Update: Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg

Update: Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg

***Update Februar 2025***
Die deut­sche Geschichte ist für radi­kal rechte Par­teien ein zen­tra­les Agi­ta­ti­ons­feld. Auch die Ham­bur­ger AfD ver­brei­tet einer­seits immer wie­der klas­sisch revi­sio­nis­ti­sche The­sen, die vor allem den Holo­caust und die Kolo­ni­al­ge­schichte umdeu­ten. Vor allem aber ver­tritt sie einen nost­al­gi­schen Natio­na­lis­mus, der für die eigene poli­ti­sche Agenda durch geziel­tes Aus­wäh­len und Ver­schwei­gen Mythen über die deut­sche Ver­gan­gen­heit entwirft.

Bezugs­punkt des rech­ten Revi­sio­nis­mus: Der erste Reichs­kanz­ler und Sozia­lis­ten­jä­ger Otto von Bis­marck. Das deutsch­land­weit größte Denk­mal für ihn steht auf St. Pauli. Foto: Marco Hosemann

Die­ses Update erscheint par­al­lel auf AfD Watch Ham­burg.


UPDATE Februar 2025

Wie wir im März letz­ten Jah­res fest­ge­stellt haben, wird die geschichts­po­li­ti­sche Stra­te­gie der AfD Ham­burg von einem nost­al­gi­schen Natio­na­lis­mus bestimmt. Der offene Geschichts­re­vi­sio­nis­mus, das Leug­nen und Umdeu­ten his­to­ri­scher Ver­bre­chen, ist dabei nicht im Vor­der­grund, kann aber jeder­zeit mit ein­ge­baut wer­den. In den ver­gan­ge­nen Mona­ten ließ sich beob­ach­ten, dass vor allem die Kolonial- und Kai­ser­reich­sa­po­loge­tik von der AfD Ham­burg ver­mehrt in poli­ti­sche Pra­xis über­setzt wird. Kri­ti­sche Auf­ar­bei­tung der deut­schen Geschichte ver­su­chen sie als »Umer­zie­hung« oder »Umschrei­ben der Geschichte« ver­ächt­lich zu machen. Drei Bei­spiele kön­nen das illustrieren:

Im April 2024 posi­tio­nierte die AfD sich in der Bür­ger­schaft gegen den Erhalt der For­schungs­stelle „Ham­burgs (post-)koloniales Erbe“. Die LINKE hatte eine Debatte um Zukunft der aus­lau­fen­den For­schungs­stelle bean­tragt. Unter ande­rem sprach sich Nor­bert Hack­busch klar für ihren Erhalt aus. In sei­nem Rede­bei­trag beti­telt der stell­ver­tre­tende Frak­ti­ons­vor­sit­zende und kul­tur­po­li­ti­sche Spre­cher der AfD in der Bür­ger­schaft, Dr. Alex­an­der Wolf, den Inha­ber der Pro­fes­sur an der For­schungs­stelle, Prof. Dr. Jür­gen Zim­me­rer, als »der als Wis­sen­schaft­ler ver­brämte Polit-Aktivist“. Er bezeich­net es als „Gewinn für unsere Stadt“, würde „die­sem ‚Pro­fes­sor‘“ der „Geld­hahn“ abge­dreht. Über das all­ge­meine Pro­jekt einer Deko­lo­ni­sie­rung Ham­burgs heißt es, es solle von „links-rot-grün die Geschichte umge­schrie­ben“ und die Men­schen „umer­zo­gen werden“.

Am 18.12.2024 beschlos­sen SPD und Grüne in der Bür­ger­schaft mit dem Dop­pel­haus­halt für 2024 und 2025, die For­schungs­stelle – wie von Beginn an vor­ge­se­hen – durch aus­lau­fende Finan­zie­rung fak­tisch einzustellen.

Auch im Som­mer 2024 schoss die AfD gegen die For­schungs­stelle „Ham­burgs (post-)koloniales Erbe“. Deren App „Kolo­niale Orte“ kri­ti­siert sie in einer klei­nen Anfrage wegen der aus ihrer Per­spek­tive gro­ßen Dis­kre­panz zwi­schen den regis­trier­ten Down­loads und den Ent­wick­lungs­kos­ten. Dar­aus lei­te­ten sie die For­de­rung ab, es solle Schluss sein mit „Umer­zie­hung und noch mehr Steu­er­geld­ver­schwen­dung im Rah­men der ‚Deko­lo­ni­sie­rung‘ Hamburgs!“

Im Okto­ber 2024 schließ­lich rich­tete sich die Schluss­strich­for­de­rung gegen das Museum am Rothen­baum für Kunst und Kul­tu­ren der Welt, kurz MARKK (ehe­mals »Völ­ker­kun­de­mu­seum«). Mit einer klei­nen Anfrage zielt die AfD wie­derum auf die Kos­ten bzw. die Besucher:innenzahlen seit dem (noch lau­fen­den) Umbau vom „Völ­ker­kun­de­mu­seum“ zum MARKK. Wolf hatte sich schon 2017 kri­tisch zur Umbe­nen­nung geäu­ßert und damals resü­miert, das „Volk“ solle abge­schafft wer­den. Dem­ago­gisch stellte er damals das Staats­volk, den fik­ti­ven Sou­ve­rän des Grund­ge­set­zes, und eth­nisch defi­nierte Völ­ker in eine Reihe. In einer Pres­se­mit­tei­lung zur Ant­wort des Sena­tes auf die kleine Anfrage der AfD-Fraktion lässt Wolf sich am 18. Dezem­ber 2024 wie folgt zitie­ren. Das »links­grüne Erzie­hungs­mu­seum« sei geschei­tert. Die Bürger:innen woll­ten »nicht bevor­mun­det und beim Den­ken betreut wer­den«, viel­mehr zeig­ten sie »der soge­nann­ten kolo­nia­lis­ti­schen Schuld die kalte Schul­ter«. Die For­de­rung ergeht: »Wir wol­len unser Völ­ker­kun­de­mu­seum ohne links­grü­nem (sic!) Tam­tam zurück!“

Diese Anfra­gen und Pres­se­mit­tei­lun­gen zie­len offen­bar vor allem dar­auf ab, ein gesun­des Volks­emp­fin­den her­bei­zu­re­den, das sich nicht für eine »woke« Geschichts­er­zäh­lung inter­es­siere. Die ange­strebte Nor­ma­li­sie­rung der deut­schen Natio­nal­ge­schichte – also die guten 1000 minus die 12 »dunk­len« Jahre – wird durch Angriffe auf Insti­tu­tio­nen ver­meint­li­cher lin­ker »Umer­zie­hung« vor­an­ge­trie­ben. Die­sen Zusam­men­hang bringt eine Stel­lung­nahme Wolfs aus dem Mai 2024 auf den Punkt. Wolf sprach mit Blick auf das städ­ti­sche Erin­ne­rungs­kon­zept zum Umgang mit dem kolo­nia­len Erbe, das im Mai 2024 vor­ge­stellt wurde, von einem „linke[n] Kul­tur­kampf“, der „Unsum­men an Steu­er­gel­dern“ ver­schlinge. Vor allem: „Kein nor­ma­ler Bür­ger legt Wert auf Stra­ßen­um­be­nen­nun­gen, bloß weil die Namen angeb­lich kolo­nial belas­tet seien. Kein nor­ma­ler Bür­ger hat ein Pro­blem mit Sta­tuen von Chris­toph Kolum­bus. Kein nor­ma­ler Bür­ger hasst die eigene deut­sche Geschichte so sehr wie links­grüne Bilderstürmer.“

Die geschichts­re­vi­sio­nis­ti­sche Agi­ta­tion der AfD Ham­burg ist mus­ter­gül­ti­ges Bei­spiel der pathi­schen Pro­jek­tion in der rechts­extre­men Pro­pa­ganda. Die AfD wirft sich in die Brust gegen eine angeb­lich umer­zie­hende, bevor­mun­dende und geschichts­fäl­schende Erin­ne­rungs­po­li­tik, wäh­rend sie in Wahr­heit natür­lich selbst genau das ver­folgt. Die ham­bur­gi­sche und die deut­sche Geschichte über­haupt sol­len, wenn’s nach ihnen ginge, nur noch glor­reich, groß­ar­tig und ver­dienst­voll gewe­sen sein. Was dazu nicht passt, soll beschwie­gen wer­den. Und wer daran Kri­tik anmel­det, muss ver­blen­det sein und also unter­drückt werden.

Redak­tion Untie­fen, Februar 2025


Das Ver­hält­nis zur deut­schen Ver­gan­gen­heit ist die zen­trale Ein­tritts­karte in den poli­ti­schen Dis­kurs der BRD. Offene Holo­caust­leug­nung oder ‑rela­ti­vie­rung sind nicht nur straf­bar, son­dern auch poli­tisch äußerst schäd­lich. Bei der popu­lis­ti­schen, als Ver­tei­di­ge­rin der Demo­kra­tie auf­tre­ten­den AfD spie­len sie daher auch in Ham­burg nur eine unter­ge­ord­nete Rolle. Den­noch wird immer wie­der erkenn­bar, dass es sich hier um stra­te­gi­sche Zurück­hal­tung handelt.

Offe­ner Revisionismus

Bekannt sind etwa NS-Relativierungen des Ham­bur­ger AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Bau­mann, frü­here revi­sio­nis­ti­sche Kom­men­tare des der­zei­ti­gen Ham­bur­ger AfD-Pressesprechers Robert Offer­mann und der Ver­dacht auf anti­se­mi­ti­sche Aus­sa­gen eines Mit­ar­bei­ters der Bür­ger­schafts­frak­tion. Am meis­ten Auf­se­hen erregte wohl der stell­ver­tre­tende Frak­ti­ons­vor­sit­zende der AfD in der Bür­ger­schaft, Alex­an­der Wolf. 2017 wurde bekannt, dass er 1994 eine Samm­lung von NS-Liedern unter dem Titel „Schlacht­ruf“ her­aus­gab, in deren Vor­be­mer­kun­gen er mit Blick auf die Kapi­tu­la­tion Nazi-Deutschlands im Zwei­ten Welt­krieg zu einem „ent­schlos­se­nen Nie wie­der!’“ auf­rief.

Alex­an­der Wolf, geschichts­po­li­ti­scher Scharfmacher

Über­haupt, Alex­an­der Wolf: Er ist in der Bür­ger­schafts­frak­tion der Mann für die pro­vo­kan­ten his­to­ri­schen The­sen. So behaup­tete er etwa im März 2023 in der Bür­ger­schaft, die Nazis hät­ten sich „kei­nes­wegs als rechts, son­dern bewusst als Sozia­lis­ten“ ver­stan­den. Die DDR und den NS-Staat par­al­le­li­sierte er als „Dik­ta­tu­ren“, um sogleich zu sei­nem eigent­li­chen Anlie­gen zu kom­men, näm­lich der Lüge, auch der heu­tige Kampf gegen Rechts sei wie­der ähn­lich eine ähn­li­che „Frei­heits­ein­schrän­kung“ und „Aus­gren­zung“.

„Vogel­schiss“ als Pro­gramm: der nost­al­gi­sche Nationalismus

Diese offe­nen Rela­ti­vie­run­gen sind aber die Aus­nahme. Die wirk­li­che geschichts­po­li­ti­sche Stra­te­gie der Ham­bur­ger AfD besteht darin, die Gau­land­sche Rede vom „Vogel­schiss“ in die Pra­xis umzu­set­zen. In den Bei­trä­gen der AfD-Abgeordneten fin­det sich kaum eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus oder mit der Kolo­ni­al­ge­schichte. Und wenn diese The­men berührt wer­den, dann geht es stets darum, für die radi­kal rechte Poli­tik nostalgisch-nationalistische, posi­tive Anker­punkte in der deut­schen Geschichte des 19. und 20. Jahr­hun­derts zu finden.

His­to­ri­sche Wür­di­gung for­dert die AfD etwa für fol­gende Grup­pen: die Ver­schwö­rer um Claus Schenk Graf von Stauf­fen­berg („Höhe­punkt des deut­schen Wider­stands“), die Opfer der alli­ier­ten Bom­bar­die­rung Ham­burgs im Juli 1943 („Kriegs­ver­bre­chen“), die Auf­stän­di­gen vom 17. Juni 1953 in der DDR („iden­ti­täts­stif­ten­des Datum“) sowie für die an der Gren­zen zwi­schen DDR und BRD Ermor­de­ten und den Mau­er­bau 1961 („Schick­sals­da­tum der deut­schen Nation“).

Und die im Jahr 2020 auf­ge­kom­me­nen Rufe nach einem Denk­mal für die Leis­tun­gen der soge­nann­ten tür­ki­schen „Gast­ar­bei­ter“ kon­terte Wolf im Novem­ber 2021 mit der For­de­rung, statt­des­sen ein Denk­mal für „Trüm­mer­frauen“ zu schaffen.

Das Kai­ser­reich soll rechts­ra­di­kale Her­zen wärmen

Neben den deut­schen Opfern alli­ier­ter Bom­ben und kom­mu­nis­ti­scher SED-Herrschaft sowie patrio­ti­schen kon­ser­va­ti­ven Gene­rä­len steht vor allem das Deut­sche Kai­ser­reich im Zen­trum der AfD-Geschichtspolitik. Eine Folge des Pod­casts „(Un-)Erhört!“ der Ham­bur­ger AfD-Fraktion vom Januar 2021 zum 150. Jah­res­tag der Reichs­grün­dung 1871 illus­triert das. 

Zum ein­gangs gespiel­ten „Heil dir im Sie­ger­kranz“ spricht Wolf von einem „der glück­lichs­ten Momente der deut­schen Geschichte“. Heu­tige Politiker:innen wür­den sich jedoch der Erin­ne­rung daran ver­wei­gern, sie hät­ten ein „gestör­tes Ver­hält­nis zur „eige­nen Geschichte“. So hätte die „über tau­send­jäh­rige Geschichte Deutsch­lands“ zwar „pro­ble­ma­ti­sche Sei­ten“, doch sei sie eben auch „mehr“. Ab dort ver­schwin­det der Natio­nal­so­zia­lis­mus aus die­ser Erzäh­lung und das heu­tige Deutsch­land wird schlicht in Kon­ti­nui­tät zum Kai­ser­reich gesetzt. Das ist eine ganz bewusste Kon­struk­tion einer Tra­di­tion, die nur über Aus­las­sung funk­tio­niert. An die „posi­ti­ven Momente der Geschichte“ soll erin­nert wer­den, so Wolf wei­ter, „weil das unsere Iden­ti­tät prägt. Eine Nation lebt nicht nur von der Ratio und von der Ver­fas­sung, son­dern auch von einem posi­ti­ven Gemein­schafts­ge­fühl.“ Nur dar­aus könn­ten „Soli­da­ri­tät und Mit­ein­an­der erwachsen.“

Gerei­nigt wer­den soll die deut­sche Geschichte also nicht, indem der Holo­caust geleug­net wird. Der „Schuldkult“-Vorwurf wird hier sub­ti­ler for­mu­liert: Der beding­ten Aner­ken­nung der Ver­bre­chen in den 12 Jah­ren NS-Herrschaft wird eine sau­bere Ver­sion der ver­meint­lich ande­ren 988 Jahre deut­scher Geschichte und deut­schen Glan­zes entgegengestellt.

Die Hamburger Bismarkstatue zwischen zwei Baumkronen.
Bis­marck, Begrün­der des deut­schen Kolo­ni­al­rei­ches, strahlt frisch reno­viert. Foto: Marco Hosemann

Mit Bis­marck gegen die Wahrheit

Diese Stra­te­gie zeigt sich auch an der Posi­tion der AfD zur Debatte um das Otto von Bismarck-Denkmal auf St. Pauli. In einer Folge des besag­ten Pod­casts vom Juli 2021 zeich­net Wolf den ers­ten Reichs­kanz­ler als eine posi­tive Figur der deut­schen Geschichte. Die gefor­derte Neu-Kontextualisierung des Denk­mals sei selbst Geschichts­re­vi­sio­nis­mus, schließ­lich würde Bis­marck dabei „aus dem Blick­win­kel eines Anti­fan­ten und einer Femi­nis­tin“ gese­hen. Die soge­nannte Westafrika-Konferenz 1884/85 in Ber­lin, zu der Bis­marck ein­lud und bei der die euro­päi­schen Groß­mächte den afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent als Kolo­ni­al­be­sitz unter sich auf­teil­ten, ver­schweigt Wolf dabei nicht. Aber er stellt sie als rein frie­dens­stif­tende Maß­nahme zur Siche­rung der inner­eu­ro­päi­schen Ord­nung dar. Das funk­tio­niert wie­derum nur durch Aus­blen­den der Fol­gen für die kolo­ni­sier­ten Bevöl­ke­run­gen außer­halb Euro­pas. Aber mehr noch: Kolo­nia­lis­mus ist für Wolf „nicht per se von vorn­her­ein schlecht“. Denn es sei „viel Posi­ti­ves geleis­tet wor­den, Infra­struk­tur, Gesund­heit etc.“ Es dürfe eben nicht „ein­sei­tig die nega­tive Brille“ auf­ge­setzt wer­den, wie es bei der Black Lives Matter-Bewegung gesche­hen sei. So hält Wolf dann auch die gän­gige For­schungs­po­si­tion, dass die Deut­schen 1904/5 in Süd­west­frika einen Völ­ker­mord began­gen haben, für „absurd“, ja „Quatsch“. Man sieht: Obwohl nost­al­gi­scher Natio­na­lis­mus die Kern­stra­te­gie der AfD Ham­burg aus­macht, ist der Schritt zu offe­nem Revi­sio­nis­mus schnell gemacht.

Redak­tion Untie­fen, März 2024

Umtausch nicht gestattet

Umtausch nicht gestattet

Der Senat ist in Fei­er­laune. Auf der Son­der­pres­se­kon­fe­renz zum spek­ta­ku­lä­ren Opern-Deal mit der Kühne-Stiftung herrschte pene­trante Selbst­ge­wiss­heit: Nie­mand könne doch ernst­haft etwas gegen die­ses Pro­jekt haben! Doch was hier als »Glücks­fall für Ham­burg« gefei­ert wird, offen­bart in Wahr­heit ein unde­mo­kra­ti­sches Ver­ständ­nis von Stadt und Kul­tur. Und es ist in dop­pel­ter Hin­sicht geschichtsvergessen.

Nicht genug Glanz: 2017 fand auf dem Baa­ken­höft das inter­na­tio­nale Fes­ti­val »Thea­ter der Welt« statt. Foto: Pauli-Pirat | Wiki­me­dia Commons

Der Mul­ti­mil­li­ar­där und Mäzen Klaus-Michael Kühne will Ham­burg eine neue Oper schen­ken. Bür­ger­meis­ter Peter Tsch­ent­scher und Kul­tur­se­na­tor Cars­ten Brosda waren erkenn­bar stolz, als sie auf einer Son­der­pres­se­kon­fe­renz am Frei­tag, den 7. Februar, gemein­sam mit Ver­tre­tern der Kühne-Stiftung und der Kühne Hol­ding ver­kün­den konn­ten, dass der Ver­trag unter­schrie­ben sei. In der »ers­ten Hälfte des nächs­ten Jahr­zehnts« soll die Oper eröff­nen. Zwar muss die Ent­schei­dung noch von der (dann neu kon­sti­tu­ier­ten) Bür­ger­schaft bestä­tigt wer­den, doch der rot-grüne Senat macht sich da wohl zu Recht keine Sor­gen. Erste Reak­tio­nen aus den Par­teien signa­li­sier­ten durch­weg Unter­stüt­zung für das Pro­jekt. Ein­zig Die Linke übte Kri­tik an der Ent­schei­dung.

Aber was ist da eigent­lich geplant? Ent­ste­hen soll ein Opern­neu­bau am Baa­ken­höft, einer Land­spitze im Zen­trum der Hafen­City, fast genau in der Mitte zwi­schen Elb­phil­har­mo­nie und Elb­tower. Die Nähe zum Elb­tower ist dabei kein Zufall. Im Mai 2022, als Kühne seine Idee eines neuen Opern­hau­ses erst­mals in einem Por­trät im Spie­gel prä­sen­tierte, war klar: Das Opern­haus sollte zusam­men mit sei­nem inzwi­schen geschei­ter­ten Hoch­haus­pro­jekt ein Wahr­zei­chen­en­sem­ble bil­den. Nicht nur den Elb­tower, auch die Oper plante Kühne zu die­ser Zeit gemein­sam mit René Benko, dem mitt­ler­weile inhaf­tier­ten Immo­bi­li­en­in­ves­tor. Der Deal, den er vor­schlug, war dabei in mehr­fa­cher Hin­sicht ver­gif­tet: Die Stadt sollte den neuen Opern­bau nicht geschenkt bekom­men, son­dern lea­sen. Und das bis­he­rige Opern­ge­bäude – in unmit­tel­ba­rer Nähe zur ehe­ma­li­gen Gänsemarkt-Passage, die Benko durch einen Kom­plex aus Woh­nun­gen, Büros und Ein­zel­han­del erset­zen wollte – sollte abge­ris­sen und durch ein »moder­nes Immo­bi­li­en­pro­jekt« ersetzt werden.

Der Senat winkte ab: Nein, ein Miet­kauf­mo­dell wolle man nicht, und ein Abriss des bis­he­ri­gen Opern­ge­bäu­des komme auch nicht infrage. Doch der Senats­spre­cher ergänzte damals bereits: »Eine Schen­kung durch Herrn Kühne bezie­hungs­weise seine Stif­tung nach dem Vor­bild der Kopen­ha­ge­ner Oper wäre dage­gen ein bemer­kens­wer­tes mäze­na­ti­sches Enga­ge­ment.« Genau so ist es nun auch gekom­men. Wohl auch im Ange­sicht der andau­ern­den Que­re­len um den Elb­tower war die Freude ver­gan­ge­nen Frei­tag groß, als die Kühne-Stiftung nach kurz­zei­ti­gem Hin und Her die Opern­pläne doch noch besiegelte.

Ein Deal ohne Haken?

Schließ­lich blei­ben bei die­sem Deal, glaubt man dem Senat, keine Fra­gen offen. Der Bau werde auf jeden Fall fer­tig­ge­stellt, ver­si­cherte man. Und abge­se­hen von 147,5 Mio. Euro für die Erschlie­ßung wür­den unter kei­nen Umstän­den zusätz­li­che öffent­li­che Gel­der flie­ßen. Das gesamte Risiko trägt die Kühne-Stiftung. Die fer­tige Oper bekommt die Stadt Ham­burg dann (fast) ohne Bedin­gun­gen geschenkt. Tat­säch­lich ist der Ver­trag für die Stadt, ver­gli­chen mit Küh­nes ursprüng­li­chem Vor­schlag, gera­dezu ver­blüf­fend vor­teil­haft. Und: Der bis­he­rige Opern­bau bleibt, so ver­si­cherte Cars­ten Brosda, als Spiel­stätte erhal­ten – wie genau die Nach­nut­zung aus­se­hen könne, werde man in den nächs­ten Jah­ren über­le­gen. Das heißt: Weder für besorgte Denkmalschützer:innen noch für strenge Wäch­ter über städ­ti­sche Aus­ga­ben gäbe es etwas zu mäkeln. Alles also ein ein­zi­ger Grund zur Freude? 

Kei­nes­wegs. In min­des­tens drei­er­lei Hin­sicht ist der Plan näm­lich ein Skan­dal: Er ist ein Gip­fel unde­mo­kra­ti­scher und intrans­pa­ren­ter Stadt­pla­nung, er offen­bart einen unde­mo­kra­ti­schen und zutiefst ver­ding­lich­ten Begriff von Kul­tur und er ist – auf­grund der Kolo­ni­al­ge­schichte des Baa­ken­ha­fens und der NS-Geschichte von Kühne + Nagel – geschichts­ver­ges­sen, wenn nicht gar ‑revi­sio­nis­tisch.

Hanseatische Geheimdiplomatie

Das »Filet­stück« 85 ist nun ver­plant. Quelle: Flä­chen­ent­wick­lung Hafen­City, Stand: 31.1.2024.

Zwar gibt es für den Baa­ken­höft noch kei­nen Bebau­ungs­plan, doch dass es sich um ein beson­de­res Grund­stück han­delt, ist schon lange klar. Das beton­ten auch alle Betei­lig­ten der Pres­se­kon­fe­renz. Cars­ten Brosda nannte es gar »eines der her­aus­ra­gends­ten Grund­stü­cke Nord­eu­ro­pas«. Und solch ein Grund­stück befin­det sich hier in öffent­li­chem Besitz. Eigent­lich sollte es sich von selbst ver­ste­hen, dass damit auch ein beson­de­res öffent­li­ches Inter­esse ver­bun­den ist, dass damit also die Ver­pflich­tung ein­her­ginge, eine trans­pa­rente und offene Dis­kus­sion über die Nut­zung des Grund­stücks zu ermöglichen.

Doch eine Dis­kus­sion fand nicht statt. Statt in der Öffent­lich­keit Nut­zungs­mög­lich­kei­ten zu ent­wi­ckeln und zu dis­ku­tie­ren, wurde nun, nach­dem Kühne seine »Idee« im Spie­gel bekannt gege­ben hatte, fast drei Jahre lang hin­ter geschlos­se­nen Türen ver­han­delt. Dass sich im Lauf die­ser Ver­hand­lun­gen die Bedin­gun­gen für die Stadt ver­bes­sert haben – geschenkt! Ent­schei­dend ist: Die Frage, ob über­haupt eine Oper auf dem Baa­ken­höft gebaut wer­den sollte, stand nie zur Debatte. Umtausch nicht gestattet!

Die­ses de-facto-Diktat des Kapi­tals wird vom Ham­bur­ger Senat nun in eine Spra­che offe­nen Aus­tauschs ver­klei­det: Kühne habe ein »Ange­bot« gemacht, der Senat habe es »geprüft«, man hat die Bedin­gun­gen nach­ver­han­delt und ist sich nun »einig gewor­den«. 1Ganz ähn­lich klang es auf der Pres­se­kon­fe­renz, als die Spra­che auf den Elb­tower kam. Der neue Inves­tor, Die­ter Becken, habe den »Vor­schlag« gemacht, das geplante Natur­kun­de­mu­seum, für das es noch keine ande­ren Räume gebe, im Elb­tower unter­zu­brin­gen. Auch die­ser »Vor­schlag« wird »geprüft« – man könne ihn ja nicht »aus Prin­zip ableh­nen«, so Tsch­ent­scher. Für die Pro­gnose, dass die Prü­fung posi­tiv aus­fal­len wird, braucht es frei­lich keine beson­de­ren hell­se­he­ri­schen Fähig­kei­ten. Der Inves­tor kann ja schließ­lich stets mit einem erneu­ten Bau­ab­bruch drohen.

