Das Logistikunternehmen Kühne+Nagel hat sich im NS erheblich an jüdischem Eigentum bereichert. Vor zwei Jahren löste Kritik daran auf dem Harbourfront Literaturfestival einen kleinen Eklat aus. Das Festival fällt dieses Jahr nun aus. Multimilliardär Kühne hingegen scheint keinen Schaden davongetragen zu haben. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen: In Bremen gibt es seit einem Jahr ein Mahnmal; und neue Recherchen eines renommierten Journalisten könnten die Debatte noch einmal anfachen.
Das Mahnmal in Bremen mag verglichen mit der Kühne+Nagel-Zentrale klein sein, doch seine Wirkung sollte nicht unterschätzt werden. Foto: Nikolai Wolff/Fotoetage
Vor zwei Jahren, Ende August 2022, kam es auf dem Harbourfront Literaturfestival zum Eklat: Die Untiefen-Redaktion hatte einige Wochen zuvor in einer E‑Mail die acht für den nach Klaus-Michael Kühne benannten Debütpreis des Festivals nominierten Schriftsteller:innen über die NS-Geschichte von Kühne+Nagel sowie ihre Verleugnung durch den Familienerben und Unternehmensinhaber Kühne informiert. Einer von ihnen, der für sein Debüt Draußen feiern die Leute nominierte Sven Pfizenmaier, zog daraufhin seine Teilnahme zurück.
Das Festival versuchte noch, Pfizenmaiers Rückzug und seine Gründe unter dem Radar der Öffentlichkeit zu halten, doch es gelang nicht: Die Medien berichteten darüber, Pfizenmaiers Kollegin Franziska Gänsler zog ihre Teilnahme ebenfalls zurück, das Festival und die Kühne-Stiftung, die nicht nur das Preisgeld stiftete, sondern auch als Hauptsponsor fungierte, gerieten stark unter Druck. Dieser öffentliche Druck war es, der dann dazu führte, dass binnen weniger Tage nicht nur der Kühne-Preis umbenannt wurde, sondern auch die Kühne-Stiftung sich aus dem Sponsoring zurückzog. Die Jury des Preises sprach Pfizenmaier und Gänsler in ihrer Stellungnahme zur Preisvergabe dann ausdrücklich ihren Respekt und ihre Unterstützung aus (eine ausführliche Chronik der Ereignisse findet sich hier).
Aufruhr im Hamburger Literaturbetrieb
Der Ausstieg Kühnes als Sponsor des Harbourfront Festivals war wohl schon zuvor geplant gewesen. Doch ein nachhaltiger Ersatz für den jahrelangen Hauptsponsor scheint sich nicht gefunden zu haben: Dieses Jahr fällt das Festival erstmals seit seiner Gründung vor 15 Jahren aus. Es wird zwar sicher nicht nur an dem Eklat von vor zwei Jahren liegen, dass sich das Festival nun »organisatorisch, personell und finanziell neu aufzustellen« versucht, wie in einer Pressemitteilung vom Februar dieses Jahres verkündet wurde. Aber ganz ohne Zusammenhang wird es nicht sein, denn mit der Kühne-Stiftung zog sich der zentrale Geldgeber zurück, ohne den das Festival gar nicht hätte ins Leben gerufen werden können – trotz jährlich 100.000 Euro fester Förderung von der Kulturbehörde.
In den Medien und im Hamburger Literaturbetrieb wurde die Nachricht vom Ausfall des Festivals mit Sorge aufgenommen. Schließlich reichte die Ausstrahlung des Harbourfront weit über Hamburg hinaus. Und es hat, wie Literaturhauschef Rainer Moritz es gegenüber dem NDR im Betriebsjargon ausdrückte, in Hamburg ›den literarischen Markt unglaublich belebt‹. Auch die Kulturbehörde wirkte, als sei sie von der Nachricht überrascht worden. Sie kündigte zwar an, sich um Ersatz zu kümmern, doch suchte offenbar nicht selbst das Gespräch mit den Akteur:innen des Hamburger Literaturbetriebs.
Die Initiativen für ›Ersatzfestivals‹ kamen stattdessen von privatwirtschaftlichen Akteur:innen. Gleich zwei Festivals wollen nun die Lücke füllen, die das Harbourfront dieses Jahr lässt: Die Blankeneser Buchhandlung Wassermann richtet in der ersten Septemberhälfte mit der Herbstlese Blankenese ein eigenes Literaturfestival aus. Sogar einen Debütpreis gibt es. Das Geld für die großen Namen und den Preis kommt vor allem vom Blankeneser Besitzbürgertum: Die Lange-Rode-Stiftung, deren Geld ursprünglich vor allem aus der Kronkorken-Produktion stammt, ist der Hauptsponsor. Das zweite ›Ersatzfestival‹ ist umstritten. Das Unternehmen hinter der lit.COLOGNE hat mit ELB.lit einen Hamburger Ableger gestartet, der wie das Harbourfront vor allem auf Events und große Namen setzt. Aber nicht das in weiten Teilen ambitionslose Programm, sondern nur der Umstand, dass die 100.000 Euro Förderung von der Kulturbehörde nun nicht an ein Hamburger, sondern an ein Kölner Unternehmen gehen, sorgte hier für Empörung.
