei­tern, was immer auch kommt. Die Stadt hat dem Inves­tor daher etli­che Zuge­ständ­nisse gemacht, er hat Mehr­flä­che erpresst, er konnte Regeln miss­ach­ten, ohne dass es Sank­tio­nen oder sons­tige Kon­se­quen­zen gege­ben hätte, und so wei­ter. URW hat so das Gefühl bekom­men, alles machen zu kön­nen. Wir kön­nen auch nur spe­ku­lie­ren, aber: Dass trotz der gra­vie­ren­den Sich­ter­heits­män­gel, die allen bekannt waren, nie­mand Maß­nah­men ergrif­fen hat, kann man sich eigent­lich nicht anders erklä­ren als durch poli­ti­schen Druck von oben. Das muss unbe­dingt auf­ge­klärt werden.

Ihr habt schon gesagt, dass auf der Bau­stelle teil­weise nie­mand Deutsch sprach. Der Anteil aus­län­di­scher, vor allem ost­eu­ro­päi­scher Arbei­ter ist im Bau­haupt­ge­werbe sehr hoch. Extreme Pre­ka­ri­tät, Lohn­skla­ve­rei, ille­gale Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nisse, usw. sind an der Tages­ord­nung, beson­ders für Wan­der­ar­bei­tende. Wie seht ihr die Situation?

Niklas: Ins­be­son­dere migran­ti­sche Bau­ar­bei­ter sind gene­rell ent­rech­tet und unsicht­bar. Die­ses Pro­blem ist nicht nur auf die Bau­bran­che beschränkt, son­dern betrifft bei­spiels­weise auch die Gebäu­de­rei­ni­gung, die Pflege oder die Fleisch­in­dus­trie. Das sind Men­schen, die Arbei­ten für die gesell­schaft­li­che Grund­ver­sor­gung leis­ten, aber kein sicht­ba­rer Teil die­ser Gesell­schaft sind. Das macht es dem Senat und der Bür­ger­schaft leicht, weg­zu­schauen – diese Men­schen haben keine Lobby und kaum Rechte. In dem Fall auf der Ber­li­ner Mall-Baustelle von vor zehn Jah­ren wurde das extrem deut­lich: Weil den rumä­ni­schen Arbei­tern ihr Lohn vor­ent­hal­ten wurde, ver­lo­ren sie ihre Woh­nun­gen, dadurch wie­derum konn­ten sie keine Briefe vom Amt mehr bekom­men und so wurde ihnen schließ­lich ihre Auf­ent­halts­er­laub­nis ent­zo­gen. Das ist kras­seste Prekarität!

Gab es denn auf der Bau­stelle hier in Ham­burg auch Fälle, in denen Sub­un­ter­neh­men ihren Arbei­tern kei­nen oder nur einen Bruch­teil des ver­ein­bar­ten Lohns gezahlt haben?

Sam: Bis­lang gab es kaum mediale Berichte dazu, aber man muss davon aus­ge­hen, dass es etli­che sol­cher Fälle gab. Im ver­gan­ge­nen Okto­ber ist ein Gerüst­bau­un­ter­neh­men aus Bre­mer­ha­ven wegen »Zah­lungs­aus­fäl­len« bei der Westfield-Baustelle insol­vent gegan­gen. Und dann gab es den Fall des ukrai­ni­schen Hilfs­ar­bei­ter Yev­hen A., der im Novem­ber 2023 einen schwe­ren Arbeits­un­fall hatte und über den die Zeit berich­tete. Yev­hen A., der durch sei­nen Unfall wahr­schein­lich dau­er­haft arbeits­un­fä­hig blei­ben wird, erhielt sei­nen Lohn in pol­ni­schen Złoty, umge­rech­net 640 Euro monat­lich. Das sind 3,20 Euro pro Stunde! Und da war er sicher keine Aus­nahme. Außer­dem ist es extrem ver­brei­tet, dass Men­schen auf dem Bau Fach­tä­tig­kei­ten aus­füh­ren, aber einen Hel­fer­lohn erhal­ten, also die unterste Lohn­stufe.3Baum­gar­ten, M., Beck, L. & Firus, A. (2024): »Hel­fer oder doch Fach­kräfte? Migran­ti­sche Beschäf­tigte im deut­schen Hoch­bau.« FES dis­kurs. Mai 2024. Online: https://library.fes.de/pdf-files/a‑p-b/21208.pdf

Und wie sieht es jetzt im Über­see­quar­tier aus? Bei einer der­art des­or­ga­ni­sier­ten Bau­stelle liegt die Ver­mu­tung nahe, dass noch viele Män­gel bestehen, die im lau­fen­den Betrieb beho­ben wer­den müs­sen, oder?

Niklas: Ja, wir wis­sen tat­säch­lich, dass auch noch jetzt, nach der Eröff­nung, zahl­rei­che Män­gel am Gebäu­de­kom­plex bestehen, etwa beim Ent­fluch­tungs­kon­zept. Teil­weise ist da die Elek­trik feh­ler­haft ange­bracht, außer­dem sind die Flucht­wege falsch geplant wor­den. Ein Flucht­weg endet oben auf dem Glas­dach. Auch der Feu­er­alarm, der am Don­ners­tag nach der Eröff­nung los­ging, hat Pro­bleme auf­ge­zeigt. Es ging näm­lich keine Sirene los, die alle alar­miert hätte. Statt­des­sen lie­fen bloß die offen­bar völ­lig über­for­der­ten Secu­ri­ties von West­field durchs Gebäude und rie­fen: »Es besteht Brand­ge­fahr, bitte ver­las­sen Sie das Gebäude!«

Sam: Das Gebäude ist in einem Zustand, in dem die Eröff­nung nicht hätte statt­fin­den dür­fen. Es geht dabei nicht um kleine Män­gel, also dass irgendwo ein Kabel unsau­ber run­ter­hängt, son­dern um sicher­heits­re­le­vante Dinge. Da setzt sich das Sys­tem fort, das schon auf der Bau­stelle für kata­stro­phale Unfälle gesorgt hat.

Danke für das Gespräch!


Sam ist seit 2018 Tisch­le­rin, auf Ham­bur­ger Bau­stel­len unter­wegs und setzt sich auch im Azu­bi­hilfe Netz­werk für die Rechte von Azu­bis und all­ge­mein für (mehr) FLINTA*Personen im Hand­werk ein.

Niklas ist Inge­nieur und seit Som­mer 2024 Teil der Sek­tion Bau und Hand­werk der FAU.

Die Freie Arbeiter*innen Union (FAU) ist eine kämp­fe­ri­sche Basis­ge­werk­schaft, die sich für die Rechte aller Arbeiter:innen ein­setzt. Ihre etwa 2500 Mit­glie­der orga­ni­sie­ren sich in Syn­di­ka­ten, die es in den meis­ten deut­schen Groß­städ­ten und ver­ein­zelt auch in länd­li­chen Räu­men gibt. Seit 2024 arbei­tet die Ham­bur­ger Sek­tion Bau und Hand­werk (»bau­fau«) zum Unrecht auf Baustellen. 


  • 1
    Da auf den Bau­stel­len nahezu aus­nahms­los Män­ner arbei­ten, wird hier keine gegen­derte Form verwendet.
  • 2
    Inzwi­schen gibt es eigens für Wanderarbeiter:innen die Mög­lich­keit einer Jah­res­mit­glied­schaft bei der IG BAU: https://igbau.de/Jahresmitgliedschaft.html (d. Red.).
  • 3
    Baum­gar­ten, M., Beck, L. & Firus, A. (2024): »Hel­fer oder doch Fach­kräfte? Migran­ti­sche Beschäf­tigte im deut­schen Hoch­bau.« FES dis­kurs. Mai 2024. Online: https://library.fes.de/pdf-files/a‑p-b/21208.pdf

Update: Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg

Update: Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg

***Update Februar 2025***
Die deut­sche Geschichte ist für radi­kal rechte Par­teien ein zen­tra­les Agi­ta­ti­ons­feld. Auch die Ham­bur­ger AfD ver­brei­tet einer­seits immer wie­der klas­sisch revi­sio­nis­ti­sche The­sen, die vor allem den Holo­caust und die Kolo­ni­al­ge­schichte umdeu­ten. Vor allem aber ver­tritt sie einen nost­al­gi­schen Natio­na­lis­mus, der für die eigene poli­ti­sche Agenda durch geziel­tes Aus­wäh­len und Ver­schwei­gen Mythen über die deut­sche Ver­gan­gen­heit entwirft.

Bezugs­punkt des rech­ten Revi­sio­nis­mus: Der erste Reichs­kanz­ler und Sozia­lis­ten­jä­ger Otto von Bis­marck. Das deutsch­land­weit größte Denk­mal für ihn steht auf St. Pauli. Foto: Marco Hosemann

Die­ses Update erscheint par­al­lel auf AfD Watch Ham­burg.


UPDATE Februar 2025

Wie wir im März letz­ten Jah­res fest­ge­stellt haben, wird die geschichts­po­li­ti­sche Stra­te­gie der AfD Ham­burg von einem nost­al­gi­schen Natio­na­lis­mus bestimmt. Der offene Geschichts­re­vi­sio­nis­mus, das Leug­nen und Umdeu­ten his­to­ri­scher Ver­bre­chen, ist dabei nicht im Vor­der­grund, kann aber jeder­zeit mit ein­ge­baut wer­den. In den ver­gan­ge­nen Mona­ten ließ sich beob­ach­ten, dass vor allem die Kolonial- und Kai­ser­reich­sa­po­loge­tik von der AfD Ham­burg ver­mehrt in poli­ti­sche Pra­xis über­setzt wird. Kri­ti­sche Auf­ar­bei­tung der deut­schen Geschichte ver­su­chen sie als »Umer­zie­hung« oder »Umschrei­ben der Geschichte« ver­ächt­lich zu machen. Drei Bei­spiele kön­nen das illustrieren:

Im April 2024 posi­tio­nierte die AfD sich in der Bür­ger­schaft gegen den Erhalt der For­schungs­stelle „Ham­burgs (post-)koloniales Erbe“. Die LINKE hatte eine Debatte um Zukunft der aus­lau­fen­den For­schungs­stelle bean­tragt. Unter ande­rem sprach sich Nor­bert Hack­busch klar für ihren Erhalt aus. In sei­nem Rede­bei­trag beti­telt der stell­ver­tre­tende Frak­ti­ons­vor­sit­zende und kul­tur­po­li­ti­sche Spre­cher der AfD in der Bür­ger­schaft, Dr. Alex­an­der Wolf, den Inha­ber der Pro­fes­sur an der For­schungs­stelle, Prof. Dr. Jür­gen Zim­me­rer, als »der als Wis­sen­schaft­ler ver­brämte Polit-Aktivist“. Er bezeich­net es als „Gewinn für unsere Stadt“, würde „die­sem ‚Pro­fes­sor‘“ der „Geld­hahn“ abge­dreht. Über das all­ge­meine Pro­jekt einer Deko­lo­ni­sie­rung Ham­burgs heißt es, es solle von „links-rot-grün die Geschichte umge­schrie­ben“ und die Men­schen „umer­zo­gen werden“.

Am 18.12.2024 beschlos­sen SPD und Grüne in der Bür­ger­schaft mit dem Dop­pel­haus­halt für 2024 und 2025, die For­schungs­stelle – wie von Beginn an vor­ge­se­hen – durch aus­lau­fende Finan­zie­rung fak­tisch einzustellen.

Auch im Som­mer 2024 schoss die AfD gegen die For­schungs­stelle „Ham­burgs (post-)koloniales Erbe“. Deren App „Kolo­niale Orte“ kri­ti­siert sie in einer klei­nen Anfrage wegen der aus ihrer Per­spek­tive gro­ßen Dis­kre­panz zwi­schen den regis­trier­ten Down­loads und den Ent­wick­lungs­kos­ten. Dar­aus lei­te­ten sie die For­de­rung ab, es solle Schluss sein mit „Umer­zie­hung und noch mehr Steu­er­geld­ver­schwen­dung im Rah­men der ‚Deko­lo­ni­sie­rung‘ Hamburgs!“

Im Okto­ber 2024 schließ­lich rich­tete sich die Schluss­strich­for­de­rung gegen das Museum am Rothen­baum für Kunst und Kul­tu­ren der Welt, kurz MARKK (ehe­mals »Völ­ker­kun­de­mu­seum«). Mit einer klei­nen Anfrage zielt die AfD wie­derum auf die Kos­ten bzw. die Besucher:innenzahlen seit dem (noch lau­fen­den) Umbau vom „Völ­ker­kun­de­mu­seum“ zum MARKK. Wolf hatte sich schon 2017 kri­tisch zur Umbe­nen­nung geäu­ßert und damals resü­miert, das „Volk“ solle abge­schafft wer­den. Dem­ago­gisch stellte er damals das Staats­volk, den fik­ti­ven Sou­ve­rän des Grund­ge­set­zes, und eth­nisch defi­nierte Völ­ker in eine Reihe. In einer Pres­se­mit­tei­lung zur Ant­wort des Sena­tes auf die kleine Anfrage der AfD-Fraktion lässt Wolf sich am 18. Dezem­ber 2024 wie folgt zitie­ren. Das »links­grüne Erzie­hungs­mu­seum« sei geschei­tert. Die Bürger:innen woll­ten »nicht bevor­mun­det und beim Den­ken betreut wer­den«, viel­mehr zeig­ten sie »der soge­nann­ten kolo­nia­lis­ti­schen Schuld die kalte Schul­ter«. Die For­de­rung ergeht: »Wir wol­len unser Völ­ker­kun­de­mu­seum ohne links­grü­nem (sic!) Tam­tam zurück!“

Diese Anfra­gen und Pres­se­mit­tei­lun­gen zie­len offen­bar vor allem dar­auf ab, ein gesun­des Volks­emp­fin­den her­bei­zu­re­den, das sich nicht für eine »woke« Geschichts­er­zäh­lung inter­es­siere. Die ange­strebte Nor­ma­li­sie­rung der deut­schen Natio­nal­ge­schichte – also die guten 1000 minus die 12 »dunk­len« Jahre – wird durch Angriffe auf Insti­tu­tio­nen ver­meint­li­cher lin­ker »Umer­zie­hung« vor­an­ge­trie­ben. Die­sen Zusam­men­hang bringt eine Stel­lung­nahme Wolfs aus dem Mai 2024 auf den Punkt. Wolf sprach mit Blick auf das städ­ti­sche Erin­ne­rungs­kon­zept zum Umgang mit dem kolo­nia­len Erbe, das im Mai 2024 vor­ge­stellt wurde, von einem „linke[n] Kul­tur­kampf“, der „Unsum­men an Steu­er­gel­dern“ ver­schlinge. Vor allem: „Kein nor­ma­ler Bür­ger legt Wert auf Stra­ßen­um­be­nen­nun­gen, bloß weil die Namen angeb­lich kolo­nial belas­tet seien. Kein nor­ma­ler Bür­ger hat ein Pro­blem mit Sta­tuen von Chris­toph Kolum­bus. Kein nor­ma­ler Bür­ger hasst die eigene deut­sche Geschichte so sehr wie links­grüne Bilderstürmer.“

Die geschichts­re­vi­sio­nis­ti­sche Agi­ta­tion der AfD Ham­burg ist mus­ter­gül­ti­ges Bei­spiel der pathi­schen Pro­jek­tion in der rechts­extre­men Pro­pa­ganda. Die AfD wirft sich in die Brust gegen eine angeb­lich umer­zie­hende, bevor­mun­dende und geschichts­fäl­schende Erin­ne­rungs­po­li­tik, wäh­rend sie in Wahr­heit natür­lich selbst genau das ver­folgt. Die ham­bur­gi­sche und die deut­sche Geschichte über­haupt sol­len, wenn’s nach ihnen ginge, nur noch glor­reich, groß­ar­tig und ver­dienst­voll gewe­sen sein. Was dazu nicht passt, soll beschwie­gen wer­den. Und wer daran Kri­tik anmel­det, muss ver­blen­det sein und also unter­drückt werden.

Redak­tion Untie­fen, Februar 2025


Das Ver­hält­nis zur deut­schen Ver­gan­gen­heit ist die zen­trale Ein­tritts­karte in den poli­ti­schen Dis­kurs der BRD. Offene Holo­caust­leug­nung oder ‑rela­ti­vie­rung sind nicht nur straf­bar, son­dern auch poli­tisch äußerst schäd­lich. Bei der popu­lis­ti­schen, als Ver­tei­di­ge­rin der Demo­kra­tie auf­tre­ten­den AfD spie­len sie daher auch in Ham­burg nur eine unter­ge­ord­nete Rolle. Den­noch wird immer wie­der erkenn­bar, dass es sich hier um stra­te­gi­sche Zurück­hal­tung handelt.

Offe­ner Revisionismus

Bekannt sind etwa NS-Relativierungen des Ham­bur­ger AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Bau­mann, frü­here revi­sio­nis­ti­sche Kom­men­tare des der­zei­ti­gen Ham­bur­ger AfD-Pressesprechers Robert Offer­mann und der Ver­dacht auf anti­se­mi­ti­sche Aus­sa­gen eines Mit­ar­bei­ters der Bür­ger­schafts­frak­tion. Am meis­ten Auf­se­hen erregte wohl der stell­ver­tre­tende Frak­ti­ons­vor­sit­zende der AfD in der Bür­ger­schaft, Alex­an­der Wolf. 2017 wurde bekannt, dass er 1994 eine Samm­lung von NS-Liedern unter dem Titel „Schlacht­ruf“ her­aus­gab, in deren Vor­be­mer­kun­gen er mit Blick auf die Kapi­tu­la­tion Nazi-Deutschlands im Zwei­ten Welt­krieg zu einem „ent­schlos­se­nen Nie wie­der!’“ auf­rief.

Alex­an­der Wolf, geschichts­po­li­ti­scher Scharfmacher

Über­haupt, Alex­an­der Wolf: Er ist in der Bür­ger­schafts­frak­tion der Mann für die pro­vo­kan­ten his­to­ri­schen The­sen. So behaup­tete er etwa im März 2023 in der Bür­ger­schaft, die Nazis hät­ten sich „kei­nes­wegs als rechts, son­dern bewusst als Sozia­lis­ten“ ver­stan­den. Die DDR und den NS-Staat par­al­le­li­sierte er als „Dik­ta­tu­ren“, um sogleich zu sei­nem eigent­li­chen Anlie­gen zu kom­men, näm­lich der Lüge, auch der heu­tige Kampf gegen Rechts sei wie­der ähn­lich eine ähn­li­che „Frei­heits­ein­schrän­kung“ und „Aus­gren­zung“.

„Vogel­schiss“ als Pro­gramm: der nost­al­gi­sche Nationalismus

Diese offe­nen Rela­ti­vie­run­gen sind aber die Aus­nahme. Die wirk­li­che geschichts­po­li­ti­sche Stra­te­gie der Ham­bur­ger AfD besteht darin, die Gau­land­sche Rede vom „Vogel­schiss“ in die Pra­xis umzu­set­zen. In den Bei­trä­gen der AfD-Abgeordneten fin­det sich kaum eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus oder mit der Kolo­ni­al­ge­schichte. Und wenn diese The­men berührt wer­den, dann geht es stets darum, für die radi­kal rechte Poli­tik nostalgisch-nationalistische, posi­tive Anker­punkte in der deut­schen Geschichte des 19. und 20. Jahr­hun­derts zu finden.

His­to­ri­sche Wür­di­gung for­dert die AfD etwa für fol­gende Grup­pen: die Ver­schwö­rer um Claus Schenk Graf von Stauf­fen­berg („Höhe­punkt des deut­schen Wider­stands“), die Opfer der alli­ier­ten Bom­bar­die­rung Ham­burgs im Juli 1943 („Kriegs­ver­bre­chen“), die Auf­stän­di­gen vom 17. Juni 1953 in der DDR („iden­ti­täts­stif­ten­des Datum“) sowie für die an der Gren­zen zwi­schen DDR und BRD Ermor­de­ten und den Mau­er­bau 1961 („Schick­sals­da­tum der deut­schen Nation“).

Und die im Jahr 2020 auf­ge­kom­me­nen Rufe nach einem Denk­mal für die Leis­tun­gen der soge­nann­ten tür­ki­schen „Gast­ar­bei­ter“ kon­terte Wolf im Novem­ber 2021 mit der For­de­rung, statt­des­sen ein Denk­mal für „Trüm­mer­frauen“ zu schaffen.

Das Kai­ser­reich soll rechts­ra­di­kale Her­zen wärmen

Neben den deut­schen Opfern alli­ier­ter Bom­ben und kom­mu­nis­ti­scher SED-Herrschaft sowie patrio­ti­schen kon­ser­va­ti­ven Gene­rä­len steht vor allem das Deut­sche Kai­ser­reich im Zen­trum der AfD-Geschichtspolitik. Eine Folge des Pod­casts „(Un-)Erhört!“ der Ham­bur­ger AfD-Fraktion vom Januar 2021 zum 150. Jah­res­tag der Reichs­grün­dung 1871 illus­triert das. 