Kühne calls the tune

Andere unde­mo­kra­ti­sche Aspekte wur­den nicht ver­schlei­ert, son­dern auf Dimen­sio­nen des All­tags­ver­stands zurecht­ge­stutzt, wo sie dann plötz­lich völ­lig ganz harm­los und nach­voll­zieh­bar klin­gen. Das betrifft etwa den Archi­tek­tur­wett­be­werb. Es wird zwar eine Jury geben, die unter fünf Ent­wür­fen aus­wäh­len würde, doch Kühne hat ein Veto­recht. Im Abend­blatt kann man erfah­ren, dass sogar schon ein Ent­wurf bereit­liege, den Kühne sich wün­sche, und zwar – wie offen­bar durch­ge­sto­chen wurde – vom Archi­tek­tur­büro Snøhetta. »Es gibt den schö­nen Ent­wurf eines aus­län­di­schen Archi­tek­ten, der wun­der­bar zu dem Stand­ort passt«, sagte Kühne der Zei­tung: »Die Stadt hätte gern noch eine Art Wett­be­werb. Ich finde den Ent­wurf schon sehr überzeugend.«

Unde­mo­kra­tisch? Nein: Dass Kühne (mit)entscheide, was gebaut werde, sei doch völ­lig nor­mal, meinte Peter Tsch­ent­scher, schließ­lich stamme von ihm ja das Geld. In der Sphäre des Poli­ti­schen nennt man diese Logik Plu­to­kra­tie. Bei Tsch­ent­scher hin­ge­gen klingt alles ganz unbe­denk­lich. Denn weiß nicht auch der Volks­mund: »Wer die Kapelle bezahlt, bestimmt die Musik?«

Das könnte in die­sem Fall auch ganz wört­lich gel­ten. Nicht aus­ge­schlos­sen, dass Kühne, sollte er die Fer­tig­stel­lung des Opern­baus noch erle­ben, sich eine Eröff­nungs­oper wün­schen darf. Sol­che Mut­ma­ßun­gen wer­den Poli­tik und Opern­in­ten­danz sicher zurück­wei­sen. Aber man kann Wet­ten dar­auf abschlie­ßen, dass die erste Oper im neuen Haus nichts von György Ligeti oder Hans Wer­ner Henze sein wird, son­dern etwas »rich­tig Schö­nes«. Wie wär’s mit Gia­como Puc­cini?

Die Stadt des Kapitals

Der Denk­mal­ver­ein Ham­burg, der eine Peti­tion gegen den Opern­neu­bau und für den Ver­bleib der Staats­oper an der Damm­tor­straße initi­iert hat, schreibt daher zu Recht: »Eine so wich­tige Ent­schei­dung zur Archi­tek­tur, Stadt­ent­wick­lung und Denk­mal­pflege wie die Zukunft der Oper auf einem öffent­li­chen Grund­stück sollte in einem ergeb­nis­of­fe­nen Pro­zess und auf der Grund­lage einer brei­ten fach­li­chen, zivil­ge­sell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Dis­kus­sion getrof­fen wer­den – und nicht nach den Wün­schen eines ein­zel­nen pri­va­ten Geld­ge­bers.« Die Gestal­tung der Stadt darf nicht eini­gen weni­gen Inves­to­ren, Mil­li­ar­dä­ren und Mäze­nen über­las­sen wer­den – auch wenn dabei weder mit einer Bau­ruine (Elb­tower) noch mit einer Kos­ten­ex­plo­sion zulas­ten der öffent­li­chen Hand (Elb­phil­har­mo­nie) zu rech­nen ist.

Stadt­pla­ne­ri­sche Ent­schei­dun­gen – und ins­be­son­dere sol­che, die die Stadt jahr­zehn­te­lang prä­gen wer­den, bedür­fen der demo­kra­ti­schen Legi­ti­ma­tion. Die wird im Falle des Opern­neu­baus zwar for­mal durch einen Bür­ger­schafts­be­schluss her­ge­stellt wer­den. Doch von tat­säch­li­cher Demo­kra­tie kann nur dann die Rede sein, wenn sie sich auch auf den Pla­nungs­pro­zess bezieht. So hin­ge­gen zeigt der Pro­zess um Küh­nes Oper exem­pla­risch den unde­mo­kra­ti­schen Cha­rak­ter einer »Stadt des Kapitals«.

»Topspitzenweltklassekultur« 

Aber das ist nicht das ein­zige Pro­blem mit der Oper. Auch und gerade das, was durch die­sen Opern­neu­bau angeb­lich geför­dert wird, gerät unter die Räder: die Kul­tur. Wenn man den vier Her­ren bei der Son­der­pres­se­kon­fe­renz zuge­hört hat, konnte man näm­lich den Ein­druck erlan­gen, es gehe nicht um Kunst, son­dern um einen Sport­ver­ein oder ein Dax-Unternehmen.

Man wolle eine »Oper von Welt­rang«  bauen, bekun­dete Peter Tsch­ent­scher. Jörg Drä­ger von der Kühne-Stiftung sekun­dierte, mit dem Opern­neu­bau schaffe man in Ham­burg einen Ort für »exzel­lente Musik, exzel­lente Oper und exzel­len­tes Bal­lett«. Und Cars­ten Brosda brüs­tete sich damit, dass Ham­burg hin­sicht­lich der öffent­li­chen Zuschüsse bereits jetzt »in einer Liga mit den gro­ßen Opern­häu­sern der Welt« spiele.2Dass Tobias Krat­zer, der im Abend­blatt schon die Devise aus­gab, mit der Ham­bur­ger Oper in die »Cham­pi­ons League«  zu wol­len, die Bau­pläne eupho­risch begrüßte, ver­wun­dert daher nicht. Eine ganz ähn­li­che Spra­che wurde zudem schon zur Begrün­dung des Baus der Elb­phil­har­mo­nie ins Feld geführt.

Die Spra­che, die hier ver­wen­det wird, ver­steht Kul­tur als Leis­tungs­wett­be­werb. Eine Stadt wie Ham­burg muss sich die­ser Logik zufolge darum bemü­hen, die Welt­spitze der Kul­tur für sich zu gewin­nen, um dann im Ran­king der »bes­ten Kul­tur­me­tro­po­len der Welt« einen Topp­latz zu ergat­tern; muss die größ­ten inter­na­tio­na­len Künstler:innen in die Stadt holen, die hier dann ihre Best­leis­tun­gen ablie­fern und die Kon­kur­renz nei­disch machen.

Kultur als Hochgenuss 

Nun ist es wenig ver­wun­der­lich, dass in einer Kauf­manns­stadt wie Ham­burg so gedacht wird. Aber Kul­tur ist weder Spit­zen­sport noch ist sie ein Kampf um einen der ers­ten Plätze in der Welt­markt­kon­kur­renz. Kul­tur ist eine Pra­xis. Eine rei­che Kul­tur­land­schaft zeich­net sich nicht durch Super­la­tive und markt­för­mi­gen Star­kult aus, son­dern durch Breite und Viel­stim­mig­keit, durch Wider­sprü­che und Störgeräusche.

Die super­la­ti­vi­sche Mar­ke­ting­spra­che, mit der über den geplan­ten Opern­neu­bau gespro­chen wird, redu­ziert Kunst außer­dem auf ein Genuss­mit­tel. Sie macht zum Maß der Kul­tur, was der Kon­su­ment ›davon hat‹. Kul­tur wird zum Luxus­kon­sum­gut ver­ding­licht. Der Opern­bau wird so zu einer »Inves­ti­tion«, die »ihr Geld wert sein wird«. Die­je­ni­gen, die der­lei Spra­che ver­wen­den, offen­ba­ren sich als Klein­geis­ter und Banaus:innen. Sie wol­len den exqui­si­tes­ten Hör­ge­nuss, die größ­ten Gefühle und die berühm­tes­ten Stars erle­ben; bloß nichts, was sie beun­ru­hi­gen, irri­tie­ren oder gar absto­ßen könnte. 

Neubau? – »Alternativlos« 

Umso anma­ßen­der ist es, dass in der Dar­stel­lung Tsch­ent­schers und Bros­das gerade den Kritiker:innen des Opern­neu­baus impli­zit Banau­sen­tum vor­ge­wor­fen wird. Denn, so wird sug­ge­riert, ist es nicht klein­geis­tig, ange­sichts gro­ßer Visio­nen über die Zukunft gro­ßer Kunst nun Büro­kra­ten­for­de­run­gen wie die nach demo­kra­ti­scher Betei­li­gung oder auch nur nach einem offe­nen Archi­tek­tur­wett­be­werb auf­zu­wer­fen? Ist es nicht kunst­feind­lich, zu for­dern, die Oper müsste sich mit dem bis­he­ri­gen Gebäude und sei­nen Mög­lich­kei­ten begnügen?

Auf die Frage, wozu in aller Welt die Stadt ein neues Opern­haus brau­che, ant­wor­tete Brosda: Die bis­he­rige Oper sei zu alt, zu klein, ein­fach unter­di­men­sio­niert, um den Ansprü­chen eines gegen­wär­ti­gen Opern­be­triebs gerecht zu wer­den. Sanie­ren müsste man ohne­hin, das ist klar. Aber, so Bros­das Behaup­tung, eine Sanie­rung würde noch viel teu­rer als ein Neu­bau. Wäh­rend vor drei Jah­ren, als Kühne den Vor­schlag erst­mals auf­brachte, noch nie­mand so recht den Bedarf nach einem neuen Opern­haus sehen konnte, prä­sen­tierte Brosda den Umzug der Staats­oper in ein neues Haus nun als letzt­lich alternativlos. 

Es ist diese Alter­na­tiv­lo­sig­keits­rhe­to­rik – und nicht der eli­täre Cha­rak­ter der Oper als Kunst­form, wie Benno Schirr­meis­ter in der taz kom­men­tierte –, die das Kul­tur­ver­ständ­nis hin­ter dem Opern­neu­bau als unde­mo­kra­tisch aus­weist. Denn natür­lich wäre es mög­lich, wei­ter­hin Oper im bis­he­ri­gen Opern­haus zu betrei­ben. Laura Weiss­mül­ler hat in der SZ schon vor fünf Jah­ren anläss­lich der Debatte um den geplan­ten Abriss und Neu­bau der Städ­ti­schen Büh­nen in Frank­furt betont, dass die hor­ren­den Sanie­rungs­kos­ten der letz­ten Jahre eben nicht alter­na­tiv­los sind: »Muss es wirk­lich immer die auf­wen­digste Tech­nik sein? Brau­chen all unsere Gebäude über­all und zu jeder Tages- und Nacht­zeit den höchs­ten Kom­fort, die beste Aus­stat­tung, das neu­este Equipment?« 

Mit Ver­weis auf ver­schie­dene Off-Spielstätten kon­sta­tierte Weiss­mül­ler außer­dem: »Viel­leicht würde es dem deut­schen Kul­tur­le­ben gut­tun, mehr sol­cher rauen, unpo­lier­ten, unper­fek­ten Spiel­orte zu haben.«  Tat­säch­lich befand sich auch auf dem Baa­ken­höft schon ein sol­cher Spiel­ort, »eine über­aus pro­duk­tive, sel­ten inter­es­sante und authen­ti­sche Kul­tur­stätte«, wie Ste­phan Maus in einem (äußerst sehens- und lesens­wer­ten) Foto-Essay auf sei­nem Blog betont. »An die­sem beson­de­ren Ort im Hafen fin­den schon seit Jah­ren krea­tive Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit Gesell­schaft, Ort und Geschichte statt.« Aber Leute, die – siehe oben – in der »Welt­spit­zen­klasse« der Kul­tur mit­spie­len wol­len, för­dern eben keine »Aus­ein­an­der­set­zung mit Gesell­schaft, Ort und Geschichte«, son­dern: die größte Bühne, die modernste Tech­nik und die beste Akus­tik. 

Überschreibung eines Geschichtsorts

Opern­haf­ter Jubel. Abfahrt eines Trup­pen­trans­por­ters von Ham­burg nach »Deutsch-Südwestafrika«. Quelle: Bun­des­ar­chiv, Bild 146‑2008-0180 / Spen­ker, Franz / CC-BY-SA 3.0

Der geplante Opern­neu­bau muss schließ­lich als geschichts­ver­ges­se­nes, ja, revi­sio­nis­ti­sches Pro­jekt begrif­fen wer­den. Das hängt zunächst mit dem Stand­ort zusam­men. Der Baa­ken­ha­fen, jener Ort, den Kühne für seine Oper aus­ge­wählt hat, wurde im Deut­schen Kai­ser­reich näm­lich zur »logis­ti­schen Dreh­scheibe des kolo­nia­len Völ­ker­mor­des«, wie der His­to­ri­ker Kim Todzi schreibt. Die Woermann-Linie hatte seit 1891 einen regel­mä­ßi­gen Schiffs­ver­kehr zwi­schen Ham­burg und »Deutsch-Südwestafrika«  (so der Name des heu­ti­gen Nami­bias unter deut­scher Kolo­ni­al­herr­schaft) ein­ge­rich­tet und den Peter­sen­kai im Baa­ken­ha­fen gepach­tet. Zwi­schen 1904 und 1908 machte sie ihn zum wich­tigs­ten Ort der Kriegs­lo­gis­tik: »Über 90 Pro­zent aller Abfahr­ten« von Schif­fen mit Kolo­ni­al­sol­da­ten erfolg­ten von dort, so Todzi.

Für ein Geden­ken an die deut­schen Kolo­ni­al­ver­bre­chen, ins­be­son­dere den Völ­ker­mord an den Herero und Nama, ist der Baa­ken­ha­fen daher ein wich­ti­ger Ort und sollte, darin ist dem Ein­spruch der ehe­ma­li­gen For­schungs­stelle »Ham­burgs (post-)koloniales Erbe«  zuzu­stim­men, nicht mit einer Oper über­baut wer­den, ohne dass an die Ver­gan­gen­heit des Orts – etwa durch ein Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum – erin­nert würde.

Es zeugt jedoch von zwei­fel­haf­tem Oppor­tu­nis­mus, dass die For­schungs­stelle nicht für den Bau­stopp der Oper plä­diert, son­dern die Stadt auf­for­dert, »die finan­zi­elle För­de­rung des Opern­pro­jekts durch den Stif­ter mit der Bedin­gung [zu] ver­bin­den, die Errich­tung eines sol­chen Doku­men­ta­ti­ons­zen­trums sub­stan­zi­ell mit­zu­för­dern« . So als sprä­che an sich nichts gegen die­sen Opern­bau, sofern nur auch ein Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum dabei abfiele.

Kämpfe um Erinnerung

Solch eine For­de­rung blen­det vor allem die zweite Dimen­sion der Geschichts­ver­ges­sen­heit des Opern­plans aus: die Quel­len von Klaus-Michael Küh­nes Ver­mö­gen. Der Mul­ti­mil­li­ar­där ver­dankt die Grund­lage sei­nes Reich­tums näm­lich bekann­ter­ma­ßen dem Unter­neh­men Kühne + Nagel, das an der Ver­fol­gung, Ver­nich­tung und Aus­plün­de­rung der euro­päi­schen Jüdin­nen und Juden mas­siv und direkt ver­diente. Zuerst drängte die dama­lige Unter­neh­mens­füh­rung – Klaus-Michael Küh­nes Vater Alfred und sein Onkel Wer­ner – den jüdi­schen Anteils­eig­ner Adolf Maass aus dem Unter­neh­men, dann stieg Kühne + Nagel zum NS-Musterbetrieb auf und nahm eine Schlüs­sel­stel­lung in der M‑Aktion ein.

Klaus-Michael Kühne hat seit jeher eine his­to­ri­sche Auf­ar­bei­tung die­ser Geschichte sabo­tiert. Seit dem 125-jährigen Jubi­läum von Kühne + Nagel vor zehn Jah­ren jedoch wird die Geschichte (und Küh­nes ver­wei­gerte Auf­ar­bei­tung) immer wie­der öffent­lich dis­ku­tiert. Die Vor­würfe wur­den mit immer wei­te­ren Bele­gen unter­füt­tert – zuletzt im Sep­tem­ber letz­ten Jah­res in einem Inves­ti­ga­tiv­ar­ti­kel von David de Jong.

In Bre­men, wo Küh­nes Groß­va­ter das Unter­neh­men 1890 gegrün­det hat, wur­den aus die­ser öffent­li­chen Debatte Kon­se­quen­zen gezo­gen: Im Jahr 2023 wurde dort ein Mahn­mal ein­ge­weiht, das in Sicht­weite von der Deutsch­land­zen­trale von Kühne + Nagel an die Ari­sie­rung und Ent­eig­nung im Natio­nal­so­zia­lis­mus erin­nert und ins­be­son­dere ihre Akteure und Pro­fi­teure in den Blick nimmt.

Hamburg: Kulturförderung als Schweigegeld

In Ham­burg hin­ge­gen gibt es nichts der­glei­chen – obwohl es auch hier, etwa anläss­lich des Eklats um den »Klaus-Michael Kühne Preis«  2022 – Anlässe dafür gege­ben hätte. Die Ham­bur­ger Poli­tik gibt sich, als hätte es diese Debatte nie gege­ben. Peter Tsch­ent­scher war sich auf der Pres­se­kon­fe­renz nicht ein­mal zu blöd, eine kri­ti­sche Nach­frage mit dem Pseu­do­ar­gu­ment zu beant­wor­ten, dass Kühne wäh­rend des Natio­nal­so­zia­lis­mus ja noch ein Kind gewe­sen sei.

Aber Kühne wird nicht nur – mit den dümms­ten Phra­sen – vor Kri­tik in Schutz genom­men. Die Ham­bur­ger Poli­tik ver­säumte in den letz­ten Jah­ren auch kaum eine Gele­gen­heit, um dem reichs­ten Sohn der Stadt Honig ums Maul zu schmie­ren. Zuletzt etwa über­reichte Tsch­ent­scher Kühne im Sep­tem­ber den »Grün­der­preis«  für sein Lebens­werk und wür­digte ihn in sei­ner Lau­da­tio als einen Unter­neh­mer, »der im wahrs­ten Sinne des Wor­tes viel bewegt hat«.3Ver­lie­hen wird der Preis von der Ham­bur­ger Spar­kasse, dem »Ham­bur­ger Abend­blatt«, der Handels- und Hand­werks­kam­mer, dem Lokal­sen­der »Ham­burg 1« und der Film­pro­duk­ti­ons­firma Stu­dio Ham­burg. Egal ob in die­sem Fall oder beim Eklat um den Kühne-Preis: Der Senat hat kri­ti­sche Nach­fra­gen aus Presse und Öffent­lich­keit kon­se­quent ignoriert.

Der Opern­deal offen­bart das Kal­kül hin­ter die­sem Ver­hal­ten. Denn auch wenn es, etwa im Falle der Gründerpreis-Verleihung, kein offe­nes »quid pro quo« gibt: Es ist klar, dass der Senat auf jeg­li­chen kri­ti­schen Ton ver­zich­tet, wenn es darum geht, einen (auch im Wahl­kampf nütz­li­chen) Deal kurz vorm Abschluss nicht noch zu gefährden.

Hanseatische Beutegemeinschaft

Unser Redak­teur Lukas Betz­ler schrieb im Okto­ber im nd dazu:  »Zu ver­mu­ten ist, dass die Hofie­rung Küh­nes vor allem Kal­kül ist. Kühne hat keine Erben. Sein Ver­mö­gen wird nach sei­nem Tod voll­stän­dig an seine Stif­tung über­ge­hen. Die Stadt Ham­burg ver­sucht wohl sicher­zu­stel­len, dann von einem mög­lichst gro­ßen Teil die­ses Ver­mö­gens pro­fi­tie­ren zu kön­nen.«  Wer hätte gedacht, dass sich die Wahr­heit die­ses Urteils so schnell und so offen zei­gen würde.

Der Preis für diese Art des Kal­küls jedoch ist hoch. Denn indem die Stadt Kühne im Gegen­zug für sein mäze­na­ti­sches »Enga­ge­ment«  der­art den Hof berei­tet, trägt sie dazu bei, dass das so pro­du­zierte Bild Küh­nes als gene­rö­ser Stif­ter jenes des Arisierungs-Profiteurs über­deckt oder gar ver­drängt. Der VVN-BdA warnte schon Mitte letz­ter Woche, dass der Opern-Deal »zur Ver­drän­gung his­to­ri­scher Schuld und der per­sön­li­chen Ver­ant­wor­tung für einen ange­mes­se­nen Umgang damit«  bei­trage. Und der Ver­band machte auch deut­lich, wes­sen Stim­men im ein­ver­nehm­li­chen Jubel von Senat, Kühne und der Mehr­heit der Bür­ger­schaft wie­der ein­mal unter­ge­hen: »Wer fragt die Nach­fah­ren der damals in West- und Ost­eu­ropa aus­ge­raub­ten jüdi­schen Fami­lien, was sie von die­sem ver­schwie­ge­nen Umgang mit dem Nazi­pro­fi­teur Alfred Kühne halten?«

Redak­tion Untiefen

  • 1
    Ganz ähn­lich klang es auf der Pres­se­kon­fe­renz, als die Spra­che auf den Elb­tower kam. Der neue Inves­tor, Die­ter Becken, habe den »Vor­schlag« gemacht, das geplante Natur­kun­de­mu­seum, für das es noch keine ande­ren Räume gebe, im Elb­tower unter­zu­brin­gen. Auch die­ser »Vor­schlag« wird »geprüft« – man könne ihn ja nicht »aus Prin­zip ableh­nen«, so Tsch­ent­scher. Für die Pro­gnose, dass die Prü­fung posi­tiv aus­fal­len wird, braucht es frei­lich keine beson­de­ren hell­se­he­ri­schen Fähig­kei­ten. Der Inves­tor kann ja schließ­lich stets mit einem erneu­ten Bau­ab­bruch drohen.
  • 2
    Dass Tobias Krat­zer, der im Abend­blatt schon die Devise aus­gab, mit der Ham­bur­ger Oper in die »Cham­pi­ons League«  zu wol­len, die Bau­pläne eupho­risch begrüßte, ver­wun­dert daher nicht. Eine ganz ähn­li­che Spra­che wurde zudem schon zur Begrün­dung des Baus der Elb­phil­har­mo­nie ins Feld geführt.
  • 3
    Ver­lie­hen wird der Preis von der Ham­bur­ger Spar­kasse, dem »Ham­bur­ger Abend­blatt«, der Handels- und Hand­werks­kam­mer, dem Lokal­sen­der »Ham­burg 1« und der Film­pro­duk­ti­ons­firma Stu­dio Hamburg.

Gegen rechtsextreme Vereinnahmungsversuche – Solidarität mit empower

Gegen rechtsextreme Vereinnahmungsversuche – Solidarität mit empower

Im Okto­ber 2024 ver­öf­fent­lich­ten wir anläss­lich des Jah­res­ta­ges des Mas­sa­kers der Hamas im Süden Isra­els eine Chro­nik anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle in Ham­burg im zurück­lie­gen­den Jahr. Wir kri­ti­sier­ten u.a. die bis­he­rige Daten­er­he­bung in Ham­burg. Die AfD ver­sucht dies für ihre rechts­extreme Agenda zu instrumentalisieren.

Am 8. Okto­ber 2024 ver­öf­fent­lich­ten wir anläss­lich des vor­an­ge­gan­ge­nen Jah­res­ta­ges des Mas­sa­kers der Hamas im Süden Isra­els gemein­sam mit dem Bil­dungs­ver­ein Bag­rut e.V. eine Chro­nik anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle in Ham­burg im Jahr danach.

Darin kri­ti­sier­ten wir unter ande­rem, dass es, anders als in ande­ren Bun­des­län­dern, in Ham­burg keine öffent­li­che Doku­men­ta­tion anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle gibt. Die öffent­lich geför­derte digi­tale Hinweis- und Mel­de­stelle memo und ihren bis­he­ri­gen[1] Trä­ger, die Bera­tungs­stelle empower, kri­ti­sier­ten wir dafür, dass sie bis 2024 die Fall­zah­len für rechte, ras­sis­tisch und anti­se­mi­tisch moti­vierte Angriffe nur zusam­men­ge­fasst ver­öf­fent­lich­ten. Außer­dem bemän­gel­ten wir, dass die von der Mel­de­stelle sowie von ande­ren, städ­ti­schen Insti­tu­tio­nen bis­lang ver­öf­fent­lich­ten Daten kaum Hin­weise auf die Qua­li­tät und die Umstände anti­se­mi­ti­scher Gewalt in Wort und Tat in Ham­burg sowie auf mög­li­che ideo­lo­gi­sche Moti­va­tio­nen der Täter:innen geben.

Unse­rer Kri­tik lie­gen die von uns recher­chier­ten Daten sowie die Wahr­neh­mung von Betrof­fe­nen zugrunde, denen zu Folge der öffent­li­che Umgang mit Anti­se­mi­tis­mus auch in Ham­burg selek­tiv ist. Ins­be­son­dere im Umgang mit selbst­er­klärt »pro-palästinensisch«, also natio­na­lis­tisch und/oder anti­im­pe­ria­lis­tisch gerecht­fer­tig­ten Taten ent­zie­hen sich Hoch­schu­len, Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen oder poli­ti­sche Grup­pen oft kla­rer Stel­lung­nah­men, anstatt Anti­se­mi­tis­mus klar zu benen­nen und die Stim­men der Betrof­fe­nen, von Ham­bur­ger Jüdin­nen und Juden, ernst zu neh­men. Im Gespräch sagte uns im Okto­ber 2024 Rebecca Vaneeva, Prä­si­den­tin des Ver­bands jüdi­scher Stu­die­ren­der Nord: »Es gibt einen ver­brei­te­ten Selbst­be­trug über die Kom­ple­xi­tät des Phä­no­mens Anti­se­mi­tis­mus. Rechts­extre­mer Anti­se­mi­tis­mus wird zum Glück weit­ge­hend ver­ur­teilt. Es han­delt sich aber auch um ein mus­li­mi­sches und ein lin­kes Phänomen.«

Daher for­der­ten wir eine sys­te­ma­ti­schere Erhe­bung und ein ent­spre­chen­des insti­tu­tio­na­li­sier­tes Moni­to­ring zur wei­te­ren Auf­klä­rung des Dun­kel­fel­des und der Hin­ter­gründe anti­se­mi­ti­scher Gewalt in der Ham­bur­ger Gesell­schaft heute – mit allen Her­aus­for­de­run­gen und Kon­flik­ten, in der gan­zen Wider­sprüch­lich­keit und Viel­schich­tig­keit. Es braucht hier mehr Wis­sen, nicht weniger.

Unsere Kri­tik druckte auch die taz in einem kur­zen Bericht zu unse­rer Chro­nik ab. Unter Bezug auf die­sen Arti­kel ver­suchte die Bür­ger­schafts­frak­tion der AfD Anfang Dezem­ber in einem Antrag zum Dop­pel­haus­halt 2024/2025 unsere Chro­nik zu instrumentalisieren.