Rückblickend auf den Eklat
Besser als der Hamburger Literaturbetrieb scheinen die beiden aus Protest gegen Kühne zurückgetretenen Autor:innen den Eklat vor zwei Jahren überstanden zu haben. Beide haben inzwischen ihren zweiten Roman veröffentlicht. Franziska Gänslers Wie Inseln im Licht erschien im Frühjahr, Sven Pfizenmaiers Schwätzer ist gerade erschienen und feiert am 4. September in Berlin Buchpremiere.
Wie blickt er auf die Geschichte zurück? Gegenüber Untiefen sagte Pfizenmaier, er würde die Entscheidung heute genauso wieder treffen. Es sei zwar ein Kampf gegen Windmühlen, aber trotzdem: »Wo es Literatur betrifft, fühlt es sich auch ein bisschen persönlich an, und ich bin froh, die Gelegenheit genutzt zu haben, ein Zeichen zu setzen.«
Die Befürchtung, dass die Entscheidung negative Auswirkungen auf sein Standing im Literaturbetrieb gehabt hätte, scheint sich nicht bewahrheitet zu haben, sagt Pfizenmaier: »Man prognostizierte mir teilweise, mich mit der Entscheidung bei Preisjurys womöglich unbeliebt zu machen, ich kann das nicht bisher nicht bestätigen. Ich habe viel Zuspruch und Unterstützung von allen möglichen Seiten bekommen.«
Die Kritik an Kühnes verweigerter Aufarbeitung seiner Familien- und Unternehmensgeschichte, an seinem art washing und an dem Schweigen der Öffentlichkeit dazu scheint jedoch schnell verpufft zu sein. Die vom damals ebenfalls nominierten Schriftsteller Domenico Müllensiefen geäußerte Forderung, dem Rückzug der öffentlichen Kulturförderung Einhalt zu gebieten, und sein Beharren darauf, dass nicht Kühne allein das Problem sei, sondern dass »deutscher Reichtum in vielen, wenn nicht sogar in den meisten Fällen auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit entstanden« sei, fanden kaum Widerhall.
Kühnes Milliarden: ungefährdet
Strukturell hat sich tatsächlich nichts verändert. Während die Buchbranche mehr denn je auf finanzielle Förderung – öffentlich oder privat – angewiesen ist,1Die Krise der Buchbranche hat sich verschärft, auch in Hamburg, wo zuletzt die Edition Nautilus einen Hilferuf abgesetzt und eine strukturelle Verlagsförderung gefordert hat, ähnlich wie es sie schon für Programmkinos und Theater gibt. sieht die Lage bei den Superreichen gewohnt rosig aus. So ist auch Klaus-Michael Kühne in den letzten zwei Jahren vor allem reicher geworden. Auf dem Bloomberg Billionaires Index wird sein geschätztes Vermögen aktuell mit knapp 45 Mrd. US-Dollar angegeben, womit er nun erstmals als reichster Deutscher firmiert. Und wie eh und je hält er sich mit ›Vorschlägen‹ und Statements in der (Medien-)Öffentlichkeit: Wieder und wieder wirbt er für seine Pläne eines neuen Opernhauses, er ist als Anteilseigner beim Elbtower eingestiegen (und ist dabei, so die Selbstdarstellung, »dem Charme von Benko erlegen«), er hat sich über den geplanten Teilverkauf der HHLA an den Hapag-Lloyd-Konkurrenten MSC geärgert und das DB-Konkurrenzunternehmen Flix übernommen.
Der Hamburger Sitz von Kühne+Nagel am Großen Grasbrook. Hier erinnert nichts an die Vergangenheit des Unternehmens als NS-Profiteur. Foto: Wmeinhart (Wikimedia), Lizenz: CC BY-SA 3.0.
Den Eklat von vor zwei Jahren scheint er gänzlich unbeschadet überstanden zu haben. Dass Kühne+Nagel 1933 seinen jüdischen Teilhaber Adolf Maass aus dem Unternehmen drängte, um dann während des Zweiten Weltkriegs in vielen besetzten Ländern Europas Niederlassungen zu gründen, sich so ein Quasi-Monopol auf den Abtransport jüdischen Eigentums zu sichern und dadurch massiv von der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden zu profitieren – davon ist kaum noch zu lesen oder zu hören. Im Gegensatz etwa zu der Frage, welchen Trainer Kühne für ›seinen‹ HSV wünschen würde, hat diese Geschichte offenbar keinen Nachrichtenwert. Und für das Privileg eines Exklusivinterviews mit Kühne verzichtet man etwa beim Hamburger Abendblatt sehr bereitwillig auf kritische Fragen. Auch eine kritische Zivilgesellschaft hat sich in Hamburg immer noch nicht formiert. Kühnes Wunsch nach einem Schlussstrich scheint sich hier weitestgehend erfüllt zu haben.