Zum ein­gangs gespiel­ten „Heil dir im Sie­ger­kranz“ spricht Wolf von einem „der glück­lichs­ten Momente der deut­schen Geschichte“. Heu­tige Politiker:innen wür­den sich jedoch der Erin­ne­rung daran ver­wei­gern, sie hät­ten ein „gestör­tes Ver­hält­nis zur „eige­nen Geschichte“. So hätte die „über tau­send­jäh­rige Geschichte Deutsch­lands“ zwar „pro­ble­ma­ti­sche Sei­ten“, doch sei sie eben auch „mehr“. Ab dort ver­schwin­det der Natio­nal­so­zia­lis­mus aus die­ser Erzäh­lung und das heu­tige Deutsch­land wird schlicht in Kon­ti­nui­tät zum Kai­ser­reich gesetzt. Das ist eine ganz bewusste Kon­struk­tion einer Tra­di­tion, die nur über Aus­las­sung funk­tio­niert. An die „posi­ti­ven Momente der Geschichte“ soll erin­nert wer­den, so Wolf wei­ter, „weil das unsere Iden­ti­tät prägt. Eine Nation lebt nicht nur von der Ratio und von der Ver­fas­sung, son­dern auch von einem posi­ti­ven Gemein­schafts­ge­fühl.“ Nur dar­aus könn­ten „Soli­da­ri­tät und Mit­ein­an­der erwachsen.“

Gerei­nigt wer­den soll die deut­sche Geschichte also nicht, indem der Holo­caust geleug­net wird. Der „Schuldkult“-Vorwurf wird hier sub­ti­ler for­mu­liert: Der beding­ten Aner­ken­nung der Ver­bre­chen in den 12 Jah­ren NS-Herrschaft wird eine sau­bere Ver­sion der ver­meint­lich ande­ren 988 Jahre deut­scher Geschichte und deut­schen Glan­zes entgegengestellt.

Die Hamburger Bismarkstatue zwischen zwei Baumkronen.
Bis­marck, Begrün­der des deut­schen Kolo­ni­al­rei­ches, strahlt frisch reno­viert. Foto: Marco Hosemann

Mit Bis­marck gegen die Wahrheit

Diese Stra­te­gie zeigt sich auch an der Posi­tion der AfD zur Debatte um das Otto von Bismarck-Denkmal auf St. Pauli. In einer Folge des besag­ten Pod­casts vom Juli 2021 zeich­net Wolf den ers­ten Reichs­kanz­ler als eine posi­tive Figur der deut­schen Geschichte. Die gefor­derte Neu-Kontextualisierung des Denk­mals sei selbst Geschichts­re­vi­sio­nis­mus, schließ­lich würde Bis­marck dabei „aus dem Blick­win­kel eines Anti­fan­ten und einer Femi­nis­tin“ gese­hen. Die soge­nannte Westafrika-Konferenz 1884/85 in Ber­lin, zu der Bis­marck ein­lud und bei der die euro­päi­schen Groß­mächte den afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent als Kolo­ni­al­be­sitz unter sich auf­teil­ten, ver­schweigt Wolf dabei nicht. Aber er stellt sie als rein frie­dens­stif­tende Maß­nahme zur Siche­rung der inner­eu­ro­päi­schen Ord­nung dar. Das funk­tio­niert wie­derum nur durch Aus­blen­den der Fol­gen für die kolo­ni­sier­ten Bevöl­ke­run­gen außer­halb Euro­pas. Aber mehr noch: Kolo­nia­lis­mus ist für Wolf „nicht per se von vorn­her­ein schlecht“. Denn es sei „viel Posi­ti­ves geleis­tet wor­den, Infra­struk­tur, Gesund­heit etc.“ Es dürfe eben nicht „ein­sei­tig die nega­tive Brille“ auf­ge­setzt wer­den, wie es bei der Black Lives Matter-Bewegung gesche­hen sei. So hält Wolf dann auch die gän­gige For­schungs­po­si­tion, dass die Deut­schen 1904/5 in Süd­west­frika einen Völ­ker­mord began­gen haben, für „absurd“, ja „Quatsch“. Man sieht: Obwohl nost­al­gi­scher Natio­na­lis­mus die Kern­stra­te­gie der AfD Ham­burg aus­macht, ist der Schritt zu offe­nem Revi­sio­nis­mus schnell gemacht.

Redak­tion Untie­fen, März 2024

Umtausch nicht gestattet

Umtausch nicht gestattet

Der Senat ist in Fei­er­laune. Auf der Son­der­pres­se­kon­fe­renz zum spek­ta­ku­lä­ren Opern-Deal mit der Kühne-Stiftung herrschte pene­trante Selbst­ge­wiss­heit: Nie­mand könne doch ernst­haft etwas gegen die­ses Pro­jekt haben! Doch was hier als »Glücks­fall für Ham­burg« gefei­ert wird, offen­bart in Wahr­heit ein unde­mo­kra­ti­sches Ver­ständ­nis von Stadt und Kul­tur. Und es ist in dop­pel­ter Hin­sicht geschichtsvergessen.

Nicht genug Glanz: 2017 fand auf dem Baa­ken­höft das inter­na­tio­nale Fes­ti­val »Thea­ter der Welt« statt. Foto: Pauli-Pirat | Wiki­me­dia Commons

Der Mul­ti­mil­li­ar­där und Mäzen Klaus-Michael Kühne will Ham­burg eine neue Oper schen­ken. Bür­ger­meis­ter Peter Tsch­ent­scher und Kul­tur­se­na­tor Cars­ten Brosda waren erkenn­bar stolz, als sie auf einer Son­der­pres­se­kon­fe­renz am Frei­tag, den 7. Februar, gemein­sam mit Ver­tre­tern der Kühne-Stiftung und der Kühne Hol­ding ver­kün­den konn­ten, dass der Ver­trag unter­schrie­ben sei. In der »ers­ten Hälfte des nächs­ten Jahr­zehnts« soll die Oper eröff­nen. Zwar muss die Ent­schei­dung noch von der (dann neu kon­sti­tu­ier­ten) Bür­ger­schaft bestä­tigt wer­den, doch der rot-grüne Senat macht sich da wohl zu Recht keine Sor­gen. Erste Reak­tio­nen aus den Par­teien signa­li­sier­ten durch­weg Unter­stüt­zung für das Pro­jekt. Ein­zig Die Linke übte Kri­tik an der Ent­schei­dung.

Aber was ist da eigent­lich geplant? Ent­ste­hen soll ein Opern­neu­bau am Baa­ken­höft, einer Land­spitze im Zen­trum der Hafen­City, fast genau in der Mitte zwi­schen Elb­phil­har­mo­nie und Elb­tower. Die Nähe zum Elb­tower ist dabei kein Zufall. Im Mai 2022, als Kühne seine Idee eines neuen Opern­hau­ses erst­mals in einem Por­trät im Spie­gel prä­sen­tierte, war klar: Das Opern­haus sollte zusam­men mit sei­nem inzwi­schen geschei­ter­ten Hoch­haus­pro­jekt ein Wahr­zei­chen­en­sem­ble bil­den. Nicht nur den Elb­tower, auch die Oper plante Kühne zu die­ser Zeit gemein­sam mit René Benko, dem mitt­ler­weile inhaf­tier­ten Immo­bi­li­en­in­ves­tor. Der Deal, den er vor­schlug, war dabei in mehr­fa­cher Hin­sicht ver­gif­tet: Die Stadt sollte den neuen Opern­bau nicht geschenkt bekom­men, son­dern lea­sen. Und das bis­he­rige Opern­ge­bäude – in unmit­tel­ba­rer Nähe zur ehe­ma­li­gen Gänsemarkt-Passage, die Benko durch einen Kom­plex aus Woh­nun­gen, Büros und Ein­zel­han­del erset­zen wollte – sollte abge­ris­sen und durch ein »moder­nes Immo­bi­li­en­pro­jekt« ersetzt werden.

Der Senat winkte ab: Nein, ein Miet­kauf­mo­dell wolle man nicht, und ein Abriss des bis­he­ri­gen Opern­ge­bäu­des komme auch nicht infrage. Doch der Senats­spre­cher ergänzte damals bereits: »Eine Schen­kung durch Herrn Kühne bezie­hungs­weise seine Stif­tung nach dem Vor­bild der Kopen­ha­ge­ner Oper wäre dage­gen ein bemer­kens­wer­tes mäze­na­ti­sches Enga­ge­ment.« Genau so ist es nun auch gekom­men. Wohl auch im Ange­sicht der andau­ern­den Que­re­len um den Elb­tower war die Freude ver­gan­ge­nen Frei­tag groß, als die Kühne-Stiftung nach kurz­zei­ti­gem Hin und Her die Opern­pläne doch noch besiegelte.

Ein Deal ohne Haken?

Schließ­lich blei­ben bei die­sem Deal, glaubt man dem Senat, keine Fra­gen offen. Der Bau werde auf jeden Fall fer­tig­ge­stellt, ver­si­cherte man. Und abge­se­hen von 147,5 Mio. Euro für die Erschlie­ßung wür­den unter kei­nen Umstän­den zusätz­li­che öffent­li­che Gel­der flie­ßen. Das gesamte Risiko trägt die Kühne-Stiftung. Die fer­tige Oper bekommt die Stadt Ham­burg dann (fast) ohne Bedin­gun­gen geschenkt. Tat­säch­lich ist der Ver­trag für die Stadt, ver­gli­chen mit Küh­nes ursprüng­li­chem Vor­schlag, gera­dezu ver­blüf­fend vor­teil­haft. Und: Der bis­he­rige Opern­bau bleibt, so ver­si­cherte Cars­ten Brosda, als Spiel­stätte erhal­ten – wie genau die Nach­nut­zung aus­se­hen könne, werde man in den nächs­ten Jah­ren über­le­gen. Das heißt: Weder für besorgte Denkmalschützer:innen noch für strenge Wäch­ter über städ­ti­sche Aus­ga­ben gäbe es etwas zu mäkeln. Alles also ein ein­zi­ger Grund zur Freude? 

Kei­nes­wegs. In min­des­tens drei­er­lei Hin­sicht ist der Plan näm­lich ein Skan­dal: Er ist ein Gip­fel unde­mo­kra­ti­scher und intrans­pa­ren­ter Stadt­pla­nung, er offen­bart einen unde­mo­kra­ti­schen und zutiefst ver­ding­lich­ten Begriff von Kul­tur und er ist – auf­grund der Kolo­ni­al­ge­schichte des Baa­ken­ha­fens und der NS-Geschichte von Kühne + Nagel – geschichts­ver­ges­sen, wenn nicht gar ‑revi­sio­nis­tisch.

Hanseatische Geheimdiplomatie

Das »Filet­stück« 85 ist nun ver­plant. Quelle: Flä­chen­ent­wick­lung Hafen­City, Stand: 31.1.2024.

Zwar gibt es für den Baa­ken­höft noch kei­nen Bebau­ungs­plan, doch dass es sich um ein beson­de­res Grund­stück han­delt, ist schon lange klar. Das beton­ten auch alle Betei­lig­ten der Pres­se­kon­fe­renz. Cars­ten Brosda nannte es gar »eines der her­aus­ra­gends­ten Grund­stü­cke Nord­eu­ro­pas«. Und solch ein Grund­stück befin­det sich hier in öffent­li­chem Besitz. Eigent­lich sollte es sich von selbst ver­ste­hen, dass damit auch ein beson­de­res öffent­li­ches Inter­esse ver­bun­den ist, dass damit also die Ver­pflich­tung ein­her­ginge, eine trans­pa­rente und offene Dis­kus­sion über die Nut­zung des Grund­stücks zu ermöglichen.

Doch eine Dis­kus­sion fand nicht statt. Statt in der Öffent­lich­keit Nut­zungs­mög­lich­kei­ten zu ent­wi­ckeln und zu dis­ku­tie­ren, wurde nun, nach­dem Kühne seine »Idee« im Spie­gel bekannt gege­ben hatte, fast drei Jahre lang hin­ter geschlos­se­nen Türen ver­han­delt. Dass sich im Lauf die­ser Ver­hand­lun­gen die Bedin­gun­gen für die Stadt ver­bes­sert haben – geschenkt! Ent­schei­dend ist: Die Frage, ob über­haupt eine Oper auf dem Baa­ken­höft gebaut wer­den sollte, stand nie zur Debatte. Umtausch nicht gestattet!

Die­ses de-facto-Diktat des Kapi­tals wird vom Ham­bur­ger Senat nun in eine Spra­che offe­nen Aus­tauschs ver­klei­det: Kühne habe ein »Ange­bot« gemacht, der Senat habe es »geprüft«, man hat die Bedin­gun­gen nach­ver­han­delt und ist sich nun »einig gewor­den«. 1Ganz ähn­lich klang es auf der Pres­se­kon­fe­renz, als die Spra­che auf den Elb­tower kam. Der neue Inves­tor, Die­ter Becken, habe den »Vor­schlag« gemacht, das geplante Natur­kun­de­mu­seum, für das es noch keine ande­ren Räume gebe, im Elb­tower unter­zu­brin­gen. Auch die­ser »Vor­schlag« wird »geprüft« – man könne ihn ja nicht »aus Prin­zip ableh­nen«, so Tsch­ent­scher. Für die Pro­gnose, dass die Prü­fung posi­tiv aus­fal­len wird, braucht es frei­lich keine beson­de­ren hell­se­he­ri­schen Fähig­kei­ten. Der Inves­tor kann ja schließ­lich stets mit einem erneu­ten Bau­ab­bruch drohen.

Kühne calls the tune

Andere unde­mo­kra­ti­sche Aspekte wur­den nicht ver­schlei­ert, son­dern auf Dimen­sio­nen des All­tags­ver­stands zurecht­ge­stutzt, wo sie dann plötz­lich völ­lig ganz harm­los und nach­voll­zieh­bar klin­gen. Das betrifft etwa den Archi­tek­tur­wett­be­werb. Es wird zwar eine Jury geben, die unter fünf Ent­wür­fen aus­wäh­len würde, doch Kühne hat ein Veto­recht. Im Abend­blatt kann man erfah­ren, dass sogar schon ein Ent­wurf bereit­liege, den Kühne sich wün­sche, und zwar – wie offen­bar durch­ge­sto­chen wurde – vom Archi­tek­tur­büro Snøhetta. »Es gibt den schö­nen Ent­wurf eines aus­län­di­schen Archi­tek­ten, der wun­der­bar zu dem Stand­ort passt«, sagte Kühne der Zei­tung: »Die Stadt hätte gern noch eine Art Wett­be­werb. Ich finde den Ent­wurf schon sehr überzeugend.«

Unde­mo­kra­tisch? Nein: Dass Kühne (mit)entscheide, was gebaut werde, sei doch völ­lig nor­mal, meinte Peter Tsch­ent­scher, schließ­lich stamme von ihm ja das Geld. In der Sphäre des Poli­ti­schen nennt man diese Logik Plu­to­kra­tie. Bei Tsch­ent­scher hin­ge­gen klingt alles ganz unbe­denk­lich. Denn weiß nicht auch der Volks­mund: »Wer die Kapelle bezahlt, bestimmt die Musik?«

Das könnte in die­sem Fall auch ganz wört­lich gel­ten. Nicht aus­ge­schlos­sen, dass Kühne, sollte er die Fer­tig­stel­lung des Opern­baus noch erle­ben, sich eine Eröff­nungs­oper wün­schen darf. Sol­che Mut­ma­ßun­gen wer­den Poli­tik und Opern­in­ten­danz sicher zurück­wei­sen. Aber man kann Wet­ten dar­auf abschlie­ßen, dass die erste Oper im neuen Haus nichts von György Ligeti oder Hans Wer­ner Henze sein wird, son­dern etwas »rich­tig Schö­nes«. Wie wär’s mit Gia­como Puc­cini?

Die Stadt des Kapitals

Der Denk­mal­ver­ein Ham­burg, der eine Peti­tion gegen den Opern­neu­bau und für den Ver­bleib der Staats­oper an der Damm­tor­straße initi­iert hat, schreibt daher zu Recht: »Eine so wich­tige Ent­schei­dung zur Archi­tek­tur, Stadt­ent­wick­lung und Denk­mal­pflege wie die Zukunft der Oper auf einem öffent­li­chen Grund­stück sollte in einem ergeb­nis­of­fe­nen Pro­zess und auf der Grund­lage einer brei­ten fach­li­chen, zivil­ge­sell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Dis­kus­sion getrof­fen wer­den – und nicht nach den Wün­schen eines ein­zel­nen pri­va­ten Geld­ge­bers.« Die Gestal­tung der Stadt darf nicht eini­gen weni­gen Inves­to­ren, Mil­li­ar­dä­ren und Mäze­nen über­las­sen wer­den – auch wenn dabei weder mit einer Bau­ruine (Elb­tower) noch mit einer Kos­ten­ex­plo­sion zulas­ten der öffent­li­chen Hand (Elb­phil­har­mo­nie) zu rech­nen ist.

Stadt­pla­ne­ri­sche Ent­schei­dun­gen – und ins­be­son­dere sol­che, die die Stadt jahr­zehn­te­lang prä­gen wer­den, bedür­fen der demo­kra­ti­schen Legi­ti­ma­tion. Die wird im Falle des Opern­neu­baus zwar for­mal durch einen Bür­ger­schafts­be­schluss her­ge­stellt wer­den. Doch von tat­säch­li­cher Demo­kra­tie kann nur dann die Rede sein, wenn sie sich auch auf den Pla­nungs­pro­zess bezieht. So hin­ge­gen zeigt der Pro­zess um Küh­nes Oper exem­pla­risch den unde­mo­kra­ti­schen Cha­rak­ter einer »Stadt des Kapitals«.

»Topspitzenweltklassekultur« 

Aber das ist nicht das ein­zige Pro­blem mit der Oper. Auch und gerade das, was durch die­sen Opern­neu­bau angeb­lich geför­dert wird, gerät unter die Räder: die Kul­tur. Wenn man den vier Her­ren bei der Son­der­pres­se­kon­fe­renz zuge­hört hat, konnte man näm­lich den Ein­druck erlan­gen, es gehe nicht um Kunst, son­dern um einen Sport­ver­ein oder ein Dax-Unternehmen.

Man wolle eine »Oper von Welt­rang«  bauen, bekun­dete Peter Tsch­ent­scher. Jörg Drä­ger von der Kühne-Stiftung sekun­dierte, mit dem Opern­neu­bau schaffe man in Ham­burg einen Ort für »exzel­lente Musik, exzel­lente Oper und exzel­len­tes Bal­lett«. Und Cars­ten Brosda brüs­tete sich damit, dass Ham­burg hin­sicht­lich der öffent­li­chen Zuschüsse bereits jetzt »in einer Liga mit den gro­ßen Opern­häu­sern der Welt« spiele.2Dass Tobias Krat­zer, der im Abend­blatt schon die Devise aus­gab, mit der Ham­bur­ger Oper in die »Cham­pi­ons League«  zu wol­len, die Bau­pläne eupho­risch begrüßte, ver­wun­dert daher nicht. Eine ganz ähn­li­che Spra­che wurde zudem schon zur Begrün­dung des Baus der Elb­phil­har­mo­nie ins Feld geführt.

Die Spra­che, die hier ver­wen­det wird, ver­steht Kul­tur als Leis­tungs­wett­be­werb. Eine Stadt wie Ham­burg muss sich die­ser Logik zufolge darum bemü­hen, die Welt­spitze der Kul­tur für sich zu gewin­nen, um dann im Ran­king der »bes­ten Kul­tur­me­tro­po­len der Welt« einen Topp­latz zu ergat­tern; muss die größ­ten inter­na­tio­na­len Künstler:innen in die Stadt holen, die hier dann ihre Best­leis­tun­gen ablie­fern und die Kon­kur­renz nei­disch machen.

Kultur als Hochgenuss 

Nun ist es wenig ver­wun­der­lich, dass in einer Kauf­manns­stadt wie Ham­burg so gedacht wird. Aber Kul­tur ist weder Spit­zen­sport noch ist sie ein Kampf um einen der ers­ten Plätze in der Welt­markt­kon­kur­renz. Kul­tur ist eine Pra­xis. Eine rei­che Kul­tur­land­schaft zeich­net sich nicht durch Super­la­tive und markt­för­mi­gen Star­kult aus, son­dern durch Breite und Viel­stim­mig­keit, durch Wider­sprü­che und Störgeräusche.

Die super­la­ti­vi­sche Mar­ke­ting­spra­che, mit der über den geplan­ten Opern­neu­bau gespro­chen wird, redu­ziert Kunst außer­dem auf ein Genuss­mit­tel. Sie macht zum Maß der Kul­tur, was der Kon­su­ment ›davon hat‹. Kul­tur wird zum Luxus­kon­sum­gut ver­ding­licht. Der Opern­bau wird so zu einer »Inves­ti­tion«, die »ihr Geld wert sein wird«. Die­je­ni­gen, die der­lei Spra­che ver­wen­den, offen­ba­ren sich als Klein­geis­ter und Banaus:innen. Sie wol­len den exqui­si­tes­ten Hör­ge­nuss, die größ­ten Gefühle und die berühm­tes­ten Stars erle­ben; bloß nichts, was sie beun­ru­hi­gen, irri­tie­ren oder gar absto­ßen könnte. 

Neubau? – »Alternativlos« 

Umso anma­ßen­der ist es, dass in der Dar­stel­lung Tsch­ent­schers und Bros­das gerade den Kritiker:innen des Opern­neu­baus impli­zit Banau­sen­tum vor­ge­wor­fen wird. Denn, so wird sug­ge­riert, ist es nicht klein­geis­tig, ange­sichts gro­ßer Visio­nen über die Zukunft gro­ßer Kunst nun Büro­kra­ten­for­de­run­gen wie die nach demo­kra­ti­scher Betei­li­gung oder auch nur nach einem offe­nen Archi­tek­tur­wett­be­werb auf­zu­wer­fen? Ist es nicht kunst­feind­lich, zu for­dern, die Oper müsste sich mit dem bis­he­ri­gen Gebäude und sei­nen Mög­lich­kei­ten begnügen?