Unter Ver­weis u.a. dar­auf, dass »selbst Autoren des lin­ken Maga­zins Untie­fen« die Erhe­bungs­pra­xis von memo »kri­tisch« sähen, bean­tragte die AfD-Fraktion, dem bis­he­ri­gen Trä­ger der Mel­de­stelle, der Bera­tungs­stelle für Betrof­fene rech­ter, ras­sis­ti­scher und anti­se­mi­ti­scher Gewalt empower, im neuen Haus­halt jeg­li­che Mit­tel zu strei­chen. Empower wird im Antrag als »Fake-Beratungsstelle« und »Pro­pa­gan­da­zen­trale« bezeich­net. Zusätz­lich for­derte die AfD, Zuwen­dun­gen unter ande­rem an die VVN-BdA, den CJD oder die Fal­ken im neuen Haus­halt zu strei­chen. Sämt­li­che Anträge der AfD zum Haus­halt wur­den – wie zu erwar­ten – in den Haus­halts­be­ra­tun­gen vom 16. bis 18. Dezem­ber 2024 von den demo­kra­ti­schen Frak­tio­nen der Bür­ger­schaft abgelehnt.

Die Agenda hin­ter die­sen Anträ­gen der AfD-Bürgerschaftsfraktion ist klar: Es geht um die Mobi­li­sie­rung auto­ri­tä­rer Affekte und um ras­sis­ti­sche und xeno­phobe Stig­ma­ti­sie­rung gan­zer Grup­pen der deut­schen Bevöl­ke­rung. Sug­ge­riert wird durch die AfD ein Bild angeb­li­cher »links-grüner« Kor­rup­tion und Kli­en­tel­wirt­schaft bis hin zu einer För­de­rung vor­geb­lich ver­deck­ter »links­extre­mis­ti­scher« Struk­tu­ren. Zudem soll der Ein­druck ent­ste­hen, Gewalt­ta­ten von Asylbewerber:innen und Mus­li­men wür­den grund­sätz­lich ver­harm­lost und unter den Tep­pich gekehrt, wäh­rend sie in Wahr­heit in die­ser Stadt das größte Sicher­heits­pro­blem dar­stell­ten. Dem­ge­gen­über möchte sich die AfD als Kämp­fe­rin gegen Kor­rup­tion und als Anwäl­tin der »öffent­li­chen Sicher­heit« inszenieren.

Ent­ge­gen ihrer eige­nen Insze­nie­rung hat sich die Ham­bur­ger AfD nicht damit her­vor­ge­tan, die Infor­ma­ti­ons­lage bezüg­lich Vor­fäl­len men­schen­feind­li­cher Gewalt zu ver­bes­sern. Wie wir in unse­rer Chro­nik her­vor­he­ben, waren es Ange­hö­rige ande­rer Oppo­si­ti­ons­frak­tio­nen (Links­par­tei und CDU), die maß­geb­lich dazu bei­getra­gen haben, der Ham­bur­ger Öffent­lich­keit ein bes­se­res Bild zu ver­schaf­fen. Und wäh­rend die AfD in ihrem Antrag zwar behaup­tet, sie unter­stütze den Kampf gegen jeg­li­che poli­tisch moti­vierte Gewalt, zei­gen die kon­kre­ten For­de­run­gen, dass sie die Erfas­sung von Gewalt­ta­ten der (extre­men) Rech­ten – inklu­sive des dort kul­ti­vier­ten Juden­hass – am liebs­ten ganz ein­stel­len will. Glei­ches gilt für Aus­stiegs­be­ra­tung aus der rech­ten Szene und wei­tere Ange­bote, ins­be­son­dere der Opferberatung.

Wir wider­spre­chen dem rechts­extre­men Ver­such, unsere Arbeit zu ver­ein­nah­men, aufs Schärfste. Die AfD ist unter der Kri­tik. Wir soli­da­ri­sie­ren uns mit allen in den Anträ­gen ange­grif­fe­nen Ver­ei­nen und Ein­rich­tun­gen, vor allem mit der Opfer­be­ra­tung empower sowie der Mel­de­stelle memo. Ihre Arbeit sollte aus­ge­baut, ver­bes­sert und zugäng­li­cher gemacht wer­den, nicht zusammengestrichen.

Redak­tion Untie­fen & Bag­rut e.V. Ham­burg, Januar 2025


[1] Laut der Web­site von memo befin­det sich die Hin­weis­stelle seit dem 1. Januar 2025 in Trä­ger­schaft der Lawaetz-Stiftung.

Schlanker Staat und schlanke Körper

Schlanker Staat und schlanke Körper

Mit der »Active City«-Stra­te­gie will Ham­burg sich als Sport­stadt pro­fi­lie­ren, den Stadt­raum even­ti­sie­ren und die Bevöl­ke­rung akti­vie­ren. Es geht also um mehr als etwas Bewe­gung im All­tag. Der Sport wird zum Trans­mis­si­ons­rie­men des vor­an­schrei­ten­den Umbaus von Stadt, Staat und Gesell­schaft ent­lang neo­li­be­ra­ler Pro­gramme. Nun steht eine erneute Olympia-Bewerbung im Raum.

Mehr als nur etwas Bewe­gung im All­tag: Die »Active City«-Strategie ist auch Aus­druck des Umbaus der Stadt ent­lang neo­li­be­ra­ler Pro­gramme. Para­dig­ma­tisch dafür ist die Hafen­City – sie wird die­sen Arti­kel foto­gra­fisch beglei­ten. Hier zu sehen ist ein Teil des »Baa­ken­parks«. Foto: privat.

Es ist keine zehn Jahre her: Ende Novem­ber 2015 stimmte eine Mehr­heit der Hamburger:innen aus guten Grün­den dage­gen, dass sich ihre Stadt als Aus­tra­gungs­ort der olym­pi­schen Spiele 2024 bewirbt. Gewor­den ist es dann Paris. Die Bil­der der dies­jäh­ri­gen Som­mer­spiele waren für Sport­se­na­tor Andy Grote »mit­rei­ßend und inspi­rie­rend«. Vor allem, so Grote, hät­ten sie »einen Ein­druck« davon ver­mit­telt, »wie es auch für Deutsch­land sein könnte.« Kein ›hätte sein kön­nen‹, son­dern ein in die Zukunft gerich­te­ter Kon­junk­tiv: Tat­säch­lich läuft die Stadt sich wie­der ein­mal warm, um die olym­pi­sche Fackel nach Ham­burg zu tra­gen – die­ses Mal soll es das Jahr 2040 werden.

Diese Pläne ste­hen im Zusam­men­hang mit der vom Ham­bur­ger Senat im Jahr 2022 beschlos­se­nen »Active City«-Strategie. Sie ist den meis­ten Hamburger:innen wohl bis­lang eher bei­läu­fig begeg­net, etwa in Form einer tem­po­rä­ren Sport­arena auf dem Hei­li­gen­geist­feld. Ein genaue­rer Blick auf diese Stra­te­gie lohnt sich jedoch. Sie ist Teil des vor­an­schrei­ten­den Umbaus von Stadt, Staat und Gesell­schaft. So besteht ein Ele­ment besag­ter Stra­te­gie, die auch aus der geschei­ter­ten Olympia-Bewerbung her­vor­ge­gan­gen ist, darin, noch mehr Gro­ße­vents nach Ham­burg zu holen. Ironman-Triathlons, Beachvolleyball-Weltmeisterschaften und nun wohl auch Olym­pia tra­gen, so die Idee, nicht nur zu einem der ver­kün­de­ten Ziele bei – der Akti­vie­rung der Bevöl­ke­rung. Die Groß-Events sol­len der »Marke Ham­burg« auch zu wei­te­rer inter­na­tio­na­ler Bekannt­heit ver­hel­fen. Vor dem Hin­ter­grund glo­ba­ler Stand­ort­kon­kur­renz ist das schließ­lich not­wen­dig und ver­spricht nicht zuletzt Gewinne in staat­li­chen wie pri­va­ten Kassen.

Es geht also um deut­lich mehr als ein wenig Sport und Bewe­gung im All­tag. Das ver­schweigt das Stra­te­gie­pa­pier auch gar nicht und darin liegt nicht das Pro­blem – ebenso wenig wie im (Breiten-)Sport selbst und sei­ner För­de­rung, die einen wei­te­ren gro­ßen Teil der Stra­te­gie aus­macht. Der moderne Sport war und ist seit jeher Pro­dukt und Pro­du­zent gesell­schaft­li­cher Ver­hält­nisse. Die Frage ist jedoch, wel­che Vor­stel­lun­gen von Gesell­schaft über den Sport in die poli­ti­sche Pra­xis über­führt wer­den. Im Falle der »Active City«-Strategie zeigt sich, wie eng sozi­al­de­mo­kra­ti­sches Regie­ren mitt­ler­weile mit einer neo­li­be­ra­len Pro­gram­ma­tik ver­wo­ben ist. Aus­zah­len dürfte sich das indes nur für die wenigs­ten Hamburger:innen. Die Stra­te­gie ver­spricht zwar mehr »Lebens­qua­li­tät« für alle – neun­zehn­mal kommt der Begriff allein im Kon­zept­pa­pier vor. Die Kehr­seite der Klimm­stange im Park und des even­ti­sier­ten Stadt­raums wird sich jedoch unter ande­rem in stei­gen­den Mie­ten und sozia­len Aus­schlüs­sen zeigen.

Die Kehr­seite der Klimm­stange im Park: stei­gende Mie­ten und soziale Aus­schlüsse. Foto: privat.

Ein Blick zurück: Olympia und die »wachsende Stadt« um das Jahr 2000

Der olym­pi­sche Traum begann in Ham­burg vor über 20 Jah­ren. Im Jahr 2002 hatte der Ham­bur­ger Senat unter Ole von Beust das Leit­bild »Metro­pole Ham­burg – Wach­sende Stadt« ver­ab­schie­det. Ein Teil die­ser Stra­te­gie bestand darin, die Som­mer­spiele im Jahr 2012 nach Ham­burg holen zu wol­len. In dem Leit­bild, so wird es auch anhand eines 2004 ver­öf­fent­lich­ten Arti­kels aus der Feder von Beusts deut­lich, war das Sport­event vor allem ein Mar­ke­ting­ve­hi­kel. Galt es doch ange­sichts beschwo­re­ner glo­ba­ler Stand­ort­kon­kur­renz »Ham­burg zu einer unver­wech­sel­ba­ren Marke [zu] machen«. Ganz neu war diese Idee nicht: Bereits im Jahr 1983 hatte der dama­lige sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Bür­ger­meis­ter Klaus von Dohn­anyi vom »Unter­neh­men Ham­burg« gespro­chen, das sich auf eine neue Stand­ort­po­li­tik ein­stel­len müsse.

Aber wieso eigent­lich sollte Ham­burg als Unter­neh­men agie­ren und sich selbst ver­mark­ten? Dafür lohnt es, in gebo­te­ner Kürze beim Leit­bild der 2000er Jahre und der his­to­ri­schen Situa­tion, die es her­vor­ge­bracht hat, zu ver­wei­len. Denn nicht nur fin­det sich der Begriff der »wach­sen­den Stadt« auch noch im aktu­el­len Stra­te­gie­pa­pier der »Active City« wie­der. Son­dern dar­über hin­aus wird in der Zeit um die Jahr­tau­send­wende eine stadt­po­li­ti­sche Matrix sicht­bar, die bis heute prä­gend ist.

Das Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« war eine Reak­tion auf die lang­an­hal­tende Krise der for­dis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nisse und des inter­ven­tio­nis­ti­schen Wohl­fahrts­staa­tes seit den 1970er Jah­ren.1Diese hat­ten sich im wirt­schaft­li­chen Auf­schwung des Wie­der­auf­baus nach dem Zwei­ten Welt­krieg her­aus­ge­bil­det. Ein hohes Wirt­schafts­wachs­tum ging ins­be­son­dere auf­grund des boo­men­den indus­tri­el­len Sek­tors mit Voll­be­schäf­ti­gung ein­her. Ideen staat­li­cher Pla­nung und öko­no­mi­scher Glo­bal­steue­rung gedach­ten nicht nur die Markt­kräfte zu besänf­ti­gen, son­dern auch den Klas­sen­kom­pro­miss durch Teil­habe aller an Wohl­stand und Kon­sum zu beför­dern. Ab den 1970er Jah­ren geriet die­ses Modell jedoch vor dem Hin­ter­grund einer kri­seln­den Welt­wirt­schaft in die Schief­lage. Erst­ma­lig stie­gen seit Ende des Krie­ges die Arbeits­lo­sen­zah­len wie­der, Indus­trie­be­triebe muss­ten schlie­ßen. Sin­kende Steu­er­ein­nah­men brach­ten auch den immer umfang­rei­che­ren Wohl­fahr­staat an seine Gren­zen. Nun wur­den Stim­men lau­ter, die Kon­zepte for­der­ten, die sich bereits in den 1930er Jah­ren her­aus­ge­bil­det hat­ten, dem dama­li­gen Abge­sang auf den laissez-faire-Kapi­ta­lis­mus in der Welt­wirt­schafts­krise jedoch nichts ent­ge­gen­set­zen konn­ten. Diese wer­den heute gemein­hin unter dem Label Neo­li­be­ra­lis­mus gefasst. Es speist sich aus Kon­zep­ten, die heute gemein­hin unter dem Label Neo­li­be­ra­lis­mus gefasst wer­den und unter ande­rem auf den Abbau (wohlfahrts-)staatlicher Ein­griffe, eine Hin­wen­dung zum Markt und die zuneh­mende Pri­va­ti­sie­rung staat­li­chen Eigen­tums zielen.

Kon­kur­renz um  Human­ka­pi­tal: Im Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« gal­ten groß­zü­gige und damit hoch­prei­sige Eigen­tums­woh­nun­gen – hier der Marco-Polo-Tower – als Stand­ort­fak­tor. Foto: privat.

In Ham­burg äußerte sich die Krise for­dis­ti­scher Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nisse darin, dass sich für die Stadt zen­trale Indus­trie­zweige wie etwa der Schiffs­bau samt Zulie­fe­rer­be­trie­ben nur bedingt hal­ten konn­ten. Auch die Einwohner:innenzahl nahm bis Ende der 1990er Jahre kon­ti­nu­ier­lich ab. Ergo musste die Stadt wach­sen, konnte dafür jedoch nicht auf die bis­he­rige indus­tri­elle Pro­duk­tion set­zen. Ver­stärkt kon­zen­trierte man sich etwa auf den Dienst­leis­tungs­sek­tor, den Tou­ris­mus und auf die soge­nannte Krea­tiv­bran­che. Ham­burg ver­stand sich zuneh­mend als Medien- und bald auch als Musi­cal­stadt. Die Stadt sah sich darin jedoch einem glo­ba­len Wett­be­werb um Human- und Finanz­ka­pi­tal aus­ge­setzt. Und die­ses Kapi­tal strömt, so die Vor­stel­lung, ins­be­son­dere in jene Metro­po­len, die über ent­spre­chende Stand­ort­fak­to­ren – und die ent­spre­chende Bekannt­heit – ver­fü­gen. Hier schließt sich nun der Kreis zu Olym­pia. Die Stadt setzte näm­lich nicht nur ver­mehrt auf wei­che Stand­ort­fak­to­ren wie Kul­tur und Sport­events. Gerade wäh­rend der Olympia-Bewerbung, so schrieb es Ole von Beust in obi­gem Arti­kel, stellte der Senat fest, »dass das Stand­ort­mar­ke­ting […] ver­stärkt wer­den muss«.

Eine wei­tere Folge der neu­jus­tier­ten Stadt­po­li­tik war die mas­sive Pri­va­ti­sie­rung zuvor staat­li­chen und genos­sen­schaft­li­chen Wohn­raums sowie des zukünf­ti­gen Woh­nungs­baus. Einer­seits lie­ßen sich so die klam­men Staats­kas­sen sanie­ren. Ande­rer­seits gal­ten grö­ßere und luxu­riö­sere (Eigentums-)Wohnungen als Stand­ort­fak­tor im Wett­be­werb um die begehr­ten unter­neh­me­ri­schen und krea­ti­ven Köpfe. Der Anteil an Sozi­al­woh­nun­gen sank in Ham­burg von 45 Pro­zent im Jahr 1980 auf 11 Pro­zent im Jahr 2010.2Ich ver­danke der Lek­türe von Arndt Neu­manns Unter­neh­men Ham­burg viele der hier nur knapp und daher sehr ver­kürzt wie­der­ge­ge­be­nen Ein­sich­ten. Vgl. Arndt Neu­mann, Unter­neh­men Ham­burg. Eine Geschichte der neo­li­be­ra­len Stadt, Göt­tin­gen 2018. Zwar ist das keine unmit­tel­bare Folge der Olympia-Bewerbung, doch kor­re­spon­diert die Ver­mark­tung bezie­hungs­weise Ver­markt­li­chung des Stadt­raums not­wen­di­ger­weise mit sei­ner Privatisierung.

Die Stadt als Unternehmen…

Das Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« war vor allem von einem Papier der Unter­neh­mens­be­ra­tung McK­in­sey inspi­riert. Wie es Dohn­anyi gefor­dert hatte, gerierte sich Ham­burg ab den 2000er Jah­ren zuneh­mend als Unter­neh­men. Für die »Active City«-Strategie beauf­tragte die Behörde für Inne­res und Sport nun keine Unter­neh­mens­be­ra­tung, son­dern das pri­vat­wirt­schaft­li­che Ham­bur­gi­sche Welt­Wirt­schafts­in­sti­tut (HWWI), das dar­auf­hin im Jahr 2020 eine Stu­die über die Öko­no­mi­schen Effekte einer vita­len Sport­stadt ver­öf­fent­lichte. Gegen­über dem Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« zeigt sich: Sport und Sport­events sol­len nicht mehr aus­schließ­lich der Hamburg-PR die­nen. Es geht auch nicht mehr allein um die För­de­rung des Breiten- und Leis­tungs­sports, wie noch bei den Vor­gän­ge­rin­nen der aktu­el­len Stra­te­gie.3Ver­wie­sen sei auf den 2016 beschlos­se­nen »Mas­ter­plan Active­City« und die »Deka­denstra­gie Sport« aus dem Jahr 2011. Mit der »Active City«-Strategie sol­len durch eine akti­vierte Bevöl­ke­rung, so die Stu­die, nun auch »Pro­duk­ti­vi­täts­ef­fekte« auf indi­vi­du­el­ler Ebene erzielt wer­den: »gerin­gere Aus­fall­zei­ten, bes­sere psy­chi­sche Gesund­heit und höhere Motivation«.

In der Logik der HWWI-Studie fun­giert die Stadt in der Tat als Unter­neh­men. Sie tätigt Inves­ti­tio­nen in der Erwar­tung von Gewin­nen. Es geht nicht zuvor­derst um das das gute Leben für alle, son­dern um schwarze Zah­len in der Staats­kasse. So errech­ne­ten die Wissenschaftler:innen des HWWI für das Jahr 2017 einen »Gesamt­ef­fekt von rund 2,4 Mil­li­ar­den Euro Wert­schöp­fung«. Jeder von der Stadt in den Sport inves­tierte Euro gene­riere »lang­fris­tig eine öko­no­mi­sche Wert­schöp­fung von rund zwei Euro«. Über die Hälfte die­ser Ein­nah­men solle sich wie­derum aus soge­nann­ten Gesundheits- und Wohl­fahrts­ef­fek­ten spei­sen. Eine akti­vierte Bevöl­ke­rung sei nicht nur sel­te­ner krank, ver­ur­sa­che weni­ger Kos­ten und habe mehr Zeit zu arbei­ten. Der Sport hätte auch »posi­tive Aus­wir­kun­gen auf die Moti­va­ti­ons­fä­hig­keit von Men­schen, deren Pro­duk­ti­vi­tät oder Teil­habe am sozia­len Leben«.

…und das unternehmerische Selbst

Bewe­gung, Sport und Spiel sind die­sem Den­ken zufolge nicht in ers­ter Linie wich­tig, weil sie etwa Freude berei­ten. Sie wer­den zunächst und vor allem als Inves­ti­tio­nen ver­stan­den. Eine Inves­ti­tion, die der Stadt­staat in den Kol­lek­tiv­kör­per der Bevöl­ke­rung tätigt, sowie Inves­ti­tio­nen, die die ange­ru­fe­nen Sub­jekte in ihre Indi­vi­du­al­kör­per vornehmen.

Doch wie wird aus die­ser markt­för­mi­gen Logik eine all­täg­li­che Pra­xis? Ein Bei­spiel dafür ist die »Active City«-App, die die Stadt vor eini­gen Jah­ren ent­wi­ckeln ließ. Diente sie anfäng­lich vor allem dazu, einen Über­blick über Sport­an­ge­bote zu erhal­ten, kamen nach und nach neue Funk­tio­nen hinzu. Die App adap­tierte darin Tech­ni­ken des soge­nann­ten Self-Trackings – also der indi­vi­du­el­len Daten­auf­nahme zur Selbst­op­ti­mie­rung. Aus dem Stadt­raum wurde ein vir­tu­el­ler »Play­ground«. Die Nutzer:innen zeich­nen darin per Schritt­zäh­ler ihre Akti­vi­tät etwa bei der Lauf­runde im Park auf und sam­meln »Coins«. Für »jede Bewe­gung«, so heißt es in der Beschrei­bung der App, wer­den »Punkte gut­ge­schrie­ben«. Die »Coins« brin­gen »satte Extra-Punkte«. In die­sem digi­ta­len Pan­op­ti­kum, so die Idee, sta­cheln die Nutzer:innen sich selbst und unter­ein­an­der zu mehr Bewe­gung an und ver­bes­sern ste­tig ihr »Wochen-Level« – Ver­lo­sun­gen für die Best­plat­zier­ten inklu­sive. Dass die Nutzer:innen nun Mün­zen sam­meln, wäh­rend sie sport­lich aktiv sind, ist eine schöne Alle­go­rie: So wie die Stadt als Unter­neh­men tätig ist, sol­len ihre Einwohner:innen zu Unternehmer:innen ihrer selbst werden.

Diese Logik kommt nicht von unge­fähr. Das HWWI ist ein pri­vat­wirt­schaft­lich finan­zier­ter neo­li­be­ra­ler Think Tank, der seit jeher per­so­nell wie ideo­lo­gisch mit ein­schlä­gi­gen Insti­tu­tio­nen wie der Initia­tive Neue Soziale Markt­wirt­schaft oder der Stif­tung Ord­nungs­po­li­tik ver­bun­den ist. Dass die dort ver­brei­te­ten Ideen mitt­ler­weile fes­ter Bestand­teil sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Poli­tik sind, wurde zu Beginn der 2000er Jahre mit dem Wan­del vom sor­gen­den zum akti­vie­ren­den Sozi­al­staat in der »Agenda 2010« der rot­grü­nen Koali­tion deut­lich. Der der­zei­tige rot­grüne Ham­bur­ger Senat schreibt im Stra­te­gie­pa­pier aus dem Jahr 2022: »Active Citi­zens« sol­len »Ver­ant­wor­tung über­neh­men« und »nicht die Frage stel­len, was der Staat für sie tun kann«. Die akti­vier­ten Einwohner:innen »fra­gen, was sie für ihre Stadt, ihren Staat und ihre Gesell­schaft tun können.«

In den neuen Regi­men der Arbeit las­sen sich Arbeits- und Frei­zeit kaum mehr tren­nen. Der Sport dient nicht allein der Stei­ge­rung der Pro­duk­ti­vi­tät der Mitarbeiter:innen – er wird selbst zu einer markt­för­mi­gen Pra­xis. Foto: privat.

Im »Zeitalter der Fitness«

Dass eine wei­tere Pri­va­ti­sie­rung und Even­ti­sie­rung des Stadt­raums – auch durch eine nun dro­hende Olympia-Bewerbung – mit stei­gen­den Mie­ten ein­her­geht und den öko­no­mi­schen Druck auf den Ein­zel­nen erhöht, hat die Kam­pa­gne NOlym­pia bereits im Jahr 2015 kri­ti­siert. Aber wo liegt das Pro­blem einer akti­vie­ren­den Poli­tik, die wie im Fall der »Active City«-Strategie doch vor­der­grün­dig zu mehr Bewe­gung im All­tag anre­gen möchte? Der His­to­ri­ker Jür­gen Mart­schukat spricht, so auch der Titel sei­nes Buchs, vom »Zeit­al­ter der Fit­ness«, des­sen Beginn nicht nur zeit­lich, son­dern auch ideo­lo­gisch mit der neo­li­be­ra­len Wende seit den 1970er Jah­ren zusam­men­fiel. »Das Indi­vi­duum soll an sich arbei­ten, das Leben im Griff haben, sich fit machen, für die eigene Leis­tung Sorge tra­gen«. Die Öko­no­mi­sie­rung des Sozia­len und die stär­ker ein­ge­for­derte Eigen­ver­ant­wor­tung pro­du­zier­ten jedoch neue soziale Aus­schlüsse und ver­schärf­ten bestehende (Klassen-)Gegensätze.

Das »Active City«-Strategiepapier schwärmt indes vom inklu­si­ven Cha­rak­ter des Sports. Dage­gen lässt sich mit Mart­schukat ein­wen­den, dass Fit­ness stets um Fat­ness kreist und gerade Über­ge­wich­tige häu­fig mehr­fa­cher Dis­kri­mi­nie­rung ent­lang von race, class und gen­der aus­ge­setzt sind – der His­to­ri­ker ver­weist hier auf die Situa­tion in den USA. Die neuen Exklu­si­ons­me­cha­nis­men wer­den jedoch nicht mehr bio­lo­gi­siert in dem Sinne, dass sie als unver­än­der­bar gel­ten. Für die Fit­ness ist das Indi­vi­duum ebenso ver­ant­wort­lich wie für die damit ver­bun­dene eigene Gesund­heit und vor allem auch den wirt­schaft­li­chen Erfolg. Wer, aus wel­chen guten Grün­den auch immer, nicht mit­hal­ten kann, hat eben nicht genug inves­tiert und bleibt auf der Strecke.

Wohl nicht zufäl­lig schweigt das »Active City«-Strategiepapier zu öko­no­mi­scher Ungleich­heit. So ver­spricht die neo­li­be­rale Stadt, deren Kon­tu­ren sich seit den 2000er Jah­ren immer deut­li­cher abzeich­nen, in ihren Pro­gram­men und Leit­bil­dern zwar eine höhe­ren Lebens­qua­li­tät für alle. Von gro­ßen Sport­events und einer akti­vier­ten Bevöl­ke­rung wer­den jedoch nur wenige pro­fi­tie­ren. Einer erneu­ten Olympia-Bewerbung gilt es daher wie­der ent­schie­den ent­ge­gen­zu­tre­ten. Wenn sie tat­säch­lich kommt, wäre sie jedoch als PR-Vehikel für die »Marke Ham­burg« vor allem Aus­druck einer tie­fer­lie­gen­den Ursa­che: des Umbaus von Stadt, Staat und Gesell­schaft ent­lang neo­li­be­ra­ler Programme. 