Von Bremen lernen
In Bremen, wo Kühne+Nagel vor 134 Jahren gegründet wurde und wo immer noch die Deutschlandzentrale ihren Sitz hat, ist das anders. Vor allem dem Engagement Henning Bleyls und Evin Oettingshausens ist es zu verdanken, dass das Thema dort, anders als in Hamburg, weiterhin im öffentlichen Bewusstsein gehalten wird. Bleyl und Oettingshausen kämpften jahrelang für ein Mahnmal in Bremen, das an den systematischen Raub und die Enteignung jüdischen Eigentums im Nationalsozialismus und die Beteiligung bremischer Unternehmen, Behörden und Bürgerinnen und Bürger daran erinnert. Vor einem Jahr, am 10. September 2023, wurde das Mahnmal eingeweiht, das nun in Sichtweite des Kühne+Nagel-Gebäudes an die Opfer der ›Arisierungen‹ erinnert.
Grigori Pantijelew, Vorstand der jüdischen Gemeinde Bremen, bei seiner Rede zur Einweihung des Mahnmals. Foto: Nikolai Wolff/Fotoetage
Zur Einweihung zeigte sich Grigori Pantijelew, Vertreter der jüdischen Gemeinde Bremen, kämpferisch: Das kleine Mahnmal und das protzige Riesengebäude von Kühne+Nagel erinnerten ihn an die Geschichte von David und Goliath, sagte er, – und man wisse ja, wer am Ende gewonnen hat. Bei der Einweihung sprach auch Barbara Maass, eine Enkelin von Adolf und Käthe Maass, die eigens zu diesem Anlass zusammen mit ihrem Mann aus Montréal nach Deutschland gekommen war. Sie hielt in Bremen eine (hier nachzulesende) Rede, in der sie die Aufarbeitung der »skrupellosen Handlungen der Komplizen und Profiteure des Holocausts« – auch und gerade von Kühne+Nagel – forderte, und zwar »hier und jetzt«. Ihr Deutschlandbesuch führte Barbara Maass auch nach Hamburg, wo sie das ehemalige Wohnhaus der Familie Maass in Winterhude besichtigte, in dem ihr Vater Gerhard seine Eltern noch 1938 besucht hatte. Außerdem besuchte sie die Gedenkstätte Hannoverscher Bahnhof – den Ort, an dem im Juli 1942 auch jener Zug abfuhr, der ihre Großeltern nach Theresienstadt deportierte.
Bleyl und Oettingshausen engagieren sich derweil weiter. Sie organisieren erinnerungspolitische Radtouren, betreiben weiter Recherchen und kümmern sich um das Mahnmal. Mit Spachtel und Putzzeug haben sie eigenhändig Aufkleber und Farbe von den Fenstern und Rahmen geschrubbt. Und sie haben dafür gesorgt, dass das Mahnmal nun auch endlich eine Texttafel erhält, die über seine Bedeutung aufklärt. Am 10. September, zum Jahrestag der Eröffnung, wird die neue Tafel in Bremen eingeweiht werden.
Neue Impulse im Kampf um Aufklärung?
Neue Impulse könnte die öffentliche Auseinandersetzung um den Umgang mit der Geschichte Kühne+Nagels als NS-Profiteur nun aus den USA erhalten. Der niederländische Journalist David de Jong hatte 2022 mit seinem Buch Braunes Erbe über die NS-Verstrickungen der reichsten deutschen Unternehmerdynastien – der Familien Quandt, Flick, von Finck, Porsche-Piëch, Oetker und Reimann – international für Aufsehen gesorgt. Die Familie Kühne fehlte in dieser Zusammenstellung. Nun aber hat er anderthalb Jahre recherchiert, um einen Nachtrag zu Kühne+Nagel zu schreiben. Noch im September wird sein umfangreicher Investigativartikel in der Zeitschrift Vanity Fairerscheinen.
Dass Kühne in seinem Buch nicht auftauchte, hatte einen einfachen Grund: Klaus-Michael Kühne hat zwar ein ›braunes Erbe‹ angetreten, doch er selbst hat keine Erben. Sein Vermögen wird nach seinem Tod einer Stiftung vermacht werden. Der Impuls, nun trotzdem noch über Kühne zu recherchieren und zu schreiben, kam zunächst von außen, berichtet de Jong im Gespräch mit Untiefen: Er sei 2022 nach dem Erscheinen seines Buchs von mehreren Leser:innen – darunter der in England lebenden Großnichte von Adolf und Käthe Maass – angeregt worden, auch noch zur Geschichte der Kühnes zu recherchieren.