Auf die Frage, wozu in aller Welt die Stadt ein neues Opern­haus brau­che, ant­wor­tete Brosda: Die bis­he­rige Oper sei zu alt, zu klein, ein­fach unter­di­men­sio­niert, um den Ansprü­chen eines gegen­wär­ti­gen Opern­be­triebs gerecht zu wer­den. Sanie­ren müsste man ohne­hin, das ist klar. Aber, so Bros­das Behaup­tung, eine Sanie­rung würde noch viel teu­rer als ein Neu­bau. Wäh­rend vor drei Jah­ren, als Kühne den Vor­schlag erst­mals auf­brachte, noch nie­mand so recht den Bedarf nach einem neuen Opern­haus sehen konnte, prä­sen­tierte Brosda den Umzug der Staats­oper in ein neues Haus nun als letzt­lich alternativlos. 

Es ist diese Alter­na­tiv­lo­sig­keits­rhe­to­rik – und nicht der eli­täre Cha­rak­ter der Oper als Kunst­form, wie Benno Schirr­meis­ter in der taz kom­men­tierte –, die das Kul­tur­ver­ständ­nis hin­ter dem Opern­neu­bau als unde­mo­kra­tisch aus­weist. Denn natür­lich wäre es mög­lich, wei­ter­hin Oper im bis­he­ri­gen Opern­haus zu betrei­ben. Laura Weiss­mül­ler hat in der SZ schon vor fünf Jah­ren anläss­lich der Debatte um den geplan­ten Abriss und Neu­bau der Städ­ti­schen Büh­nen in Frank­furt betont, dass die hor­ren­den Sanie­rungs­kos­ten der letz­ten Jahre eben nicht alter­na­tiv­los sind: »Muss es wirk­lich immer die auf­wen­digste Tech­nik sein? Brau­chen all unsere Gebäude über­all und zu jeder Tages- und Nacht­zeit den höchs­ten Kom­fort, die beste Aus­stat­tung, das neu­este Equipment?« 

Mit Ver­weis auf ver­schie­dene Off-Spielstätten kon­sta­tierte Weiss­mül­ler außer­dem: »Viel­leicht würde es dem deut­schen Kul­tur­le­ben gut­tun, mehr sol­cher rauen, unpo­lier­ten, unper­fek­ten Spiel­orte zu haben.«  Tat­säch­lich befand sich auch auf dem Baa­ken­höft schon ein sol­cher Spiel­ort, »eine über­aus pro­duk­tive, sel­ten inter­es­sante und authen­ti­sche Kul­tur­stätte«, wie Ste­phan Maus in einem (äußerst sehens- und lesens­wer­ten) Foto-Essay auf sei­nem Blog betont. »An die­sem beson­de­ren Ort im Hafen fin­den schon seit Jah­ren krea­tive Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Gesell­schaft, Ort und Geschichte statt.« Aber Leute, die – siehe oben – in der »Welt­spit­zen­klasse« der Kul­tur mit­spie­len wol­len, för­dern eben keine »Aus­ein­an­der­set­zung mit Gesell­schaft, Ort und Geschichte«, son­dern: die größte Bühne, die modernste Tech­nik und die beste Akus­tik. 

Überschreibung eines Geschichtsorts

Opern­haf­ter Jubel. Abfahrt eines Trup­pen­trans­por­ters von Ham­burg nach »Deutsch-Südwestafrika«. Quelle: Bun­des­ar­chiv, Bild 146‑2008-0180 / Spen­ker, Franz / CC-BY-SA 3.0

Der geplante Opern­neu­bau muss schließ­lich als geschichts­ver­ges­se­nes, ja, revi­sio­nis­ti­sches Pro­jekt begrif­fen wer­den. Das hängt zunächst mit dem Stand­ort zusam­men. Der Baa­ken­ha­fen, jener Ort, den Kühne für seine Oper aus­ge­wählt hat, wurde im Deut­schen Kai­ser­reich näm­lich zur »logis­ti­schen Dreh­scheibe des kolo­nia­len Völ­ker­mor­des«, wie der His­to­ri­ker Kim Todzi schreibt. Die Woermann-Linie hatte seit 1891 einen regel­mä­ßi­gen Schiffs­ver­kehr zwi­schen Ham­burg und »Deutsch-Südwestafrika«  (so der Name des heu­ti­gen Nami­bias unter deut­scher Kolo­ni­al­herr­schaft) ein­ge­rich­tet und den Peter­sen­kai im Baa­ken­ha­fen gepach­tet. Zwi­schen 1904 und 1908 machte sie ihn zum wich­tigs­ten Ort der Kriegs­lo­gis­tik: »Über 90 Pro­zent aller Abfahr­ten« von Schif­fen mit Kolo­ni­al­sol­da­ten erfolg­ten von dort, so Todzi.

Für ein Geden­ken an die deut­schen Kolo­ni­al­ver­bre­chen, ins­be­son­dere den Völ­ker­mord an den Herero und Nama, ist der Baa­ken­ha­fen daher ein wich­ti­ger Ort und sollte, darin ist dem Ein­spruch der ehe­ma­li­gen For­schungs­stelle »Ham­burgs (post-)koloniales Erbe«  zuzu­stim­men, nicht mit einer Oper über­baut wer­den, ohne dass an die Ver­gan­gen­heit des Orts – etwa durch ein Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum – erin­nert würde.

Es zeugt jedoch von zwei­fel­haf­tem Oppor­tu­nis­mus, dass die For­schungs­stelle nicht für den Bau­stopp der Oper plä­diert, son­dern die Stadt auf­for­dert, »die finan­zi­elle För­de­rung des Opern­pro­jekts durch den Stif­ter mit der Bedin­gung [zu] ver­bin­den, die Errich­tung eines sol­chen Doku­men­ta­ti­ons­zen­trums sub­stan­zi­ell mit­zu­för­dern« . So als sprä­che an sich nichts gegen die­sen Opern­bau, sofern nur auch ein Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum dabei abfiele.

Kämpfe um Erinnerung

Solch eine For­de­rung blen­det vor allem die zweite Dimen­sion der Geschichts­ver­ges­sen­heit des Opern­plans aus: die Quel­len von Klaus-Michael Küh­nes Ver­mö­gen. Der Mul­ti­mil­li­ar­där ver­dankt die Grund­lage sei­nes Reich­tums näm­lich bekann­ter­ma­ßen dem Unter­neh­men Kühne + Nagel, das an der Ver­fol­gung, Ver­nich­tung und Aus­plün­de­rung der euro­päi­schen Jüdin­nen und Juden mas­siv und direkt ver­diente. Zuerst drängte die dama­lige Unter­neh­mens­füh­rung – Klaus-Michael Küh­nes Vater Alfred und sein Onkel Wer­ner – den jüdi­schen Anteils­eig­ner Adolf Maass aus dem Unter­neh­men, dann stieg Kühne + Nagel zum NS-Musterbetrieb auf und nahm eine Schlüs­sel­stel­lung in der M‑Aktion ein.

Klaus-Michael Kühne hat seit jeher eine his­to­ri­sche Auf­ar­bei­tung die­ser Geschichte sabo­tiert. Seit dem 125-jährigen Jubi­läum von Kühne + Nagel vor zehn Jah­ren jedoch wird die Geschichte (und Küh­nes ver­wei­gerte Auf­ar­bei­tung) immer wie­der öffent­lich dis­ku­tiert. Die Vor­würfe wur­den mit immer wei­te­ren Bele­gen unter­füt­tert – zuletzt im Sep­tem­ber letz­ten Jah­res in einem Inves­ti­ga­tiv­ar­ti­kel von David de Jong.

In Bre­men, wo Küh­nes Groß­va­ter das Unter­neh­men 1890 gegrün­det hat, wur­den aus die­ser öffent­li­chen Debatte Kon­se­quen­zen gezo­gen: Im Jahr 2023 wurde dort ein Mahn­mal ein­ge­weiht, das in Sicht­weite von der Deutsch­land­zen­trale von Kühne + Nagel an die Ari­sie­rung und Ent­eig­nung im Natio­nal­so­zia­lis­mus erin­nert und ins­be­son­dere ihre Akteure und Pro­fi­teure in den Blick nimmt.

Hamburg: Kulturförderung als Schweigegeld

In Ham­burg hin­ge­gen gibt es nichts der­glei­chen – obwohl es auch hier, etwa anläss­lich des Eklats um den »Klaus-Michael Kühne Preis«  2022 – Anlässe dafür gege­ben hätte. Die Ham­bur­ger Poli­tik gibt sich, als hätte es diese Debatte nie gege­ben. Peter Tsch­ent­scher war sich auf der Pres­se­kon­fe­renz nicht ein­mal zu blöd, eine kri­ti­sche Nach­frage mit dem Pseu­do­ar­gu­ment zu beant­wor­ten, dass Kühne wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus ja noch ein Kind gewe­sen sei.

Aber Kühne wird nicht nur – mit den dümms­ten Phra­sen – vor Kri­tik in Schutz genom­men. Die Ham­bur­ger Poli­tik ver­säumte in den letz­ten Jah­ren auch kaum eine Gele­gen­heit, um dem reichs­ten Sohn der Stadt Honig ums Maul zu schmie­ren. Zuletzt etwa über­reichte Tsch­ent­scher Kühne im Sep­tem­ber den »Grün­der­preis«  für sein Lebens­werk und wür­digte ihn in sei­ner Lau­da­tio als einen Unter­neh­mer, »der im wahrs­ten Sinne des Wor­tes viel bewegt hat«.3Ver­lie­hen wird der Preis von der Ham­bur­ger Spar­kasse, dem »Ham­bur­ger Abend­blatt«, der Handels- und Hand­werks­kam­mer, dem Lokal­sen­der »Ham­burg 1« und der Film­pro­duk­ti­ons­firma Stu­dio Ham­burg. Egal ob in die­sem Fall oder beim Eklat um den Kühne-Preis: Der Senat hat kri­ti­sche Nach­fra­gen aus Presse und Öffent­lich­keit kon­se­quent ignoriert.

Der Opern­deal offen­bart das Kal­kül hin­ter die­sem Ver­hal­ten. Denn auch wenn es, etwa im Falle der Gründerpreis-Verleihung, kein offe­nes »quid pro quo« gibt: Es ist klar, dass der Senat auf jeg­li­chen kri­ti­schen Ton ver­zich­tet, wenn es darum geht, einen (auch im Wahl­kampf nütz­li­chen) Deal kurz vorm Abschluss nicht noch zu gefährden.

Hanseatische Beutegemeinschaft

Unser Redak­teur Lukas Betz­ler schrieb im Okto­ber im nd dazu:  »Zu ver­mu­ten ist, dass die Hofie­rung Küh­nes vor allem Kal­kül ist. Kühne hat keine Erben. Sein Ver­mö­gen wird nach sei­nem Tod voll­stän­dig an seine Stif­tung über­ge­hen. Die Stadt Ham­burg ver­sucht wohl sicher­zu­stel­len, dann von einem mög­lichst gro­ßen Teil die­ses Ver­mö­gens pro­fi­tie­ren zu kön­nen.«  Wer hätte gedacht, dass sich die Wahr­heit die­ses Urteils so schnell und so offen zei­gen würde.

Der Preis für diese Art des Kal­küls jedoch ist hoch. Denn indem die Stadt Kühne im Gegen­zug für sein mäze­na­ti­sches »Enga­ge­ment«  der­art den Hof berei­tet, trägt sie dazu bei, dass das so pro­du­zierte Bild Küh­nes als gene­rö­ser Stif­ter jenes des Arisierungs-Profiteurs über­deckt oder gar ver­drängt. Der VVN-BdA warnte schon Mitte letz­ter Woche, dass der Opern-Deal »zur Ver­drän­gung his­to­ri­scher Schuld und der per­sön­li­chen Ver­ant­wor­tung für einen ange­mes­se­nen Umgang damit«  bei­trage. Und der Ver­band machte auch deut­lich, wes­sen Stim­men im ein­ver­nehm­li­chen Jubel von Senat, Kühne und der Mehr­heit der Bür­ger­schaft wie­der ein­mal unter­ge­hen: »Wer fragt die Nach­fah­ren der damals in West- und Ost­eu­ropa aus­ge­raub­ten jüdi­schen Fami­lien, was sie von die­sem ver­schwie­ge­nen Umgang mit dem Nazi­pro­fi­teur Alfred Kühne halten?«

Redak­tion Untiefen

  • 1
    Ganz ähn­lich klang es auf der Pres­se­kon­fe­renz, als die Spra­che auf den Elb­tower kam. Der neue Inves­tor, Die­ter Becken, habe den »Vor­schlag« gemacht, das geplante Natur­kun­de­mu­seum, für das es noch keine ande­ren Räume gebe, im Elb­tower unter­zu­brin­gen. Auch die­ser »Vor­schlag« wird »geprüft« – man könne ihn ja nicht »aus Prin­zip ableh­nen«, so Tsch­ent­scher. Für die Pro­gnose, dass die Prü­fung posi­tiv aus­fal­len wird, braucht es frei­lich keine beson­de­ren hell­se­he­ri­schen Fähig­kei­ten. Der Inves­tor kann ja schließ­lich stets mit einem erneu­ten Bau­ab­bruch drohen.
  • 2
    Dass Tobias Krat­zer, der im Abend­blatt schon die Devise aus­gab, mit der Ham­bur­ger Oper in die »Cham­pi­ons League«  zu wol­len, die Bau­pläne eupho­risch begrüßte, ver­wun­dert daher nicht. Eine ganz ähn­li­che Spra­che wurde zudem schon zur Begrün­dung des Baus der Elb­phil­har­mo­nie ins Feld geführt.
  • 3
    Ver­lie­hen wird der Preis von der Ham­bur­ger Spar­kasse, dem »Ham­bur­ger Abend­blatt«, der Handels- und Hand­werks­kam­mer, dem Lokal­sen­der »Ham­burg 1« und der Film­pro­duk­ti­ons­firma Stu­dio Hamburg.

Gegen rechtsextreme Vereinnahmungsversuche – Solidarität mit empower

Gegen rechtsextreme Vereinnahmungsversuche – Solidarität mit empower

Im Okto­ber 2024 ver­öf­fent­lich­ten wir anläss­lich des Jah­res­ta­ges des Mas­sa­kers der Hamas im Süden Isra­els eine Chro­nik anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle in Ham­burg im zurück­lie­gen­den Jahr. Wir kri­ti­sier­ten u.a. die bis­he­rige Daten­er­he­bung in Ham­burg. Die AfD ver­sucht dies für ihre rechts­extreme Agenda zu instrumentalisieren.

Am 8. Okto­ber 2024 ver­öf­fent­lich­ten wir anläss­lich des vor­an­ge­gan­ge­nen Jah­res­ta­ges des Mas­sa­kers der Hamas im Süden Isra­els gemein­sam mit dem Bil­dungs­ver­ein Bag­rut e.V. eine Chro­nik anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle in Ham­burg im Jahr danach.

Darin kri­ti­sier­ten wir unter ande­rem, dass es, anders als in ande­ren Bun­des­län­dern, in Ham­burg keine öffent­li­che Doku­men­ta­tion anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle gibt. Die öffent­lich geför­derte digi­tale Hinweis- und Mel­de­stelle memo und ihren bis­he­ri­gen[1] Trä­ger, die Bera­tungs­stelle empower, kri­ti­sier­ten wir dafür, dass sie bis 2024 die Fall­zah­len für rechte, ras­sis­tisch und anti­se­mi­tisch moti­vierte Angriffe nur zusam­men­ge­fasst ver­öf­fent­lich­ten. Außer­dem bemän­gel­ten wir, dass die von der Mel­de­stelle sowie von ande­ren, städ­ti­schen Insti­tu­tio­nen bis­lang ver­öf­fent­lich­ten Daten kaum Hin­weise auf die Qua­li­tät und die Umstände anti­se­mi­ti­scher Gewalt in Wort und Tat in Ham­burg sowie auf mög­li­che ideo­lo­gi­sche Moti­va­tio­nen der Täter:innen geben.

Unse­rer Kri­tik lie­gen die von uns recher­chier­ten Daten sowie die Wahr­neh­mung von Betrof­fe­nen zugrunde, denen zu Folge der öffent­li­che Umgang mit Anti­se­mi­tis­mus auch in Ham­burg selek­tiv ist. Ins­be­son­dere im Umgang mit selbst­er­klärt »pro-palästinensisch«, also natio­na­lis­tisch und/oder anti­im­pe­ria­lis­tisch gerecht­fer­tig­ten Taten ent­zie­hen sich Hoch­schu­len, Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen oder poli­ti­sche Grup­pen oft kla­rer Stel­lung­nah­men, anstatt Anti­se­mi­tis­mus klar zu benen­nen und die Stim­men der Betrof­fe­nen, von Ham­bur­ger Jüdin­nen und Juden, ernst zu neh­men. Im Gespräch sagte uns im Okto­ber 2024 Rebecca Vaneeva, Prä­si­den­tin des Ver­bands jüdi­scher Stu­die­ren­der Nord: »Es gibt einen ver­brei­te­ten Selbst­be­trug über die Kom­ple­xi­tät des Phä­no­mens Anti­se­mi­tis­mus. Rechts­extre­mer Anti­se­mi­tis­mus wird zum Glück weit­ge­hend ver­ur­teilt. Es han­delt sich aber auch um ein mus­li­mi­sches und ein lin­kes Phänomen.«

Daher for­der­ten wir eine sys­te­ma­ti­schere Erhe­bung und ein ent­spre­chen­des insti­tu­tio­na­li­sier­tes Moni­to­ring zur wei­te­ren Auf­klä­rung des Dun­kel­fel­des und der Hin­ter­gründe anti­se­mi­ti­scher Gewalt in der Ham­bur­ger Gesell­schaft heute – mit allen Her­aus­for­de­run­gen und Kon­flik­ten, in der gan­zen Wider­sprüch­lich­keit und Viel­schich­tig­keit. Es braucht hier mehr Wis­sen, nicht weniger.

Unsere Kri­tik druckte auch die taz in einem kur­zen Bericht zu unse­rer Chro­nik ab. Unter Bezug auf die­sen Arti­kel ver­suchte die Bür­ger­schafts­frak­tion der AfD Anfang Dezem­ber in einem Antrag zum Dop­pel­haus­halt 2024/2025 unsere Chro­nik zu instrumentalisieren.

Unter Ver­weis u.a. dar­auf, dass »selbst Autoren des lin­ken Maga­zins Untie­fen« die Erhe­bungs­pra­xis von memo »kri­tisch« sähen, bean­tragte die AfD-Fraktion, dem bis­he­ri­gen Trä­ger der Mel­de­stelle, der Bera­tungs­stelle für Betrof­fene rech­ter, ras­sis­ti­scher und anti­se­mi­ti­scher Gewalt empower, im neuen Haus­halt jeg­li­che Mit­tel zu strei­chen. Empower wird im Antrag als »Fake-Beratungsstelle« und »Pro­pa­gan­da­zen­trale« bezeich­net. Zusätz­lich for­derte die AfD, Zuwen­dun­gen unter ande­rem an die VVN-BdA, den CJD oder die Fal­ken im neuen Haus­halt zu strei­chen. Sämt­li­che Anträge der AfD zum Haus­halt wur­den – wie zu erwar­ten – in den Haus­halts­be­ra­tun­gen vom 16. bis 18. Dezem­ber 2024 von den demo­kra­ti­schen Frak­tio­nen der Bür­ger­schaft abgelehnt.

Die Agenda hin­ter die­sen Anträ­gen der AfD-Bürgerschaftsfraktion ist klar: Es geht um die Mobi­li­sie­rung auto­ri­tä­rer Affekte und um ras­sis­ti­sche und xeno­phobe Stig­ma­ti­sie­rung gan­zer Grup­pen der deut­schen Bevöl­ke­rung. Sug­ge­riert wird durch die AfD ein Bild angeb­li­cher »links-grüner« Kor­rup­tion und Kli­en­tel­wirt­schaft bis hin zu einer För­de­rung vor­geb­lich ver­deck­ter »links­extre­mis­ti­scher« Struk­tu­ren. Zudem soll der Ein­druck ent­ste­hen, Gewalt­ta­ten von Asylbewerber:innen und Mus­li­men wür­den grund­sätz­lich ver­harm­lost und unter den Tep­pich gekehrt, wäh­rend sie in Wahr­heit in die­ser Stadt das größte Sicher­heits­pro­blem dar­stell­ten. Dem­ge­gen­über möchte sich die AfD als Kämp­fe­rin gegen Kor­rup­tion und als Anwäl­tin der »öffent­li­chen Sicher­heit« inszenieren.