Johan­nes Rad­c­zinski, Okto­ber 2024

Der Autor über­denkt seine Argu­mente am liebs­ten bei bei einer Jog­ging­runde im Park – »Coins« sam­melt er dabei aber noch nicht. Auf Untie­fen schrieb er zuletzt über den soge­nann­ten »grü­nen Bun­ker«.

  • 1
    Diese hat­ten sich im wirt­schaft­li­chen Auf­schwung des Wie­der­auf­baus nach dem Zwei­ten Welt­krieg her­aus­ge­bil­det. Ein hohes Wirt­schafts­wachs­tum ging ins­be­son­dere auf­grund des boo­men­den indus­tri­el­len Sek­tors mit Voll­be­schäf­ti­gung ein­her. Ideen staat­li­cher Pla­nung und öko­no­mi­scher Glo­bal­steue­rung gedach­ten nicht nur die Markt­kräfte zu besänf­ti­gen, son­dern auch den Klas­sen­kom­pro­miss durch Teil­habe aller an Wohl­stand und Kon­sum zu beför­dern. Ab den 1970er Jah­ren geriet die­ses Modell jedoch vor dem Hin­ter­grund einer kri­seln­den Welt­wirt­schaft in die Schief­lage. Erst­ma­lig stie­gen seit Ende des Krie­ges die Arbeits­lo­sen­zah­len wie­der, Indus­trie­be­triebe muss­ten schlie­ßen. Sin­kende Steu­er­ein­nah­men brach­ten auch den immer umfang­rei­che­ren Wohl­fahr­staat an seine Gren­zen. Nun wur­den Stim­men lau­ter, die Kon­zepte for­der­ten, die sich bereits in den 1930er Jah­ren her­aus­ge­bil­det hat­ten, dem dama­li­gen Abge­sang auf den laissez-faire-Kapi­ta­lis­mus in der Welt­wirt­schafts­krise jedoch nichts ent­ge­gen­set­zen konn­ten. Diese wer­den heute gemein­hin unter dem Label Neo­li­be­ra­lis­mus gefasst. 
  • 2
    Ich ver­danke der Lek­türe von Arndt Neu­manns Unter­neh­men Ham­burg viele der hier nur knapp und daher sehr ver­kürzt wie­der­ge­ge­be­nen Ein­sich­ten. Vgl. Arndt Neu­mann, Unter­neh­men Ham­burg. Eine Geschichte der neo­li­be­ra­len Stadt, Göt­tin­gen 2018.
  • 3
    Ver­wie­sen sei auf den 2016 beschlos­se­nen »Mas­ter­plan Active­City« und die »Deka­denstra­gie Sport« aus dem Jahr 2011.

Chronik antisemitischer Vorfälle in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023

Chronik antisemitischer Vorfälle in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023

Seit dem Mas­sa­ker der Hamas am 07. Okto­ber 2023 gibt es auch in Ham­burg eine Welle anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle. Wir haben gemein­sam mit dem Bil­dungs­ver­ein Bag­rut e.V. eine Chro­nik über das ver­gan­gene Jahr erstellt, um das Aus­maß und die For­men des Anti­se­mi­tis­mus sicht­bar zu machen.

Anti­se­mi­ti­sche Bil­der, Tags und Graf­fiti aus Ham­burg nach dem 07.10.2023. Bild: Untie­fen

Am 7.10.2023 ver­übte die isla­mis­ti­sche Ter­ror­or­ga­ni­sa­tion Hamas auf israe­li­schem Boden ein geno­zi­da­les, anti­se­mi­ti­sches und miso­gy­nes Mas­sa­ker. Die grau­same und wahl­lose Ermor­dung von 1.200 Men­schen, die Ver­ge­wal­ti­gung zahl­rei­cher Frauen und die Ent­füh­rung von 250 Per­so­nen bedeu­te­ten eine Zäsur selbst in der an gewalt­vol­len Ereig­nis­sen kaum armen Geschichte des Juden­has­ses. Die liba­ne­si­sche, vom Iran gesteu­erte Miliz His­bol­lah star­tete am 8.10.2023 in Soli­da­ri­tät mit der Hamas eine neue Angriffs­welle gegen Isra­els Nor­den; die Houthi-Milizen im Jemen schlos­sen sich mit ähn­li­chen Angriffs­ver­su­chen an. Die mili­tä­ri­sche Reak­tion der israe­li­schen Streit­kräfte dau­ert bis heute an. Die Kämpfe haben im Gaza­strei­fen bereits viele Tau­send zivile Opfer gefor­dert und große Teile der dor­ti­gen Infra­struk­tur zerstört.

Welt­weit, und auch in Ham­burg, for­mierte sich nach einer nur kur­zen Schock­starre eine Welle anti­se­mi­ti­scher und isra­el­feind­li­cher Gewalt in Wort und Tat – auf Wän­den, auf den Stra­ßen, in den Hör­sä­len, in den digi­ta­len Medien. Die Gewalt rich­tet sich gegen (ver­meint­li­che) Jüdin­nen und Juden, gegen (ver­meint­lich) jüdi­sche und israe­li­sche Ein­rich­tun­gen, gegen mit Israel soli­da­ri­sche oder auch ledig­lich anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Demons­trie­rende, Aktivist:innen oder Künstler:innen, Kul­tur­zen­tren, Clubs oder Bars und viele weitere.

Die Fol­gen für jüdi­sches Leben in Hamburg

Wel­che Fol­gen die­ses gewalt­tä­tige Klima für Jüdin­nen und Juden in Ham­burg hat, berich­tete uns ein­drück­lich Rebecca Vaneeva. Sie ist der­zeit Prä­si­den­tin des Ver­bands jüdi­scher Stu­die­ren­der Nord. Die Zunahme anti­se­mi­ti­scher Anfein­dun­gen führt ihr zu Folge unter den Mit­glie­dern ihres Ver­ban­des zu einem Rück­zug in die Anony­mi­tät. Jüdi­sche Iden­ti­tät wird ver­steckt. Im öffent­li­chen Auf­tre­ten zen­sie­ren Jüdin­nen und Juden sich zuneh­mend selbst, um keine Angriffs­flä­che zu bie­ten: »Beson­ders an den Hoch­schu­len war die stän­dige Prä­senz isra­el­feind­li­cher und anti­se­mi­ti­scher Pro­teste schwer erträg­lich«, so Vaneeva.

Beson­ders an den Hoch­schu­len war die stän­dige Prä­senz isra­el­feind­li­cher und anti­se­mi­ti­scher Pro­teste schwer erträglich

Gegen­über dem Zeit­raum vor dem 07. Okto­ber hat sich in ihrer Wahr­neh­mung die Lage »auf jeden Fall ver­schlim­mert«. Vaneeva kri­ti­siert gegen­über Untie­fen: »Jüdi­sche Stu­die­rende und unser Ver­band erfah­ren zwar ver­ein­zelt Soli­da­ri­tät, aber es gibt keine aktive Gegen­be­we­gung gegen Anti­se­mi­tis­mus.« Woran fehlt es aus ihrer Sicht kon­kret? »Es bräuchte Safe Spaces, Anlauf­stel­len, die kon­se­quente Mode­ra­tion von Online-Inhalten und auch straf­recht­li­che Kon­se­quen­zen für Terror-Propaganda. Würde das ähn­li­che enga­giert ver­folgt wie etwa die ras­sis­ti­schen Gesänge in dem berüch­tig­ten ›Sylt-Video‹, wäre schon viel gewon­nen«. Die Hoch­schu­len machen es sich ihrer Mei­nung nach etwa bei anti­se­mi­ti­schen und isra­el­feind­li­chen Ver­stal­tun­gen zu bequem. Terror-relativierende Semi­nare und Vor­träge, die unter dem Deck­man­tel von Hoch­schul­grup­pen nahezu anonym orga­ni­siert wer­den kön­nen, wer­den fast immer tole­riert, selbst wenn ein­schlä­gige Aktivist:innen betei­ligt sind.

Es gibt einen ver­brei­te­ten Selbst­be­trug über die Kom­ple­xi­tät des Phä­no­mens Antisemitismus.

Den Umgang mit den ver­schie­de­nen For­men von Anti­se­mi­tis­mus bezeich­net Rebecca Vaneeva ins­ge­samt als »selek­tiv«, denn: »Es gibt einen ver­brei­te­ten Selbst­be­trug über die Kom­ple­xi­tät des Phä­no­mens Anti­se­mi­tis­mus. Rechts­extre­mer Anti­se­mi­tis­mus wird zum Glück weit­ge­hend ver­ur­teilt. Es han­delt sich aber auch um ein mus­li­mi­sches und ein lin­kes Phä­no­men. Unsere Mit­glie­der berich­ten uns, dass sogar die Mehr­zahl der Anfein­dun­gen, die sie erle­ben, aus mus­li­mi­schen und lin­ken Milieus kommen«.

Wie ist die Daten­lage in Hamburg?

Die­ser »selek­tive Umgang« wird in Ham­burg auch dadurch gestützt, dass es, anders als in ande­ren Bun­des­län­dern, keine öffent­li­che Doku­men­ta­tion anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle gibt. Abseits der v.a. durch Kleine Anfra­gen in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft[1] ver­öf­fent­lich­ten Daten der Poli­zei, die auf zur Anzeige gebrach­ten Delik­ten von Hass­kri­mi­na­li­tät basie­ren, exis­tiert offen­bar keine sys­te­ma­ti­sche Samm­lung. Gegen­über dem Vor­jah­res­zeit­raum haben sich laut die­sen Daten die Fälle anti­se­mi­ti­scher Hass­kri­mi­na­li­tät im 4. Quar­tal 2023 ver­fünf­facht. Bun­des­weite Zah­len des Bun­des­kri­mi­nal­amts zur „poli­tisch moti­vier­ten Kri­mi­na­li­tät“ (PMK) und des Bun­des­ver­bands Recherche- und Infor­ma­ti­ons­stel­len Anti­se­mi­tis­mus (RIAS) wei­sen in die­selbe Richtung.

Das zivil­ge­sell­schaft­li­che Moni­to­ring betreibt in Ham­burg die 2021 gegrün­dete, öffent­lich geför­derte digi­tale Hinweis- und Mel­de­stelle memo. Sie ver­öf­fent­li­che aller­dings bis­lang die Fall­zah­len für rechte, ras­sis­tisch und anti­se­mi­tisch moti­vierte Angriffe nur zusam­men­ge­fasst. In einem im Som­mer 2024 vor­ge­leg­ten Bericht ver­öf­fent­lichte die Trä­ge­rin der Mel­de­stelle, die Bera­tungs­stelle empower, für 2023 genauere Zah­len und berich­tete 282 dort bekannt gewor­dene Fälle von Anti­se­mi­tis­mus in Ham­burg. Nach dem 7. Okto­ber ver­zeich­nete man auch hier einen star­ken Anstieg.

Aber: Alle ver­füg­ba­ren Daten deu­ten dar­auf hin, dass es ein gro­ßes Dun­kel­feld gibt. In einer eben­falls im Som­mer 2024 ver­öf­fent­lich­ten Stu­die der Aka­de­mien der Poli­zei Ham­burg und Nie­der­sach­sen gaben 77 % der befrag­ten Ham­bur­ger Jüdin­nen und Juden an, inner­halb des ver­gan­ge­nen Jah­res Anti­se­mi­tis­mus erfah­ren zu haben. Die Stu­die schätzt den Anteil unbe­kann­ter Fälle auf 80 %. Und: die Daten ver­ra­ten nichts über die kon­kre­ten Fälle. Wer sind die Täter, wer die Geschä­dig­ten? Wel­che Ideo­lo­gien ste­hen jeweils dahinter?

Eine öffent­li­che Chro­nik für das Jahr nach 07/10

Auf­grund die­ser offe­nen Fra­gen haben wir uns ent­schlos­sen, selbst eine Chro­nik anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle in Ham­burg seit dem 7. Okto­ber 2023 anzu­le­gen. Damit wol­len wir einen Ein­druck vom Aus­maß und den ver­schie­de­nen For­men des Anti­se­mi­tis­mus in Ham­burg ver­mit­teln. Und Ent­glei­sun­gen in Erin­ne­rung hal­ten, die meist allzu schnell in Ver­ges­sen­heit gera­ten. Wir haben dazu aus ver­schie­de­nen Quel­len eine Liste von der­zeit 187 anti­se­mi­ti­schen Vor­fäl­len für den Zeit­raum 7.10.2023 bis 7.10.2024 zusam­men­ge­stellt. Dar­un­ter sind Pres­se­be­richte, online doku­men­tierte Vor­fälle, per­sön­li­che Berichte aus der jüdi­schen Com­mu­nity und von ande­ren Betrof­fe­nen sowie die genann­ten, durch die Anfra­gen in der Bür­ger­schaft ver­öf­fent­lich­ten Quar­tals­zah­len zu Hass­kri­mi­na­li­tät. Diese Moment­auf­nahme für das Jahr nach dem 7. Okto­ber kann und will aber natür­lich nicht eine sys­te­ma­ti­sche Erhe­bung und ein ent­spre­chen­des insti­tu­tio­na­li­sier­tes Moni­to­ring erset­zen. Das bleibt notwendig.

Was wir erfasst haben – und was nicht

Bekannt­lich ist die Frage, was als anti­se­mi­tisch ein­zu­ord­nen ist, durch­aus umstrit­ten. Wir haben uns an der Arbeits­de­fi­ni­tion Anti­se­mi­tis­mus der Inter­na­tio­nal Holo­caust Remem­brance Alli­ance (IHRA) von 2019 sowie der Sys­te­ma­tik des Bun­des­ver­bands RIAS ori­en­tiert. Diese unter­schei­det „ver­let­zen­des Ver­hal­ten“, „Bedro­hung“, „Angriff“, „(extreme) Gewalt“, „(gezielte) Sach­be­schä­di­gung“ und „Mas­sen­zu­schrif­ten“. Das bedeu­tet, die Fälle rei­chen poten­zi­ell von ein­schlä­gi­gen Äuße­run­gen oder anti­se­mi­tisch moti­vier­ten Ver­an­stal­tun­gen bis hin zu kör­per­li­cher Gewalt.

Bei eini­gen Vor­fäl­len, die wir recher­chie­ren konn­ten, ist nicht ohne Wei­te­res zu klä­ren, ob sie nach der ver­wen­de­ten Sys­te­ma­tik anti­se­mi­tisch genannt wer­den kön­nen.[2] Meist des­halb, weil über den Kon­text und/ oder den kon­kre­ten Ablauf wenig bekannt ist. Wir haben daher nur Fälle auf­ge­nom­men, bei denen der anti­se­mi­ti­sche Gehalt bzw. eine ent­spre­chende Inten­tion deut­lich erkenn­bar ist. Um unse­rer Ver­fah­ren trans­pa­rent zu machen, haben wir in Anhang 1 (unter der Tabelle) drei Bei­spiele für Fälle, deren Kate­go­ri­sie­rung wir inten­si­ver dis­ku­tiert haben, zusam­men­ge­stellt und unsere Ent­schei­dung kurz skizziert.

Nicht auf­ge­nom­men haben wir etwa einige Fälle von – gleich­wohl ein­deu­ti­gem – Isra­el­hass. Das meint die Dämo­ni­sie­rung Isra­els, z.B. als »Apart­heid­staat« oder als »kolo­nial«, die durch­aus in der Pra­xis meist anti­se­mi­tisch, d.h. juden­feind­lich gemeint sein kann bzw. die prak­tisch oft eine sol­che Wir­kung hat. Ähn­lich sind wir mit eini­gen offen­sicht­lich fal­schen Dar­stel­lun­gen des 7. Okto­bers (etwa als bloße Ver­tei­di­gung, als Wider­stand o.Ä.) umge­gan­gen. Unser Haupt­au­gen­merk lag dar­auf, eine mög­lichst kon­sis­tente Liste zu erzeugen.

Das bedeu­tet auch: nicht nur gab es mit Sicher­heit in Ham­burg seit dem 7. Okto­ber 2023 mehr Fälle der Art, wie wir sie zusam­men­ge­tra­gen haben. Son­dern Anti­se­mi­tis­mus bedient sich im gegen­wär­ti­gen kul­tu­rel­len Klima noch wei­te­rer Sujets und Tech­ni­ken. Dass sie nicht immer ein­deu­tig als anti­se­mi­tisch erkenn­bar sind, ist dabei durch­aus beab­sich­tigt – und Teil des Pro­blems im Umgang mit dem Anti­se­mi­tis­mus. Er ist nach Ausch­witz in der BRD – noch – mit einem öffent­li­chen Tabu belegt und wird eher indi­rekt geäu­ßert. Die Kom­mu­ni­ka­tion auf Umwe­gen, in Codes, Schlag­wor­ten und auf Ein­ver­ständ­nis zie­len­den Andeu­tun­gen dient dazu, die­ses Tabu zu umge­hen. Kaum jemand bezeich­net sich selbst als Anti­se­mi­ten. Im Gegen­teil wird der Hin­weis auf anti­se­mi­ti­sche Gehalte und Wir­kun­gen in der Pra­xis allzu oft als „Anti­se­mi­tis­mus­vor­wurf“ abge­wehrt.[3]

Schluss­fol­ge­run­gen

Unsere Liste bestä­tigt die poli­ti­sche Ein­schät­zung Rebecca Vanee­vas: bei den von uns recher­chier­ten Fäl­len han­delt es sich, soweit erkenn­bar, viel­fach um selbst­er­klärt „pro-palästinensisch“, also natio­na­lis­tisch und/oder anti­im­pe­ria­lis­tisch gerecht­fer­tigte Taten. Der rechts­extreme Anti­se­mi­tis­mus mit posi­ti­vem Bezug auf den Natio­nal­so­zia­lis­mus oder als Rela­ti­vie­rung des Holo­causts sowie ein All­tags­an­ti­se­mi­tis­mus aus der „Mitte der Gesell­schaft“ (z.B. Juden seien „ganz anders als wir“) spie­len aller­dings nach wie vor eine nicht zu unter­schät­zende Rolle.

In der unten­ste­hen­den Tabelle haben wir nicht alle 187 Fälle auf­ge­nom­men, son­dern nur exem­pla­ri­sche, die die ver­schie­de­nen For­men des Anti­se­mi­tis­mus und ihre Gewich­tung in Ham­burg mög­lichst gut illus­trie­ren. Der voll­stän­dige Daten­satz kann auf Anfrage zugäng­lich gemacht werden.

Unsere Samm­lung für das Jahr nach dem 7. Okto­ber 2023 kann aus den genann­ten Grün­den kei­nen Anspruch auf Voll­stän­dig­keit oder Reprä­sen­ta­ti­vi­tät erhe­ben. Die aller­meis­ten Vor­fälle wer­den nie gemel­det oder öffent­lich bekannt. Daher möch­ten wir Sie herz­lich bit­ten: Brin­gen Sie ent­spre­chende Fälle ggf. zur Anzeige und mel­den Sie sie in jedem Fall einer Mel­de­stelle wie dem Bun­des­ver­band RIAS. Falls Sie von wei­te­ren Vor­fäl­len im zurück­lie­gen­den Jahr in Ham­burg wis­sen, berich­ten Sie uns bitte davon. Wir wer­den die Chro­nik dann aktualisieren.

Ein gemein­sa­mes Pro­jekt von Untie­fen und dem Bil­dungs­ver­ein Bag­rut e.V., bear­bei­tet von Felix Breu­ning und Flo­rian Hessel.

AnhangErläu­te­run­gen

Bei­spiel 1: 

In die­sem Fall ste­hen uns keine aus­rei­chen­den Infor­ma­tio­nen für eine Kate­go­ri­sie­rung zur Ver­fü­gung. Es ist aller Erfah­rung nach wahr­schein­lich, dass es im Rah­men die­ser sog. pro-palästinensischen Kund­ge­bung zu die­sem Zeit­punkt zu Israel dämo­ni­sie­ren­den, anti­se­mi­ti­schen Aus­sa­gen kam; das Zei­gen eines Bilds des ehe­ma­li­gen ira­ki­schen Dik­ta­tors Sad­dam Hus­sein, der 1991 im Rah­men des zwei­ten Golf­kriegs Rake­ten auf Israel – das keine Kriegs­par­tei dar­stellte – abfeu­ern ließ, kann so inter­pre­tiert wer­den. Kund­ge­bun­gen stel­len ein demo­kra­ti­sches Grund­recht dar. Wir fol­gen der Sys­te­ma­tik der Recher­che und Infor­ma­ti­ons­stel­len Anti­se­mi­tis­mus (RIAS) und ord­nen ent­spre­chende Ver­samm­lun­gen nur als anti­se­mi­ti­sche Ver­samm­lun­gen ein, wenn „in Reden, Paro­len, auf mit­ge­führ­ten Trans­pa­ren­ten oder in Auf­ru­fen anti­se­mi­ti­sche Inhalte fest­ge­stellt“ wer­den. In die­sem Fall „wird die gesamte Ver­samm­lung als ein anti­se­mi­ti­scher Vor­fall vom Typ ver­letz­ten­des Ver­hal­ten regis­triert. Ereig­nen sich bei oder am Rande einer sol­chen Ver­samm­lung Angriffe oder Bedro­hun­gen, so wer­den diese jeweils als zusätz­li­che anti­se­mi­ti­sche Vor­fälle
doku­men­tiert.“ (RIAS 2024

Bei­spiel 2: 

Die­ser Fall wurde von uns nicht als anti­se­mi­tisch kate­go­ri­siert. Die im Inter­view mit dem NDR getä­tigte Aus­sage kann plau­si­bel als Recht­fer­ti­gung anti­jü­di­scher Aggres­sion und des Mas­sa­kers vom 7. Okto­ber inter­pre­tiert wer­den. Aller­dings ste­hen uns nicht genü­gend Infor­ma­tio­nen (ins­be­son­dere zum Gesprächs­ver­lauf und ‑kon­text) zur Ver­fü­gung, die eine seriöse Ent­schei­dung absi­chern wür­den. In der eth­no­zen­tris­ti­schen Wahr­neh­mung zweier homo­ge­ner Kol­lek­tive („Israel hat…“, „Paläs­tina hat…“) liegt eine Logik abso­lu­ter Feind­be­stim­mung, die auch ein Ele­ment des Anti­se­mi­tis­mus darstellt. 

Bei­spiel 3: 

Die­ser Fall wurde als anti­se­mi­tisch ein­ge­ord­net. Es han­delt sich um eine (gezielte) Sach­be­schä­di­gung, d.h. „die Beschä­di­gung oder das Beschmie­ren jüdi­schen Eigen­tums“ (RIAS 2024). Obwohl der Gehalt der Schmie­re­reien selbst nicht anti­se­mi­tisch ist, wer­den hier prak­tisch deut­sche Bürger:innen jüdi­schen Glau­bens für ein (ver­meint­li­ches) Han­deln des israe­li­schen Staats ver­ant­wort­lich gemacht. Auch die­ser Vor­fall illus­triert exem­pla­risch, wie Anti­se­mi­tis­mus als ein kul­tu­rel­les Klima von Bedro­hung und Aus­schluss von Jüd:innen in Deutsch­land sowie der Recht­fer­ti­gung anti­jü­di­scher Aggres­sion wirkt. 


[1] Stell­ver­tre­tend für alle enga­gier­ten Parlamentarier:innen sei hier die Arbeit von Cansu Özd­emir und Deniz Celik (beide Mit­glie­der der Bür­ger­schafts­frak­tion der Links­par­tei) her­vor­ge­ho­ben, die durch ihre regel­mä­ßi­gen Klei­nen Anfra­gen dabei hel­fen, die not­wen­dige Trans­pa­renz und Öffent­lich­keit im Bereich Hass­kri­mi­na­li­tät herzustellen.

[2] Nach Mit­tei­lung der Pres­se­stelle der Staats­an­walt­schaft Ham­burg arbei­tet die Zen­tral­stelle Staats­schutz mit der Arbeits­de­fi­ni­tion Anti­se­mi­tis­mus der IHRA; ent­spre­chende Bewer­tun­gen könn­ten sich aller­dings im Laufe von Ermitt­lun­gen und Ver­fah­ren ändern.

[3] In die­sem Zusam­men­hang wei­sen wir noch­mals auf den an die­ser Stelle vor eini­gen Wochen erschie­ne­nen Text „Klima der Juden­feind­schaft“ zum Anti­se­mi­tis­mus in Ham­burg von Flo­rian Hes­sel hin; die dort skiz­zier­ten Über­le­gun­gen Begriffe und Ana­ly­sen for­mu­lie­ren einige der Grund­la­gen und Grund­an­nah­men des vor­lie­gen­den Chronik­pro­jekts aus und geben wei­tere Literaturhinweise.

Kein Schlussstrich

Kein Schlussstrich

Das Logis­tik­un­ter­neh­men Kühne+Nagel hat sich im NS erheb­lich an jüdi­schem Eigen­tum berei­chert. Vor zwei Jah­ren löste Kri­tik daran auf dem Har­bourfront Lite­ra­tur­fes­ti­val einen klei­nen Eklat aus. Das Fes­ti­val fällt die­ses Jahr nun aus. Mul­ti­mil­li­ar­där Kühne hin­ge­gen scheint kei­nen Scha­den davon­ge­tra­gen zu haben. Doch das letzte Wort ist noch nicht gespro­chen: In Bre­men gibt es seit einem Jahr ein Mahn­mal; und neue Recher­chen eines renom­mier­ten Jour­na­lis­ten könn­ten die Debatte noch ein­mal anfachen.

Das Mahn­mal in Bre­men mag ver­gli­chen mit der Kühne+Nagel-Zen­trale klein sein, doch seine Wir­kung sollte nicht unter­schätzt wer­den. Foto: Niko­lai Wolff/Fotoetage

Vor zwei Jah­ren, Ende August 2022, kam es auf dem Har­bourfront Lite­ra­tur­fes­ti­val zum Eklat: Die Untie­fen-Redak­tion hatte einige Wochen zuvor in einer E‑Mail die acht für den nach Klaus-Michael Kühne benann­ten Debüt­preis des Fes­ti­vals nomi­nier­ten Schriftsteller:innen über die NS-Geschichte von Kühne+Nagel sowie ihre Ver­leug­nung durch den Fami­li­en­er­ben und Unter­neh­mens­in­ha­ber Kühne infor­miert. Einer von ihnen, der für sein Debüt Drau­ßen fei­ern die Leute nomi­nierte Sven Pfi­zen­maier, zog dar­auf­hin seine Teil­nahme zurück.