Die Recherchen führten im Verlauf der anderthalb Jahre in vier verschiedene Länder, berichtet de Jong. So sprach er in Montréal mit Barbara Maass und sichtete Bestände des Montreal Holocaust Museum; er besuchte in Bremen die Eröffnung des Mahnmals und recherchierte in Hamburg im hiesigen Staatsarchiv. Obwohl Klaus-Michael Kühne den Zugang zum Unternehmensarchiv immer noch versperrt, verspricht de Jongs Artikel brisante neue Erkenntnisse – und zwar nicht nur über das Ausmaß der Beteiligung von Kühne+Nagel an der M‑Aktion, sondern auch über das Ausmaß der Verschleierung und Verdrängung dieser Verbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht zuletzt durch Klaus-Michael Kühne selbst.
Die deutsche Ausgabe der Vanity Fair wurde vor 15 Jahren eingestellt. De Jongs Artikel wird also zunächst nicht auf Deutsch zu lesen sein. Es steht zu hoffen, dass seine Enthüllungen trotzdem auch hier gebührende Wirkung entfalten werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Herstellung einer internationalen Öffentlichkeit für den entscheidenden Impuls in einer Debatte um die NS-Aufarbeitung sorgt – erinnert sei hier etwa an die Debatte um die Entschädigung von Zwangsarbeiter:innen Ende der neunziger Jahre. Dass erst auf internationalen Druck hin gehandelt wird, ist bezeichnend für den in Deutschland üblichen Widerwillen, die Vergangenheit ernsthaft aufzuarbeiten. Aber es zeigt auch: Beharrlichkeit lohnt sich; und niemand sitzt so fest auf seinem Thron, dass er nicht ins Wanken gebracht werden kann. Der HSV, von Kühne maßgeblich finanziell unterstützt, galt lange als »unabsteigbar« und dümpelt nun seit sechs Jahren in der zweiten Bundesliga herum. Auch Kühne, der manchmal als unbezwingbar erscheint, wird mit seiner Forderung nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit und seiner Behinderung der Aufarbeitung nicht mehr lange durchkommen.
Lukas Betzler, September 2024
Der Autor ist Mitglieder der Redaktion Untiefen. Er hat hier schon vor zwei Jahren Beiträge zu Kühne+Nagel veröffentlicht und einen auf Youtube nachzuhörenden Vortrag von Henning Bleyl zu dem Thema moderiert. Den neuen Roman von Sven Pfizenmaier hat er gerade mit im Urlaubsgepäck.
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Die Krise der Buchbranche hat sich verschärft, auch in Hamburg, wo zuletzt die Edition Nautilus einen Hilferuf abgesetzt und eine strukturelle Verlagsförderung gefordert hat, ähnlich wie es sie schon für Programmkinos und Theater gibt.
Der Überfall der radikal-islamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und das folgende Massaker mit über 1.200 Todesopfern sind eine Zäsur, selbst in der an grauenvollen Ereignissen keineswegs armen Geschichte des Antisemitismus. Ihre globalen Nachwirkungen – keine Ächtung anti-humanistischer Ideologien und Politik, sondern im Gegenteil eine Enthemmung der aggressiven Dämonisierung des Judenstaats und der Bedrohung von Jüdinnen und Juden – sind auch in Hamburg zu spüren.
Nichts Abweichendes mag noch ertragen werden: Plakate, die an die von der Hamas festgehaltenen Geiseln erinnern, werden auch in Hamburg abgerissen. Foto: privat
Schon der Blick auf die Zahlen ist erschreckend: Bundesweit ist die Zahl antisemitischer Vorfälle nach dem 7. Oktober dramatisch gestiegen, dasselbe gilt für Hamburg. Hier machte Antisemitismus 2023 24% aller erfassten Fälle von Hasskriminalität aus – wobei weniger als 0,2% der Hamburger:innen jüdischen Glaubens sind. Im vierten Quartal hat sich die Fallzahl gegenüber dem Vorjahreszeitraum verfünffacht, auf 67 gegenüber 12 Fällen (siehe die Kleinen Anfragen der Linksfraktion zur Hasskriminalität in Hamburg in 2022 und 2023). Im Rahmen einer im Sommer 2024 erschienenen Studie unter anderem der Hochschule der Akademie der Polizei Hamburg gaben mehr als drei Viertel der befragten Hamburger Jüdinnen und Juden an, innerhalb der letzten zwölf Monate Antisemitismus erfahren zu haben.