Ent­ge­gen ihrer eige­nen Insze­nie­rung hat sich die Ham­bur­ger AfD nicht damit her­vor­ge­tan, die Infor­ma­ti­ons­lage bezüg­lich Vor­fäl­len men­schen­feind­li­cher Gewalt zu ver­bes­sern. Wie wir in unse­rer Chro­nik her­vor­he­ben, waren es Ange­hö­rige ande­rer Oppo­si­ti­ons­frak­tio­nen (Links­par­tei und CDU), die maß­geb­lich dazu bei­getra­gen haben, der Ham­bur­ger Öffent­lich­keit ein bes­se­res Bild zu ver­schaf­fen. Und wäh­rend die AfD in ihrem Antrag zwar behaup­tet, sie unter­stütze den Kampf gegen jeg­li­che poli­tisch moti­vierte Gewalt, zei­gen die kon­kre­ten For­de­run­gen, dass sie die Erfas­sung von Gewalt­ta­ten der (extre­men) Rech­ten – inklu­sive des dort kul­ti­vier­ten Juden­hass – am liebs­ten ganz ein­stel­len will. Glei­ches gilt für Aus­stiegs­be­ra­tung aus der rech­ten Szene und wei­tere Ange­bote, ins­be­son­dere der Opferberatung.

Wir wider­spre­chen dem rechts­extre­men Ver­such, unsere Arbeit zu ver­ein­nah­men, aufs Schärfste. Die AfD ist unter der Kri­tik. Wir soli­da­ri­sie­ren uns mit allen in den Anträ­gen ange­grif­fe­nen Ver­ei­nen und Ein­rich­tun­gen, vor allem mit der Opfer­be­ra­tung empower sowie der Mel­de­stelle memo. Ihre Arbeit sollte aus­ge­baut, ver­bes­sert und zugäng­li­cher gemacht wer­den, nicht zusammengestrichen.

Redak­tion Untie­fen & Bag­rut e.V. Ham­burg, Januar 2025


[1] Laut der Web­site von memo befin­det sich die Hin­weis­stelle seit dem 1. Januar 2025 in Trä­ger­schaft der Lawaetz-Stiftung.

Schlanker Staat und schlanke Körper

Schlanker Staat und schlanke Körper

Mit der »Active City«-Stra­te­gie will Ham­burg sich als Sport­stadt pro­fi­lie­ren, den Stadt­raum even­ti­sie­ren und die Bevöl­ke­rung akti­vie­ren. Es geht also um mehr als etwas Bewe­gung im All­tag. Der Sport wird zum Trans­mis­si­ons­rie­men des vor­an­schrei­ten­den Umbaus von Stadt, Staat und Gesell­schaft ent­lang neo­li­be­ra­ler Pro­gramme. Nun steht eine erneute Olympia-Bewerbung im Raum.

Mehr als nur etwas Bewe­gung im All­tag: Die »Active City«-Strategie ist auch Aus­druck des Umbaus der Stadt ent­lang neo­li­be­ra­ler Pro­gramme. Para­dig­ma­tisch dafür ist die Hafen­City – sie wird die­sen Arti­kel foto­gra­fisch beglei­ten. Hier zu sehen ist ein Teil des »Baa­ken­parks«. Foto: privat.

Es ist keine zehn Jahre her: Ende Novem­ber 2015 stimmte eine Mehr­heit der Hamburger:innen aus guten Grün­den dage­gen, dass sich ihre Stadt als Aus­tra­gungs­ort der olym­pi­schen Spiele 2024 bewirbt. Gewor­den ist es dann Paris. Die Bil­der der dies­jäh­ri­gen Som­mer­spiele waren für Sport­se­na­tor Andy Grote »mit­rei­ßend und inspi­rie­rend«. Vor allem, so Grote, hät­ten sie »einen Ein­druck« davon ver­mit­telt, »wie es auch für Deutsch­land sein könnte.« Kein ›hätte sein kön­nen‹, son­dern ein in die Zukunft gerich­te­ter Kon­junk­tiv: Tat­säch­lich läuft die Stadt sich wie­der ein­mal warm, um die olym­pi­sche Fackel nach Ham­burg zu tra­gen – die­ses Mal soll es das Jahr 2040 werden.

Diese Pläne ste­hen im Zusam­men­hang mit der vom Ham­bur­ger Senat im Jahr 2022 beschlos­se­nen »Active City«-Strategie. Sie ist den meis­ten Hamburger:innen wohl bis­lang eher bei­läu­fig begeg­net, etwa in Form einer tem­po­rä­ren Sport­arena auf dem Hei­li­gen­geist­feld. Ein genaue­rer Blick auf diese Stra­te­gie lohnt sich jedoch. Sie ist Teil des vor­an­schrei­ten­den Umbaus von Stadt, Staat und Gesell­schaft. So besteht ein Ele­ment besag­ter Stra­te­gie, die auch aus der geschei­ter­ten Olympia-Bewerbung her­vor­ge­gan­gen ist, darin, noch mehr Gro­ße­vents nach Ham­burg zu holen. Ironman-Triathlons, Beachvolleyball-Weltmeisterschaften und nun wohl auch Olym­pia tra­gen, so die Idee, nicht nur zu einem der ver­kün­de­ten Ziele bei – der Akti­vie­rung der Bevöl­ke­rung. Die Groß-Events sol­len der »Marke Ham­burg« auch zu wei­te­rer inter­na­tio­na­ler Bekannt­heit ver­hel­fen. Vor dem Hin­ter­grund glo­ba­ler Stand­ort­kon­kur­renz ist das schließ­lich not­wen­dig und ver­spricht nicht zuletzt Gewinne in staat­li­chen wie pri­va­ten Kassen.

Es geht also um deut­lich mehr als ein wenig Sport und Bewe­gung im All­tag. Das ver­schweigt das Stra­te­gie­pa­pier auch gar nicht und darin liegt nicht das Pro­blem – ebenso wenig wie im (Breiten-)Sport selbst und sei­ner För­de­rung, die einen wei­te­ren gro­ßen Teil der Stra­te­gie aus­macht. Der moderne Sport war und ist seit jeher Pro­dukt und Pro­du­zent gesell­schaft­li­cher Ver­hält­nisse. Die Frage ist jedoch, wel­che Vor­stel­lun­gen von Gesell­schaft über den Sport in die poli­ti­sche Pra­xis über­führt wer­den. Im Falle der »Active City«-Strategie zeigt sich, wie eng sozi­al­de­mo­kra­ti­sches Regie­ren mitt­ler­weile mit einer neo­li­be­ra­len Pro­gram­ma­tik ver­wo­ben ist. Aus­zah­len dürfte sich das indes nur für die wenigs­ten Hamburger:innen. Die Stra­te­gie ver­spricht zwar mehr »Lebens­qua­li­tät« für alle – neun­zehn­mal kommt der Begriff allein im Kon­zept­pa­pier vor. Die Kehr­seite der Klimm­stange im Park und des even­ti­sier­ten Stadt­raums wird sich jedoch unter ande­rem in stei­gen­den Mie­ten und sozia­len Aus­schlüs­sen zeigen.

Die Kehr­seite der Klimm­stange im Park: stei­gende Mie­ten und soziale Aus­schlüsse. Foto: privat.

Ein Blick zurück: Olympia und die »wachsende Stadt« um das Jahr 2000

Der olym­pi­sche Traum begann in Ham­burg vor über 20 Jah­ren. Im Jahr 2002 hatte der Ham­bur­ger Senat unter Ole von Beust das Leit­bild »Metro­pole Ham­burg – Wach­sende Stadt« ver­ab­schie­det. Ein Teil die­ser Stra­te­gie bestand darin, die Som­mer­spiele im Jahr 2012 nach Ham­burg holen zu wol­len. In dem Leit­bild, so wird es auch anhand eines 2004 ver­öf­fent­lich­ten Arti­kels aus der Feder von Beusts deut­lich, war das Sport­event vor allem ein Mar­ke­ting­ve­hi­kel. Galt es doch ange­sichts beschwo­re­ner glo­ba­ler Stand­ort­kon­kur­renz »Ham­burg zu einer unver­wech­sel­ba­ren Marke [zu] machen«. Ganz neu war diese Idee nicht: Bereits im Jahr 1983 hatte der dama­lige sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Bür­ger­meis­ter Klaus von Dohn­anyi vom »Unter­neh­men Ham­burg« gespro­chen, das sich auf eine neue Stand­ort­po­li­tik ein­stel­len müsse.

Aber wieso eigent­lich sollte Ham­burg als Unter­neh­men agie­ren und sich selbst ver­mark­ten? Dafür lohnt es, in gebo­te­ner Kürze beim Leit­bild der 2000er Jahre und der his­to­ri­schen Situa­tion, die es her­vor­ge­bracht hat, zu ver­wei­len. Denn nicht nur fin­det sich der Begriff der »wach­sen­den Stadt« auch noch im aktu­el­len Stra­te­gie­pa­pier der »Active City« wie­der. Son­dern dar­über hin­aus wird in der Zeit um die Jahr­tau­send­wende eine stadt­po­li­ti­sche Matrix sicht­bar, die bis heute prä­gend ist.

Das Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« war eine Reak­tion auf die lang­an­hal­tende Krise der for­dis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nisse und des inter­ven­tio­nis­ti­schen Wohl­fahrts­staa­tes seit den 1970er Jah­ren.1Diese hat­ten sich im wirt­schaft­li­chen Auf­schwung des Wie­der­auf­baus nach dem Zwei­ten Welt­krieg her­aus­ge­bil­det. Ein hohes Wirt­schafts­wachs­tum ging ins­be­son­dere auf­grund des boo­men­den indus­tri­el­len Sek­tors mit Voll­be­schäf­ti­gung ein­her. Ideen staat­li­cher Pla­nung und öko­no­mi­scher Glo­bal­steue­rung gedach­ten nicht nur die Markt­kräfte zu besänf­ti­gen, son­dern auch den Klas­sen­kom­pro­miss durch Teil­habe aller an Wohl­stand und Kon­sum zu beför­dern. Ab den 1970er Jah­ren geriet die­ses Modell jedoch vor dem Hin­ter­grund einer kri­seln­den Welt­wirt­schaft in die Schief­lage. Erst­ma­lig stie­gen seit Ende des Krie­ges die Arbeits­lo­sen­zah­len wie­der, Indus­trie­be­triebe muss­ten schlie­ßen. Sin­kende Steu­er­ein­nah­men brach­ten auch den immer umfang­rei­che­ren Wohl­fahr­staat an seine Gren­zen. Nun wur­den Stim­men lau­ter, die Kon­zepte for­der­ten, die sich bereits in den 1930er Jah­ren her­aus­ge­bil­det hat­ten, dem dama­li­gen Abge­sang auf den laissez-faire-Kapi­ta­lis­mus in der Welt­wirt­schafts­krise jedoch nichts ent­ge­gen­set­zen konn­ten. Diese wer­den heute gemein­hin unter dem Label Neo­li­be­ra­lis­mus gefasst. Es speist sich aus Kon­zep­ten, die heute gemein­hin unter dem Label Neo­li­be­ra­lis­mus gefasst wer­den und unter ande­rem auf den Abbau (wohlfahrts-)staatlicher Ein­griffe, eine Hin­wen­dung zum Markt und die zuneh­mende Pri­va­ti­sie­rung staat­li­chen Eigen­tums zielen.

Kon­kur­renz um  Human­ka­pi­tal: Im Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« gal­ten groß­zü­gige und damit hoch­prei­sige Eigen­tums­woh­nun­gen – hier der Marco-Polo-Tower – als Stand­ort­fak­tor. Foto: privat.

In Ham­burg äußerte sich die Krise for­dis­ti­scher Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nisse darin, dass sich für die Stadt zen­trale Indus­trie­zweige wie etwa der Schiffs­bau samt Zulie­fe­rer­be­trie­ben nur bedingt hal­ten konn­ten. Auch die Einwohner:innenzahl nahm bis Ende der 1990er Jahre kon­ti­nu­ier­lich ab. Ergo musste die Stadt wach­sen, konnte dafür jedoch nicht auf die bis­he­rige indus­tri­elle Pro­duk­tion set­zen. Ver­stärkt kon­zen­trierte man sich etwa auf den Dienst­leis­tungs­sek­tor, den Tou­ris­mus und auf die soge­nannte Krea­tiv­bran­che. Ham­burg ver­stand sich zuneh­mend als Medien- und bald auch als Musi­cal­stadt. Die Stadt sah sich darin jedoch einem glo­ba­len Wett­be­werb um Human- und Finanz­ka­pi­tal aus­ge­setzt. Und die­ses Kapi­tal strömt, so die Vor­stel­lung, ins­be­son­dere in jene Metro­po­len, die über ent­spre­chende Stand­ort­fak­to­ren – und die ent­spre­chende Bekannt­heit – ver­fü­gen. Hier schließt sich nun der Kreis zu Olym­pia. Die Stadt setzte näm­lich nicht nur ver­mehrt auf wei­che Stand­ort­fak­to­ren wie Kul­tur und Sport­events. Gerade wäh­rend der Olympia-Bewerbung, so schrieb es Ole von Beust in obi­gem Arti­kel, stellte der Senat fest, »dass das Stand­ort­mar­ke­ting […] ver­stärkt wer­den muss«.

Eine wei­tere Folge der neu­jus­tier­ten Stadt­po­li­tik war die mas­sive Pri­va­ti­sie­rung zuvor staat­li­chen und genos­sen­schaft­li­chen Wohn­raums sowie des zukünf­ti­gen Woh­nungs­baus. Einer­seits lie­ßen sich so die klam­men Staats­kas­sen sanie­ren. Ande­rer­seits gal­ten grö­ßere und luxu­riö­sere (Eigentums-)Wohnungen als Stand­ort­fak­tor im Wett­be­werb um die begehr­ten unter­neh­me­ri­schen und krea­ti­ven Köpfe. Der Anteil an Sozi­al­woh­nun­gen sank in Ham­burg von 45 Pro­zent im Jahr 1980 auf 11 Pro­zent im Jahr 2010.2Ich ver­danke der Lek­türe von Arndt Neu­manns Unter­neh­men Ham­burg viele der hier nur knapp und daher sehr ver­kürzt wie­der­ge­ge­be­nen Ein­sich­ten. Vgl. Arndt Neu­mann, Unter­neh­men Ham­burg. Eine Geschichte der neo­li­be­ra­len Stadt, Göt­tin­gen 2018. Zwar ist das keine unmit­tel­bare Folge der Olympia-Bewerbung, doch kor­re­spon­diert die Ver­mark­tung bezie­hungs­weise Ver­markt­li­chung des Stadt­raums not­wen­di­ger­weise mit sei­ner Privatisierung.

Die Stadt als Unternehmen…

Das Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« war vor allem von einem Papier der Unter­neh­mens­be­ra­tung McK­in­sey inspi­riert. Wie es Dohn­anyi gefor­dert hatte, gerierte sich Ham­burg ab den 2000er Jah­ren zuneh­mend als Unter­neh­men. Für die »Active City«-Strategie beauf­tragte die Behörde für Inne­res und Sport nun keine Unter­neh­mens­be­ra­tung, son­dern das pri­vat­wirt­schaft­li­che Ham­bur­gi­sche Welt­Wirt­schafts­in­sti­tut (HWWI), das dar­auf­hin im Jahr 2020 eine Stu­die über die Öko­no­mi­schen Effekte einer vita­len Sport­stadt ver­öf­fent­lichte. Gegen­über dem Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« zeigt sich: Sport und Sport­events sol­len nicht mehr aus­schließ­lich der Hamburg-PR die­nen. Es geht auch nicht mehr allein um die För­de­rung des Breiten- und Leis­tungs­sports, wie noch bei den Vor­gän­ge­rin­nen der aktu­el­len Stra­te­gie.3Ver­wie­sen sei auf den 2016 beschlos­se­nen »Mas­ter­plan Active­City« und die »Deka­denstra­gie Sport« aus dem Jahr 2011. Mit der »Active City«-Strategie sol­len durch eine akti­vierte Bevöl­ke­rung, so die Stu­die, nun auch »Pro­duk­ti­vi­täts­ef­fekte« auf indi­vi­du­el­ler Ebene erzielt wer­den: »gerin­gere Aus­fall­zei­ten, bes­sere psy­chi­sche Gesund­heit und höhere Motivation«.

In der Logik der HWWI-Studie fun­giert die Stadt in der Tat als Unter­neh­men. Sie tätigt Inves­ti­tio­nen in der Erwar­tung von Gewin­nen. Es geht nicht zuvor­derst um das das gute Leben für alle, son­dern um schwarze Zah­len in der Staats­kasse. So errech­ne­ten die Wissenschaftler:innen des HWWI für das Jahr 2017 einen »Gesamt­ef­fekt von rund 2,4 Mil­li­ar­den Euro Wert­schöp­fung«. Jeder von der Stadt in den Sport inves­tierte Euro gene­riere »lang­fris­tig eine öko­no­mi­sche Wert­schöp­fung von rund zwei Euro«. Über die Hälfte die­ser Ein­nah­men solle sich wie­derum aus soge­nann­ten Gesundheits- und Wohl­fahrts­ef­fek­ten spei­sen. Eine akti­vierte Bevöl­ke­rung sei nicht nur sel­te­ner krank, ver­ur­sa­che weni­ger Kos­ten und habe mehr Zeit zu arbei­ten. Der Sport hätte auch »posi­tive Aus­wir­kun­gen auf die Moti­va­ti­ons­fä­hig­keit von Men­schen, deren Pro­duk­ti­vi­tät oder Teil­habe am sozia­len Leben«.

…und das unternehmerische Selbst

Bewe­gung, Sport und Spiel sind die­sem Den­ken zufolge nicht in ers­ter Linie wich­tig, weil sie etwa Freude berei­ten. Sie wer­den zunächst und vor allem als Inves­ti­tio­nen ver­stan­den. Eine Inves­ti­tion, die der Stadt­staat in den Kol­lek­tiv­kör­per der Bevöl­ke­rung tätigt, sowie Inves­ti­tio­nen, die die ange­ru­fe­nen Sub­jekte in ihre Indi­vi­du­al­kör­per vornehmen.

Doch wie wird aus die­ser markt­för­mi­gen Logik eine all­täg­li­che Pra­xis? Ein Bei­spiel dafür ist die »Active City«-App, die die Stadt vor eini­gen Jah­ren ent­wi­ckeln ließ. Diente sie anfäng­lich vor allem dazu, einen Über­blick über Sport­an­ge­bote zu erhal­ten, kamen nach und nach neue Funk­tio­nen hinzu. Die App adap­tierte darin Tech­ni­ken des soge­nann­ten Self-Trackings – also der indi­vi­du­el­len Daten­auf­nahme zur Selbst­op­ti­mie­rung. Aus dem Stadt­raum wurde ein vir­tu­el­ler »Play­ground«. Die Nutzer:innen zeich­nen darin per Schritt­zäh­ler ihre Akti­vi­tät etwa bei der Lauf­runde im Park auf und sam­meln »Coins«. Für »jede Bewe­gung«, so heißt es in der Beschrei­bung der App, wer­den »Punkte gut­ge­schrie­ben«. Die »Coins« brin­gen »satte Extra-Punkte«. In die­sem digi­ta­len Pan­op­ti­kum, so die Idee, sta­cheln die Nutzer:innen sich selbst und unter­ein­an­der zu mehr Bewe­gung an und ver­bes­sern ste­tig ihr »Wochen-Level« – Ver­lo­sun­gen für die Best­plat­zier­ten inklu­sive. Dass die Nutzer:innen nun Mün­zen sam­meln, wäh­rend sie sport­lich aktiv sind, ist eine schöne Alle­go­rie: So wie die Stadt als Unter­neh­men tätig ist, sol­len ihre Einwohner:innen zu Unternehmer:innen ihrer selbst werden.

Diese Logik kommt nicht von unge­fähr. Das HWWI ist ein pri­vat­wirt­schaft­lich finan­zier­ter neo­li­be­ra­ler Think Tank, der seit jeher per­so­nell wie ideo­lo­gisch mit ein­schlä­gi­gen Insti­tu­tio­nen wie der Initia­tive Neue Soziale Markt­wirt­schaft oder der Stif­tung Ord­nungs­po­li­tik ver­bun­den ist. Dass die dort ver­brei­te­ten Ideen mitt­ler­weile fes­ter Bestand­teil sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Poli­tik sind, wurde zu Beginn der 2000er Jahre mit dem Wan­del vom sor­gen­den zum akti­vie­ren­den Sozi­al­staat in der »Agenda 2010« der rot­grü­nen Koali­tion deut­lich. Der der­zei­tige rot­grüne Ham­bur­ger Senat schreibt im Stra­te­gie­pa­pier aus dem Jahr 2022: »Active Citi­zens« sol­len »Ver­ant­wor­tung über­neh­men« und »nicht die Frage stel­len, was der Staat für sie tun kann«. Die akti­vier­ten Einwohner:innen »fra­gen, was sie für ihre Stadt, ihren Staat und ihre Gesell­schaft tun können.«

In den neuen Regi­men der Arbeit las­sen sich Arbeits- und Frei­zeit kaum mehr tren­nen. Der Sport dient nicht allein der Stei­ge­rung der Pro­duk­ti­vi­tät der Mitarbeiter:innen – er wird selbst zu einer markt­för­mi­gen Pra­xis. Foto: privat.