Das Fes­ti­val ver­suchte noch, Pfi­zen­mai­ers Rück­zug und seine Gründe unter dem Radar der Öffent­lich­keit zu hal­ten, doch es gelang nicht: Die Medien berich­te­ten dar­über, Pfi­zen­mai­ers Kol­le­gin Fran­ziska Gäns­ler zog ihre Teil­nahme eben­falls zurück, das Fes­ti­val und die Kühne-Stiftung, die nicht nur das Preis­geld stif­tete, son­dern auch als Haupt­spon­sor fun­gierte, gerie­ten stark unter Druck. Die­ser öffent­li­che Druck war es, der dann dazu führte, dass bin­nen weni­ger Tage nicht nur der Kühne-Preis umbe­nannt wurde, son­dern auch die Kühne-Stiftung sich aus dem Spon­so­ring zurück­zog. Die Jury des Prei­ses sprach Pfi­zen­maier und Gäns­ler in ihrer Stel­lung­nahme zur Preis­ver­gabe dann aus­drück­lich ihren Respekt und ihre Unter­stüt­zung aus (eine aus­führ­li­che Chro­nik der Ereig­nisse fin­det sich hier).

Aufruhr im Hamburger Literaturbetrieb

Der Aus­stieg Küh­nes als Spon­sor des Har­bourfront Fes­ti­vals war wohl schon zuvor geplant gewe­sen. Doch ein nach­hal­ti­ger Ersatz für den jah­re­lan­gen Haupt­spon­sor scheint sich nicht gefun­den zu haben: Die­ses Jahr fällt das Fes­ti­val erst­mals seit sei­ner Grün­dung vor 15 Jah­ren aus. Es wird zwar sicher nicht nur an dem Eklat von vor zwei Jah­ren lie­gen, dass sich das Fes­ti­val nun »orga­ni­sa­to­risch, per­so­nell und finan­zi­ell neu auf­zu­stel­len« ver­sucht, wie in einer Pres­se­mit­tei­lung vom Februar die­ses Jah­res ver­kün­det wurde. Aber ganz ohne Zusam­men­hang wird es nicht sein, denn mit der Kühne-Stiftung zog sich der zen­trale Geld­ge­ber zurück, ohne den das Fes­ti­val gar nicht hätte ins Leben geru­fen wer­den kön­nen – trotz jähr­lich 100.000 Euro fes­ter För­de­rung von der Kulturbehörde.

In den Medien und im Ham­bur­ger Lite­ra­tur­be­trieb wurde die Nach­richt vom Aus­fall des Fes­ti­vals mit Sorge auf­ge­nom­men. Schließ­lich reichte die Aus­strah­lung des Har­bourfront weit über Ham­burg hin­aus. Und es hat, wie Lite­ra­tur­haus­chef Rai­ner Moritz es gegen­über dem NDR im Betriebs­jar­gon aus­drückte, in Ham­burg ›den lite­ra­ri­schen Markt unglaub­lich belebt‹. Auch die Kul­tur­be­hörde wirkte, als sei sie von der Nach­richt über­rascht wor­den. Sie kün­digte zwar an, sich um Ersatz zu küm­mern, doch suchte offen­bar nicht selbst das Gespräch mit den Akteur:innen des Ham­bur­ger Literaturbetriebs.

Die Initia­ti­ven für ›Ersatz­fes­ti­vals‹ kamen statt­des­sen von pri­vat­wirt­schaft­li­chen Akteur:innen. Gleich zwei Fes­ti­vals wol­len nun die Lücke fül­len, die das Har­bourfront die­ses Jahr lässt: Die Blan­ke­ne­ser Buch­hand­lung Was­ser­mann rich­tet in der ers­ten Sep­tem­ber­hälfte mit der Herbst­lese Blan­ke­nese ein eige­nes Lite­ra­tur­fes­ti­val aus. Sogar einen Debüt­preis gibt es. Das Geld für die gro­ßen Namen und den Preis kommt vor allem vom Blan­ke­ne­ser Besitz­bür­ger­tum: Die Lange-Rode-Stiftung, deren Geld ursprüng­lich vor allem aus der Kronkorken-Produktion stammt, ist der Haupt­spon­sor. Das zweite ›Ersatz­fes­ti­val‹ ist umstrit­ten. Das Unter­neh­men hin­ter der lit.COLOGNE hat mit ELB.lit einen Ham­bur­ger Able­ger gestar­tet, der wie das Har­bourfront vor allem auf Events und große Namen setzt. Aber nicht das in wei­ten Tei­len ambi­ti­ons­lose Pro­gramm, son­dern nur der Umstand, dass die 100.000 Euro För­de­rung von der Kul­tur­be­hörde nun nicht an ein Ham­bur­ger, son­dern an ein Köl­ner Unter­neh­men gehen, sorgte hier für Empörung.

Rückblickend auf den Eklat

Bes­ser als der Ham­bur­ger Lite­ra­tur­be­trieb schei­nen die bei­den aus Pro­test gegen Kühne zurück­ge­tre­te­nen Autor:innen den Eklat vor zwei Jah­ren über­stan­den zu haben. Beide haben inzwi­schen ihren zwei­ten Roman ver­öf­fent­licht. Fran­ziska Gäns­lers Wie Inseln im Licht erschien im Früh­jahr, Sven Pfi­zen­mai­ers Schwät­zer ist gerade erschie­nen und fei­ert am 4. Sep­tem­ber in Ber­lin Buch­pre­miere.  

Wie blickt er auf die Geschichte zurück? Gegen­über Untie­fen sagte Pfi­zen­maier, er würde die Ent­schei­dung heute genauso wie­der tref­fen. Es sei zwar ein Kampf gegen Wind­müh­len, aber trotz­dem: »Wo es Lite­ra­tur betrifft, fühlt es sich auch ein biss­chen per­sön­lich an, und ich bin froh, die Gele­gen­heit genutzt zu haben, ein Zei­chen zu setzen.«

Die Befürch­tung, dass die Ent­schei­dung nega­tive Aus­wir­kun­gen auf sein Stan­ding im Lite­ra­tur­be­trieb gehabt hätte, scheint sich nicht bewahr­hei­tet zu haben, sagt Pfi­zen­maier: »Man pro­gnos­ti­zierte mir teil­weise, mich mit der Ent­schei­dung bei Preis­ju­rys womög­lich unbe­liebt zu machen, ich kann das nicht bis­her nicht bestä­ti­gen. Ich habe viel Zuspruch und Unter­stüt­zung von allen mög­li­chen Sei­ten bekommen.« 

Die Kri­tik an Küh­nes ver­wei­ger­ter Auf­ar­bei­tung sei­ner Familien- und Unter­neh­mens­ge­schichte, an sei­nem art washing und an dem Schwei­gen der Öffent­lich­keit dazu scheint jedoch schnell ver­pufft zu sein. Die vom damals eben­falls nomi­nier­ten Schrift­stel­ler Dome­nico Mül­len­sie­fen geäu­ßerte For­de­rung, dem Rück­zug der öffent­li­chen Kul­tur­för­de­rung Ein­halt zu gebie­ten, und sein Behar­ren dar­auf, dass nicht Kühne allein das Pro­blem sei, son­dern dass »deut­scher Reich­tum in vie­len, wenn nicht sogar in den meis­ten Fäl­len auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit ent­stan­den« sei, fan­den kaum Widerhall.

Kühnes Milliarden: ungefährdet

Struk­tu­rell hat sich tat­säch­lich nichts ver­än­dert. Wäh­rend die Buch­bran­che mehr denn je auf finan­zi­elle För­de­rung – öffent­lich oder pri­vat – ange­wie­sen ist,1Die Krise der Buch­bran­che hat sich ver­schärft, auch in Ham­burg, wo zuletzt die Edi­tion Nau­ti­lus einen Hil­fe­ruf abge­setzt und eine struk­tu­relle Ver­lags­för­de­rung gefor­dert hat, ähn­lich wie es sie schon für Pro­gramm­ki­nos und Thea­ter gibt. sieht die Lage bei den Super­rei­chen gewohnt rosig aus. So ist auch Klaus-Michael Kühne in den letz­ten zwei Jah­ren vor allem rei­cher gewor­den. Auf dem Bloom­berg Bil­lionaires Index wird sein geschätz­tes Ver­mö­gen aktu­ell mit knapp 45 Mrd. US-Dollar ange­ge­ben, womit er nun erst­mals als reichs­ter Deut­scher fir­miert. Und wie eh und je hält er sich mit ›Vor­schlä­gen‹ und State­ments in der (Medien-)Öffentlichkeit: Wie­der und wie­der wirbt er für seine Pläne eines neuen Opern­hau­ses, er ist als Anteils­eig­ner beim Elb­tower ein­ge­stie­gen (und ist dabei, so die Selbst­dar­stel­lung, »dem Charme von Benko erle­gen«), er hat sich über den geplan­ten Teil­ver­kauf der HHLA an den Hapag-Lloyd-Konkurrenten MSC geär­gert und das DB-Konkurrenzunternehmen Flix über­nom­men.

Der Ham­bur­ger Sitz von Kühne+Nagel am Gro­ßen Gras­brook. Hier erin­nert nichts an die Ver­gan­gen­heit des Unter­neh­mens als NS-Profiteur. Foto: Wmein­hart (Wiki­me­dia), Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Den Eklat von vor zwei Jah­ren scheint er gänz­lich unbe­scha­det über­stan­den zu haben. Dass Kühne+Nagel 1933 sei­nen jüdi­schen Teil­ha­ber Adolf Maass aus dem Unter­neh­men drängte, um dann wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs in vie­len besetz­ten Län­dern Euro­pas Nie­der­las­sun­gen zu grün­den, sich so ein Quasi-Monopol auf den Abtrans­port jüdi­schen Eigen­tums zu sichern und dadurch mas­siv von der Ver­fol­gung, Ver­trei­bung und Ermor­dung der euro­päi­schen Jüdin­nen und Juden zu pro­fi­tie­ren – davon ist kaum noch zu lesen oder zu hören. Im Gegen­satz etwa zu der Frage, wel­chen Trai­ner Kühne für ›sei­nen‹ HSV wün­schen würde, hat diese Geschichte offen­bar kei­nen Nach­rich­ten­wert. Und für das Pri­vi­leg eines Exklu­siv­in­ter­views mit Kühne ver­zich­tet man etwa beim Ham­bur­ger Abend­blatt sehr bereit­wil­lig auf kri­ti­sche Fra­gen. Auch eine kri­ti­sche Zivil­ge­sell­schaft hat sich in Ham­burg immer noch nicht for­miert. Küh­nes Wunsch nach einem Schluss­strich scheint sich hier wei­test­ge­hend erfüllt zu haben.

Von Bremen lernen

In Bre­men, wo Kühne+Nagel vor 134 Jah­ren gegrün­det wurde und wo immer noch die Deutsch­land­zen­trale ihren Sitz hat, ist das anders. Vor allem dem Enga­ge­ment Hen­ning Bleyls und Evin Oet­tings­hau­sens ist es zu ver­dan­ken, dass das Thema dort, anders als in Ham­burg, wei­ter­hin im öffent­li­chen Bewusst­sein gehal­ten wird. Bleyl und Oet­tings­hau­sen kämpf­ten jah­re­lang für ein Mahn­mal in Bre­men, das an den sys­te­ma­ti­schen Raub und die Ent­eig­nung jüdi­schen Eigen­tums im Natio­nal­so­zia­lis­mus und die Betei­li­gung bre­mi­scher Unter­neh­men, Behör­den und Bür­ge­rin­nen und Bür­ger daran erin­nert. Vor einem Jahr, am 10. Sep­tem­ber 2023, wurde das Mahn­mal ein­ge­weiht, das nun in Sicht­weite des Kühne+Nagel-Gebäu­des an die Opfer der ›Ari­sie­run­gen‹ erinnert.

Gri­gori Pan­ti­je­lew, Vor­stand der jüdi­schen Gemeinde Bre­men, bei sei­ner Rede zur Ein­wei­hung des Mahn­mals. Foto: Niko­lai Wolff/Fotoetage

Zur Ein­wei­hung zeigte sich Gri­gori Pan­ti­je­lew, Ver­tre­ter der jüdi­schen Gemeinde Bre­men, kämp­fe­risch: Das kleine Mahn­mal und das prot­zige Rie­sen­ge­bäude von Kühne+Nagel erin­ner­ten ihn an die Geschichte von David und Goli­ath, sagte er, – und man wisse ja, wer am Ende gewon­nen hat. Bei der Ein­wei­hung sprach auch Bar­bara Maass, eine Enke­lin von Adolf und Käthe Maass, die eigens zu die­sem Anlass zusam­men mit ihrem Mann aus Mon­tréal nach Deutsch­land gekom­men war. Sie hielt in Bre­men eine (hier nach­zu­le­sende) Rede, in der sie die Auf­ar­bei­tung der »skru­pel­lo­sen Hand­lun­gen der Kom­pli­zen und Pro­fi­teure des Holo­causts« – auch und gerade von Kühne+Nagel – for­derte, und zwar »hier und jetzt«. Ihr Deutsch­land­be­such führte Bar­bara Maass auch nach Ham­burg, wo sie das ehe­ma­lige Wohn­haus der Fami­lie Maass in Win­ter­hude besich­tigte, in dem ihr Vater Ger­hard seine Eltern noch 1938 besucht hatte. Außer­dem besuchte sie die Gedenk­stätte Han­no­ver­scher Bahn­hof – den Ort, an dem im Juli 1942 auch jener Zug abfuhr, der ihre Groß­el­tern nach The­re­si­en­stadt deportierte.

Bleyl und Oet­tings­hau­sen enga­gie­ren sich der­weil wei­ter. Sie orga­ni­sie­ren erin­ne­rungs­po­li­ti­sche Rad­tou­ren, betrei­ben wei­ter Recher­chen und küm­mern sich um das Mahn­mal. Mit Spach­tel und Putz­zeug haben sie eigen­hän­dig Auf­kle­ber und Farbe von den Fens­tern und Rah­men geschrubbt. Und sie haben dafür gesorgt, dass das Mahn­mal nun auch end­lich eine Text­ta­fel erhält, die über seine Bedeu­tung auf­klärt. Am 10. Sep­tem­ber, zum Jah­res­tag der Eröff­nung, wird die neue Tafel in Bre­men ein­ge­weiht werden.

Neue Impulse im Kampf um Aufklärung?

Neue Impulse könnte die öffent­li­che Aus­ein­an­der­set­zung um den Umgang mit der Geschichte Kühne+Nagels als NS-Profiteur nun aus den USA erhal­ten. Der nie­der­län­di­sche Jour­na­list David de Jong hatte 2022 mit sei­nem Buch Brau­nes Erbe über die NS-Verstrickungen der reichs­ten deut­schen Unter­neh­mer­dy­nas­tien – der Fami­lien Quandt, Flick, von Finck, Porsche-Piëch, Oet­ker und Rei­mann – inter­na­tio­nal für Auf­se­hen gesorgt. Die Fami­lie Kühne fehlte in die­ser Zusam­men­stel­lung. Nun aber hat er andert­halb Jahre recher­chiert, um einen Nach­trag zu Kühne+Nagel zu schrei­ben. Noch im Sep­tem­ber wird sein umfang­rei­cher Inves­ti­ga­tiv­ar­ti­kel in der Zeit­schrift Vanity Fair erschei­nen.

Dass Kühne in sei­nem Buch nicht auf­tauchte, hatte einen ein­fa­chen Grund: Klaus-Michael Kühne hat zwar ein ›brau­nes Erbe‹ ange­tre­ten, doch er selbst hat keine Erben. Sein Ver­mö­gen wird nach sei­nem Tod einer Stif­tung ver­macht wer­den. Der Impuls, nun trotz­dem noch über Kühne zu recher­chie­ren und zu schrei­ben, kam zunächst von außen, berich­tet de Jong im Gespräch mit Untie­fen: Er sei 2022 nach dem Erschei­nen sei­nes Buchs von meh­re­ren Leser:innen – dar­un­ter der in Eng­land leben­den Groß­nichte von Adolf und Käthe Maass – ange­regt wor­den, auch noch zur Geschichte der Küh­nes zu recherchieren.

David De Jongs Buch Brau­nes Erbe erschien 2022 bei Kie­pen­heuer & Witsch.

Die Recher­chen führ­ten im Ver­lauf der andert­halb Jahre in vier ver­schie­dene Län­der, berich­tet de Jong. So sprach er in Mon­tréal mit Bar­bara Maass und sich­tete Bestände des Mont­real Holo­caust Museum; er besuchte in Bre­men die Eröff­nung des Mahn­mals und recher­chierte in Ham­burg im hie­si­gen Staats­ar­chiv. Obwohl Klaus-Michael Kühne den Zugang zum Unter­neh­mens­ar­chiv immer noch ver­sperrt, ver­spricht de Jongs Arti­kel bri­sante neue Erkennt­nisse – und zwar nicht nur über das Aus­maß der Betei­li­gung von Kühne+Nagel an der M‑Aktion, son­dern auch über das Aus­maß der Ver­schleie­rung und Ver­drän­gung die­ser Ver­bre­chen nach dem Zwei­ten Welt­krieg, nicht zuletzt durch Klaus-Michael Kühne selbst.

Die deut­sche Aus­gabe der Vanity Fair wurde vor 15 Jah­ren ein­ge­stellt. De Jongs Arti­kel wird also zunächst nicht auf Deutsch zu lesen sein. Es steht zu hof­fen, dass seine Ent­hül­lun­gen trotz­dem auch hier gebüh­rende Wir­kung ent­fal­ten wer­den. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Her­stel­lung einer inter­na­tio­na­len Öffent­lich­keit für den ent­schei­den­den Impuls in einer Debatte um die NS-Aufarbeitung sorgt – erin­nert sei hier etwa an die Debatte um die Ent­schä­di­gung von Zwangsarbeiter:innen Ende der neun­zi­ger Jahre. Dass erst auf inter­na­tio­na­len Druck hin gehan­delt wird, ist bezeich­nend für den in Deutsch­land übli­chen Wider­wil­len, die Ver­gan­gen­heit ernst­haft auf­zu­ar­bei­ten. Aber es zeigt auch: Beharr­lich­keit lohnt sich; und nie­mand sitzt so fest auf sei­nem Thron, dass er nicht ins Wan­ken gebracht wer­den kann. Der HSV, von Kühne maß­geb­lich finan­zi­ell unter­stützt, galt lange als »unab­steig­bar« und düm­pelt nun seit sechs Jah­ren in der zwei­ten Bun­des­liga herum. Auch Kühne, der manch­mal als unbe­zwing­bar erscheint, wird mit sei­ner For­de­rung nach einem Schluss­strich unter die Ver­gan­gen­heit und sei­ner Behin­de­rung der Auf­ar­bei­tung nicht mehr lange durchkommen.

Lukas Betz­ler, Sep­tem­ber 2024

Der Autor ist Mit­glie­der der Redak­tion Untie­fen. Er hat hier schon vor zwei Jah­ren Bei­träge zu Kühne+Nagel ver­öf­fent­licht und einen auf You­tube nach­zu­hö­ren­den Vor­trag von Hen­ning Bleyl zu dem Thema mode­riert. Den neuen Roman von Sven Pfi­zen­maier hat er gerade mit im Urlaubsgepäck.

  • 1
    Die Krise der Buch­bran­che hat sich ver­schärft, auch in Ham­burg, wo zuletzt die Edi­tion Nau­ti­lus einen Hil­fe­ruf abge­setzt und eine struk­tu­relle Ver­lags­för­de­rung gefor­dert hat, ähn­lich wie es sie schon für Pro­gramm­ki­nos und Thea­ter gibt.

Klima der Judenfeindschaft

Klima der Judenfeindschaft

Der Über­fall der radikal-islamischen Hamas auf Israel am 7. Okto­ber 2023 und das fol­gende Mas­sa­ker mit über 1.200 Todes­op­fern sind eine Zäsur, selbst in der an grau­en­vol­len Ereig­nis­sen kei­nes­wegs armen Geschichte des Anti­se­mi­tis­mus. Ihre glo­ba­len Nach­wir­kun­gen – keine Äch­tung anti-humanistischer Ideo­lo­gien und Poli­tik, son­dern im Gegen­teil eine Ent­hem­mung der aggres­si­ven Dämo­ni­sie­rung des Juden­staats und der Bedro­hung von Jüdin­nen und Juden – sind auch in Ham­burg zu spüren.

Nichts Abwei­chen­des mag noch ertra­gen wer­den: Pla­kate, die an die von der Hamas fest­ge­hal­te­nen Gei­seln erin­nern, wer­den auch in Ham­burg abge­ris­sen. Foto: privat

Schon der Blick auf die Zah­len ist erschre­ckend: Bun­des­weit ist die Zahl anti­se­mi­ti­scher Vor­fälle nach dem 7. Okto­ber dra­ma­tisch gestie­gen, das­selbe gilt für Ham­burg. Hier machte Anti­se­mi­tis­mus 2023 24% aller erfass­ten Fälle von Hass­kri­mi­na­li­tät aus – wobei weni­ger als 0,2% der Hamburger:innen jüdi­schen Glau­bens sind. Im vier­ten Quar­tal hat sich die Fall­zahl gegen­über dem Vor­jah­res­zeit­raum ver­fünf­facht, auf 67 gegen­über 12 Fäl­len (siehe die Klei­nen Anfra­gen der Links­frak­tion zur Hass­kri­mi­na­li­tät in Ham­burg in 2022 und 2023). Im Rah­men einer im Som­mer 2024 erschie­ne­nen Stu­die unter ande­rem der Hoch­schule der Aka­de­mie der Poli­zei Ham­burg gaben mehr als drei Vier­tel der befrag­ten Ham­bur­ger Jüdin­nen und Juden an, inner­halb der letz­ten zwölf Monate Anti­se­mi­tis­mus erfah­ren zu haben.

Nach allen Erkennt­nis­sen bleibt ein gro­ßer Teil der dahin­ter lie­gen­den Fälle anti­se­mi­ti­scher Dis­kri­mi­nie­rung und Gewalt außer­halb der Wahr­neh­mung von Öffent­lich­keit und Behör­den – die erwähnte Stu­die schätzt den Anteil auf 80%. Zivil­ge­sell­schaft­lich gesam­melte Daten, die die­ses große Dun­kel­feld erfah­rungs­ge­mäß erhel­len könn­ten, stan­den für Ham­burg allzu lange nicht zur Ver­fü­gung: Die 2021 gegrün­dete, öffent­lich geför­derte digi­tale Hinweis- und Mel­de­stelle memo ver­öf­fent­licht im Gegen­satz zu den Recherche- und Infor­ma­ti­ons­stel­len Anti­se­mi­tis­mus (RIAS) in ande­ren Bun­des­län­dern keine Fälle oder (aus­sa­ge­kräf­tige) Zah­len. Ein nun vom Trä­ger der Mel­de­stelle, der Bera­tungs­stelle für Betrof­fene ras­sis­ti­scher, anti­se­mi­ti­scher und rech­ter Gewalt Empower, vor­ge­leg­ter Bericht gibt 282 Fälle von Anti­se­mi­tis­mus in Ham­burg für 2023 an – mehr als ein Drit­tel der inge­samt dort bekannt gewor­de­nen men­schen­feind­li­chen Taten; im Zeit­raum nach dem 7. Okto­ber ver­dop­pel­ten sich auch hier die Fälle.

Plakativer Judenhass

Die Wände und die Öffent­lich­keit der Stadt erlau­ben uns einen wei­te­ren Ein­blick in die Rea­li­tät des Anti­se­mi­tis­mus. Wenige Tage nach dem 7. Okto­ber begin­nend, wer­den auf Haus­wän­den und Later­nen fort­lau­fend soge­nannte pro-palästinensische Slo­gans, Auf­kle­ber etc. ange­bracht. Neben die seit Jahr­zehn­ten obli­ga­to­ri­schen natio­na­lis­ti­schen Paro­len wie »Free Pal­es­tine« tre­ten immer wie­der auch Israel dämo­ni­sie­rende, mani­fest anti­se­mi­ti­sche Bil­der: So wurde laut Bericht eines Anwoh­ners auf St. Pauli z.B. nach dem 7. Okto­ber ein Graf­fito mit blut­ro­ten Hand­ab­drü­cken plat­ziert – eine Chif­fre, die sich zustim­mend auf den Lynch­mord an zwei israe­li­schen Sol­da­ten zu Beginn der Zwei­ten Inti­fada ab 2000 bezieht; aus Eims­büt­tel mel­de­ten Anwohner:innen der Insta­gram­seite Civil-Watch against Anti-Semitism Anfang Juli 2024 Auf­kle­ber mit dem roten Drei­eck (der Ziel­mar­kie­rung der Hamas-Propaganda) und dem Slo­gan »Bring Them Back to Europe – Deco­lo­nize Pal­es­tine«. Isra­els­o­li­da­ri­sche oder auch nur anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Bot­schaf­ten, sogar Pla­kate, die an die von der Hamas fest­ge­hal­te­nen Gei­seln erin­nern, wer­den abge­ris­sen, beschä­digt oder über­malt.

Jeg­li­che isra­els­o­li­da­ri­sche Kund­ge­bung und anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Ver­an­stal­tung hat mit Stö­run­gen und mit min­des­tens ver­ba­len Bedro­hun­gen zu rechnen

Jeg­li­che isra­els­o­li­da­ri­sche Kund­ge­bung und anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Ver­an­stal­tung hat mit Stö­run­gen und mit min­des­tens ver­ba­len Bedro­hun­gen zu rech­nen: Im Anschluss an eine Soli­da­ri­täts­kund­ge­bung mit Israel Mitte Okto­ber 2023 etwa wur­den zwei Organisator:innen beschimpft und phy­sisch ange­grif­fen, eine israe­li­sche Fahne wurde gewalt­sam ent­wen­det; auf einer Podi­ums­dis­kus­sion in den Bücher­hal­len Ende Januar 2024 wur­den die jüdi­schen Podi­ums­teil­neh­me­rin­nen als »Nazis« und »KZ-Wächter« beschimpft und phy­sisch bedroht.

Boykotte und alltäglicher Antisemitismus

Kon­krete Posi­tio­nie­run­gen sind dabei zuneh­mend irrele­vant: So war z.B. das Punk­fes­ti­val Booze Cruise mas­si­ven Anfein­dun­gen im Netz und inter­na­tio­nal einem fak­ti­schen Boy­kott aus­ge­setzt, weil der Ver­an­stal­ter als »Zio­nist« und »Gen0cide-Supporter« [sic!] mar­kiert wurde. Seit Anfang Mai 2024 konnte nach US-amerikanischem Vor­bild von palästinensisch-nationalistischen Grup­pen und Aktivist:innen ein »Protest-Camp« am Rande der Uni­ver­si­tät Ham­burg eta­bliert wer­den. Aus des­sen Umfeld kam es am 8. Mai im Anschluss an eine anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Vor­trags­ver­an­stal­tung in der Uni­ver­si­tät zu einer wohl spon­ta­nen, aber geziel­ten ver­ba­len und phy­si­schen Atta­cke auf ein Vor­stands­mit­glied der Deutsch-Israelischen Gesell­schaft, wenige Tage spä­ter zu einer als Angriff zu ver­ste­hen­den kurz­zei­ti­gen Beset­zung der Roten Flora.