Nach allen Erkenntnissen bleibt ein großer Teil der dahinter liegenden Fälle antisemitischer Diskriminierung und Gewalt außerhalb der Wahrnehmung von Öffentlichkeit und Behörden – die erwähnte Studie schätzt den Anteil auf 80%. Zivilgesellschaftlich gesammelte Daten, die dieses große Dunkelfeld erfahrungsgemäß erhellen könnten, standen für Hamburg allzu lange nicht zur Verfügung: Die 2021 gegründete, öffentlich geförderte digitale Hinweis- und Meldestelle memo veröffentlicht im Gegensatz zu den Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) in anderen Bundesländern keine Fälle oder (aussagekräftige) Zahlen. Ein nun vom Träger der Meldestelle, der Beratungsstelle für Betroffene rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt Empower, vorgelegter Bericht gibt 282 Fälle von Antisemitismus in Hamburg für 2023 an – mehr als ein Drittel der ingesamt dort bekannt gewordenen menschenfeindlichen Taten; im Zeitraum nach dem 7. Oktober verdoppelten sich auch hier die Fälle.
Plakativer Judenhass
Die Wände und die Öffentlichkeit der Stadt erlauben uns einen weiteren Einblick in die Realität des Antisemitismus. Wenige Tage nach dem 7. Oktober beginnend, werden auf Hauswänden und Laternen fortlaufend sogenannte pro-palästinensische Slogans, Aufkleber etc. angebracht. Neben die seit Jahrzehnten obligatorischen nationalistischen Parolen wie »Free Palestine« treten immer wieder auch Israel dämonisierende, manifest antisemitische Bilder: So wurde laut Bericht eines Anwohners auf St. Pauli z.B. nach dem 7. Oktober ein Graffito mit blutroten Handabdrücken platziert – eine Chiffre, die sich zustimmend auf den Lynchmord an zwei israelischen Soldaten zu Beginn der Zweiten Intifada ab 2000 bezieht; aus Eimsbüttel meldeten Anwohner:innen der Instagramseite Civil-Watch against Anti-Semitism Anfang Juli 2024 Aufkleber mit dem roten Dreieck (der Zielmarkierung der Hamas-Propaganda) und dem Slogan »Bring Them Back to Europe – Decolonize Palestine«. Israelsolidarische oder auch nur antisemitismuskritische Botschaften, sogar Plakate, die an die von der Hamas festgehaltenen Geiseln erinnern, werden abgerissen, beschädigt oder übermalt.
Jegliche israelsolidarische Kundgebung und antisemitismuskritische Veranstaltung hat mit Störungen und mit mindestens verbalen Bedrohungen zu rechnen
Jegliche israelsolidarische Kundgebung und antisemitismuskritische Veranstaltung hat mit Störungen und mit mindestens verbalen Bedrohungen zu rechnen: Im Anschluss an eine Solidaritätskundgebung mit Israel Mitte Oktober 2023 etwa wurden zwei Organisator:innen beschimpft und physisch angegriffen, eine israelische Fahne wurde gewaltsam entwendet; auf einer Podiumsdiskussion in den Bücherhallen Ende Januar 2024 wurden die jüdischen Podiumsteilnehmerinnen als »Nazis« und »KZ-Wächter« beschimpft und physisch bedroht.
Boykotte und alltäglicher Antisemitismus
Konkrete Positionierungen sind dabei zunehmend irrelevant: So war z.B. das Punkfestival Booze Cruise massiven Anfeindungen im Netz und international einem faktischen Boykott ausgesetzt, weil der Veranstalter als »Zionist« und »Gen0cide-Supporter« [sic!] markiert wurde. Seit Anfang Mai 2024 konnte nach US-amerikanischem Vorbild von palästinensisch-nationalistischen Gruppen und Aktivist:innen ein »Protest-Camp« am Rande der Universität Hamburg etabliert werden. Aus dessen Umfeld kam es am 8. Mai im Anschluss an eine antisemitismuskritische Vortragsveranstaltung in der Universität zu einer wohl spontanen, aber gezielten verbalen und physischen Attacke auf ein Vorstandsmitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, wenige Tage später zu einer als Angriff zu verstehenden kurzzeitigen Besetzung der Roten Flora.
Nach einer kurzen Phase medialer Diskussion direkt nach dem 7. Oktober sind die Hamburger Schulen aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden. Die Zahl von Anfragen für Antisemitismus-Workshops an Akteure der politischen Bildung ist jedoch seither weiter gestiegen und zumindest an einigen Schulen ist das Niveau der Vorfälle hoch. Wie Lehrer:innen von Harburger Schulen gegenüber Untiefen berichteten reichen diese Vorfälle bis hin zu demonstrativer Verherrlichung des antisemitischen Massenmords und der Bedrohung engagierter Lehrkräfte. Nur Weniges überschreitet die Schwelle der öffentlichen Wahrnehmung: In der Antwort des Senats auf eine Kleine Anfrage in der Bürgerschaft vom November 2023 werden vier Bombendrohungen gegen Schulen »im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt« erwähnt, die von der Polizei jedoch als »keine Gefährdungslage« eingestuft worden seien.
Wie sich deutlich zeigt, eröffnet die Dynamik der Ereignisse – von den Morden, Vergewaltigungen und Entführungen am 7. Oktober in Israel bis hin zum grausamen Kriegsgeschehen in Gaza und dessen medialer Dauerpräsenz – auch in Hamburg Möglichkeitsräume und Gelegenheitsstrukturen für judenfeindliche Aggressionen und Affekte. Gefüllt und genutzt werden diese Räume ebenso im persönlichen Umgang und Umfeld – offline oder online – wie von öffentlichen Akteur:innen.