Im »Zeitalter der Fitness«

Dass eine wei­tere Pri­va­ti­sie­rung und Even­ti­sie­rung des Stadt­raums – auch durch eine nun dro­hende Olympia-Bewerbung – mit stei­gen­den Mie­ten ein­her­geht und den öko­no­mi­schen Druck auf den Ein­zel­nen erhöht, hat die Kam­pa­gne NOlym­pia bereits im Jahr 2015 kri­ti­siert. Aber wo liegt das Pro­blem einer akti­vie­ren­den Poli­tik, die wie im Fall der »Active City«-Strategie doch vor­der­grün­dig zu mehr Bewe­gung im All­tag anre­gen möchte? Der His­to­ri­ker Jür­gen Mart­schukat spricht, so auch der Titel sei­nes Buchs, vom »Zeit­al­ter der Fit­ness«, des­sen Beginn nicht nur zeit­lich, son­dern auch ideo­lo­gisch mit der neo­li­be­ra­len Wende seit den 1970er Jah­ren zusam­men­fiel. »Das Indi­vi­duum soll an sich arbei­ten, das Leben im Griff haben, sich fit machen, für die eigene Leis­tung Sorge tra­gen«. Die Öko­no­mi­sie­rung des Sozia­len und die stär­ker ein­ge­for­derte Eigen­ver­ant­wor­tung pro­du­zier­ten jedoch neue soziale Aus­schlüsse und ver­schärf­ten bestehende (Klassen-)Gegensätze.

Das »Active City«-Strategiepapier schwärmt indes vom inklu­si­ven Cha­rak­ter des Sports. Dage­gen lässt sich mit Mart­schukat ein­wen­den, dass Fit­ness stets um Fat­ness kreist und gerade Über­ge­wich­tige häu­fig mehr­fa­cher Dis­kri­mi­nie­rung ent­lang von race, class und gen­der aus­ge­setzt sind – der His­to­ri­ker ver­weist hier auf die Situa­tion in den USA. Die neuen Exklu­si­ons­me­cha­nis­men wer­den jedoch nicht mehr bio­lo­gi­siert in dem Sinne, dass sie als unver­än­der­bar gel­ten. Für die Fit­ness ist das Indi­vi­duum ebenso ver­ant­wort­lich wie für die damit ver­bun­dene eigene Gesund­heit und vor allem auch den wirt­schaft­li­chen Erfolg. Wer, aus wel­chen guten Grün­den auch immer, nicht mit­hal­ten kann, hat eben nicht genug inves­tiert und bleibt auf der Strecke.

Wohl nicht zufäl­lig schweigt das »Active City«-Strategiepapier zu öko­no­mi­scher Ungleich­heit. So ver­spricht die neo­li­be­rale Stadt, deren Kon­tu­ren sich seit den 2000er Jah­ren immer deut­li­cher abzeich­nen, in ihren Pro­gram­men und Leit­bil­dern zwar eine höhe­ren Lebens­qua­li­tät für alle. Von gro­ßen Sport­events und einer akti­vier­ten Bevöl­ke­rung wer­den jedoch nur wenige pro­fi­tie­ren. Einer erneu­ten Olympia-Bewerbung gilt es daher wie­der ent­schie­den ent­ge­gen­zu­tre­ten. Wenn sie tat­säch­lich kommt, wäre sie jedoch als PR-Vehikel für die »Marke Ham­burg« vor allem Aus­druck einer tie­fer­lie­gen­den Ursa­che: des Umbaus von Stadt, Staat und Gesell­schaft ent­lang neo­li­be­ra­ler Programme. 

Johan­nes Rad­c­zinski, Okto­ber 2024

Der Autor über­denkt seine Argu­mente am liebs­ten bei bei einer Jog­ging­runde im Park – »Coins« sam­melt er dabei aber noch nicht. Auf Untie­fen schrieb er zuletzt über den soge­nann­ten »grü­nen Bun­ker«.

  • 1
    Diese hat­ten sich im wirt­schaft­li­chen Auf­schwung des Wie­der­auf­baus nach dem Zwei­ten Welt­krieg her­aus­ge­bil­det. Ein hohes Wirt­schafts­wachs­tum ging ins­be­son­dere auf­grund des boo­men­den indus­tri­el­len Sek­tors mit Voll­be­schäf­ti­gung ein­her. Ideen staat­li­cher Pla­nung und öko­no­mi­scher Glo­bal­steue­rung gedach­ten nicht nur die Markt­kräfte zu besänf­ti­gen, son­dern auch den Klas­sen­kom­pro­miss durch Teil­habe aller an Wohl­stand und Kon­sum zu beför­dern. Ab den 1970er Jah­ren geriet die­ses Modell jedoch vor dem Hin­ter­grund einer kri­seln­den Welt­wirt­schaft in die Schief­lage. Erst­ma­lig stie­gen seit Ende des Krie­ges die Arbeits­lo­sen­zah­len wie­der, Indus­trie­be­triebe muss­ten schlie­ßen. Sin­kende Steu­er­ein­nah­men brach­ten auch den immer umfang­rei­che­ren Wohl­fahr­staat an seine Gren­zen. Nun wur­den Stim­men lau­ter, die Kon­zepte for­der­ten, die sich bereits in den 1930er Jah­ren her­aus­ge­bil­det hat­ten, dem dama­li­gen Abge­sang auf den laissez-faire-Kapi­ta­lis­mus in der Welt­wirt­schafts­krise jedoch nichts ent­ge­gen­set­zen konn­ten. Diese wer­den heute gemein­hin unter dem Label Neo­li­be­ra­lis­mus gefasst. 
  • 2
    Ich ver­danke der Lek­türe von Arndt Neu­manns Unter­neh­men Ham­burg viele der hier nur knapp und daher sehr ver­kürzt wie­der­ge­ge­be­nen Ein­sich­ten. Vgl. Arndt Neu­mann, Unter­neh­men Ham­burg. Eine Geschichte der neo­li­be­ra­len Stadt, Göt­tin­gen 2018.
  • 3
    Ver­wie­sen sei auf den 2016 beschlos­se­nen »Mas­ter­plan Active­City« und die »Deka­denstra­gie Sport« aus dem Jahr 2011.

Chronik antisemitischer Vorfälle in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023

Chronik antisemitischer Vorfälle in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023

Seit dem Mas­sa­ker der Hamas am 07. Okto­ber 2023 gibt es auch in Ham­burg eine Welle anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle. Wir haben gemein­sam mit dem Bil­dungs­ver­ein Bag­rut e.V. eine Chro­nik über das ver­gan­gene Jahr erstellt, um das Aus­maß und die For­men des Anti­se­mi­tis­mus sicht­bar zu machen.

Anti­se­mi­ti­sche Bil­der, Tags und Graf­fiti aus Ham­burg nach dem 07.10.2023. Bild: Untie­fen

Am 7.10.2023 ver­übte die isla­mis­ti­sche Ter­ror­or­ga­ni­sa­tion Hamas auf israe­li­schem Boden ein geno­zi­da­les, anti­se­mi­ti­sches und miso­gy­nes Mas­sa­ker. Die grau­same und wahl­lose Ermor­dung von 1.200 Men­schen, die Ver­ge­wal­ti­gung zahl­rei­cher Frauen und die Ent­füh­rung von 250 Per­so­nen bedeu­te­ten eine Zäsur selbst in der an gewalt­vol­len Ereig­nis­sen kaum armen Geschichte des Juden­has­ses. Die liba­ne­si­sche, vom Iran gesteu­erte Miliz His­bol­lah star­tete am 8.10.2023 in Soli­da­ri­tät mit der Hamas eine neue Angriffs­welle gegen Isra­els Nor­den; die Houthi-Milizen im Jemen schlos­sen sich mit ähn­li­chen Angriffs­ver­su­chen an. Die mili­tä­ri­sche Reak­tion der israe­li­schen Streit­kräfte dau­ert bis heute an. Die Kämpfe haben im Gaza­strei­fen bereits viele Tau­send zivile Opfer gefor­dert und große Teile der dor­ti­gen Infra­struk­tur zerstört.

Welt­weit, und auch in Ham­burg, for­mierte sich nach einer nur kur­zen Schock­starre eine Welle anti­se­mi­ti­scher und isra­el­feind­li­cher Gewalt in Wort und Tat – auf Wän­den, auf den Stra­ßen, in den Hör­sä­len, in den digi­ta­len Medien. Die Gewalt rich­tet sich gegen (ver­meint­li­che) Jüdin­nen und Juden, gegen (ver­meint­lich) jüdi­sche und israe­li­sche Ein­rich­tun­gen, gegen mit Israel soli­da­ri­sche oder auch ledig­lich anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Demons­trie­rende, Aktivist:innen oder Künstler:innen, Kul­tur­zen­tren, Clubs oder Bars und viele weitere.

Die Fol­gen für jüdi­sches Leben in Hamburg

Wel­che Fol­gen die­ses gewalt­tä­tige Klima für Jüdin­nen und Juden in Ham­burg hat, berich­tete uns ein­drück­lich Rebecca Vaneeva. Sie ist der­zeit Prä­si­den­tin des Ver­bands jüdi­scher Stu­die­ren­der Nord. Die Zunahme anti­se­mi­ti­scher Anfein­dun­gen führt ihr zu Folge unter den Mit­glie­dern ihres Ver­ban­des zu einem Rück­zug in die Anony­mi­tät. Jüdi­sche Iden­ti­tät wird ver­steckt. Im öffent­li­chen Auf­tre­ten zen­sie­ren Jüdin­nen und Juden sich zuneh­mend selbst, um keine Angriffs­flä­che zu bie­ten: »Beson­ders an den Hoch­schu­len war die stän­dige Prä­senz isra­el­feind­li­cher und anti­se­mi­ti­scher Pro­teste schwer erträg­lich«, so Vaneeva.

Beson­ders an den Hoch­schu­len war die stän­dige Prä­senz isra­el­feind­li­cher und anti­se­mi­ti­scher Pro­teste schwer erträglich

Gegen­über dem Zeit­raum vor dem 07. Okto­ber hat sich in ihrer Wahr­neh­mung die Lage »auf jeden Fall ver­schlim­mert«. Vaneeva kri­ti­siert gegen­über Untie­fen: »Jüdi­sche Stu­die­rende und unser Ver­band erfah­ren zwar ver­ein­zelt Soli­da­ri­tät, aber es gibt keine aktive Gegen­be­we­gung gegen Anti­se­mi­tis­mus.« Woran fehlt es aus ihrer Sicht kon­kret? »Es bräuchte Safe Spaces, Anlauf­stel­len, die kon­se­quente Mode­ra­tion von Online-Inhalten und auch straf­recht­li­che Kon­se­quen­zen für Terror-Propaganda. Würde das ähn­li­che enga­giert ver­folgt wie etwa die ras­sis­ti­schen Gesänge in dem berüch­tig­ten ›Sylt-Video‹, wäre schon viel gewon­nen«. Die Hoch­schu­len machen es sich ihrer Mei­nung nach etwa bei anti­se­mi­ti­schen und isra­el­feind­li­chen Ver­stal­tun­gen zu bequem. Terror-relativierende Semi­nare und Vor­träge, die unter dem Deck­man­tel von Hoch­schul­grup­pen nahezu anonym orga­ni­siert wer­den kön­nen, wer­den fast immer tole­riert, selbst wenn ein­schlä­gige Aktivist:innen betei­ligt sind.

Es gibt einen ver­brei­te­ten Selbst­be­trug über die Kom­ple­xi­tät des Phä­no­mens Antisemitismus.

Den Umgang mit den ver­schie­de­nen For­men von Anti­se­mi­tis­mus bezeich­net Rebecca Vaneeva ins­ge­samt als »selek­tiv«, denn: »Es gibt einen ver­brei­te­ten Selbst­be­trug über die Kom­ple­xi­tät des Phä­no­mens Anti­se­mi­tis­mus. Rechts­extre­mer Anti­se­mi­tis­mus wird zum Glück weit­ge­hend ver­ur­teilt. Es han­delt sich aber auch um ein mus­li­mi­sches und ein lin­kes Phä­no­men. Unsere Mit­glie­der berich­ten uns, dass sogar die Mehr­zahl der Anfein­dun­gen, die sie erle­ben, aus mus­li­mi­schen und lin­ken Milieus kommen«.

Wie ist die Daten­lage in Hamburg?

Die­ser »selek­tive Umgang« wird in Ham­burg auch dadurch gestützt, dass es, anders als in ande­ren Bun­des­län­dern, keine öffent­li­che Doku­men­ta­tion anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle gibt. Abseits der v.a. durch Kleine Anfra­gen in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft[1] ver­öf­fent­lich­ten Daten der Poli­zei, die auf zur Anzeige gebrach­ten Delik­ten von Hass­kri­mi­na­li­tät basie­ren, exis­tiert offen­bar keine sys­te­ma­ti­sche Samm­lung. Gegen­über dem Vor­jah­res­zeit­raum haben sich laut die­sen Daten die Fälle anti­se­mi­ti­scher Hass­kri­mi­na­li­tät im 4. Quar­tal 2023 ver­fünf­facht. Bun­des­weite Zah­len des Bun­des­kri­mi­nal­amts zur „poli­tisch moti­vier­ten Kri­mi­na­li­tät“ (PMK) und des Bun­des­ver­bands Recherche- und Infor­ma­ti­ons­stel­len Anti­se­mi­tis­mus (RIAS) wei­sen in die­selbe Richtung.

Das zivil­ge­sell­schaft­li­che Moni­to­ring betreibt in Ham­burg die 2021 gegrün­dete, öffent­lich geför­derte digi­tale Hinweis- und Mel­de­stelle memo. Sie ver­öf­fent­li­che aller­dings bis­lang die Fall­zah­len für rechte, ras­sis­tisch und anti­se­mi­tisch moti­vierte Angriffe nur zusam­men­ge­fasst. In einem im Som­mer 2024 vor­ge­leg­ten Bericht ver­öf­fent­lichte die Trä­ge­rin der Mel­de­stelle, die Bera­tungs­stelle empower, für 2023 genauere Zah­len und berich­tete 282 dort bekannt gewor­dene Fälle von Anti­se­mi­tis­mus in Ham­burg. Nach dem 7. Okto­ber ver­zeich­nete man auch hier einen star­ken Anstieg.

Aber: Alle ver­füg­ba­ren Daten deu­ten dar­auf hin, dass es ein gro­ßes Dun­kel­feld gibt. In einer eben­falls im Som­mer 2024 ver­öf­fent­lich­ten Stu­die der Aka­de­mien der Poli­zei Ham­burg und Nie­der­sach­sen gaben 77 % der befrag­ten Ham­bur­ger Jüdin­nen und Juden an, inner­halb des ver­gan­ge­nen Jah­res Anti­se­mi­tis­mus erfah­ren zu haben. Die Stu­die schätzt den Anteil unbe­kann­ter Fälle auf 80 %. Und: die Daten ver­ra­ten nichts über die kon­kre­ten Fälle. Wer sind die Täter, wer die Geschä­dig­ten? Wel­che Ideo­lo­gien ste­hen jeweils dahinter?

Eine öffent­li­che Chro­nik für das Jahr nach 07/10

Auf­grund die­ser offe­nen Fra­gen haben wir uns ent­schlos­sen, selbst eine Chro­nik anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle in Ham­burg seit dem 7. Okto­ber 2023 anzu­le­gen. Damit wol­len wir einen Ein­druck vom Aus­maß und den ver­schie­de­nen For­men des Anti­se­mi­tis­mus in Ham­burg ver­mit­teln. Und Ent­glei­sun­gen in Erin­ne­rung hal­ten, die meist allzu schnell in Ver­ges­sen­heit gera­ten. Wir haben dazu aus ver­schie­de­nen Quel­len eine Liste von der­zeit 187 anti­se­mi­ti­schen Vor­fäl­len für den Zeit­raum 7.10.2023 bis 7.10.2024 zusam­men­ge­stellt. Dar­un­ter sind Pres­se­be­richte, online doku­men­tierte Vor­fälle, per­sön­li­che Berichte aus der jüdi­schen Com­mu­nity und von ande­ren Betrof­fe­nen sowie die genann­ten, durch die Anfra­gen in der Bür­ger­schaft ver­öf­fent­lich­ten Quar­tals­zah­len zu Hass­kri­mi­na­li­tät. Diese Moment­auf­nahme für das Jahr nach dem 7. Okto­ber kann und will aber natür­lich nicht eine sys­te­ma­ti­sche Erhe­bung und ein ent­spre­chen­des insti­tu­tio­na­li­sier­tes Moni­to­ring erset­zen. Das bleibt notwendig.

Was wir erfasst haben – und was nicht

Bekannt­lich ist die Frage, was als anti­se­mi­tisch ein­zu­ord­nen ist, durch­aus umstrit­ten. Wir haben uns an der Arbeits­de­fi­ni­tion Anti­se­mi­tis­mus der Inter­na­tio­nal Holo­caust Remem­brance Alli­ance (IHRA) von 2019 sowie der Sys­te­ma­tik des Bun­des­ver­bands RIAS ori­en­tiert. Diese unter­schei­det „ver­let­zen­des Ver­hal­ten“, „Bedro­hung“, „Angriff“, „(extreme) Gewalt“, „(gezielte) Sach­be­schä­di­gung“ und „Mas­sen­zu­schrif­ten“. Das bedeu­tet, die Fälle rei­chen poten­zi­ell von ein­schlä­gi­gen Äuße­run­gen oder anti­se­mi­tisch moti­vier­ten Ver­an­stal­tun­gen bis hin zu kör­per­li­cher Gewalt.

Bei eini­gen Vor­fäl­len, die wir recher­chie­ren konn­ten, ist nicht ohne Wei­te­res zu klä­ren, ob sie nach der ver­wen­de­ten Sys­te­ma­tik anti­se­mi­tisch genannt wer­den kön­nen.[2] Meist des­halb, weil über den Kon­text und/ oder den kon­kre­ten Ablauf wenig bekannt ist. Wir haben daher nur Fälle auf­ge­nom­men, bei denen der anti­se­mi­ti­sche Gehalt bzw. eine ent­spre­chende Inten­tion deut­lich erkenn­bar ist. Um unse­rer Ver­fah­ren trans­pa­rent zu machen, haben wir in Anhang 1 (unter der Tabelle) drei Bei­spiele für Fälle, deren Kate­go­ri­sie­rung wir inten­si­ver dis­ku­tiert haben, zusam­men­ge­stellt und unsere Ent­schei­dung kurz skizziert.

Nicht auf­ge­nom­men haben wir etwa einige Fälle von – gleich­wohl ein­deu­ti­gem – Isra­el­hass. Das meint die Dämo­ni­sie­rung Isra­els, z.B. als »Apart­heid­staat« oder als »kolo­nial«, die durch­aus in der Pra­xis meist anti­se­mi­tisch, d.h. juden­feind­lich gemeint sein kann bzw. die prak­tisch oft eine sol­che Wir­kung hat. Ähn­lich sind wir mit eini­gen offen­sicht­lich fal­schen Dar­stel­lun­gen des 7. Okto­bers (etwa als bloße Ver­tei­di­gung, als Wider­stand o.Ä.) umge­gan­gen. Unser Haupt­au­gen­merk lag dar­auf, eine mög­lichst kon­sis­tente Liste zu erzeugen.

Das bedeu­tet auch: nicht nur gab es mit Sicher­heit in Ham­burg seit dem 7. Okto­ber 2023 mehr Fälle der Art, wie wir sie zusam­men­ge­tra­gen haben. Son­dern Anti­se­mi­tis­mus bedient sich im gegen­wär­ti­gen kul­tu­rel­len Klima noch wei­te­rer Sujets und Tech­ni­ken. Dass sie nicht immer ein­deu­tig als anti­se­mi­tisch erkenn­bar sind, ist dabei durch­aus beab­sich­tigt – und Teil des Pro­blems im Umgang mit dem Anti­se­mi­tis­mus. Er ist nach Ausch­witz in der BRD – noch – mit einem öffent­li­chen Tabu belegt und wird eher indi­rekt geäu­ßert. Die Kom­mu­ni­ka­tion auf Umwe­gen, in Codes, Schlag­wor­ten und auf Ein­ver­ständ­nis zie­len­den Andeu­tun­gen dient dazu, die­ses Tabu zu umge­hen. Kaum jemand bezeich­net sich selbst als Anti­se­mi­ten. Im Gegen­teil wird der Hin­weis auf anti­se­mi­ti­sche Gehalte und Wir­kun­gen in der Pra­xis allzu oft als „Anti­se­mi­tis­mus­vor­wurf“ abge­wehrt.[3]

Schluss­fol­ge­run­gen

Unsere Liste bestä­tigt die poli­ti­sche Ein­schät­zung Rebecca Vanee­vas: bei den von uns recher­chier­ten Fäl­len han­delt es sich, soweit erkenn­bar, viel­fach um selbst­er­klärt „pro-palästinensisch“, also natio­na­lis­tisch und/oder anti­im­pe­ria­lis­tisch gerecht­fer­tigte Taten. Der rechts­extreme Anti­se­mi­tis­mus mit posi­ti­vem Bezug auf den Natio­nal­so­zia­lis­mus oder als Rela­ti­vie­rung des Holo­causts sowie ein All­tags­an­ti­se­mi­tis­mus aus der „Mitte der Gesell­schaft“ (z.B. Juden seien „ganz anders als wir“) spie­len aller­dings nach wie vor eine nicht zu unter­schät­zende Rolle.

In der unten­ste­hen­den Tabelle haben wir nicht alle 187 Fälle auf­ge­nom­men, son­dern nur exem­pla­ri­sche, die die ver­schie­de­nen For­men des Anti­se­mi­tis­mus und ihre Gewich­tung in Ham­burg mög­lichst gut illus­trie­ren. Der voll­stän­dige Daten­satz kann auf Anfrage zugäng­lich gemacht werden.