Nach einer kur­zen Phase media­ler Dis­kus­sion direkt nach dem 7. Okto­ber sind die Ham­bur­ger Schu­len aus dem Fokus der Öffent­lich­keit ver­schwun­den. Die Zahl von Anfra­gen für Antisemitismus-Workshops an Akteure der poli­ti­schen Bil­dung ist jedoch seit­her wei­ter gestie­gen und zumin­dest an eini­gen Schu­len ist das Niveau der Vor­fälle hoch. Wie Lehrer:innen von Har­bur­ger Schu­len gegen­über Untie­fen berich­te­ten rei­chen diese Vor­fälle bis hin zu demons­tra­ti­ver Ver­herr­li­chung des anti­se­mi­ti­schen Mas­sen­mords und der Bedro­hung enga­gier­ter Lehr­kräfte. Nur Weni­ges über­schrei­tet die Schwelle der öffent­li­chen Wahr­neh­mung: In der Ant­wort des Senats auf eine Kleine Anfrage in der Bür­ger­schaft vom Novem­ber 2023 wer­den vier Bom­ben­dro­hun­gen gegen Schu­len »im Zusam­men­hang mit dem Nah­ost­kon­flikt« erwähnt, die von der Poli­zei jedoch als »keine Gefähr­dungs­lage« ein­ge­stuft wor­den seien.

Wie sich deut­lich zeigt, eröff­net die Dyna­mik der Ereig­nisse – von den Mor­den, Ver­ge­wal­ti­gun­gen und Ent­füh­run­gen am 7. Okto­ber in Israel bis hin zum grau­sa­men Kriegs­ge­sche­hen in Gaza und des­sen media­ler Dau­er­prä­senz – auch in Ham­burg Mög­lich­keits­räume und Gele­gen­heits­struk­tu­ren für juden­feind­li­che Aggres­sio­nen und Affekte. Gefüllt und genutzt wer­den diese Räume ebenso im per­sön­li­chen Umgang und Umfeld – off­line oder online – wie von öffent­li­chen Akteur:innen.

In der Sache geeint: IslamistInnen und autoritäre Linke

Anti­se­mi­tis­mus bezeich­net Juden­hass – eine auf Jüdin­nen und Juden bezo­gene Pra­xis der Gewalt in Wort und Tat und deren gleich­zei­tige Recht­fer­ti­gung, und tritt in allen gesell­schaft­li­chen Schich­ten und poli­ti­schen Spek­tren auf. Der Aus­sage, Israel mache im Prin­zip mit den Paläs­ti­nen­sern das­selbe wie die Nazis mit den Juden, stimmte zuletzt 2022 43% der deut­schen Wohn­be­völ­ke­rung zu. Gleich­wohl sind es bestimmte Milieus, die gegen­wär­tig eine her­vor­ge­ho­bene Rolle spie­len. Nament­lich sind dies isla­mis­ti­sche Milieus, Teile der auto­ri­tä­ren Lin­ken sowie akti­vis­ti­sche, selbst­er­klärt »pro-palästinensische« Kreise. Die Chif­fre »Paläs­tina« sowie Isra­el­hass und Anti­se­mi­tis­mus die­nen hier – in jeweils unter­schied­li­cher Weise – als Agi­ta­ti­ons­mit­tel, die einen gro­ßen emo­tio­na­len Rück­hall in post­mi­gran­ti­schen und/oder akti­vis­ti­schen Milieus ver­spre­chen, vor allem unter Jugend­li­chen und bis in die bürgerlich-liberale Mitte hinein.

Vor­feld­or­ga­ni­sa­tio­nen der isla­mis­ti­schen Hizb ut-Tahrir hat­ten bereits kurz nach dem 7. Okto­ber in St. Georg eine »spon­tane« anti-israelische Kund­ge­bung orga­ni­siert. 2024 folg­ten zwei wei­tere, ange­mel­dete Demons­tra­tio­nen, die bun­des­weit breit the­ma­ti­siert wur­den. Über Social Media als Bil­der der Stärke insze­niert, sol­len dar­über Anhän­ger mobi­li­siert und Sym­pa­thi­san­ten für eine miso­gyne, juden- und min­der­hei­ten­feind­li­che, ins­ge­samt isla­mis­ti­sche, demo­kra­tie­feind­li­che Agenda gewon­nen wer­den. Autoritär-linke, »rote« oder »kom­mu­nis­ti­sche« Grup­pen ver­öf­fent­lich­ten zügig Israel dämo­ni­sie­rende State­ments (»Der Ter­ro­rist heißt Israel» u.ä.) und agi­tie­ren ent­spre­chend. Die Bünd­nis­demo die­ses Spek­trums zum 1. Mai 2024 wurde weit­ge­hend von palästinensisch-nationalistischen Paro­len und Sym­bo­len domi­niert. Neben der Mobi­li­sie­rung dient diese Posi­tio­nie­rung als Instru­ment, um anti-autoritäre Linke im Kampf um Ein­fluss, Deu­tun­gen (v.a. von Anti­se­mi­tis­mus) und Kon­trolle von Räu­men unter Druck zu setzen.

Gegen­über den isla­mis­ti­schen und autoritär-linken Grup­pen ist das als akti­vis­tisch umschrie­bene Milieu deut­lich hete­ro­ge­ner in Zusam­men­set­zung und Aus­rich­tung. Anders als diese kann man eine Wir­kung in die wei­tere poli­ti­sche Öffent­lich­keit hin­ein ent­fal­ten. Dies gilt auch für orga­ni­sierte Grup­pen der »Palästina-Solidarität« wie Thawra, deren Grund­struk­tu­ren bereits län­ger eta­bliert sind und die min­des­tens ideo­lo­gisch auch Über­schnei­dun­gen mit den zuvor beschrie­be­nen Grup­pen auf­wei­sen. Sie betrei­ben Kam­pa­gnen­po­li­tik und radi­ka­li­sie­ren sich in wider­spruchs­freien Echo­kam­mern wie dem »Protest-Camp«. Wie bereits skiz­ziert, wer­den ent­ge­gen der Selbst­be­schrei­bung als sich der gan­zen Macht von Staat und Gesell­schaft ent­ge­gen­stel­len­den Widerstandskämpfer:innen, vor allem »wei­che«, nicht-staatliche und in die­sem Sinn unge­schützte Ziele aus Sub­kul­tur und Bil­dungs­sek­tor gewählt: Man ver­sucht jed­we­den lin­ken Pro­test und jede Struk­tur ver­ein­nah­mend zu kapern und bedroht ein besetz­tes auto­no­mes Zen­trum; man demons­triert regel­mä­ßig gegen eine uni­ver­si­täre Vor­le­sungs­reihe zu Juden­feind­schaft und stört diese mehr oder weni­ger orga­ni­siert. (Alles prak­ti­scher­weise meist nur einen kur­zen Fuß­weg oder eine S‑Bahnstation vom »Protest-Camp« entfernt.)

Von jeder Wand muss es her­un­ter­schreien: Anti-Israelische Raum­nahme durch Graf­fiti. Foto: privat

Israelhass als kultureller Code

Eine wesent­li­che Ziel­gruppe die­ser natio­na­lis­ti­schen Kam­pa­gnen­pra­xis ist ein wei­te­res, eher dif­fu­ses, for­mal unor­ga­ni­sier­tes, aktivistisch-künstlerisches Milieu von Per­so­nen an oder im Umfeld von Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen oder Hoch­schu­len, die sich mehr­heit­lich als links oder links­li­be­ral ver­ste­hen wür­den. Im Fokus stan­den in jeweils ande­rer Weise die Hoch­schule für bil­dende Künste Ham­burg (HfBK), das Kul­tur­zen­trum Kamp­na­gel und seit dem Früh­jahr 2024 zuneh­mend die Uni­ver­si­tät Hamburg.

Der Kam­pa­gnen­po­li­tik im Sinne eines undif­fe­ren­zier­ten, kom­pro­miss­lo­sen paläs­ti­nen­si­schen Natio­na­lis­mus wird im wei­te­ren künstlerisch-aktivistischen Milieu von einer Hal­tung Raum gege­ben, in der das Res­sen­ti­ment gegen Israel (als Schlag­wort: »die Isra­el­kri­tik«) affek­tiv ver­an­kert ist. Durch­aus auch auf­grund die­ser jahr­zehn­te­al­ten natio­na­lis­ti­schen Kam­pa­gnen wie des ent­spre­chen­den Erbes der Neuen Lin­ken nach 1968, fun­gie­ren die »Isra­el­kri­tik«, der »Anti-Zionismus«, die Dämo­ni­sie­rung Isra­els als ein kul­tu­rel­ler Code, wie dies die His­to­ri­ke­rin Shul­a­mit Vol­kov benannt hat (2000: 84ff.), d.h. als »Erken­nungs­zei­chen der Zuge­hö­rig­keit zu einem bestimm­ten, sub­kul­tu­rel­len Milieu« und einer emo­tio­na­li­sier­ten moralisch-politischen Hal­tung: Im Mit­tel­punkt, so Vol­kovs Ana­lyse, ste­hen nicht die tat­säch­li­chen Fra­gen, son­dern »der sym­bo­li­sche Wert, ihnen gegen­über einen Stand­punkt zu bezie­hen.« Und heute gilt umso deut­li­cher was Vol­kov bereits in den 1980er Jah­ren fest­ge­hal­ten hatte, dass glo­bal anschei­nend »die Juden oft zum Sym­bol für all das gewor­den [sind][…], was man am Wes­ten geh­aßt und ver­ab­scheut hat«: nament­lich Kolo­nia­lis­mus, Natio­na­lis­mus und Ras­sis­mus, Aus­beu­tung, Aus­gren­zung und Unter­drü­ckung.[1]

Dämo­ni­sie­ren­der Isra­el­hass muss nicht selbst pro­pa­giert wer­den, son­dern des­sen Nor­ma­li­sie­rung als ein kul­tu­rel­ler Ori­en­tie­rungs­punkt ist das ent­schei­dende Moment, wie es Lukas Betz­ler an die­ser Stelle anhand des Kli­ma­fes­ti­vals im Januar auf Kamp­na­gel exem­pla­risch beschrie­ben hat. In die­sem kul­tu­rel­len Klima aus offe­ner Aggres­sion und bes­ten­falls ver­un­si­cher­ter Derea­li­sie­rung ange­sichts eines »kon­tro­ver­sen The­mas« – Anti­se­mi­tis­mus und ein poli­tisch kom­ple­xer, his­to­risch auf­ge­la­de­ner Kon­flikt – bil­den sich die Mög­lich­keits­räume und Gele­gen­heits­struk­tu­ren, die ein Medium von Juden­hass in der Gegen­wart darstellen.

»Berechtigter« Antisemitismus?

Auf­rufe zu Gewalt gegen Jüdin­nen und Juden, Israe­lis, »Zio­nis­ten« – auf Social Media oder zumin­dest eini­gen Ham­bur­ger Schul­hö­fen immer weni­ger codiert zu hören –, sind dabei ein Moment. Ent­schei­den­der sind die Derea­li­sie­rung und Kon­se­quenz­lo­sig­keit der für sich spre­chen­den Taten und Tat­sa­chen, die Ver­schie­bung der Debatte auf den »Anti­se­mi­tis­mus­vor­wurf« statt den Anti­se­mi­tis­mus, und die Ver­wei­ge­rung von Empa­thie gegen­über den Erfah­run­gen von Jüdin­nen und Juden. Ent­schei­den­der ist das Miss­trauen, das der­art ent­steht. Die immer hem­mungs­lo­sere Aggres­sion zieht ihre Ziele – Jüdin­nen und Juden; Akteure, die sich gegen Anti­se­mi­tis­mus und Isra­el­hass posi­tio­nie­ren; belie­bige Fes­ti­val­ver­an­stal­ter, die ein unter­wer­fen­des Bekennt­nis ver­wei­gern – mit in Ver­dacht. In die­sem kul­tu­rel­len Klima prägt sich Anti­se­mi­tis­mus als soge­nann­ter sekun­dä­rer aus, als Entlastungs- oder Schuld­ab­wehr­an­ti­se­mi­tis­mus: Die Opfer wer­den für Gewalt, Hass und Ver­fol­gung, die auf sie gerich­tet wer­den, ver­ant­wort­lich gemacht. Oder wie der Sozio­loge Det­lev Claus­sen in Gren­zen der Auf­klä­rung sar­kas­tisch for­mu­lierte (2005, XIV): »Unter Anti­se­mi­tis­mus wird eine unbe­rech­tigte Aggres­sion gegen Juden ver­stan­den; aber berech­tigte Angriffe sind denk- und arti­ku­lier­bar geworden.«

Die Wände und Räume der Stadt sind ein pas­sen­des Bild für das, was heute Anti­se­mi­tis­mus heißt, die aktu­ellste Recht­fer­ti­gung von anti­jü­di­scher Aggres­sion in Wort und Tat: Von jeder Wand muss es her­un­ter schreien. Jeder Raum soll mit der abso­lu­ten Gewiss­heit besetzt wer­den. Nichts Abwei­chen­des mag noch ertra­gen wer­den. Der sich ste­tig selbst radi­ka­li­sie­rende, kom­pro­miss­un­fä­hige, hoch emo­tio­na­li­sierte Modus der anti-israelischen Camps, Graf­fi­tis, Kam­pa­gnen und Bekennt­nisse ent­hält das Res­sen­ti­ment gegen Geist, Dia­log und Refle­xion und zwingt die unüber­sicht­li­che Welt in sein ein­deu­ti­ges Schema von Gut und Böse. Und von sol­cher in wider­spruchs­lo­sen Räu­men ver­stärk­ten (Selbst-)Gewissheit ist es nur noch ein kur­zer Weg dahin, den von den eige­nen mar­tia­li­schen Paro­len erzeug­ten Mythos als Rechts- und Macht­an­spruch in die (Gewalt-)Tat umset­zen zu dür­fen, ja gera­dezu: umset­zen zu müssen.

Man wäge genau ab, wo man hin­gehe, berich­tet eine aus der Ukraine geflüch­tete Ham­bur­ger Jüdin der taz: »Ich frage mich: Wann werde ich ange­grif­fen?« Die all­ge­gen­wär­tige, Israel dämo­ni­sie­rende Pro­pa­ganda, die Ver­ein­nah­mung des Raums der Stadt, das kul­tu­relle Klima erzeu­gen für Jüdin­nen und Juden eine Atmo­sphäre der Bedro­hung und des Aus­schlus­ses von Orten ihres All­tags. Gegen die allzu breit akzep­tierte, fal­sche Wahr­neh­mung zweier glei­cher­ma­ßen kompromiss- und dia­log­un­fä­hi­ger »Geg­ner« ist fest­zu­hal­ten: Wäh­rend die anti-israelischen Aktivist:innen selbst­er­klärt für ein poli­ti­sches Anlie­gen ein­tre­ten und die Frei­heit rekla­mie­ren, Men­schen mit abwei­chen­den Hal­tun­gen zu bedro­hen, wol­len Jüdin­nen und Juden ein­fach in Frei­heit von sol­cher Dro­hung in ihrer Stadt leben.

– Die­ser Arti­kel erschien in einer frü­he­ren Ver­sion auf vernetztgegenrechts.hamburg –

Flo­rian Hes­sel, August 2024

Der Autor lebt in Ham­burg und hat allzu oft keine Wahl als über diese Gesell­schaft und ihren Anti­se­mi­tis­mus zu leh­ren und zu schrei­ben.

Der Autor dankt Janne Misie­wicz und Olaf Kis­ten­ma­cher sowie der Redak­tion Untiefen.


[1] Ähn­li­ches gilt auch für einige post­mi­gran­ti­sche, stär­ker türkisch- oder arabisch-nationalistisch geprägte Milieus. Hier ver­bin­det sich ähn­lich wie im Isla­mis­mus der eini­gende, dämo­ni­sie­rende Isra­el­hass mit Res­sen­ti­ments gegen Min­der­hei­ten wie Kurd:innen oder Yezid:innen – gerade wo diese ihre eigene Ver­fol­gungs­er­fah­rung im Mas­sa­ker vom 7. Okto­ber und des­sen Rela­ti­vie­rung reflek­tiert sehen.

Der neue Garten des Kapitalismus

Der neue Garten des Kapitalismus

Im Her­zen Ham­burgs wurde der ehe­ma­lige Flak­turm IV, der Bun­ker an der Feld­straße, auf­ge­stockt und begrünt. In die­sem Zuge sollte auch ein Dach­gar­ten als Park für die Öffent­lich­keit ent­ste­hen. Her­aus­ge­kom­men ist eine alles andere als ein­la­dende Dau­er­wer­be­flä­che. Sie ist auch ein Fens­ter auf die der­zei­tige Stadt­ent­wick­lung und ‑ver­wer­tung.

Der Bun­ker an der Feld­straße kurz nach der Eröff­nung des Dach­gar­ten­ho­tels. Foto: privat. 

„Ein Park soll zum Ver­wei­len ein­la­den“, hieß es in der im Mai 2015 erschie­ne­nen zwei­ten Aus­gabe des Ideen­jour­nals für eine Stadt­na­tur auf St. Pauli. Her­aus­ge­ge­ben hatte das Heft eine im Jahr 2014 gegrün­dete Initia­tive von Anwohner:innen, die sich für die Begrü­nung des ehe­ma­li­gen Flak­bun­kers an der Feld­straße ein­setzte – so zumin­dest die öffent­li­che Dar­stel­lung. Kri­tik an dem Pro­jekt gab es schon zu die­sem Zeit­punkt. Neben Zwei­feln an der Selbst­dar­stel­lung der Initia­tive warn­ten ansäs­sige urban-gardening-Grup­pen auch vor der Ver­ein­nah­mung stadteil­po­li­ti­scher Anlie­gen durch Inves­to­ren und Krea­tiv­agen­tu­ren. In einer gemein­sa­men Stel­lung­nahme aus dem Jahr 2014 ver­ur­teil­ten sie „die mar­ke­ting­tech­nisch gewitzte Prä­sen­ta­tion des Groß­vor­ha­bens“. Die „Bun­ker­groß­bau­stelle beschert uns eine grüne Aufwertungsspirale.“

Rund zehn Jahre spä­ter, im Juli 2024, fei­er­ten der Dach­gar­ten und mit ihm unter ande­rem ein Hotel in sei­nem Inne­ren ihre Eröff­nung. Die Kri­tik ist mitt­ler­weile fast ver­stummt. Die Lokal­presse über­nahm nicht nur den Marketing-Sprech vom „grü­nen Bun­ker“, sie beju­belt ihn nahezu durch­gän­gig als „neues Wahr­zei­chen Ham­burgs“. Doch ein Blick hin­ter die Fas­sade – oder bes­ser: ihr Gestrüpp – eröff­net ein ande­res Bild. Der Park, wenn er denn so genannt wer­den kann, lädt nicht gerade zum Ver­wei­len ein. Viel­mehr scheint der Dach­gar­ten vor allem ein geschick­tes Mar­ke­ting­tool zu sein, das nicht nur den Bun­ker auf­stockt, son­dern auch das fik­tive Kapi­tal von Immo­bi­li­en­port­fo­lios. Zeit also für eine Bestandsaufnahme. 

Das Versprechen des Parks

In der Moderne trug der Park ein Ver­spre­chen in sich. Im städ­ti­schen Raum gele­gen, sollte er offen für alle und frei zugäng­lich sein; Erho­lung, Sport, Spiel und Ent­span­nung vor allem jenen bie­ten, die – ein­ge­pfercht in Fabri­ken und beengte Wohn­ver­hält­nisse – kei­nen Zugang zur freien Natur hat­ten. Darin unter­schei­det er sich vom herr­schaft­li­chen Gar­ten, der zuvor­derst Macht und Reich­tum reprä­sen­tiert und mehrt. Der Stadt- sowie der Alto­naer Volks­park, die beide um die Jahr­hun­dert­wende erdacht und in der Folge gestal­tet wur­den, kön­nen als Bei­spiele öffent­li­cher Parks die­nen. Sollte nun die­ses Ver­spre­chen nicht in fal­scher Nost­al­gie als Folie der Kri­tik auf­ge­spannt wer­den, so lag es jedoch auch dem nun begrün­ten Bun­ker zugrunde. In der ers­ten Aus­gabe des oben erwähn­ten Ideen­jour­nals war etwa die Rede von einer „völ­lig neuen Stadt­na­tur“, von „Gar­ten­flä­chen, auf denen man sich zum Pick­nick trifft“, es sollte ein „Gar­ten vie­ler wer­den“ – gar ein „Pilot­pro­jekt“, das „nicht zuletzt für mehr Lebens­qua­li­tät in der wach­sen­den Stadt“ sor­gen sollte.

Wie die­ser Park zum Ver­wei­len oder Pick­ni­cken ein­la­den soll, wenn selbst ein But­ter­brot nicht erlaubt ist, bleibt unklar. Foto: privat

Die Rea­li­tät sieht anders aus. Gleich am Ein­gang, der mit mar­tia­li­schen Dreh­kreu­zen (Öff­nungs­zei­ten der­zeit 9 bis 21 Uhr, nicht wie ver­spro­chen 7 bis 23 Uhr) auf­war­tet, pran­gen vier große Ver­bots­schil­der: keine Hunde, keine mit­ge­brach­ten Spei­sen und Getränke, Rauch­ver­bot. Durch­ge­setzt wer­den diese Ver­bote von einem pri­va­ten Sicher­heits­dienst, der die Besucher:innen nicht nur auf Schritt und Tritt beäugt, son­dern am Ein­gang bis­wei­len auch strengs­tens durch­sucht. Der Zutritt zum Dach­gar­ten fühlt sich an wie ein Grenz­über­tritt. Wer es dann über die Grenze schafft, sollte jedoch kein grü­nes Para­dies erwar­ten. Denn wie die­ser Park zum Ver­wei­len oder Pick­ni­cken ein­la­den soll, wenn selbst ein But­ter­brot nicht erlaubt ist und Sitz­mög­lich­kei­ten – zumin­dest sol­che, für die nicht kon­su­miert wer­den muss – rar sind, bleibt unklar. Zumin­dest der­zeit scheint es, als hoffe man auf einen mög­lichst kur­zen Auf­ent­halt der Besucher:innen. Immer­hin ist der Zutritt zum Gar­ten auf 900 Per­so­nen begrenzt und es sol­len ja mög­lichst viele über den soge­nann­ten „Berg­pfad“ auf den Bun­ker stei­gen, um zumin­dest das Ver­spre­chen eines öffent­li­chen Parks gewahrt blei­ben zu las­sen. Bar­rie­re­frei ist der Dach­gar­ten indes nicht. Wer im Roll­stuhl sitzt oder nicht gut zu Fuß ist, kommt „nur auf spe­zi­elle Nach­frage und in Beglei­tung“ ganz nach oben.

Der Dach­gar­ten ist ein tro­ja­ni­sches Pferd aus Beton und Gestrüpp. Unter dem Schein der Gemein­nüt­zig­keit las­sen sich die innen­lie­gen­den Flä­chen nur umso bes­ser vermarkten.

Aber wofür dann der große Auf­wand und die in der Presse genannte Inves­ti­ti­ons­summe von 60 Mil­lio­nen Euro? In der offi­zi­el­len Erzäh­lung heißt es, dass die Ver­mie­tung der Räume im Inne­ren des auf­ge­stock­ten Bun­kers seine Begrü­nung finan­ziere und die lau­fen­den Kos­ten decke. Nun, nach der Eröff­nung, scheint doch ein­ge­trof­fen zu sein, was man­che schon vor eini­ger Zeit befürch­tet hat­ten. Der Dach­gar­ten ist ein tro­ja­ni­sches Pferd aus Beton und Gestrüpp. Unter dem Schein der Gemein­nüt­zig­keit las­sen sich die innen­lie­gen­den Flä­chen nur umso bes­ser ver­mark­ten. So geriert sich der grüne Bun­ker als Park für alle, fällt jedoch hin­ter sein Ver­spre­chen zurück. Ent­stan­den ist ein neu­ar­ti­ger herr­schaft­li­cher Gar­ten – nicht eines früh­neu­zeit­li­chen Mon­ar­chen, son­dern eines Unter­neh­mers im Zeit­al­ter des digi­ta­len Finanz­markt­ka­pi­ta­lis­mus. Der ver­meint­lich öffent­li­che Dach­gar­ten soll nicht Reich­tum zur Schau stel­len, son­dern ein pro­fi­ta­bles Invest­ment ermög­li­chen und gegen Kri­tik schützen.

Öko-Gentrifizierung: die New Yorker High Line als zweifelhaftes Vorbild

Sowohl in der Lokal­presse als auch von­sei­ten der Macher:innen des Bun­kers wird immer wie­der auf die New Yor­ker High Line als Vor­bild des städ­ti­schen Dach­gar­tens ver­wie­sen. Aus einer alten Bahn­trasse wurde in der US-Metropole ein über zwei Kilo­me­ter lan­ger, mitt­ler­weile welt­be­rühm­ter Park. Eine lokale Inter­es­sens­ge­mein­schaft hatte sich Ende der 1990er Jahre zusam­men­ge­fun­den, um die Bahn­trasse vor ihrem Abriss zu ret­ten und in einen Park umzu­ge­stal­ten. Nach des­sen Eröff­nung wurde die High Line schnell zum Tourist:innen-Magnet. Ins­be­son­dere die umlie­gen­den Gebäude erfuh­ren eine mas­sive Wert­stei­ge­rung. Mitt­ler­weile wird in Ver­bin­dung mit der High Line auch von Öko-Gentrifzierung gespro­chen. Nun war diese Ent­wick­lung kein genui­nes Anlie­gen der High Line-Interessensgemeinschaft; auch man­che ihrer Gründer:innen kri­ti­sie­ren die mas­sive Wert­stei­ge­rung im Umfeld des neu­ge­schaf­fe­nen Parks.

Der Bun­ker ohne Dach­gar­ten im Jahr 2018. Foto: privat.