In der Sache geeint: IslamistInnen und autoritäre Linke
Antisemitismus bezeichnet Judenhass – eine auf Jüdinnen und Juden bezogene Praxis der Gewalt in Wort und Tat und deren gleichzeitige Rechtfertigung, und tritt in allen gesellschaftlichen Schichten und politischen Spektren auf. Der Aussage, Israel mache im Prinzip mit den Palästinensern dasselbe wie die Nazis mit den Juden, stimmte zuletzt 2022 43% der deutschen Wohnbevölkerung zu. Gleichwohl sind es bestimmte Milieus, die gegenwärtig eine hervorgehobene Rolle spielen. Namentlich sind dies islamistische Milieus, Teile der autoritären Linken sowie aktivistische, selbsterklärt »pro-palästinensische« Kreise. Die Chiffre »Palästina« sowie Israelhass und Antisemitismus dienen hier – in jeweils unterschiedlicher Weise – als Agitationsmittel, die einen großen emotionalen Rückhall in postmigrantischen und/oder aktivistischen Milieus versprechen, vor allem unter Jugendlichen und bis in die bürgerlich-liberale Mitte hinein.
Vorfeldorganisationen der islamistischen Hizb ut-Tahrir hatten bereits kurz nach dem 7. Oktober in St. Georg eine »spontane« anti-israelische Kundgebung organisiert. 2024 folgten zwei weitere, angemeldete Demonstrationen, die bundesweit breit thematisiert wurden. Über Social Media als Bilder der Stärke inszeniert, sollen darüber Anhänger mobilisiert und Sympathisanten für eine misogyne, juden- und minderheitenfeindliche, insgesamt islamistische, demokratiefeindliche Agenda gewonnen werden. Autoritär-linke, »rote« oder »kommunistische« Gruppen veröffentlichten zügig Israel dämonisierende Statements (»Der Terrorist heißt Israel» u.ä.) und agitieren entsprechend. Die Bündnisdemo dieses Spektrums zum 1. Mai 2024 wurde weitgehend von palästinensisch-nationalistischen Parolen und Symbolen dominiert. Neben der Mobilisierung dient diese Positionierung als Instrument, um anti-autoritäre Linke im Kampf um Einfluss, Deutungen (v.a. von Antisemitismus) und Kontrolle von Räumen unter Druck zu setzen.
Gegenüber den islamistischen und autoritär-linken Gruppen ist das als aktivistisch umschriebene Milieu deutlich heterogener in Zusammensetzung und Ausrichtung. Anders als diese kann man eine Wirkung in die weitere politische Öffentlichkeit hinein entfalten. Dies gilt auch für organisierte Gruppen der »Palästina-Solidarität« wie Thawra, deren Grundstrukturen bereits länger etabliert sind und die mindestens ideologisch auch Überschneidungen mit den zuvor beschriebenen Gruppen aufweisen. Sie betreiben Kampagnenpolitik und radikalisieren sich in widerspruchsfreien Echokammern wie dem »Protest-Camp«. Wie bereits skizziert, werden entgegen der Selbstbeschreibung als sich der ganzen Macht von Staat und Gesellschaft entgegenstellenden Widerstandskämpfer:innen, vor allem »weiche«, nicht-staatliche und in diesem Sinn ungeschützte Ziele aus Subkultur und Bildungssektor gewählt: Man versucht jedweden linken Protest und jede Struktur vereinnahmend zu kapern und bedroht ein besetztes autonomes Zentrum; man demonstriert regelmäßig gegen eine universitäre Vorlesungsreihe zu Judenfeindschaft und stört diese mehr oder weniger organisiert. (Alles praktischerweise meist nur einen kurzen Fußweg oder eine S‑Bahnstation vom »Protest-Camp« entfernt.)
Von jeder Wand muss es herunterschreien: Anti-Israelische Raumnahme durch Graffiti. Foto: privat
Israelhass als kultureller Code
Eine wesentliche Zielgruppe dieser nationalistischen Kampagnenpraxis ist ein weiteres, eher diffuses, formal unorganisiertes, aktivistisch-künstlerisches Milieu von Personen an oder im Umfeld von Kulturinstitutionen oder Hochschulen, die sich mehrheitlich als links oder linksliberal verstehen würden. Im Fokus standen in jeweils anderer Weise die Hochschule für bildende Künste Hamburg (HfBK), das Kulturzentrum Kampnagel und seit dem Frühjahr 2024 zunehmend die Universität Hamburg.