Unsere Samm­lung für das Jahr nach dem 7. Okto­ber 2023 kann aus den genann­ten Grün­den kei­nen Anspruch auf Voll­stän­dig­keit oder Reprä­sen­ta­ti­vi­tät erhe­ben. Die aller­meis­ten Vor­fälle wer­den nie gemel­det oder öffent­lich bekannt. Daher möch­ten wir Sie herz­lich bit­ten: Brin­gen Sie ent­spre­chende Fälle ggf. zur Anzeige und mel­den Sie sie in jedem Fall einer Mel­de­stelle wie dem Bun­des­ver­band RIAS. Falls Sie von wei­te­ren Vor­fäl­len im zurück­lie­gen­den Jahr in Ham­burg wis­sen, berich­ten Sie uns bitte davon. Wir wer­den die Chro­nik dann aktualisieren.

Ein gemein­sa­mes Pro­jekt von Untie­fen und dem Bil­dungs­ver­ein Bag­rut e.V., bear­bei­tet von Felix Breu­ning und Flo­rian Hessel.

Wann?Was?Wo?Quelle
10/8/2023Anti­se­mi­ti­scher Kom­men­tar auf der Instgram-Seite von Bag­rut e.V.: »Dann ver­pisst euch ein­fach aus deren Gebie­ten! Wieso müsst ihr wei­ter­hin sol­che kolo­nia­lis­ten [sic!] sein! Apart­heids Süd­afrika und Nazi Deutsch­land kön­nen von euch noch ne Menge ler­nen [wei­nen­des Emoji]«Otten­senInsta­gram
10/9/2023Über­griff auf isra­els­o­li­da­ri­sche Demons­tran­tin­nen »In Ham­burg sind nach einer Soli­da­ri­täts­kund­ge­bung für Israel zwei Teil­neh­me­rin­nen ange­grif­fen wor­den. […] Die bei­den 32 und 47 Jahre alten Frauen waren nach der Kund­ge­bung mit dem Abbau beschäf­tigt, als sie plötz­lich atta­ckiert wur­den. Zwei junge Män­ner grif­fen sie von hin­ten an, schlu­gen und tra­ten auf die Frauen ein. Dabei ris­sen sie ihnen auch eine Israel-Flagge aus der Hand und tram­pel­ten auf ihr herum.«Alt­stadtNDR
10/20/2023Anti­se­mi­ti­sche Flyer in St. Georg »Einige Men­schen ver­teil­ten dort [vor den gut besuch­ten Moscheen im Stadt­teil St. Georg] Flyer, auf denen die Angriffe Isra­els auf den Gaza-Streifen kri­ti­siert wur­den.« Dar­auf ver­wen­dete Aus­drü­cke sind u.a.: »Ver­bre­che­ri­sche Zio­nis­ten«, »Zio­nis­ten­ge­bilde«, »Geno­zid«. (Anm.: Der Begriff »Zio­nis­ten­ge­bilde« ruft das anti­se­mi­ti­sche Kli­schee auf, Juden wären nicht zum Auf­bau eines »nor­ma­len« Staa­tes fähig und/oder spricht dem Staat grund­sätz­lich das Exis­tenz­recht ab.)St. GeorgNDR
10/20/2023NDR-Moderator und Centralcongress-Betreiber Michel Abdol­lahi nutzt in IG-Video anti­se­mi­ti­sche Ste­reo­type, behaup­tet u.a., Israel wolle den Men­schen im Gaza-Streifen »bis zum letz­ten Bluts­trop­fen alles wegnehmen«. Alt­stadtX (Twit­ter)
10/23/2023Aus­schrei­tun­gen und Paro­len in Har­burg: »Am Mon­tag­abend hat es in Hamburg-Harburg Ran­dale von Jugend­li­chen und jun­gen Män­nern gege­ben. Vor Ort wur­den rechts­extreme und isra­el­feind­li­che Bot­schaf­ten ver­brei­tet. Nach Anga­ben der Poli­zei ver­sam­mel­ten sich ab 18 Uhr rund 40 Jugend­li­che und junge Män­ner am Har­bur­ger Ring. Bis 1 Uhr nachts sol­len sie dort für Unruhe gesorgt haben. Unter ande­rem spray­ten die Jugend­li­chen im Alter zwi­schen 13 und 21 Jah­ren isra­el­feind­li­che Paro­len und zün­de­ten offen­bar auch Böl­ler. Die Poli­zei spricht von poli­tisch moti­vier­ten Straf­ta­ten im Zusam­men­hang mit den Nahost-Konflikt. Vor Ort äußer­ten sich einige Jugend­li­che rechts­extrem und isra­el­feind­lich. Andere sag­ten, sie woll­ten ein Zei­chen dafür set­zen, dass sie auf der Seite von Paläs­tina stün­den und sich soli­da­risch zeigen.«Har­burgNDR
10/24/2023Pla­kat­zer­stö­rung an der Roten Flora: »Unbe­kannte [haben] das rie­sige Soli­da­ri­täts­pla­kat [für die Opfer des Mas­sa­kers am 7. Okto­ber] an der Flora-Fassade über­klebt, die Worte „Jüdin­nen“ und „Juden“ wur­den ent­fernt. Viele Betrach­ter sind empört.«Stern­schanzeMopo
10/27/2023Die orga­ni­sie­ren­den Grup­pen einer geplan­ten »Anti-Repressionsparty« im Cen­tro Sociale (u.a. das Offene Anti­fa­schis­ti­sche Tref­fen Ham­burg (OAT)), wol­len sich nicht von den mit­or­ga­ni­sie­ren­den »Young Struggle« distan­zie­ren, obwohl diese zuvor auf ihrer Web­site einen Arti­kel ver­öf­fent­licht haben, der das Mas­sa­ker vom 07. Okto­ber 2023 als »Gefäng­nis­aus­bruch des paläs­ti­nen­si­schen Vol­kes« ver­harm­lost und legi­ti­miert. Das Nutzer:innenplenum sagt dar­auf­hin die Ver­an­stal­tung ab.Stern­schanzeJungle World
10/28/2023Isla­mis­ti­sche Ver­samm­lung in St. Georg: »Etwa 500 Men­schen haben sich am Sonn­abend auf dem Stein­damm im Ham­bur­ger Stadt­teil St. Georg ver­sam­melt. Angeb­lich um für die Paläs­ti­nen­ser und Paläs­ti­nen­se­rin­nen im Gaza­strei­fen zu demons­trie­ren. Doch hin­ter dem gewalt­sa­men Pro­test steck­ten offen­bar radi­kale Isla­mis­ten. […] Die aus­schließ­lich männ­li­chen Demons­tran­ten hät­ten außer­dem dazu auf­ge­ru­fen, auch in Deutsch­land die Scha­ria, das isla­mi­sche Recht, ein­zu­füh­ren. Dar­über hin­aus sei die Rede davon gewe­sen, das Blut der Paläs­ti­nen­ser und Paläs­ti­nen­se­rin­nen in Gaza auch hier in Deutsch­land zu rächen.«St. GeorgNDR
11/1/2023Anruf in der KZ-Gedenkstätte Neu­en­gamme: »Anru­fer mel­det sich mit ›Adolf Hit­ler‹ und ver­stell­ter Stimme… ›Steht denn die Dusche noch?‹, auf Nach­frage Wiederholung«Neu­en­gammeMit­tei­lung Gedenkstätte
11/9/2023Ganz­sei­ti­ger Ein­trag “Free Pal­es­tine” im Besu­cher­buch der Gedenk­stätte Bul­len­hu­ser Damm (erin­nert an 20 jüdi­sche Kin­der und min­des­tens 28 Erwach­sene, die am 20. April 1945 im Kel­ler des Gebäu­des von SS-Männern ermor­det wurden)MitteZeug*in
11/11/2023Bom­ben­dro­hung gegen Jüdi­sches Bil­dungs­zen­trum (»Vor dem Jüdi­schen Bil­dungs­zen­trum an der Rothen­baum­chaus­see hat ein unbe­kann­ter Mann per App ein Taxi bestellt; über die Chat­funk­tion schickt er dem Fah­rer meh­rere Nach­rich­ten, behaup­tet unter ande­rem, er habe Spreng­stoff in der Syn­agoge Hohe Weide plat­ziert; er spricht von angeb­li­chen erfolg­ten Straf­ta­ten, droht Taten an. Der Taxi­fah­rer alar­miert die Poli­zei. Auf dem von der Poli­zei bewach­ten Gelände der Syn­agoge befin­det sich zu die­ser Zeit eine kleine Gruppe jüdi­scher Men­schen; sie ver­brin­gen nach Abendblatt-Informationen eine Stunde vol­ler Angst in einem Kel­ler, bis die Poli­zei Ent­war­nung gibt. […] Es hät­ten sich keine Hin­weise auf ›kon­krete Gefähr­dungs­si­tua­tio­nen‹ erge­ben, teilt die Poli­zei auf Anfrage mit. Gleich­wohl lau­fen straf­recht­li­che Ermitt­lun­gen, geführt von der Staats­schutz­ab­tei­lung des Landeskriminalamts.«Rother­baumAbend­blatt
11/21/2023Anti­se­mi­ti­sche, natio­nal­so­zia­lis­ti­sche Schmie­re­rei (»NSDAP«) auf Pla­kat­wand, die über jüdi­sches Leben (»Ist Cha­nukka das jüdi­sche Weih­nach­ten?«) informiertAltonaX (Twit­ter)
11/26/2023Groß­flä­chig rote Farbe auf das Syn­ago­gen­mahn­mal und Geste­cke in Har­burg gesprühtHar­burgZeug*in
1/19/2024Rote-Hände Graf­fito in Kom­bi­na­tion mit einer Paläs­ti­na­flagge. (Die roten Hände bezie­hen sich posi­tiv auf einen Lynch­mord an israe­li­schen Sol­da­ten zu Beginn der Zwei­ten Inti­fada im Jahr 2000)St. PauliZeug*in
1/25/2024Paläs­ti­na­flagge mit Auf­schrift »Free Gaza from Wie­der­gut­ma­chung« (Der Slo­gan for­dert ein Ende der Auf­ar­bei­tung der NS-Vergangenheit und/ oder sug­ge­riert, diese würde im Dienste Isra­els bzw. gegen die Paläs­ti­nen­ser geschehen)Win­ter­hudeZEIT/Elbvertiefung News­let­ter
1/25/2024Key­note der antizionistisch-antisemitischen Kli­ma­ak­ti­vis­tin Zamzam Ibra­him im Rah­men der Klima-Tagung »How Low Can We Go« auf Kamp­na­gel. Ibra­him unter­stützte zuvor bekann­ter­ma­ßen die anti­se­mi­ti­sche BDS-Kampagne gegen Israel, setzte Israel mit dem NS gleich und legi­ti­mierte öffent­lich den Ter­ror von Hamas und Huthi-Rebellen. Sie trat u.a. im ira­ni­schen Staats­fern­se­hen auf.Win­ter­hudeBericht Untie­fen
1/25/2024Gegen­de­mons­tra­tion zu einer isra­els­o­li­da­ri­schen Demons­tra­tion vor Kamp­na­gel, skan­diert wird laut der ZEIT u.a. »Free Pal­es­tine from Wiedergutmachung«Win­ter­hudeBericht Untie­fen, ZEIT Newsletter
1/28/2024»Der Ver­ur­teil­ten wurde vor­ge­wor­fen, am 28. Januar 2024 im Valen­tins­kamp einer pro-israelischen Ver­samm­lungs­teil­neh­me­rin u.a. eine mit­ge­führte Israel-Flagge ent­ris­sen zu haben. Im Straf­be­fehls­wege wurde sie zu einer Geld­strafe von 30 Tages­sät­zen wegen Nöti­gung verurteilt.«Neu­stadtMit­tei­lung Staatsanwaltschaft
1/31/2024Im Rah­men einer Podi­ums­dis­kus­sion in den Bücher­hal­len tritt ein Stö­rer auf, belei­digt nach Auf­for­de­run­gen, den Raum zu ver­las­sen, die jüdi­schen Dis­ku­tan­tin­nen als »Nazis« und pro­kla­miert, er lasse sich von ihnen »nicht ins KZ sper­ren«. Ein phy­si­scher Über­griff kann vom Mode­ra­tor ver­hin­dert werden.St. GeorgZeug*in
2/4/2024Paro­len an einem Pri­vat­haus: »We stand with Pal­es­tine – Geno­cide apo­lo­gists – zio­nists + other racists not wel­come«; nach Mit­tei­lung zuvor bereits ange­bracht: »Isra­els Staats­rä­son: Völkermord!«Lok­stedtZeug*in
2/8/2024Stö­rung der Jah­res­aus­stel­lungs­er­öff­nung der HfbK und Mord­dro­hung gegen Besu­cher: »HFBK-Präsident Mar­tin Köt­te­ring hatte gerade mit sei­ner Eröff­nungs­rede begon­nen, als plötz­lich Flug­blät­ter durch die Ein­gangs­halle flo­gen und eine Gruppe von circa zehn Men­schen ›Free Pal­es­tine‹ (deutsch: Befreit Paläs­tina) skan­dierte. Als jener Besu­cher sich dar­auf­hin ent­schied, die Ver­an­stal­tung zu ver­las­sen, und beim Hin­aus­ge­hen mit den Wor­ten ›from the Hamas Mur­ders‹ (deutsch: von den Hamas-Mördern) auf die Rufe reagierte, wurde er von einem der Anwe­sen­den mit dem Tod bedroht. Der Unbe­kannte hatte auf die Aus­sage des Besu­chers mit der Dro­hung ›I will fol­low and kill you‹ (Ich werde dich ver­fol­gen und töten) reagiert und sein Opfer damit erreicht.«Barmbek-SüdAbend­blatt
2/9/2024Ver­let­zung eines Stu­die­ren­den an der Uni Ham­burg: »Ein jüdi­scher Stu­die­ren­der der Uni­ver­si­tät Ham­burg [wurde] bei einem Hand­ge­menge an der Hand ver­letzt. […] Nach Infor­ma­tio­nen des Abend­blatts kam es zu dem Hand­ge­menge wegen pro-palästinensischer Flug­blät­ter, die in der Mensa ver­teilt wor­den waren. Der jüdi­sche Stu­die­rende sam­melte diese ein, der Flug­blatt­ver­tei­ler kon­fron­tierte ihn; es kam zum Streit, dann zum Geran­gel – bei die­sem Hand­ge­menge wurde der Stu­die­rende an der Hand ver­letzt.« Der Betrof­fene wurde zudem als »Zio­nist« beschimpft.Rother­baumAbend­blatt; Zeug*in
2/19/2024Heil Hitler‹-Schmiererei an Wand der Haupt­aus­stel­lung der KZ-Gedenkstätte NeuengammeNeu­en­gammeMit­tei­lung Gedenkstätte
3/2/2024Belei­di­gung auf der Mön­cke­berg­straße: »Dem Ver­ur­teil­ten wurde vor­ge­wor­fen, am 2. März 2024 auf der Mön­cke­berg­straße die Teil­neh­mer einer Mahn­wa­che für Israel u.a. als „Scheiß Juden“ beschimpft zu haben. Er wurde des­halb wegen Volks­ver­het­zung und Belei­di­gung zu einer Geld­strafe von 120 Tages­sät­zen verurteilt.«Alt­stadtMit­tei­lung Staatsanwaltschaft
4/10/2024Trans­pa­rent auf einer pro-palästinensischen Demons­tra­tion: »Free Gaza from Wiedergutmachung«Zeug*in;
4/15/2024Anti­se­mi­ti­scher und isra­el­feind­li­cher Shit­s­torm gegen den Ver­an­stal­ter des unab­hän­gi­gen Musik­fes­ti­vals »Booze Cruise«St. PauliJungle World
4/27/2024Isla­mis­ti­sche Demo der Gruppe Mus­lim Inter­ak­tiv (Tarn­or­ga­ni­sa­tion der ver­bo­te­nen Hizb ut-Tahrir) am Stein­damm, u.a. For­de­rung nach einem Kali­fat in Deutschland.St. GeorgZeug*in
4/28/2024Zahl­rei­che Pla­kate der Par­tei DIE GRÜNEN mit »Zio­nis­mus = Faschis­mus« beschmiertEims­büt­telZeug*in
5/2/2024Aktivist*in »Heal d Wrld« filmt als Insta­gram Reel in einem Edeka im Grin­del­vier­tel »Hass-Avocados« mit der Her­kunft Israel. Das Preis­schild ist mit »Isra­Hell« beschmiert und mit einem »Fuck Zionism«-Sticker beklebt.Rother­baumHam­bur­ger Initia­tive gegen Antisemitismus
5/3/2024Graf­fito rotes Ziel­drei­eck (Hamas-Propaganda) und Parole »All Eyes on Gaza«St. PauliInsta­gram
5/6/2024Ein­rich­tung eines »Protest-Camps« auf der Moor­weide (Nähe Uni­ver­si­tät) unter Betei­li­gung der palästinensisch-nationalistischen Gruppe »Thawra«. Aus dem Camp gehen bis Sep­tem­ber 2024 ver­schie­dene anti­se­mi­ti­sche Aktio­nen her­vor (siehe u.a. Ein­trag »Tät­li­cher Angriff…« am 08.05.2024). Das rote Drei­eck der Hamas-Propaganda ist immer wie­der am Camp und im Umfeld zu sehen.Rother­baumZEIT; taz; Bürgerschafts-Drucksache 22/15817
7/5/2024Sti­cker mit dem Motiv eines Pan­zers: »Wider­stand ist Leben. Pan­zer für Palestina.«MitteZeug*in
5/7/2024Graf­fito der geno­zi­da­len Parole »From the River to the Sea«Rother­baumInsta­gram
5/8/2024Tät­li­cher Angriff auf ein Vor­stands­mit­glied der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft nach einer Ver­an­stal­tung zu Anti­se­mi­tis­mus an der Uni­ver­si­tät Ham­burg; laut Pres­se­be­rich­ten ist eine Täte­rin Mit­an­mel­de­rin des „Protest-Camps“Rother­baumZEIT
5/8/2024Auf einer Kund­ge­bung des lin­ken »Bünd­nis 8. Mai« auf dem Rat­haus­markt wird eine Teil­neh­me­rin, die ein Pla­kat hoch­hält (»Bring them home now«) von Men­schen aus dem »Jugend­block« (bei dem auch »Young Struggle« mit­läuft) ange­grif­fen. Ihr Pla­kat wird ihr aus den Hän­den geris­sen. Auch ein Anti­fa­schist, der zu ver­mit­teln ver­sucht, wird bei­seite gedrängt. Die Kund­ge­bungs­lei­tung bedau­ert den Zwischenfall.Alt­stadtZeug*in
5/11/2024Isla­mis­ti­sche Demo der Gruppe Mus­lim Inter­ak­tiv (Tarn­or­ga­ni­sa­tion der ver­bo­te­nen Hizb ut-Tahrir) am Stein­damm, u.a. For­de­rung nach einem Kali­fat im Nahen Osten (ca. 2300 Teilnehmer)St. GeorgHaga­lil
5/13/2024Auf das Graf­fito einer paläs­ti­nen­si­schen Fahne wurde »Isla­mic Jihad muss sein« geschmiertRother­baumInsta­gram
5/14/2024Aktion vor dem auto­no­men, besetz­ten Zen­trum Rote Flora, gestreamt und bewor­ben von pro-russischen, pro-islamistischen Medi­en­ka­nä­len (Red­Stream; Salah Said). Legi­ti­miert wird die Aktion mit einer grund­sätz­li­chen Ableh­nung der Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik, die von der Roten Flora zu ver­schie­de­nen Anläs­sen for­mu­liert wurde. Diese wird als »anti­deutsch« diffamiert.Stern­schanzetaz
5/14/2024Pla­kat im »Protest-Camp« Moor­weide (»Zio­nism is Racism is Fascism«)Rother­baumZEIT/Elbvertiefung News­let­ter
5/14/2024Auf­kle­ber zur Erin­ne­rung an israe­li­sche Gei­sel mit »Israel Ter­ror« beschmiertMitteInsta­gram
5/15/2024»Nakba«-Demonstration unter Betei­li­gung der palästinensisch-nationalistischen Gruppe Thawra. Laut ZEIT blei­ben bei den Reden »die Opfer des Ter­ror­an­schlags vom 7. Okto­ber uner­wähnt. Auf der Bühne ist immer wie­der von ›Besat­zung, Kolo­nia­li­sie­rung und Geno­zid‹ die Rede. Ein­mal wird Israel als ›geno­zi­da­ler Staat‹ bezeichnet.«St. GeorgZEIT
5/15/2024Anti­se­mi­ti­sche Paro­len auf dem Cam­pus der Hoch­schule für ange­wandte Wis­sen­schaf­ten (HAW). Die Pres­se­stelle der Uni­ver­si­tät schreibt: »Heute Mor­gen waren sie auf dem Cam­pus am Ber­li­ner Tor zu lesen: Mit Sprüh­farbe an den Mau­ern hin­ter­las­sene Paro­len zum Krieg in Gaza mit anti­se­mi­ti­schem Hin­ter­grund. Die Sach­be­schä­di­gung wurde zur Anzeige gebracht, die Paro­len doku­men­tiert, nun wer­den sie ent­fernt bzw. überstrichen.«St. GeorgHAW
5/18/2024Auf­kle­ber mit rotem Drei­eck angebrachtMitteInsta­gram
5/18/2024Anti­se­mi­ti­sche Tafel des Künst­ler­kol­lek­tivs »New Red Order« in der Aus­stel­lung »SURVIVAL IN THE 21ST CENTURY« in den Deich­tor­hal­len. Bericht des NDR: »Auf einer Tafel neben dem eigent­li­chen Kunst­werk wird Israel die allei­nige Schuld am Nahost-Konflikt gege­ben und mit Nazi-Deutschland in eine Reihe gestellt. […] es ist nichts ande­res als eine anti­se­mi­ti­sche Ver­schwö­rungs­er­zäh­lung, die da in der Aus­stel­lung hängt. Der Mas­sen­mord an den Indi­ge­nen in den USA, die Shoa in Nazi­deutsch­land und die israe­li­sche Poli­tik von heute seien struk­tu­rell alles das­selbe. Israel trage allein die Ver­ant­wor­tung für den Nah­ost­kon­flikt. Vom Hamas-Terror kein Wort. Von den ira­ni­schen Aus­lö­schungs­fan­ta­sien keine Silbe.«Alt­stadtNDR
5/19/2024Anti­se­mi­ti­sches und isra­el­feind­li­ches Pla­kat in Plan­ten un Blo­men (»Zio­nis­mus = Kolo­nia­lis­mus, Ras­sis­mus, Terrorismus.«)MitteInsta­gram
5/20/2024Anti­se­mi­ti­sches und isra­el­feind­li­ches Pla­kat am Kul­tur­zen­trum B5 (»Isra­els Geno­zid, 83% der Grund­was­ser­brun­nen […] zerstört.«)St. PauliInsta­gram
5/24/2024Pro-Palästina Akti­vis­ten und Akti­vis­tin­nen hat­ten im Gebäude der Hoch­schule für bil­dende Künste (HfbK) anti­se­mi­ti­sche Graf­fi­tis und Pla­kate ange­bracht. Die Hoch­schule hat diese entfernt.Barmbek-SüdNDR/Meldung Ham­burg Journal
5/27/2024Kund­ge­bung Thawra unter dem Motto »Israel sofort ent­waff­nen« bzw. »Boy­kot­tiert Israel«St. GeorgHam­bur­ger Initia­tive gegen Antisemitismus
5/28/2024Insta­gram Story der Gruppe Thawra aus dem »Protest-Camp«, mit Auf­kle­ber »Free Gaza from Ger­man Antifa!«Rother­baumHam­bur­ger Initia­tive gegen Antisemitismus
5/30/2024Auf Insta­gram fil­men sich Aktivist*innen von Thawra, wie sie im Auto über die Grin­del­al­lee fah­ren, aus den Sei­ten­fens­tern hal­ten sie eine paläs­ti­nen­si­sche Fahne, aus dem Auto­ra­dio tönt der Song »Free Pal­es­tine« vom Inter­pre­ten SEB!, in dem das Ende Isra­els her­bei­ge­sehnt wird. Rother­baumHam­bur­ger Initia­tive gegen Antisemitismus
5/30/2024Holo­caust­leug­nung an der Uni­ver­si­tät Ham­burg: »Ein Mann soll auf dem Cam­pus der Uni­ver­si­tät Ham­burg volks­ver­het­zende Äuße­run­gen gemacht haben. Was bekannt ist. Im Inter­net kur­siert ein Video des Vor­falls. Dar­auf ist zu hören, wie der Mann die Frage, ob er den Holo­caust leugne, bejaht. In einer ande­ren Auf­nahme sagt er, Adolf Hit­ler habe ver­sucht, Juden zu schüt­zen. Laut Pres­se­stelle der Poli­zei ermit­telt das Lan­des­kri­mi­nal­amt gegen ihn. Der Vor­fall soll sich gegen Mit­tag vor dem Audi­max der Uni­ver­si­tät ereig­net haben. Auf Fotos von Stu­die­ren­den ist zu sehen, wie der 43-Jährige mit drei Flag­gen vor dem Gebäude steht: mit einer Isra­el­flagge, einer Reichs­flagge mit David­stern und einer Fahne, auf der ein Eiser­nes Kreuz abge­bil­det ist. Eine Gruppe von Stu­die­ren­den soll den mut­maß­li­chen Holo­caust­leug­ner ange­spro­chen haben, dabei sei auch das Video ent­stan­den, erklärt die Gruppe Stu­dents for Pal­es­tine Ham­burg, die die Auf­nah­men online ver­brei­tet hat. Laut einer Pres­se­spre­che­rin der Poli­zei wurde der Mann von Stu­die­ren­den angezeigt.«Rother­baumEims­büt­te­ler Nachrichten
6/2/2024Ehren­amt­li­cher Guide der Stif­tung His­to­ri­sche Gedenk­stät­ten und Lern­orte berich­tet von anti­se­mi­ti­schen Äuße­run­gen einer Besu­che­rin in der Gedenk­stätte FuhlsbüttelFuhls­büt­telMit­tei­lung Gedenkstätte
6/3/2024Trans­pa­rente mit roten Ziel­drei­ecken (der Hamas-Propaganda) sowie »Yal­lah Inti­fada« am »Protest-Camp« MoorweideRother­baumInsta­gram
6/6/2024Michel Abdol­lahi sug­ge­riert als Mode­ra­tor auf einer auf Kampnagel-Veranstaltung zu »Can­celn und Boy­kott« eine pro­is­rae­li­sche Lobby in Deutsch­land, die eine mccar­thy­is­ti­sche Dis­kurs­ver­en­gung betreibe. Raunt ver­schwö­rungs­ideo­lo­gisch, dass Thea­ter­ma­cher im Fokus einer »poli­ti­schen Kam­pa­gne« stün­den »weil bestimmte Insti­tu­tio­nen Sorge haben, dass hier etwas apas­siert, was ihnen nicht passt«. Jeder Pro­test dage­gen würde als anti­se­mi­tisch dif­fa­miert etc. Die isra­els­o­li­da­ri­sche Kund­ge­bung gegen Zamzam Ibra­him vom 25.01.2024 auf Kamp­na­gel bezeich­net er als »Neo­na­zis in Israelfahnen«.Win­ter­hudeZeug*in
6/8/2024Thawra Akti­vist »einfach_tarik« mar­kiert Olaf Scholz in Insta­gram Story mit rotem Drei­eck; schreit ihm »Kin­der­mör­der« zuonlineHam­bur­ger Initia­tive gegen Antisemitismus
6/9/2024Insta­gram Story von Students4palestinehh doku­men­tiert »Zio­nism = Racism« Graf­fiti an der UHH GebäudeRother­baumHam­bur­ger Initia­tive gegen Antisemitismus
6/13/2024Sti­cker zur Erin­ne­rung an die Gei­seln in Gaza wurde mit Sti­cker »Jüdi­sche Stimme – Juden gegen Geno­zid« überklebtMitteHam­bur­ger Initia­tive gegen Antisemitismus
6/26/2024Unan­ge­mel­dete Demons­tra­tion gegen­über dem Ein­gang Ost­flü­gel Haupt­ge­bäude UHH gegen die dort statt­fin­dende Ver­an­stal­tung zu »Anti­se­mi­tis­mus & Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus aus jüdi­scher Per­spek­tive«. Teil­neh­mende rufen laut­stark Paro­len, u.a. »Unsere Kin­der, Frauen, Män­ner wol­len leben – Uni Ham­burg ist dage­gen« und »Gegen Zio­nis­mus – gegen Faschismus«.Rother­baumZeug*in
6/26/2024Stö­run­gen der Ver­an­stal­tung »Anti­se­mi­tis­mus & Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus aus jüdi­scher Per­spek­tive«: »Offen­bar hat­ten sich im Hör­saal meh­rere Akti­vis­ten ver­teilt. Bei sich tru­gen sie kleine Laut­spre­cher­bo­xen, aus denen sie dann – einer nach dem ande­ren – etwas abspiel­ten. Ob es sich dabei um Paro­len han­delte, sei kaum zu ver­ste­hen gewe­sen, erzählt die schon erwähnte Besu­che­rin, die eben­falls anonym blei­ben möchte. ›Es war in ers­ter Linie laut und plär­rend.‹ Immer wie­der habe die Ver­an­stal­tung unter­bro­chen wer­den müs­sen. Die von der Uni­ver­si­tät enga­gier­ten Sicher­heits­leute hät­ten einen Stö­ren­den nach dem ande­ren aus dem Saal geführt. Dann sei etwas gesche­hen, das für einen ›Schreck­mo­ment‹ im Publi­kum gesorgt habe: In den Rei­hen seien zwei Män­ner mit Paläs­ti­nen­ser­tü­chern auf­ge­stan­den und lang­sam nach vorne gegan­gen. Dort hät­ten sie sich in der ers­ten Reihe neben einem wei­te­ren Akti­vis­ten nie­der­ge­las­sen – direkt vor dem Red­ner­pult. Einige im Publi­kum hät­ten geru­fen: ›Jenny, pass auf!‹ Es sei eine ganz offen­sicht­li­che Droh­ge­bärde gewe­sen, so die erwähnte Besu­che­rin gegen­über dem Abendblatt.«
Die Sicher­heits­leute hät­ten sich dann nahe bei den drei Män­nern pos­tiert. Diese seien sit­zen geblie­ben. Die sich an den Vor­trag anschlie­ßende Gesprächs­runde habe einer der Män­ner mit Zwi­schen­ru­fen gestört. Als die Ver­an­stal­tung endete, seien einige Besu­cher gebe­ten wor­den, den Saal über einen Sei­ten­ein­gang zu ver­las­sen.« (Abend­blatt)
Rother­baumAbend­blatt
6/26/2024Einer Per­son, die ein T‑Shirt mit hebräi­scher Auf­schrift trägt, wird am Damm­tor­bahn­hof von einem Mann mehr­mals der Hit­ler­gruss gezeigt.Rother­baumBetrof­fe­ner
6/28/2024Pla­kate zur Erin­ne­rung an Hamas Gei­seln wur­den abge­ris­sen und beschädigtOtten­senZeug*in
7/1/2024Auf­kle­ber »Bring them home to Europe! Deco­lo­nize Pal­es­tine« (auf rotem Dreieck)Eims­büt­telInsta­gram
7/3/2024Demons­tra­tion Haupt­ein­gang Uni­ver­si­tät, nähe Vor­le­sungs­reihe zu JudenfeindschaftRother­baumZeug*in
7/8/2024Rotes Drei­eck auf dem »Thawra Kalen­der« (Insta­gram)Rother­baumInsta­gram
7/10/2024Demons­tra­tion Haupt­ein­gang Uni­ver­si­tät, nähe Vor­le­sungs­reihe zu Juden­feind­schaft; ca. 150 Per­so­nen; Paro­len u.a. »Gegen den Faschis­mus! Gegen Anti­se­mi­tis­mus! Gegen Zionismus!«Rother­baumZeug*in
7/15/2024Angriff, anti­se­mi­ti­sche Belei­di­gung: »Die 56 Jahre alte Fuß­gän­ge­rin hatte sich über die Rad­fah­re­rin, die auf dem Geh­weg fuhr, geär­gert und sie ange­spro­chen. Der Poli­zei sagte sie spä­ter, die Rad­fah­re­rin habe sie dar­auf­hin zunächst anti­se­mi­tisch belei­digt. Und dann nach ihrer mar­kan­ten Hals­kette gegrif­fen und sie gewürgt. Die Rad­fah­re­rin soll auch noch auf die bereits am Boden lie­gende Fuß­gän­ge­rin ein­ge­tre­ten haben.« (NDR)Bah­ren­feldNDR
7/17/2024Demons­tra­tion von Thawra von der Roten Flora nach Altona; auf Trans­pa­ren­ten steht u.a.: »Inti­fada Gene­ra­tion«, »Das ein­zig rote an der Flora ist das Blut an ihren Händen«.Stern­schanzeInsta­gram; Abend­blatt; Zeug*innen
7/17/2024Eine Kund­ge­bung gegen die zuvor genannte Demo (Rote Flora nach Altona) wird atta­ckiert. Ein Mann ver­sucht, eine Israel Fahne zu erobern, stürzt sich zwi­schen die TN der Kund­ge­bung und ver­letzt TN. Er wird von der Poli­zei, die die Kund­ge­bung absi­chert, festgenommen.Stern­schanzeZeug*in
7/26/2024Graf­fiti »Free Gaza« und Ham­mer und Sichel an einem von ortho­do­xen Juden bewohn­ten HausEims­büt­telInsta­gram; Aus­kunft Zeug*in
7/26/2024Schmie­re­rei an der Mei­nungs­wand der Haupt­aus­stel­lung der KZ-Gedenkstätte Neu­en­gamme: »Man muss wohl die Öfen wie­der anschmeißen«Neu­en­gammeMit­tei­lung Gedenkstätte
8/3/2024Auf­tritt der u.a. anti­se­mi­ti­schen, ver­schwö­rungs­theo­re­ti­schen Deutsch-Rap-Crew »Rap­bel­li­ons« in BramfeldBramfeldInsta­gram
9/19/2024In einem Auf­ruf von »ahrar.de« (Insta­gram) zu einer Demons­tra­tion am 5. Okto­ber wird das Mas­sa­ker vom 7. Okto­ber rela­ti­viert und gerecht­fer­tigt, Israel dämo­ni­siert, die Zer­stö­rung Isra­els gefor­dert (»Wir wer­den nicht auf­hö­ren, wir wer­den nicht ruhen, bis jeder Zen­ti­me­ter Paläs­ti­nas frei ist.« Alt­stadtInsta­gram
10/5/2024Palästinensisch-nationalistische »Mas­sen­de­mons­tra­tion« nach Auf­ruf von »ahrar.de« (siehe Ein­trag 19.09.2024); u.a. Pla­kat »Deut­sche Staats­rä­son: Paläs­ti­nen­ser und Liba­ne­sen müs­sen heute für die deut­schen Ver­bre­chen von damals büßen. WARUM???«Alt­stadtZeug*in
10/5/2024Wäh­rend der palästinensisch-nationalistischen »Mas­sen­de­mons­tra­tion« ver­su­chen ca. 20 junge Män­ner zur »Mahn­wa­che für Israel« durch­zu­bre­chen, wird von der Poli­zei ver­hin­dert, Ord­ner grei­fen einAlt­stadtZeug*in
10/5/2024Im Umfeld der palästinensisch-nationalistischen »Mas­sen­de­mons­tra­tion« wer­den Sti­cker mit dem David­stern in den ein rotes Drei­eck inte­griert ist und der Auf­schrift »Libe­rate Juda­ism from Zionism»gefundenAlt­stadtInsta­gram