In der Bericht­erstat­tung um den grü­nen Bun­ker sowie in der Selbst­dar­stel­lung sei­ner Macher:innen erfah­ren diese Fol­gen der High Line keine Erwäh­nung. Es ver­hält sich beim Bun­ker auch anders. Ist zwar zu ver­mu­ten, dass eine wei­tere Attrak­tion im Stadt­teil zu des­sen Auf­wer­tung bei­trägt, so stei­gert die Begrü­nung wohl vor allem den Wert des Bun­kers selbst. Und: anders als bei der High Line war diese Ent­wick­lung hier wohl von vorn­her­ein geplant. Bereits Jahre bevor die ers­ten Besucher:innen den Bun­ker erklim­men konn­ten und noch vor sei­ner tat­säch­li­chen Begrü­nung, wurde er über letz­tere schon vor­aus­ei­lend zur Marke gemacht. Der Instagram-Account unter den Namen „ham­burg­bun­ker“ setzte schon Ende 2021 sei­nen ers­ten Post ab. Nur durch die ver­meint­lich gemein­wohl­ori­en­tierte Begrü­nung erfuhr der Bun­ker ein gro­ßes Medi­en­echo. In den letz­ten Mona­ten berichte die Lokal­presse wöchent­lich, zuletzt gar täg­lich über ihn.

Der Account ver­linkt auf die offi­zi­elle Web­seite der RIMC Bun­ker Ham­burg Hotel­be­triebs­ge­sell­schaft bezie­hungs­weise der RIMC Inter­na­tio­nal Hotels & Resorts GmbH, die den Zuschlag für die Ver­mie­tung und Ver­mark­tung der Innen­flä­chen erhal­ten hatte. Dass die bekannte Hard Rock-Kette nach lan­gem Hin-und-Her ihre neue Hotel­marke unter dem Namen „Reverb“ im Bun­ker plat­zie­ren konnte, dürfte sich für sie aus­zah­len, um diese, wie es im Jar­gon heißt, Brand Exten­sion bekannt zu machen. Die Medi­en­be­richt­erstat­tung häm­merte den Leser:innen bei­läu­fig nicht nur den Namen der neuen Hotel­marke ein, son­dern auch einen offen­bar aus fir­men­ei­ge­nen Pres­se­mit­tei­lugen abge­schrie­ben Pas­sus. Die­ses Hotel sei das erste sei­ner Art in Europa und damit wie der Bun­ker eine Attrak­tion, ja ein „Erleb­nis“. Das anhal­tende Medi­en­echo dürfte sich in den kom­men­den Jah­ren für künf­tige Ver­mie­tun­gen aus­zah­len und ins­ge­samt den Wert des Gebäu­des steigern.

Der neue Geist des Kapitalismus und seine Gärten

„Aus grau wird bunt“, lau­tet das Motto des Bun­kers bezie­hungs­weise der Flä­che, die die Betrei­ber­ge­sell­schaft nun ver­mark­tet. Ihr Logo setzt sich ent­spre­chend aus ver­schie­den­far­bi­gen Buch­sta­ben zusam­men. „Sankt Pauli bleibt bunt“, for­dert ein, zu sei­nen Füßen gesprüh­tes Graf­fiti; unweit ent­fernt bekennt ein ande­res ein „Herz für St. Pauli“. Unter­schrie­ben ist die­ses Graf­fiti auch mit Viva con Agua, einer ansäs­si­gen Non-Profit-Organisation, die jedoch in jün­ge­rer Zeit in Kri­tik geriet – unter ande­rem wegen eines von ihr betrie­be­nen Hotels unweit des Ham­bur­ger Hauptbahnhofs.

Die Ver­mark­tung des Bun­kers funk­tio­niert also nicht nur über seine Begrü­nung, son­dern ebenso über den Ver­kauf eines Lebens­ge­fühls. Die­ses Lebens­ge­fühl gene­riert sich über den immer wie­der genann­ten Stadt­teil. Die­sen kenn­zeich­nete einst, gerade nicht ver­markt­bar, son­dern wider­stän­dig zu sein. Das aber ist voll­ends vom Mar­ke­ting auf­ge­so­gen wor­den. So lässt sich gar der im Inne­ren des Bun­kers befind­li­che, bis heute jedoch nicht fer­tig­ge­stellte Informations- und Erin­ne­rungs­ort an Krieg und Zwangs­ar­beit in die Kam­pa­gnen inte­grie­ren. Das neue Hotel bewirbt sei­nen Stand­ort nicht nur mit einem im nach­bar­li­chen Stadt­teil zu fin­den­den „diverse mix of cul­tures“ und dem „artis­tic flair“, son­dern beher­bergte als ers­ten Gast auch öffent­lich­keits­wirk­sam einen Zeit­zeu­gen. Die Web­seite der Betrei­ber­ge­sell­schaft lädt dazu ein, die „Magie die­ses geschichts­träch­ti­gen Ortes selbst zu erle­ben“. Dass die bewor­bene Immo­bi­lie ein Nazi-Bunker war, wird zum Uni­que Sel­ling Point.

Eine unge­heure Mar­ken­samm­lung, Schild am Ein­gang des Bun­kers. Foto: privat

Ohne die Begrü­nung, aber auch nicht ohne die ehren­amt­li­che Arbeit der nach wie vor täti­gen Anwohner:innen-Initiative sowie die Aneig­nung ursprüng­lich lin­ker (stadtteil-)politischer Anlie­gen hätte der Bun­ker wohl nie die ihm nun zukom­mende Auf­merk­sam­keit erfah­ren. Am Bun­ker lässt sich damit eine zwar nicht mehr neue, aber zuneh­mende Form der Stadt­ent­wick­lung und ‑kapi­ta­li­sie­rung erken­nen, die grö­ßere Auf­merk­sam­keit ver­dient. Denn die Ver­wer­tung der Stadt wird heute nicht mehr gegen ihre Kri­tik durch­ge­setzt, son­dern mit ihr und über sie. Die Natur und ihre Rena­tu­rie­rung, die feh­len­den Frei- und Krea­tiv­räume in der beeng­ten Stadt, gar erin­ne­rungs­po­li­ti­sche Arbeit und damit die Spu­ren natio­nal­so­zia­lis­ti­scher Herr­schaft, die im Wie­der­auf­bau noch unter grauem Beton ver­schwan­den, wer­den heute zu Ele­men­ten begehr­ter Investitionsobjekte.

Wie konnte das pas­sie­ren? Einige Hin­weise gibt die Ana­lyse der Soziolog:innen Luc Bol­tan­ski und Ève Chia­pello, die in Anleh­nung an Max Weber von einem „neuen Geist des Kapi­ta­lis­mus“ spre­chen. Die­ser neue Geist, der im All­ge­mei­nen die jeweils hege­mo­niale Form kapi­ta­lis­ti­scher Ver­hält­nisse mit Sinn und Legi­ti­ma­tion aus­stat­tet, zeich­net sich gegen­über sei­nen älte­ren For­men dadurch aus, dass er die einst gegen ihn gewen­dete Kri­tik auf­nahm und pro­duk­tiv wen­dete. Zu Hoch­zei­ten der Indus­trie­mo­derne bezie­hungs­weise des For­dis­mus in den 1960er Jah­ren wurde eine Kri­tik laut, die den Ver­hält­nis­sen etwa Sinn­ver­lust und Ent­frem­dung und damit man­gelnde Mög­lich­kei­ten der Selbst­ver­wirk­li­chung vor­warf. Es waren nun diese und andere Ele­mente der Künst­ler­kri­tik, wie es Bol­tan­ski und Chia­pello aus­drü­cken, die sich der Kapi­ta­lis­mus in der Krise der 1970er mehr und mehr aneig­nete. Heute fin­den sie sich etwa in der Manage­ment­li­te­ra­tur und der Figur krea­ti­ven Unter­neh­mer­tums wie­der. Aber nicht nur Arbeit wurde sub­jek­ti­viert, son­dern auch der Kon­sum – Pro­dukte erzäh­len eine Geschichte, stif­ten Sinn und Selbstverwirklichung.

In Waren trans­for­miert, rückt der Kapi­ta­lis­mus die einst­mals gegen ihn gerich­tete Kri­tik ins Zen­trum der Ver­wer­tung. Foto: privat

Wie an ande­rer Stelle die­ses Blogs gezeigt, las­sen sich auch in der Stadt­ent­wick­lung die öko­no­mi­schen und kul­tu­rel­len Trans­for­ma­tio­nen der 1970er und fort­fol­gen­den Jahr­zehnte als Wen­dung vom All­ge­mei­nen der Moderne zum Beson­de­ren der Post­mo­derne beschrei­ben: Sin­gu­la­ri­sie­rung statt Stan­dar­di­sie­rung. Gefragt ist nicht mehr der Wohn­block indus­tri­el­len Bau­ens, son­dern die ver­schnör­kelte Alt­bau­villa, ähn­li­ches gilt für Super­märkte und Hotels. Wer etwas ver­kau­fen will, wirbt mit den Ele­men­ten der Künst­ler­kri­tik wie Authen­ti­zi­tät, Indi­vi­dua­li­tät, Krea­ti­vi­tät, Sinn und Selbst­ver­wirk­li­chung[1]. Die­ses einst abge­lehnte Beson­dere – beim Bun­ker etwa seine Geschichte und das ihn umge­bende Stadt­vier­tel – kann der Kapi­ta­lis­mus jedoch nur bedingt aus sich selbst her­aus erzeu­gen. Er muss es aus exter­ner Quelle aneig­nen. In Waren trans­for­miert, rückt er die einst­mals gegen ihn gerich­tete Kri­tik ins Zen­trum der Ver­wer­tung. Dass der einst ver­spro­chene Park nun als Dach­gar­ten die spe­zi­fi­schen Qua­li­tä­ten eines Parks, also sei­nen Gebrauchs­wert, ver­lo­ren hat, liegt auch daran, dass er als Mar­ke­ting­tool vor allem Tausch­wert ist. Zu hof­fen bleibt der­zeit nur, dass sich aus die­sem Wider­spruch – die Ver­wer­tung zehrt das Beson­dere als Abs­trak­tes auf und beraubt sich somit ihrer eige­nen Quelle – das bal­dige Ende die­ser Form der Stadt­ent­wick­lung ergibt. Gegen diese Hoff­nung spre­chen jedoch die zahl­rei­chen Apologet:innen der neo­li­be­ra­len Stadt.

Die versuchte Ehrenrettung der neoliberalen Stadt

Es wird kaum jeman­den über­ra­schen, dass die Ham­bur­ger Sozi­al­de­mo­kra­tie nicht als Ver­tei­di­ge­rin der Wohl­fahrts­staat­lich­keit gegen die pri­vat­wirt­schaft­li­che Aneig­nung der Stadt auf­tritt. Bereits im Jahr 1983 hatte der dama­lige Ham­bur­ger Bür­ger­meis­ter und Sozi­al­de­mo­krat Klaus von Dohn­anyi  das „Unter­neh­men Ham­burg“ aus­ge­ru­fen und die Stadt zur Marke gemacht, wie es Chris­toph Twi­ckel in sei­nem nach wie vor lesens­wer­ten Gen­tri­fi­dings­bums beschreibt (kauft mehr Nautilus-Bücher!). Gerade diese Poli­tik und damit die Pri­va­ti­sie­rung der Stadt(-entwicklung) als Ort der Kapi­tal­ak­ku­mu­la­tion geriet jedoch im Herbst 2023 in die Krise. Der Elb­tower ist – neben ande­ren inner­städ­ti­schen Brach­flä­chen – deren sicht­bars­tes Zei­chen. Die Pleite der von René Benko gegrün­de­ten Signa Hol­ding führte indes nicht nur zum Bau­stopp zuvor gerühm­ter Pres­ti­ge­bau­ten, son­dern auch zu Zwei­feln, ob Investor:innen für die Gestal­tung des öffent­li­chen Rau­mes ver­ant­wort­lich sein soll­ten. Letzt­lich geriet die gesamte Erzäh­lung, der neue Geist des Kapi­ta­lis­mus, ins Wan­ken: René Benko, einst zur Licht­ge­stalt krea­ti­ven Unter­neh­mer­tums hoch­ge­schrie­ben, ist ein Betrüger.

Das neue Ant­litz der neo­li­be­ra­len Stadt? Die­ses Signa-Projekt am Gän­se­markt liegt seit län­ge­rer Zeit brach. Foto: privat.

Das seit Wochen zu ver­neh­mende über­schwäng­li­che Lob des begrün­ten Bun­kers dient inso­fern auch zur Ehren­ret­tung der neo­li­be­ra­len Stadt und sei­ner Unternehmer:innen. Etwa war Andreas Dressel, Finanz­se­na­tor und Sozi­al­de­mo­krat, bei der Eröff­nungs­feier des grü­nen Bun­kers „geflasht“. Er „lobte den Bau­her­ren über­schwäng­lich, der das gesamte Pro­jekt“, wie die Ham­bur­ger Mor­gen­post schreibt, „ohne einen Euro öffent­li­chen Gel­des durch­zog.“ Geret­tet ist damit offen­sicht­lich die Idee der neo­li­be­ra­len Stadt; einen öffent­li­chen Park gab es dafür jedoch nicht. Vor allem die Anwohner:innen pro­fi­tie­ren nicht von den Früch­ten, die in den neuen Gär­ten des Kapi­ta­lis­mus wach­sen – sie dür­fen dort ja nicht ein­mal einen Apfel essen.

Johan­nes Rad­c­zinski, August 2024

Der Autor genoss beim Ver­fas­sen die­ses Arti­kels alle Annehm­lich­kei­ten eines öffent­li­chen Parks (u.a. Sitz­ge­le­gen­hei­ten, mit­ge­brachte Getränke, Ziga­ret­ten) in Sicht­weite des begrün­ten Bun­kers. Auf Untie­fen blickte er bereits auf andere, in Schief­lage befind­li­che Orte der Ham­bur­ger Stadt­ent­wick­lung wie das Bis­marck­denk­mal oder auch die Rindermarkthalle.

[1] Dass die soge­nannte Rin­der­markt­halle in Nach­bar­schaft des Bun­kers, die durch die Frei­le­gung ihrer Back­stein­fas­sade vor rund zehn Jah­ren zu einem beson­de­ren, da authen­ti­schen und geschichts­träch­ti­gem Ort ver­mark­tet wurde, nun mit dem grü­nen Bun­ker auf ihrer Web­seite wirbt, ist kein Zufall. 

Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg

Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg

Die deut­sche Geschichte ist für radi­kal rechte Par­teien ein zen­tra­les Agi­ta­ti­ons­feld. Auch die Ham­bur­ger AfD ver­brei­tet einer­seits immer wie­der klas­sisch revi­sio­nis­ti­sche The­sen, die vor allem den Holo­caust und die Kolo­ni­al­ge­schichte umdeu­ten. Vor allem aber ver­tritt sie einen nost­al­gi­schen Natio­na­lis­mus, der für die eigene poli­ti­sche Agenda durch geziel­tes Aus­wäh­len und Ver­schwei­gen Mythen über die deut­sche Ver­gan­gen­heit entwirft.

Eine Mauer mit Stacheldraht auf der "Bismak Sucks!" geschrieben steht. Im Hintergrund ist die Hamburger Bismarkstatue zu sehen.
Bezugs­punkt des rech­ten Revi­sio­nis­mus: Der erste Reichs­kanz­ler und Sozia­lis­ten­jä­ger Otto von Bis­marck. Das deutsch­land­weit größte Denk­mal für ihn steht auf St. Pauli. Foto: Marco Hosemann

Die­ser Arti­kel erscheint par­al­lel auf AfD Watch Ham­burg.


Das Ver­hält­nis zur deut­schen Ver­gan­gen­heit ist die zen­trale Ein­tritts­karte in den poli­ti­schen Dis­kurs der BRD. Offene Holo­caust­leug­nung oder ‑rela­ti­vie­rung sind nicht nur straf­bar, son­dern auch poli­tisch äußerst schäd­lich. Bei der popu­lis­ti­schen, als Ver­tei­di­ge­rin der Demo­kra­tie auf­tre­ten­den AfD spie­len sie daher auch in Ham­burg nur eine unter­ge­ord­nete Rolle. Den­noch wird immer wie­der erkenn­bar, dass es sich hier um stra­te­gi­sche Zurück­hal­tung handelt.

Offe­ner Revisionismus

Bekannt sind etwa NS-Relativierungen des Ham­bur­ger AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Bau­mann, frü­here revi­sio­nis­ti­sche Kom­men­tare des der­zei­ti­gen Ham­bur­ger AfD-Pressesprechers Robert Offer­mann und der Ver­dacht auf anti­se­mi­ti­sche Aus­sa­gen eines Mit­ar­bei­ters der Bür­ger­schafts­frak­tion. Am meis­ten Auf­se­hen erregte wohl der stell­ver­tre­tende Frak­ti­ons­vor­sit­zende der AfD in der Bür­ger­schaft, Alex­an­der Wolf. 2017 wurde bekannt, dass er 1994 eine Samm­lung von NS-Liedern unter dem Titel „Schlacht­ruf“ her­aus­gab, in deren Vor­be­mer­kun­gen er mit Blick auf die Kapi­tu­la­tion Nazi-Deutschlands im Zwei­ten Welt­krieg zu einem „ent­schlos­se­nen Nie wie­der!’“ auf­rief.

Alex­an­der Wolf, geschichts­po­li­ti­scher Scharfmacher

Über­haupt, Alex­an­der Wolf: Er ist in der Bür­ger­schafts­frak­tion der Mann für die pro­vo­kan­ten his­to­ri­schen The­sen. So behaup­tete er etwa im März 2023 in der Bür­ger­schaft, die Nazis hät­ten sich „kei­nes­wegs als rechts, son­dern bewusst als Sozia­lis­ten“ ver­stan­den. Die DDR und den NS-Staat par­al­le­li­sierte er als „Dik­ta­tu­ren“, um sogleich zu sei­nem eigent­li­chen Anlie­gen zu kom­men, näm­lich der Lüge, auch der heu­tige Kampf gegen Rechts sei wie­der ähn­lich eine ähn­li­che „Frei­heits­ein­schrän­kung“ und „Aus­gren­zung“.

„Vogel­schiss“ als Pro­gramm: der nost­al­gi­sche Nationalismus

Diese offe­nen Rela­ti­vie­run­gen sind aber die Aus­nahme. Die wirk­li­che geschichts­po­li­ti­sche Stra­te­gie der Ham­bur­ger AfD besteht darin, die Gau­land­sche Rede vom „Vogel­schiss“ in die Pra­xis umzu­set­zen. In den Bei­trä­gen der AfD-Abgeordneten fin­det sich kaum eine Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Natio­nal­so­zia­lis­mus oder mit der Kolo­ni­al­ge­schichte. Und wenn diese The­men berührt wer­den, dann geht es stets darum, für die radi­kal rechte Poli­tik nostalgisch-nationalistische, posi­tive Anker­punkte in der deut­schen Geschichte des 19. und 20. Jahr­hun­derts zu finden.

His­to­ri­sche Wür­di­gung for­dert die AfD etwa für fol­gende Grup­pen: die Ver­schwö­rer um Claus Schenk Graf von Stauf­fen­berg („Höhe­punkt des deut­schen Wider­stands“), die Opfer der alli­ier­ten Bom­bar­die­rung Ham­burgs im Juli 1943 („Kriegs­ver­bre­chen“), die Auf­stän­di­gen vom 17. Juni 1953 in der DDR („iden­ti­täts­stif­ten­des Datum“) sowie für die an der Gren­zen zwi­schen DDR und BRD Ermor­de­ten und den Mau­er­bau 1961 („Schick­sals­da­tum der deut­schen Nation“).

Und die im Jahr 2020 auf­ge­kom­me­nen Rufe nach einem Denk­mal für die Leis­tun­gen der soge­nann­ten tür­ki­schen „Gast­ar­bei­ter“ kon­terte Wolf im Novem­ber 2021 mit der For­de­rung, statt­des­sen ein Denk­mal für „Trüm­mer­frauen“ zu schaffen.

Das Kai­ser­reich soll rechts­ra­di­kale Her­zen wärmen

Neben den deut­schen Opfern alli­ier­ter Bom­ben und kom­mu­nis­ti­scher SED-Herrschaft sowie patrio­ti­schen kon­ser­va­ti­ven Gene­rä­len steht vor allem das Deut­sche Kai­ser­reich im Zen­trum der AfD-Geschichtspolitik. Eine Folge des Pod­casts „(Un-)Erhört!“ der Ham­bur­ger AfD-Fraktion vom Januar 2021 zum 150. Jah­res­tag der Reichs­grün­dung 1871 illus­triert das. 

Zum ein­gangs gespiel­ten „Heil dir im Sie­ger­kranz“ spricht Wolf von einem „der glück­lichs­ten Momente der deut­schen Geschichte“. Heu­tige Politiker:innen wür­den sich jedoch der Erin­ne­rung daran ver­wei­gern, sie hät­ten ein „gestör­tes Ver­hält­nis zur „eige­nen Geschichte“. So hätte die „über tau­send­jäh­rige Geschichte Deutsch­lands“ zwar „pro­ble­ma­ti­sche Sei­ten“, doch sei sie eben auch „mehr“. Ab dort ver­schwin­det der Natio­nal­so­zia­lis­mus aus die­ser Erzäh­lung und das heu­tige Deutsch­land wird schlicht in Kon­ti­nui­tät zum Kai­ser­reich gesetzt. Das ist eine ganz bewusste Kon­struk­tion einer Tra­di­tion, die nur über Aus­las­sung funk­tio­niert. An die „posi­ti­ven Momente der Geschichte“ soll erin­nert wer­den, so Wolf wei­ter, „weil das unsere Iden­ti­tät prägt. Eine Nation lebt nicht nur von der Ratio und von der Ver­fas­sung, son­dern auch von einem posi­ti­ven Gemein­schafts­ge­fühl.“ Nur dar­aus könn­ten „Soli­da­ri­tät und Mit­ein­an­der erwachsen.“

Gerei­nigt wer­den soll die deut­sche Geschichte also nicht, indem der Holo­caust geleug­net wird. Der „Schuldkult“-Vorwurf wird hier sub­ti­ler for­mu­liert: Der beding­ten Aner­ken­nung der Ver­bre­chen in den 12 Jah­ren NS-Herrschaft wird eine sau­bere Ver­sion der ver­meint­lich ande­ren 988 Jahre deut­scher Geschichte und deut­schen Glan­zes entgegengestellt.

Die Hamburger Bismarkstatue zwischen zwei Baumkronen.
Bis­marck, Begrün­der des deut­schen Kolo­ni­al­rei­ches, strahlt frisch reno­viert. Foto: Marco Hosemann

Mit Bis­marck gegen die Wahrheit

Diese Stra­te­gie zeigt sich auch an der Posi­tion der AfD zur Debatte um das Otto von Bismarck-Denkmal auf St. Pauli. In einer Folge des besag­ten Pod­casts vom Juli 2021 zeich­net Wolf den ers­ten Reichs­kanz­ler als eine posi­tive Figur der deut­schen Geschichte. Die gefor­derte Neu-Kontextualisierung des Denk­mals sei selbst Geschichts­re­vi­sio­nis­mus, schließ­lich würde Bis­marck dabei „aus dem Blick­win­kel eines Anti­fan­ten und einer Femi­nis­tin“ gese­hen. Die soge­nannte Westafrika-Konferenz 1884/85 in Ber­lin, zu der Bis­marck ein­lud und bei der die euro­päi­schen Groß­mächte den afri­ka­ni­schen Kon­ti­nent als Kolo­ni­al­be­sitz unter sich auf­teil­ten, ver­schweigt Wolf dabei nicht. Aber er stellt sie als rein frie­dens­stif­tende Maß­nahme zur Siche­rung der inner­eu­ro­päi­schen Ord­nung dar. Das funk­tio­niert wie­derum nur durch Aus­blen­den der Fol­gen für die kolo­ni­sier­ten Bevöl­ke­run­gen außer­halb Euro­pas. Aber mehr noch: Kolo­nia­lis­mus ist für Wolf „nicht per se von vorn­her­ein schlecht“. Denn es sei „viel Posi­ti­ves geleis­tet wor­den, Infra­struk­tur, Gesund­heit etc.“ Es dürfe eben nicht „ein­sei­tig die nega­tive Brille“ auf­ge­setzt wer­den, wie es bei der Black Lives Matter-Bewegung gesche­hen sei. So hält Wolf dann auch die gän­gige For­schungs­po­si­tion, dass die Deut­schen 1904/5 in Süd­west­frika einen Völ­ker­mord began­gen haben, für „absurd“, ja „Quatsch“. Man sieht: Obwohl nost­al­gi­scher Natio­na­lis­mus die Kern­stra­te­gie der AfD Ham­burg aus­macht, ist der Schritt zu offe­nem Revi­sio­nis­mus schnell gemacht.

Redak­tion Untie­fen, März 2024

Vom Antisemitismus übertönt

Vom Antisemitismus übertönt

Zamzam Ibra­him durfte auf Kamp­na­gel spre­chen. Wäh­rend drau­ßen eine pro­pa­läs­ti­nen­si­sche Demo anti­zio­nis­ti­sche Paro­len brüllte, eröff­nete sie das Klima-Festival online per Zoom – und setzte mit ihrer Mischung aus Eso­te­rik und rau­nen­der ›Sys­tem­kri­tik‹ den Ton fürs Wochen­ende. Jüdi­sche und anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Stim­men wur­den von die­sem ›viel­stim­mi­gen‹ Chor übertönt.

»There is no cli­mate jus­tice with the mude­rers of Ira­nian women.« Demonstrant:innen am Don­ners­tag vor Kamp­na­gel. Foto: Screen­shot Instagram

»Ich sollte nicht hier sein.« Die­sen Satz äußerte Dor Aloni in einem so per­sön­li­chen wie poli­ti­schen State­ment, das er sei­ner Per­for­mance Atlan­tis am Don­ners­tag­abend im Saal K4 auf Kamp­na­gel vor­an­stellte und in dem er sei­ner Kri­tik an der Ein­la­dung Zamzam Ibra­hims deut­li­chen Aus­druck ver­lieh. Alo­nis Satz lässt sich auf zwei Arten ver­ste­hen: als Fest­stel­lung, dass er als jüdisch-israelischer Thea­ter­ma­cher auf einem Kli­ma­fes­ti­val, das von einer anti­se­mi­ti­schen Red­ne­rin eröff­net wurde, fehl am Platze ist; und als Hadern mit sei­ner Ent­schei­dung, nun auf Kamp­na­gel auf­zu­tre­ten, obwohl Zamzam Ibra­him nicht aus­ge­la­den wurde.

Denn seit Aloni Anfang der Woche erfah­ren hatte, wes­sen Keynote-Vortrag den Kli­ma­schwer­punkt »How Low Can We Go?« eröff­nen solle, in des­sen Rah­men auch er auf­tre­ten würde, konnte er nicht mehr ruhig schla­fen. Auch davon sprach er in sei­nem State­ment. Für ihn, des­sen Fami­lie in Israel lebt und der durch den anti­se­mi­ti­schen Ter­ror der Hamas vom 7. Okto­ber auch Kolleg:innen ver­lo­ren hat, war der Gedanke uner­träg­lich, einen (Diskurs-)Raum mit einer Akti­vis­tin zu tei­len, die den Ter­ror der Huthi im Jemen und der Hamas in Israel als ›Wider­stand‹ ver­klärt. Am Diens­tag hatte er daher bei der Kampnagel-Leitung inter­ve­niert und deut­lich gemacht, dass für ihn hier eine rote Linie über­schrit­ten ist: Ent­we­der Ibra­him wird aus­ge­la­den, oder er sagt seine Auf­tritte ab.