Der Kampagnenpolitik im Sinne eines undifferenzierten, kompromisslosen palästinensischen Nationalismus wird im weiteren künstlerisch-aktivistischen Milieu von einer Haltung Raum gegeben, in der das Ressentiment gegen Israel (als Schlagwort: »die Israelkritik«) affektiv verankert ist. Durchaus auch aufgrund dieser jahrzehntealten nationalistischen Kampagnen wie des entsprechenden Erbes der Neuen Linken nach 1968, fungieren die »Israelkritik«, der »Anti-Zionismus«, die Dämonisierung Israels als ein kultureller Code, wie dies die Historikerin Shulamit Volkov benannt hat (2000: 84ff.), d.h. als »Erkennungszeichen der Zugehörigkeit zu einem bestimmten, subkulturellen Milieu« und einer emotionalisierten moralisch-politischen Haltung: Im Mittelpunkt, so Volkovs Analyse, stehen nicht die tatsächlichen Fragen, sondern »der symbolische Wert, ihnen gegenüber einen Standpunkt zu beziehen.« Und heute gilt umso deutlicher was Volkov bereits in den 1980er Jahren festgehalten hatte, dass global anscheinend »die Juden oft zum Symbol für all das geworden [sind][…], was man am Westen gehaßt und verabscheut hat«: namentlich Kolonialismus, Nationalismus und Rassismus, Ausbeutung, Ausgrenzung und Unterdrückung.[1]
Dämonisierender Israelhass muss nicht selbst propagiert werden, sondern dessen Normalisierung als ein kultureller Orientierungspunkt ist das entscheidende Moment, wie es Lukas Betzler an dieser Stelle anhand des Klimafestivals im Januar auf Kampnagel exemplarisch beschrieben hat. In diesem kulturellen Klima aus offener Aggression und bestenfalls verunsicherter Derealisierung angesichts eines »kontroversen Themas« – Antisemitismus und ein politisch komplexer, historisch aufgeladener Konflikt – bilden sich die Möglichkeitsräume und Gelegenheitsstrukturen, die ein Medium von Judenhass in der Gegenwart darstellen.
»Berechtigter« Antisemitismus?
Aufrufe zu Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, Israelis, »Zionisten« – auf Social Media oder zumindest einigen Hamburger Schulhöfen immer weniger codiert zu hören –, sind dabei ein Moment. Entscheidender sind die Derealisierung und Konsequenzlosigkeit der für sich sprechenden Taten und Tatsachen, die Verschiebung der Debatte auf den »Antisemitismusvorwurf« statt den Antisemitismus, und die Verweigerung von Empathie gegenüber den Erfahrungen von Jüdinnen und Juden. Entscheidender ist das Misstrauen, das derart entsteht. Die immer hemmungslosere Aggression zieht ihre Ziele – Jüdinnen und Juden; Akteure, die sich gegen Antisemitismus und Israelhass positionieren; beliebige Festivalveranstalter, die ein unterwerfendes Bekenntnis verweigern – mit in Verdacht. In diesem kulturellen Klima prägt sich Antisemitismus als sogenannter sekundärer aus, als Entlastungs- oder Schuldabwehrantisemitismus: Die Opfer werden für Gewalt, Hass und Verfolgung, die auf sie gerichtet werden, verantwortlich gemacht. Oder wie der Soziologe Detlev Claussen in Grenzen der Aufklärung sarkastisch formulierte (2005, XIV): »Unter Antisemitismus wird eine unberechtigte Aggression gegen Juden verstanden; aber berechtigte Angriffe sind denk- und artikulierbar geworden.«
Die Wände und Räume der Stadt sind ein passendes Bild für das, was heute Antisemitismus heißt, die aktuellste Rechtfertigung von antijüdischer Aggression in Wort und Tat: Von jeder Wand muss es herunter schreien. Jeder Raum soll mit der absoluten Gewissheit besetzt werden. Nichts Abweichendes mag noch ertragen werden. Der sich stetig selbst radikalisierende, kompromissunfähige, hoch emotionalisierte Modus der anti-israelischen Camps, Graffitis, Kampagnen und Bekenntnisse enthält das Ressentiment gegen Geist, Dialog und Reflexion und zwingt die unübersichtliche Welt in sein eindeutiges Schema von Gut und Böse. Und von solcher in widerspruchslosen Räumen verstärkten (Selbst-)Gewissheit ist es nur noch ein kurzer Weg dahin, den von den eigenen martialischen Parolen erzeugten Mythos als Rechts- und Machtanspruch in die (Gewalt-)Tat umsetzen zu dürfen, ja geradezu: umsetzen zu müssen.