AnhangErläu­te­run­gen

Bei­spiel 1: 

18.10.2023Am Mitt­woch sind in der Ham­bur­ger Innen­stadt erneut pro-palästinensische Demons­trie­rende auf die Straße gegan­gen. Unter­des­sen wurde das Ver­bot sol­cher Kund­ge­bun­gen bis Sonn­tag ver­län­gert. Auf dem Jung­fern­stieg hat­ten zunächst etwa 20 Men­schen gegen die Angriffe Isra­els pro­tes­tiert – unter ande­rem mit Papp­pla­ka­ten auf denen eine Was­ser­me­lone zu sehen war, das alt­be­kannte Zei­chen der Palästina-Proteste. Vier junge Män­ner wur­den von der Poli­zei in Gewahr­sam genom­men, wie NDR 90,3 berich­tete. Laut Augen­zeu­gen sol­len sie zwei Palästina-Flaggen mit dem Abbild des ira­ki­schen Dik­ta­tors Sad­dam Hus­sein gezeigt haben.« Alt­stadtNDR

In die­sem Fall ste­hen uns keine aus­rei­chen­den Infor­ma­tio­nen für eine Kate­go­ri­sie­rung zur Ver­fü­gung. Es ist aller Erfah­rung nach wahr­schein­lich, dass es im Rah­men die­ser sog. pro-palästinensischen Kund­ge­bung zu die­sem Zeit­punkt zu Israel dämo­ni­sie­ren­den, anti­se­mi­ti­schen Aus­sa­gen kam; das Zei­gen eines Bilds des ehe­ma­li­gen ira­ki­schen Dik­ta­tors Sad­dam Hus­sein, der 1991 im Rah­men des zwei­ten Golf­kriegs Rake­ten auf Israel – das keine Kriegs­par­tei dar­stellte – abfeu­ern ließ, kann so inter­pre­tiert wer­den. Kund­ge­bun­gen stel­len ein demo­kra­ti­sches Grund­recht dar. Wir fol­gen der Sys­te­ma­tik der Recher­che und Infor­ma­ti­ons­stel­len Anti­se­mi­tis­mus (RIAS) und ord­nen ent­spre­chende Ver­samm­lun­gen nur als anti­se­mi­ti­sche Ver­samm­lun­gen ein, wenn „in Reden, Paro­len, auf mit­ge­führ­ten Trans­pa­ren­ten oder in Auf­ru­fen anti­se­mi­ti­sche Inhalte fest­ge­stellt“ wer­den. In die­sem Fall „wird die gesamte Ver­samm­lung als ein anti­se­mi­ti­scher Vor­fall vom Typ ver­letz­ten­des Ver­hal­ten regis­triert. Ereig­nen sich bei oder am Rande einer sol­chen Ver­samm­lung Angriffe oder Bedro­hun­gen, so wer­den diese jeweils als zusätz­li­che anti­se­mi­ti­sche Vor­fälle
doku­men­tiert.“ (RIAS 2024

Bei­spiel 2: 

20.10.2023Isra­el­feind­li­che, ter­ror­re­la­ti­vie­rende Aus­sage gegen­über NDR Kame­ra­team: »Israel hat zuerst Paläs­tina ange­grif­fen und Paläs­tina hat sich ver­tei­digt, mei­ner Mei­nung nach.»St. GeorgNDR

Die­ser Fall wurde von uns nicht als anti­se­mi­tisch kate­go­ri­siert. Die im Inter­view mit dem NDR getä­tigte Aus­sage kann plau­si­bel als Recht­fer­ti­gung anti­jü­di­scher Aggres­sion und des Mas­sa­kers vom 7. Okto­ber inter­pre­tiert wer­den. Aller­dings ste­hen uns nicht genü­gend Infor­ma­tio­nen (ins­be­son­dere zum Gesprächs­ver­lauf und ‑kon­text) zur Ver­fü­gung, die eine seriöse Ent­schei­dung absi­chern wür­den. In der eth­no­zen­tris­ti­schen Wahr­neh­mung zweier homo­ge­ner Kol­lek­tive („Israel hat…“, „Paläs­tina hat…“) liegt eine Logik abso­lu­ter Feind­be­stim­mung, die auch ein Ele­ment des Anti­se­mi­tis­mus darstellt. 

Bei­spiel 3: 

26.07.2024Graf­fiti »Free Gaza« und Ham­mer und Sichel an einem von ortho­do­xen Juden bewohn­ten HausEims­büt­telZeug*in

Die­ser Fall wurde als anti­se­mi­tisch ein­ge­ord­net. Es han­delt sich um eine (gezielte) Sach­be­schä­di­gung, d.h. „die Beschä­di­gung oder das Beschmie­ren jüdi­schen Eigen­tums“ (RIAS 2024). Obwohl der Gehalt der Schmie­re­reien selbst nicht anti­se­mi­tisch ist, wer­den hier prak­tisch deut­sche Bürger:innen jüdi­schen Glau­bens für ein (ver­meint­li­ches) Han­deln des israe­li­schen Staats ver­ant­wort­lich gemacht. Auch die­ser Vor­fall illus­triert exem­pla­risch, wie Anti­se­mi­tis­mus als ein kul­tu­rel­les Klima von Bedro­hung und Aus­schluss von Jüd:innen in Deutsch­land sowie der Recht­fer­ti­gung anti­jü­di­scher Aggres­sion wirkt. 


[1] Stell­ver­tre­tend für alle enga­gier­ten Parlamentarier:innen sei hier die Arbeit von Cansu Özd­emir und Deniz Celik (beide Mit­glie­der der Bür­ger­schafts­frak­tion der Links­par­tei) her­vor­ge­ho­ben, die durch ihre regel­mä­ßi­gen Klei­nen Anfra­gen dabei hel­fen, die not­wen­dige Trans­pa­renz und Öffent­lich­keit im Bereich Hass­kri­mi­na­li­tät herzustellen.

[2] Nach Mit­tei­lung der Pres­se­stelle der Staats­an­walt­schaft Ham­burg arbei­tet die Zen­tral­stelle Staats­schutz mit der Arbeits­de­fi­ni­tion Anti­se­mi­tis­mus der IHRA; ent­spre­chende Bewer­tun­gen könn­ten sich aller­dings im Laufe von Ermitt­lun­gen und Ver­fah­ren ändern.

[3] In die­sem Zusam­men­hang wei­sen wir noch­mals auf den an die­ser Stelle vor eini­gen Wochen erschie­ne­nen Text „Klima der Juden­feind­schaft“ zum Anti­se­mi­tis­mus in Ham­burg von Flo­rian Hes­sel hin; die dort skiz­zier­ten Über­le­gun­gen Begriffe und Ana­ly­sen for­mu­lie­ren einige der Grund­la­gen und Grund­an­nah­men des vor­lie­gen­den Chronik­pro­jekts aus und geben wei­tere Literaturhinweise.