Kamp­na­gel befand sich dadurch in einer miss­li­chen Lage: Dass ein jüdi­scher Künst­ler sich aus Pro­test gegen die Tole­rie­rung anti­se­mi­ti­scher Posi­tio­nen und aus Sorge um sein Wohl­be­fin­den zurück­zieht, wäre für ein – laut Selbst­dar­stel­lung »dis­kri­mi­nie­rungs­sen­si­bles« – deut­sches Thea­ter gelinde gesagt pro­ble­ma­tisch. Aber eine anti­is­rae­li­sche Akti­vis­tin aus­zu­la­den, zumal eine, die Schwarz und mus­li­misch ist, hätte Kamp­na­gel wohl ebenso gescha­det, ins­be­son­dere in der inter­na­tio­na­len ›freien Szene‹, in der Ter­rora­po­lo­gie weit­hin als ›Isra­el­kri­tik‹ zu gel­ten scheint und jede Kri­tik daran als ›Silen­cing‹ und ›Can­cel Cul­ture‹ beklagt wird.

Um wessen Sicherheit geht es?

Man kann sich vor­stel­len, wie der »empa­thi­sche Dia­log« (Kampnagel-Leitbild) aus­sah, in dem Aloni unter Druck gesetzt wurde, Kamp­na­gel doch nicht in diese Lage zu brin­gen. Und tat­säch­lich ließ er sich auf einen Alter­na­tiv­vor­schlag ein: Am Mitt­woch ver­kün­dete Kamp­na­gel, dass man Zamzam Ibra­him nicht aus­lade, dass sie aber nur online, per Zoom-Zuschaltung, spre­chen werde. Dies als Kom­pro­miss oder salo­mo­ni­sche Lösung zu bezeich­nen, wäre jedoch völ­lig ver­fehlt. Denn ers­tens bot man Ibra­him so wei­ter­hin eine Bühne (und sogar eine grö­ßere als zuvor); und zwei­tens wurde in der am Mitt­woch­abend ver­öf­fent­lich­ten Erklä­rung der Anti­se­mi­tis­mus kon­se­quent ent­nannt, wäh­rend Ibra­him zum Opfer einer ras­sis­ti­schen Kam­pa­gne sti­li­siert wurde.

Zu den »Anti­se­mi­tis­mus­vor­wür­fen« gegen Ibra­him äußert Kamp­na­gel sich in der Erklä­rung mit einer Distan­zie­rung, die sich schwä­cher nicht for­mu­lie­ren ließe: »In der Tat sind von der Spea­ke­rin Äuße­run­gen bekannt gewor­den, die auch wir so nicht tei­len kön­nen.« Nicht ›anti­se­mi­ti­sche Äuße­run­gen‹ oder wenigs­tens ›Äuße­run­gen, die wir nicht tei­len‹, son­dern: ›Äuße­run­gen, die wir so nicht tei­len kön­nen.‹ Was mag das hei­ßen – so nicht, aber in ande­rer Form schon? Kamp­na­gel wollte dazu auf Nach­frage nichts ant­wor­ten.1Wenn Kampnagel-Intendantin Ame­lie Deufl­hard gegen­über Untie­fen ledig­lich all­ge­mein pro­kla­miert: »Wir distan­zie­ren uns in aller Deut­lich­keit von anti­se­mi­ti­schen und isra­el­feind­li­chen Hal­tun­gen«, muss sie sich die Frage gefal­len las­sen: Wo war diese Deut­lich­keit im kon­kre­ten Falle Zamzam Ibrahims?

Als ver­ant­wort­lich für die Ver­le­gung ins Inter­net prä­sen­tiert die Erklä­rung nicht Ibra­hims Anti­se­mi­tis­mus, son­dern zum einen das man­gelnde Ver­trauen »Ein­zel­ner« in die Ver­si­che­rung Kamp­na­gels, »dass es im Rah­men des Kli­ma­schwer­punk­tes zu kei­ner anti­se­mi­ti­schen Äuße­rung kom­men wird«, und zum ande­ren die mediale Ver­brei­tung der Kri­tik und die dadurch laut wer­den­den »Auf­rufe zum Ver­hin­dern der Key­note«. Beklagt wird schließ­lich noch, die Bericht­erstat­tung habe »ras­sis­ti­sche und islam­feind­li­che Nar­ra­tive« her­vor­ge­ru­fen. Auch wenn vage von der »Sicher­heit aller Anwe­sen­den« geschrie­ben wird, ist der Tenor deut­lich: Weil Ibra­him von einem auf­ge­heiz­ten Mob bedroht werde, könne sie zu ihrem eige­nen Schutz nur online sprechen.

Es ist eine klas­si­sche Form des rela­ti­vie­ren­den Umgangs mit Anti­se­mi­tis­mus: Als Pro­blem gilt nicht der Anti­se­mi­tis­mus selbst, son­dern der Umstand, dass er benannt und kri­ti­siert wird – und dass Kon­se­quen­zen aus die­ser Kri­tik gefor­dert wer­den.2Auch in Ihren Eröff­nungs­wor­ten nannte Ame­lie Deufl­hard die Debatte als Grund für die Ver­le­gung ins Inter­net: »The con­tro­versy around the key­note made us decide to place it online.« Als Pro­blem gilt nicht der Anti­se­mi­tis­mus, son­dern der ›Anti­se­mi­tis­mus­vor­wurf‹, gel­ten also Men­schen, die es für falsch hal­ten, eine Anti­se­mi­tin unwi­der­spro­chen öffent­lich reden zu las­sen. Und weil es nun ein­mal oft die Betrof­fe­nen selbst sind, die gegen Anti­se­mi­tis­mus ein­ste­hen, heißt das: Als Pro­blem gel­ten Jüdin­nen und Juden. Vom Kampnagel-Statement zum am Don­ners­tag in anti­is­rae­li­schen Krei­sen zir­ku­lie­ren­den Auf­ruf, die »Hetze« gegen Ibra­him zu stop­pen, ist es nur ein klei­ner Schritt. Man nennt das Täter-Opfer-Umkehrung.

Nicht gar so offene Debattenräume

Sym­pto­ma­tisch war hier­für das Bild, das sich am Don­ners­tag­abend vor Kamp­na­gel bot. Etwa drei­ßig Kritiker:innen des Anti­se­mi­tis­mus – dar­un­ter Mit­glie­der des Jun­gen Forums der DIG Ham­burg und der jüdi­schen Gemeinde sowie Exiliraner:innen – ver­sam­mel­ten sich dort gegen halb sechs, um gegen die Ein­la­dung Ibra­hims zu pro­tes­tie­ren. Zah­len­mä­ßig über­le­gen war jedoch eine spon­tan ange­mel­dete anti­is­rae­li­sche Gegen­kund­ge­bung, die von der Poli­zei in Sicht- und Hör­weite vor­ge­las­sen wurde.

Dank Laut­spre­cher­an­lage über­tön­ten deren Sprech­chöre zudem die­je­ni­gen der Kund­ge­bung gegen Anti­se­mi­tis­mus. Und im Gegen­satz zum Anti-Antisemitismus konnte der Isra­el­hass auf ein gro­ßes Reper­toire grif­fi­ger Slo­gans zurück­grei­fen – neben dem noto­ri­schen »From the river to the sea« gehörte dazu am Don­ners­tag etwa »Alle zusam­men gegen Zio­nis­mus«. Die anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­schen Demonstrant:innen wur­den als ›Ver­tei­di­ger eines Geno­zids‹ verleumdet.

Drin­nen, in der Instal­la­tion »Cruise Ten­tare«, eröff­nete Ame­lie Deufl­hard wäh­rend­des­sen kurz ange­bun­den den Klima-Schwerpunkt vor ca. vier­zig etwas des­ori­en­tier­ten Gäs­ten. Die eigent­lich für 18:15 Uhr ange­kün­digte Key­note von Zamzam Ibra­him war wenige Minu­ten vor dem geplan­ten Beginn auf 19:45 Uhr ver­legt wor­den. Der Hin­ter­grund die­ser Ver­schie­bung ist bri­sant: Die Kampnagel-Leitung wollte dem Radio­sen­der NDR 90,3 unter­sa­gen, O‑Töne aus Ibra­hims Keynote-Vortrag für die Bericht­erstat­tung zu nut­zen. Die Kul­tur­re­dak­tion von NDR 90,3 wandte sich in der Sache an ihr Jus­ti­zia­riat, das ein der­ar­ti­ges Ver­bot als unzu­läs­sig erach­tete. Auch das dar­auf­hin kon­tak­tierte Jus­ti­zia­riat von Kamp­na­gel folgte die­ser Ein­schät­zung. Kamp­na­gel ent­schied sich vor die­sem Hin­ter­grund gegen eine Live-Übertragung und stellte – andert­halb Stun­den spä­ter als eigent­lich geplant – eine Auf­zeich­nung des Gesprächs online.3Das Video ist nun auch wie­der aus dem Inter­net ver­schwun­den – samt vie­ler kri­ti­scher Kom­men­tare. Ein erstaun­li­ches Ver­hal­ten für ein Haus, das stets die Not­wen­dig­keit offe­ner Debat­ten betont. 

Auf Nach­frage erläu­tert Ame­lie Deufl­hard, Ibra­him habe zunächst nur einer ein­ma­li­gen Ver­öf­fent­li­chung ihrer Rede zuge­stimmt, nicht aber einer Auf­zeich­nung; erst nach erneu­ter Rück­spra­che habe Ibra­him die Zustim­mung, O‑Töne zu ver­wen­den, erteilt. »Zu kei­ner Zeit wurde die freie Pres­se­be­richt­erstat­tung über die Rede Zamzam Ibra­hims beschränkt oder sollte beschränkt wer­den.« Doch wie sonst soll man es bezeich­nen, wenn einem Radio­jour­na­lis­ten unter­sagt wer­den soll, O‑Töne aus einem öffent­li­chen Vor­trag für seine Bericht­erstat­tung zu verwenden?

Climate Justice lies with God?

Ibra­hims Keynote-Vortrag war dann eine Mischung aus religiös-esoterischem Pathos und rau­nen­der ›Sys­tem­kri­tik‹. Zur Kli­ma­ge­rech­tig­keit hatte sie nur Gemein­plätze zu bie­ten. Statt­des­sen war ihre Rede voll von Anspie­lun­gen auf das Thema, über das zu spre­chen ihr ›ver­bo­ten‹ wor­den war: »I wouldn’t be me wit­hout tal­king about the pain and suf­fe­ring that is hap­pe­ning this very second«, pro­kla­mierte sie, und sprach sodann von »Geno­zi­den«, die wir alle live auf unse­ren Bild­schir­men ver­fol­gen könn­ten. Zu die­sem rau­nen­den Spre­chen in Anspie­lun­gen passte auch ihr Out­fit – ein wei­ßer Pull­over mit einem Print der Jeru­sa­le­mer al-Aqsa-Moschee, der gerade deut­lich genug zu sehen war, um die Bot­schaft erken­nen zu las­sen, und gerade unauf­fäl­lig genug, um sich kei­nen Bruch der Abma­chung vor­wer­fen las­sen zu können.

Zamzam Ibra­him atmet in ihrem Vor­trag good vibes ein. Foto: Screen­shot Youtube

In poli­ti­scher Hin­sicht offen­barte Ibra­him ein mit reli­giö­sem Pathos auf­ge­la­de­nes Schwarz-Weiß-Denken – Gerech­tig­keit vs. Unter­drü­ckung, Gut vs. Böse, Glo­ba­ler Süden vs. Glo­ba­ler Nor­den, ›wir‹ gegen ›die‹. Eine Aner­ken­nung von Wider­sprü­chen suchte man ver­geb­lich: »You are eit­her part of the pro­blem or part of the solu­tion. There is no other side to this coin.« Die­ses dicho­tome Den­ken ver­band sich mit einer rau­nen­den Ver­dam­mung ›des Sys­tems‹, das jede Kri­tik mund­tot zu machen und jeden Wider­stand im Keim zu ersti­cken ver­su­che.4»You see, when you stand on the side of jus­tice, the sys­tems of oppres­sion that we seek to break down will try to deplat­form you, but no sen­sa­ti­ons head­lines or lies can ever win against you.« Gegen eine politisch-ökonomische Ord­nung, die auf white supre­macy, Ras­sis­mus, Aus­beu­tung und Gier beruhe und »pro­fit over peo­ple« stelle, brachte Ibra­him die Vor­stel­lung einer »green eco­nomy« in Anschlag, die den Bedürf­nis­sen der Men­schen und unse­res Pla­ne­ten diene.5Wört­lich heißt es in der Rede: »See, the fight against cli­mate change is a fight against all sys­tems that fuel the cli­mate cri­sis: white supre­macy, racism, eco­no­mic explo­ita­tion, greed – I could be here all day.« Und wei­ter: »We need a green eco­nomy, finan­cial sys­tems that exist to serve the needs of peo­ple and our pla­net.« Diese von Gier befreite »green eco­nomy« klingt auf­fäl­lig ähn­lich wie das Pro­gramm des »Isla­mic Ban­king«, das als ein mit der Scha­ria kon­for­mes Finanz­we­sen etwa im Iran pro­pa­giert wird.

Mögen diese Aus­füh­run­gen auch nicht expli­zit anti­se­mi­tisch gewe­sen sein – ihre Nähe zu dem, was der Künst­ler Leon Kahane in einem Inter­view mit dem Aus­druck ›Anti­se­mi­tis­mus als Kul­tur­tech­nik‹ bezeich­net, ist evi­dent: »Anti­se­mi­ten posi­tio­nier­ten sich immer gegen das Estab­lish­ment und gesell­schaft­li­che Zwänge und für etwas ver­meint­lich Fort­schritt­li­ches. Der Anti­se­mi­tis­mus als Kul­tur­tech­nik ist der Ver­such, Wider­sprü­che auf­zu­lö­sen – zur Not mit Gewalt. Die eige­nen Kon­flikte und das eigene Böse wer­den exter­na­li­siert und auf Jüdin­nen und Juden oder den jüdi­schen Staat Israel projiziert.«

Aloe Vera strei­cheln für mehr Kli­ma­ge­rech­tig­keit – ein Work­shop auf Kamp­na­gel. Foto (Aus­schnitt): Screen­shot Insta­gram.

Es fragt sich zudem, was genau Ibra­hims Rede zum Pro­blem der Kli­ma­ge­rech­tig­keit bei­zu­tra­gen hatte. Wenn es in der Erklä­rung von Kamp­na­gel heißt, »Ibra­hims Per­spek­tive bleibt für den Dis­kurs­schwer­punkt des Fes­ti­vals ein wich­ti­ger Bestand­teil«, bleibt offen, worin genau diese ›Per­spek­tive‹ liegt. Mit ihrem Den­ken in Dicho­to­mien und ihrer religiös-esoterisch ver­bräm­ten Sys­tem­kri­tik gab Ibra­him aber zumin­dest einen Vor­ge­schmack dar­auf, was im Rest des Dis­kurs­pro­gramms pas­sierte – etwa die Beschwö­rung eines Oli­ven­baums als Zeuge oder das »öko-intime« Strei­cheln von Aloe-Vera-Pflanzen. Wenn das die von Kamp­na­gel ver­spro­che­nen neuen »Stra­te­gien im Kli­ma­dis­kurs« sind, ist wenig Grund zur Hoffnung.

Antisemit:innen mit Grund zum Jubeln

Drau­ßen vor Kamp­na­gel hatte sich die anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche Kund­ge­bung der­weil auf­ge­löst, die Gegen­kund­ge­bung blieb jedoch noch eine Weile vor Ort, um in aus­ge­las­se­ner Stim­mung bei lau­ter Musik zu tan­zen und ihren Sieg zu fei­ern. Man feiere, »dass Kamp­na­gel nicht vor den Zio­nis­ten ein­ge­knickt ist«, erklärte eine Demons­tran­tin. Und bevor die Laut­spre­cher­an­lage abge­baut wurde, rief der Ver­samm­lungs­lei­ter zum Abschluss noch ein­mal ins Mikro: »Danke, Kampnagel!«

Die Hamas­fans vor Kamp­na­gel hat­ten Grund zum Fei­ern. Foto (Aus­schnitt): Screen­shot Instagram.

»Danke, Kamp­na­gel!« ist auch der Tenor der pro­pa­läs­ti­nen­si­schen Kom­men­tare in den sozia­len Medien. Die Ver­le­gung von Zamzam Ibra­hims Vor­trag ins Inter­net wird hier kei­nes­wegs als ›Ein­kni­cken‹ ver­stan­den.6Daher ist auch der Bericht im Ham­bur­ger Abend­blatt irre­füh­rend, der behaup­tet, die pro­pa­läs­ti­nen­si­sche Demo habe gegen die Ver­le­gung von Ibra­hims Vor­trag ins Inter­net demons­triert, und die Situa­tion also so dar­stellt, als werde Kamp­na­gel von zwei Sei­ten glei­cher­ma­ßen ange­grif­fen. Rich­tig ist: Die­je­ni­gen, die für Zamzam Ibra­him demons­trier­ten, sahen sich mit Kamp­na­gel auf der­sel­ben Seite – und das zu Recht. Davon zeu­gen vor allem viele Kom­men­tare zur Erklä­rung von Kamp­na­gel auf Insta­gram.7Ein State­ment der im Work­shop­pro­gramm von »How Low Can You Go« auf­tre­ten­den Künst­le­rin Niya B brint diese Sicht auf den Punkt: »[…] they [Kamp­na­gel] are refu­sing to can­cel spea­k­ers who are fal­sely bran­ded as anti­se­mi­tic. In the cur­rent cli­mate, this is a bold public state­ment for a Ger­man cul­tu­ral insti­tu­tion.« Und auch Ibra­him selbst prä­sen­tierte sich nach ihrem Auf­tritt als Sie­ge­rin. In ihrer Instagram-Story zeigt sie sich mit Sie­ger­lä­cheln, Vic­to­ry­zei­chen und dem nun in Gänze sicht­ba­ren al-Aqsa-Moschee-Pullover, den sie auch schon bei der Key­note trug. Ergänzt ist die­ses Bild um die Worte: »Just Ger­ma­nys most hated cli­mate acti­vist report­ing in let you all know, I’m doing great and also to remind ya’ll… Ain’t Cli­mate Jus­tice wit­hout a FREE PALESTINE«.

Zamzam Ibra­him fei­ert nach ihrer Key­note… Fotos: Screen­shot Instagram
… und zeigt ihre Hal­tung noch­mal überdeutlich.

Kampnagel ›verlernresistent‹

Für all jene, die gegen Anti­se­mi­tis­mus ein­ste­hen, endete die Debatte um Ibra­hims Auf­tritt so in einer Nie­der­lage. Und hegte man die Hoff­nung, dass man zumin­dest auf Kamp­na­gel etwas aus den Vor­fäl­len gelernt (oder eher, wie es im Jar­gon heißt, verlernt) habe, wurde man eben­falls ent­täuscht. Gegen­über Untie­fen sagte Ame­lie Deufl­hard zwar: »Den Pro­zess rund um den Schwer­punkt zur Kli­ma­ge­rech­tig­keit wer­den wir gründ­lich auf­ar­bei­ten. Dabei neh­men wir die geäu­ßerte Kri­tik ernst und set­zen uns damit aus­ein­an­der, was der Vor­gang für jüdi­sches und anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sches Publi­kum her­vor­ge­ru­fen hat.« Bis­her deu­tet aber nichts dar­auf hin, dass man sich auf diese Ankün­di­gung ver­las­sen könnte.

Eher das Gegen­teil ist der Fall: Deufl­hard zeigte sich nach der Key­note in ihrer Ent­schei­dung bestärkt. Ibra­hims Vor­trag bezeich­nete sie gegen­über NDR 90,3 als »aus­ge­wo­gene, gemä­ßigte und kämp­fe­ri­sche Rede für alle«. Und auf die Frage, ›ob es das wert war‹, ant­wor­tete sie: »Es war’s viel­leicht wert dafür, dass es keine gute Idee ist, dass wir unter­schied­li­che Stim­men von schwar­zen Akti­vis­tin­nen, von mus­li­mi­schen Akti­vis­tin­nen ver­stum­men las­sen. Wir müs­sen ohne sol­che har­ten Anwürfe dis­ku­tie­ren kön­nen«. Mit den »har­ten Anwür­fen« ist frag­los die vor­nehm­lich von Jüdin­nen und Juden geäu­ßerte Benen­nung von Ibra­hims Posi­tio­nen als anti­se­mi­tisch gemeint. Die Bot­schaft ist also deut­lich: Kamp­na­gel will den ›viel­stim­mi­gen Dis­kurs‹ gerne ohne anti­se­mi­tis­mus­kri­ti­sche jüdi­sche Stim­men führen.

Diese Erkennt­nis ist bit­ter ent­täu­schend. In Ent­täu­schung aber steckt zumin­dest immer auch die auf­klä­re­ri­sche Dimen­sion einer Des­il­lu­sio­nie­rung. Die Vor­gänge um den Auf­tritt Zamzam Ibra­hims waren gut geeig­net, Illu­sio­nen zu ver­lie­ren – allen voran die Illu­sion, dass man Kamp­na­gel im Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus zu den Ver­bün­de­ten zäh­len könne.

Anti-Antisemitismus bleibt Handarbeit

Ent­täuscht in die­sem Sinne sind auch einige Kampnagel-Künstler:innen. Dor Aloni fand in einem Inter­view mit Zeit Online am Diens­tag klare Worte: »Für mich ist das eine poli­ti­sche Frage, ich finde, die Rela­ti­vie­rung des Holo­caust und die Recht­fer­ti­gung des Hamas-Massaker keine Posi­tion, die man mit ande­ren kon­trä­ren Posi­tio­nen dis­ku­tie­ren kann. Kamp­na­gel hat den Anspruch, sichere Räume für bedrohte und mar­gi­na­li­sierte Grup­pen zu bie­ten. Ich habe den Ein­druck, dass das für Juden so nicht gilt.« 

Und der Per­for­mance­künst­ler Tucké Royale kom­men­tierte auf Insta­gram, das Ver­hal­ten Kamp­na­gels zeige die gefähr­li­che Ten­denz, dass in Sachen Anti­se­mi­tis­mus aufs Bauch­ge­fühl gehört wird statt auf die Anti­se­mi­tis­mus­for­schung und auf Jüdin­nen und Juden: »Ein abso­lu­ter Irr­tum zu den­ken, dass sich Anti­se­mi­tis­mus­kri­tik und Anti­ras­sis­mus aus­schlie­ßen.« Ansons­ten aber wurde Ibra­hims Anti­se­mi­tis­mus von Künstler:innen aus dem Kampnagel-Umfeld geleug­net oder legi­ti­miert – oder es herrschte Schwei­gen. Das zeigt: Sich hier offen gegen Anti­se­mi­tis­mus und Isra­el­hass zu stel­len, macht schnell einsam.

In ihrer Eröff­nungs­rede am Don­ners­tag sagte Ame­lie Deufl­hard: »Ich bin mir sicher, dass uns diese Kon­tro­verse auch in den nächs­ten Wochen und Mona­ten beschäf­ti­gen wird.« Damit das keine lee­ren Worte blei­ben, gilt es, die­sen Satz als Auf­for­de­rung zu ver­ste­hen. Hätte es keine kri­ti­sche Öffent­lich­keit gege­ben, wäre der Anti­se­mi­tis­mus Zamzam Ibra­hims nicht ein­mal Thema gewor­den; ohne eine wei­ter­hin kri­ti­sche Öffent­lich­keit wird die Debatte auch keine Kon­se­quen­zen haben.

Lukas Betz­ler

Der Autor hat vor einer Woche eine aus­führ­li­che Recher­che zum Anti­se­mi­tis­mus Zamzam Ibra­hims veröffentlicht.

  • 1
    Wenn Kampnagel-Intendantin Ame­lie Deufl­hard gegen­über Untie­fen ledig­lich all­ge­mein pro­kla­miert: »Wir distan­zie­ren uns in aller Deut­lich­keit von anti­se­mi­ti­schen und isra­el­feind­li­chen Hal­tun­gen«, muss sie sich die Frage gefal­len las­sen: Wo war diese Deut­lich­keit im kon­kre­ten Falle Zamzam Ibrahims?
  • 2
    Auch in Ihren Eröff­nungs­wor­ten nannte Ame­lie Deufl­hard die Debatte als Grund für die Ver­le­gung ins Inter­net: »The con­tro­versy around the key­note made us decide to place it online.«
  • 3
    Das Video ist nun auch wie­der aus dem Inter­net ver­schwun­den – samt vie­ler kri­ti­scher Kommentare.
  • 4
    »You see, when you stand on the side of jus­tice, the sys­tems of oppres­sion that we seek to break down will try to deplat­form you, but no sen­sa­ti­ons head­lines or lies can ever win against you.«
  • 5
    Wört­lich heißt es in der Rede: »See, the fight against cli­mate change is a fight against all sys­tems that fuel the cli­mate cri­sis: white supre­macy, racism, eco­no­mic explo­ita­tion, greed – I could be here all day.« Und wei­ter: »We need a green eco­nomy, finan­cial sys­tems that exist to serve the needs of peo­ple and our pla­net.« Diese von Gier befreite »green eco­nomy« klingt auf­fäl­lig ähn­lich wie das Pro­gramm des »Isla­mic Ban­king«, das als ein mit der Scha­ria kon­for­mes Finanz­we­sen etwa im Iran pro­pa­giert wird.
  • 6
    Daher ist auch der Bericht im Ham­bur­ger Abend­blatt irre­füh­rend, der behaup­tet, die pro­pa­läs­ti­nen­si­sche Demo habe gegen die Ver­le­gung von Ibra­hims Vor­trag ins Inter­net demons­triert, und die Situa­tion also so dar­stellt, als werde Kamp­na­gel von zwei Sei­ten glei­cher­ma­ßen ange­grif­fen. Rich­tig ist: Die­je­ni­gen, die für Zamzam Ibra­him demons­trier­ten, sahen sich mit Kamp­na­gel auf der­sel­ben Seite – und das zu Recht.
  • 7
    Ein State­ment der im Work­shop­pro­gramm von »How Low Can You Go« auf­tre­ten­den Künst­le­rin Niya B brint diese Sicht auf den Punkt: »[…] they [Kamp­na­gel] are refu­sing to can­cel spea­k­ers who are fal­sely bran­ded as anti­se­mi­tic. In the cur­rent cli­mate, this is a bold public state­ment for a Ger­man cul­tu­ral institution.«