Kein Schlussstrich

Kein Schlussstrich

Das Logis­tik­un­ter­neh­men Kühne+Nagel hat sich im NS erheb­lich an jüdi­schem Eigen­tum berei­chert. Vor zwei Jah­ren löste Kri­tik daran auf dem Har­bourfront Lite­ra­tur­fes­ti­val einen klei­nen Eklat aus. Das Fes­ti­val fällt die­ses Jahr nun aus. Mul­ti­mil­li­ar­där Kühne hin­ge­gen scheint kei­nen Scha­den davon­ge­tra­gen zu haben. Doch das letzte Wort ist noch nicht gespro­chen: In Bre­men gibt es seit einem Jahr ein Mahn­mal; und neue Recher­chen eines renom­mier­ten Jour­na­lis­ten könn­ten die Debatte noch ein­mal anfachen.

Das Mahn­mal in Bre­men mag ver­gli­chen mit der Kühne+Nagel-Zen­trale klein sein, doch seine Wir­kung sollte nicht unter­schätzt wer­den. Foto: Niko­lai Wolff/Fotoetage

Vor zwei Jah­ren, Ende August 2022, kam es auf dem Har­bourfront Lite­ra­tur­fes­ti­val zum Eklat: Die Untie­fen-Redak­tion hatte einige Wochen zuvor in einer E‑Mail die acht für den nach Klaus-Michael Kühne benann­ten Debüt­preis des Fes­ti­vals nomi­nier­ten Schriftsteller:innen über die NS-Geschichte von Kühne+Nagel sowie ihre Ver­leug­nung durch den Fami­li­en­er­ben und Unter­neh­mens­in­ha­ber Kühne infor­miert. Einer von ihnen, der für sein Debüt Drau­ßen fei­ern die Leute nomi­nierte Sven Pfi­zen­maier, zog dar­auf­hin seine Teil­nahme zurück.

Das Fes­ti­val ver­suchte noch, Pfi­zen­mai­ers Rück­zug und seine Gründe unter dem Radar der Öffent­lich­keit zu hal­ten, doch es gelang nicht: Die Medien berich­te­ten dar­über, Pfi­zen­mai­ers Kol­le­gin Fran­ziska Gäns­ler zog ihre Teil­nahme eben­falls zurück, das Fes­ti­val und die Kühne-Stiftung, die nicht nur das Preis­geld stif­tete, son­dern auch als Haupt­spon­sor fun­gierte, gerie­ten stark unter Druck. Die­ser öffent­li­che Druck war es, der dann dazu führte, dass bin­nen weni­ger Tage nicht nur der Kühne-Preis umbe­nannt wurde, son­dern auch die Kühne-Stiftung sich aus dem Spon­so­ring zurück­zog. Die Jury des Prei­ses sprach Pfi­zen­maier und Gäns­ler in ihrer Stel­lung­nahme zur Preis­ver­gabe dann aus­drück­lich ihren Respekt und ihre Unter­stüt­zung aus (eine aus­führ­li­che Chro­nik der Ereig­nisse fin­det sich hier).

Aufruhr im Hamburger Literaturbetrieb

Der Aus­stieg Küh­nes als Spon­sor des Har­bourfront Fes­ti­vals war wohl schon zuvor geplant gewe­sen. Doch ein nach­hal­ti­ger Ersatz für den jah­re­lan­gen Haupt­spon­sor scheint sich nicht gefun­den zu haben: Die­ses Jahr fällt das Fes­ti­val erst­mals seit sei­ner Grün­dung vor 15 Jah­ren aus. Es wird zwar sicher nicht nur an dem Eklat von vor zwei Jah­ren lie­gen, dass sich das Fes­ti­val nun »orga­ni­sa­to­risch, per­so­nell und finan­zi­ell neu auf­zu­stel­len« ver­sucht, wie in einer Pres­se­mit­tei­lung vom Februar die­ses Jah­res ver­kün­det wurde. Aber ganz ohne Zusam­men­hang wird es nicht sein, denn mit der Kühne-Stiftung zog sich der zen­trale Geld­ge­ber zurück, ohne den das Fes­ti­val gar nicht hätte ins Leben geru­fen wer­den kön­nen – trotz jähr­lich 100.000 Euro fes­ter För­de­rung von der Kulturbehörde.

In den Medien und im Ham­bur­ger Lite­ra­tur­be­trieb wurde die Nach­richt vom Aus­fall des Fes­ti­vals mit Sorge auf­ge­nom­men. Schließ­lich reichte die Aus­strah­lung des Har­bourfront weit über Ham­burg hin­aus. Und es hat, wie Lite­ra­tur­haus­chef Rai­ner Moritz es gegen­über dem NDR im Betriebs­jar­gon aus­drückte, in Ham­burg ›den lite­ra­ri­schen Markt unglaub­lich belebt‹. Auch die Kul­tur­be­hörde wirkte, als sei sie von der Nach­richt über­rascht wor­den. Sie kün­digte zwar an, sich um Ersatz zu küm­mern, doch suchte offen­bar nicht selbst das Gespräch mit den Akteur:innen des Ham­bur­ger Literaturbetriebs.

Die Initia­ti­ven für ›Ersatz­fes­ti­vals‹ kamen statt­des­sen von pri­vat­wirt­schaft­li­chen Akteur:innen. Gleich zwei Fes­ti­vals wol­len nun die Lücke fül­len, die das Har­bourfront die­ses Jahr lässt: Die Blan­ke­ne­ser Buch­hand­lung Was­ser­mann rich­tet in der ers­ten Sep­tem­ber­hälfte mit der Herbst­lese Blan­ke­nese ein eige­nes Lite­ra­tur­fes­ti­val aus. Sogar einen Debüt­preis gibt es. Das Geld für die gro­ßen Namen und den Preis kommt vor allem vom Blan­ke­ne­ser Besitz­bür­ger­tum: Die Lange-Rode-Stiftung, deren Geld ursprüng­lich vor allem aus der Kronkorken-Produktion stammt, ist der Haupt­spon­sor. Das zweite ›Ersatz­fes­ti­val‹ ist umstrit­ten. Das Unter­neh­men hin­ter der lit.COLOGNE hat mit ELB.lit einen Ham­bur­ger Able­ger gestar­tet, der wie das Har­bourfront vor allem auf Events und große Namen setzt. Aber nicht das in wei­ten Tei­len ambi­ti­ons­lose Pro­gramm, son­dern nur der Umstand, dass die 100.000 Euro För­de­rung von der Kul­tur­be­hörde nun nicht an ein Ham­bur­ger, son­dern an ein Köl­ner Unter­neh­men gehen, sorgte hier für Empörung.

Rückblickend auf den Eklat

Bes­ser als der Ham­bur­ger Lite­ra­tur­be­trieb schei­nen die bei­den aus Pro­test gegen Kühne zurück­ge­tre­te­nen Autor:innen den Eklat vor zwei Jah­ren über­stan­den zu haben. Beide haben inzwi­schen ihren zwei­ten Roman ver­öf­fent­licht. Fran­ziska Gäns­lers Wie Inseln im Licht erschien im Früh­jahr, Sven Pfi­zen­mai­ers Schwät­zer ist gerade erschie­nen und fei­ert am 4. Sep­tem­ber in Ber­lin Buch­pre­miere.  

Wie blickt er auf die Geschichte zurück? Gegen­über Untie­fen sagte Pfi­zen­maier, er würde die Ent­schei­dung heute genauso wie­der tref­fen. Es sei zwar ein Kampf gegen Wind­müh­len, aber trotz­dem: »Wo es Lite­ra­tur betrifft, fühlt es sich auch ein biss­chen per­sön­lich an, und ich bin froh, die Gele­gen­heit genutzt zu haben, ein Zei­chen zu setzen.«

Die Befürch­tung, dass die Ent­schei­dung nega­tive Aus­wir­kun­gen auf sein Stan­ding im Lite­ra­tur­be­trieb gehabt hätte, scheint sich nicht bewahr­hei­tet zu haben, sagt Pfi­zen­maier: »Man pro­gnos­ti­zierte mir teil­weise, mich mit der Ent­schei­dung bei Preis­ju­rys womög­lich unbe­liebt zu machen, ich kann das nicht bis­her nicht bestä­ti­gen. Ich habe viel Zuspruch und Unter­stüt­zung von allen mög­li­chen Sei­ten bekommen.« 

Die Kri­tik an Küh­nes ver­wei­ger­ter Auf­ar­bei­tung sei­ner Familien- und Unter­neh­mens­ge­schichte, an sei­nem art washing und an dem Schwei­gen der Öffent­lich­keit dazu scheint jedoch schnell ver­pufft zu sein. Die vom damals eben­falls nomi­nier­ten Schrift­stel­ler Dome­nico Mül­len­sie­fen geäu­ßerte For­de­rung, dem Rück­zug der öffent­li­chen Kul­tur­för­de­rung Ein­halt zu gebie­ten, und sein Behar­ren dar­auf, dass nicht Kühne allein das Pro­blem sei, son­dern dass »deut­scher Reich­tum in vie­len, wenn nicht sogar in den meis­ten Fäl­len auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit ent­stan­den« sei, fan­den kaum Widerhall.

Kühnes Milliarden: ungefährdet

Struk­tu­rell hat sich tat­säch­lich nichts ver­än­dert. Wäh­rend die Buch­bran­che mehr denn je auf finan­zi­elle För­de­rung – öffent­lich oder pri­vat – ange­wie­sen ist,1Die Krise der Buch­bran­che hat sich ver­schärft, auch in Ham­burg, wo zuletzt die Edi­tion Nau­ti­lus einen Hil­fe­ruf abge­setzt und eine struk­tu­relle Ver­lags­för­de­rung gefor­dert hat, ähn­lich wie es sie schon für Pro­gramm­ki­nos und Thea­ter gibt. sieht die Lage bei den Super­rei­chen gewohnt rosig aus. So ist auch Klaus-Michael Kühne in den letz­ten zwei Jah­ren vor allem rei­cher gewor­den. Auf dem Bloom­berg Bil­lionaires Index wird sein geschätz­tes Ver­mö­gen aktu­ell mit knapp 45 Mrd. US-Dollar ange­ge­ben, womit er nun erst­mals als reichs­ter Deut­scher fir­miert. Und wie eh und je hält er sich mit ›Vor­schlä­gen‹ und State­ments in der (Medien-)Öffentlichkeit: Wie­der und wie­der wirbt er für seine Pläne eines neuen Opern­hau­ses, er ist als Anteils­eig­ner beim Elb­tower ein­ge­stie­gen (und ist dabei, so die Selbst­dar­stel­lung, »dem Charme von Benko erle­gen«), er hat sich über den geplan­ten Teil­ver­kauf der HHLA an den Hapag-Lloyd-Konkurrenten MSC geär­gert und das DB-Konkurrenzunternehmen Flix über­nom­men.

Der Ham­bur­ger Sitz von Kühne+Nagel am Gro­ßen Gras­brook. Hier erin­nert nichts an die Ver­gan­gen­heit des Unter­neh­mens als NS-Profiteur. Foto: Wmein­hart (Wiki­me­dia), Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Den Eklat von vor zwei Jah­ren scheint er gänz­lich unbe­scha­det über­stan­den zu haben. Dass Kühne+Nagel 1933 sei­nen jüdi­schen Teil­ha­ber Adolf Maass aus dem Unter­neh­men drängte, um dann wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs in vie­len besetz­ten Län­dern Euro­pas Nie­der­las­sun­gen zu grün­den, sich so ein Quasi-Monopol auf den Abtrans­port jüdi­schen Eigen­tums zu sichern und dadurch mas­siv von der Ver­fol­gung, Ver­trei­bung und Ermor­dung der euro­päi­schen Jüdin­nen und Juden zu pro­fi­tie­ren – davon ist kaum noch zu lesen oder zu hören. Im Gegen­satz etwa zu der Frage, wel­chen Trai­ner Kühne für ›sei­nen‹ HSV wün­schen würde, hat diese Geschichte offen­bar kei­nen Nach­rich­ten­wert. Und für das Pri­vi­leg eines Exklu­siv­in­ter­views mit Kühne ver­zich­tet man etwa beim Ham­bur­ger Abend­blatt sehr bereit­wil­lig auf kri­ti­sche Fra­gen. Auch eine kri­ti­sche Zivil­ge­sell­schaft hat sich in Ham­burg immer noch nicht for­miert. Küh­nes Wunsch nach einem Schluss­strich scheint sich hier wei­test­ge­hend erfüllt zu haben.

Von Bremen lernen

In Bre­men, wo Kühne+Nagel vor 134 Jah­ren gegrün­det wurde und wo immer noch die Deutsch­land­zen­trale ihren Sitz hat, ist das anders. Vor allem dem Enga­ge­ment Hen­ning Bleyls und Evin Oet­tings­hau­sens ist es zu ver­dan­ken, dass das Thema dort, anders als in Ham­burg, wei­ter­hin im öffent­li­chen Bewusst­sein gehal­ten wird. Bleyl und Oet­tings­hau­sen kämpf­ten jah­re­lang für ein Mahn­mal in Bre­men, das an den sys­te­ma­ti­schen Raub und die Ent­eig­nung jüdi­schen Eigen­tums im Natio­nal­so­zia­lis­mus und die Betei­li­gung bre­mi­scher Unter­neh­men, Behör­den und Bür­ge­rin­nen und Bür­ger daran erin­nert. Vor einem Jahr, am 10. Sep­tem­ber 2023, wurde das Mahn­mal ein­ge­weiht, das nun in Sicht­weite des Kühne+Nagel-Gebäu­des an die Opfer der ›Ari­sie­run­gen‹ erinnert.

Gri­gori Pan­ti­je­lew, Vor­stand der jüdi­schen Gemeinde Bre­men, bei sei­ner Rede zur Ein­wei­hung des Mahn­mals. Foto: Niko­lai Wolff/Fotoetage

Zur Ein­wei­hung zeigte sich Gri­gori Pan­ti­je­lew, Ver­tre­ter der jüdi­schen Gemeinde Bre­men, kämp­fe­risch: Das kleine Mahn­mal und das prot­zige Rie­sen­ge­bäude von Kühne+Nagel erin­ner­ten ihn an die Geschichte von David und Goli­ath, sagte er, – und man wisse ja, wer am Ende gewon­nen hat. Bei der Ein­wei­hung sprach auch Bar­bara Maass, eine Enke­lin von Adolf und Käthe Maass, die eigens zu die­sem Anlass zusam­men mit ihrem Mann aus Mon­tréal nach Deutsch­land gekom­men war. Sie hielt in Bre­men eine (hier nach­zu­le­sende) Rede, in der sie die Auf­ar­bei­tung der »skru­pel­lo­sen Hand­lun­gen der Kom­pli­zen und Pro­fi­teure des Holo­causts« – auch und gerade von Kühne+Nagel – for­derte, und zwar »hier und jetzt«. Ihr Deutsch­land­be­such führte Bar­bara Maass auch nach Ham­burg, wo sie das ehe­ma­lige Wohn­haus der Fami­lie Maass in Win­ter­hude besich­tigte, in dem ihr Vater Ger­hard seine Eltern noch 1938 besucht hatte. Außer­dem besuchte sie die Gedenk­stätte Han­no­ver­scher Bahn­hof – den Ort, an dem im Juli 1942 auch jener Zug abfuhr, der ihre Groß­el­tern nach The­re­si­en­stadt deportierte.

Bleyl und Oet­tings­hau­sen enga­gie­ren sich der­weil wei­ter. Sie orga­ni­sie­ren erin­ne­rungs­po­li­ti­sche Rad­tou­ren, betrei­ben wei­ter Recher­chen und küm­mern sich um das Mahn­mal. Mit Spach­tel und Putz­zeug haben sie eigen­hän­dig Auf­kle­ber und Farbe von den Fens­tern und Rah­men geschrubbt. Und sie haben dafür gesorgt, dass das Mahn­mal nun auch end­lich eine Text­ta­fel erhält, die über seine Bedeu­tung auf­klärt. Am 10. Sep­tem­ber, zum Jah­res­tag der Eröff­nung, wird die neue Tafel in Bre­men ein­ge­weiht werden.

Neue Impulse im Kampf um Aufklärung?

Neue Impulse könnte die öffent­li­che Aus­ein­an­der­set­zung um den Umgang mit der Geschichte Kühne+Nagels als NS-Profiteur nun aus den USA erhal­ten. Der nie­der­län­di­sche Jour­na­list David de Jong hatte 2022 mit sei­nem Buch Brau­nes Erbe über die NS-Verstrickungen der reichs­ten deut­schen Unter­neh­mer­dy­nas­tien – der Fami­lien Quandt, Flick, von Finck, Porsche-Piëch, Oet­ker und Rei­mann – inter­na­tio­nal für Auf­se­hen gesorgt. Die Fami­lie Kühne fehlte in die­ser Zusam­men­stel­lung. Nun aber hat er andert­halb Jahre recher­chiert, um einen Nach­trag zu Kühne+Nagel zu schrei­ben. Noch im Sep­tem­ber wird sein umfang­rei­cher Inves­ti­ga­tiv­ar­ti­kel in der Zeit­schrift Vanity Fair erschei­nen.

Dass Kühne in sei­nem Buch nicht auf­tauchte, hatte einen ein­fa­chen Grund: Klaus-Michael Kühne hat zwar ein ›brau­nes Erbe‹ ange­tre­ten, doch er selbst hat keine Erben. Sein Ver­mö­gen wird nach sei­nem Tod einer Stif­tung ver­macht wer­den. Der Impuls, nun trotz­dem noch über Kühne zu recher­chie­ren und zu schrei­ben, kam zunächst von außen, berich­tet de Jong im Gespräch mit Untie­fen: Er sei 2022 nach dem Erschei­nen sei­nes Buchs von meh­re­ren Leser:innen – dar­un­ter der in Eng­land leben­den Groß­nichte von Adolf und Käthe Maass – ange­regt wor­den, auch noch zur Geschichte der Küh­nes zu recherchieren.

David De Jongs Buch Brau­nes Erbe erschien 2022 bei Kie­pen­heuer & Witsch.

Die Recher­chen führ­ten im Ver­lauf der andert­halb Jahre in vier ver­schie­dene Län­der, berich­tet de Jong. So sprach er in Mon­tréal mit Bar­bara Maass und sich­tete Bestände des Mont­real Holo­caust Museum; er besuchte in Bre­men die Eröff­nung des Mahn­mals und recher­chierte in Ham­burg im hie­si­gen Staats­ar­chiv. Obwohl Klaus-Michael Kühne den Zugang zum Unter­neh­mens­ar­chiv immer noch ver­sperrt, ver­spricht de Jongs Arti­kel bri­sante neue Erkennt­nisse – und zwar nicht nur über das Aus­maß der Betei­li­gung von Kühne+Nagel an der M‑Aktion, son­dern auch über das Aus­maß der Ver­schleie­rung und Ver­drän­gung die­ser Ver­bre­chen nach dem Zwei­ten Welt­krieg, nicht zuletzt durch Klaus-Michael Kühne selbst.

Die deut­sche Aus­gabe der Vanity Fair wurde vor 15 Jah­ren ein­ge­stellt. De Jongs Arti­kel wird also zunächst nicht auf Deutsch zu lesen sein. Es steht zu hof­fen, dass seine Ent­hül­lun­gen trotz­dem auch hier gebüh­rende Wir­kung ent­fal­ten wer­den. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Her­stel­lung einer inter­na­tio­na­len Öffent­lich­keit für den ent­schei­den­den Impuls in einer Debatte um die NS-Aufarbeitung sorgt – erin­nert sei hier etwa an die Debatte um die Ent­schä­di­gung von Zwangsarbeiter:innen Ende der neun­zi­ger Jahre. Dass erst auf inter­na­tio­na­len Druck hin gehan­delt wird, ist bezeich­nend für den in Deutsch­land übli­chen Wider­wil­len, die Ver­gan­gen­heit ernst­haft auf­zu­ar­bei­ten. Aber es zeigt auch: Beharr­lich­keit lohnt sich; und nie­mand sitzt so fest auf sei­nem Thron, dass er nicht ins Wan­ken gebracht wer­den kann. Der HSV, von Kühne maß­geb­lich finan­zi­ell unter­stützt, galt lange als »unab­steig­bar« und düm­pelt nun seit sechs Jah­ren in der zwei­ten Bun­des­liga herum. Auch Kühne, der manch­mal als unbe­zwing­bar erscheint, wird mit sei­ner For­de­rung nach einem Schluss­strich unter die Ver­gan­gen­heit und sei­ner Behin­de­rung der Auf­ar­bei­tung nicht mehr lange durchkommen.

Lukas Betz­ler, Sep­tem­ber 2024

Der Autor ist Mit­glie­der der Redak­tion Untie­fen. Er hat hier schon vor zwei Jah­ren Bei­träge zu Kühne+Nagel ver­öf­fent­licht und einen auf You­tube nach­zu­hö­ren­den Vor­trag von Hen­ning Bleyl zu dem Thema mode­riert. Den neuen Roman von Sven Pfi­zen­maier hat er gerade mit im Urlaubsgepäck.

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    Die Krise der Buch­bran­che hat sich ver­schärft, auch in Ham­burg, wo zuletzt die Edi­tion Nau­ti­lus einen Hil­fe­ruf abge­setzt und eine struk­tu­relle Ver­lags­för­de­rung gefor­dert hat, ähn­lich wie es sie schon für Pro­gramm­ki­nos und Thea­ter gibt.