Man wäge genau ab, wo man hingehe, berichtet eine aus der Ukraine geflüchtete Hamburger Jüdin der taz: »Ich frage mich: Wann werde ich angegriffen?« Die allgegenwärtige, Israel dämonisierende Propaganda, die Vereinnahmung des Raums der Stadt, das kulturelle Klima erzeugen für Jüdinnen und Juden eine Atmosphäre der Bedrohung und des Ausschlusses von Orten ihres Alltags. Gegen die allzu breit akzeptierte, falsche Wahrnehmung zweier gleichermaßen kompromiss- und dialogunfähiger »Gegner« ist festzuhalten: Während die anti-israelischen Aktivist:innen selbsterklärt für ein politisches Anliegen eintreten und die Freiheit reklamieren, Menschen mit abweichenden Haltungen zu bedrohen, wollen Jüdinnen und Juden einfach in Freiheit von solcher Drohung in ihrer Stadt leben.
– Dieser Artikel erschien in einer früheren Version auf vernetztgegenrechts.hamburg –
Der Autor dankt Janne Misiewicz und Olaf Kistenmacher sowie der Redaktion Untiefen.
[1] Ähnliches gilt auch für einige postmigrantische, stärker türkisch- oder arabisch-nationalistisch geprägte Milieus. Hier verbindet sich ähnlich wie im Islamismus der einigende, dämonisierende Israelhass mit Ressentiments gegen Minderheiten wie Kurd:innen oder Yezid:innen – gerade wo diese ihre eigene Verfolgungserfahrung im Massaker vom 7. Oktober und dessen Relativierung reflektiert sehen.
Im Herzen Hamburgs wurde der ehemalige Flakturm IV, der Bunker an der Feldstraße, aufgestockt und begrünt. In diesem Zuge sollte auch ein Dachgarten als Park für die Öffentlichkeit entstehen. Herausgekommen ist eine alles andere als einladende Dauerwerbefläche. Sie ist auch ein Fenster auf die derzeitige Stadtentwicklung und ‑verwertung.
Der Bunker an der Feldstraße kurz nach der Eröffnung des Dachgartenhotels. Foto: privat.
„Ein Park soll zum Verweilen einladen“, hieß es in der im Mai 2015 erschienenen zweiten Ausgabe des Ideenjournals für eine Stadtnatur auf St. Pauli. Herausgegeben hatte das Heft eine im Jahr 2014 gegründete Initiative von Anwohner:innen, die sich für die Begrünung des ehemaligen Flakbunkers an der Feldstraße einsetzte – so zumindest die öffentliche Darstellung. Kritik an dem Projekt gab es schon zu diesem Zeitpunkt. Neben Zweifeln an der Selbstdarstellung der Initiative warnten ansässige urban-gardening-Gruppen auch vor der Vereinnahmung stadteilpolitischer Anliegen durch Investoren und Kreativagenturen. In einer gemeinsamen Stellungnahme aus dem Jahr 2014 verurteilten sie „die marketingtechnisch gewitzte Präsentation des Großvorhabens“. Die „Bunkergroßbaustelle beschert uns eine grüne Aufwertungsspirale.“
Rund zehn Jahre später, im Juli 2024, feierten der Dachgarten und mit ihm unter anderem ein Hotel in seinem Inneren ihre Eröffnung. Die Kritik ist mittlerweile fast verstummt. Die Lokalpresse übernahm nicht nur den Marketing-Sprech vom „grünen Bunker“, sie bejubelt ihn nahezu durchgängig als „neues Wahrzeichen Hamburgs“. Doch ein Blick hinter die Fassade – oder besser: ihr Gestrüpp – eröffnet ein anderes Bild. Der Park, wenn er denn so genannt werden kann, lädt nicht gerade zum Verweilen ein. Vielmehr scheint der Dachgarten vor allem ein geschicktes Marketingtool zu sein, das nicht nur den Bunker aufstockt, sondern auch das fiktive Kapital von Immobilienportfolios. Zeit also für eine Bestandsaufnahme.
Das Versprechen des Parks
In der Moderne trug der Park ein Versprechen in sich. Im städtischen Raum gelegen, sollte er offen für alle und frei zugänglich sein; Erholung, Sport, Spiel und Entspannung vor allem jenen bieten, die – eingepfercht in Fabriken und beengte Wohnverhältnisse – keinen Zugang zur freien Natur hatten. Darin unterscheidet er sich vom herrschaftlichen Garten, der zuvorderst Macht und Reichtum repräsentiert und mehrt. Der Stadt- sowie der Altonaer Volkspark, die beide um die Jahrhundertwende erdacht und in der Folge gestaltet wurden, können als Beispiele öffentlicher Parks dienen. Sollte nun dieses Versprechen nicht in falscher Nostalgie als Folie der Kritik aufgespannt werden, so lag es jedoch auch dem nun begrünten Bunker zugrunde. In der ersten Ausgabe des oben erwähnten Ideenjournals war etwa die Rede von einer „völlig neuen Stadtnatur“, von „Gartenflächen, auf denen man sich zum Picknick trifft“, es sollte ein „Garten vieler werden“ – gar ein „Pilotprojekt“, das „nicht zuletzt für mehr Lebensqualität in der wachsenden Stadt“ sorgen sollte.
Wie dieser Park zum Verweilen oder Picknicken einladen soll, wenn selbst ein Butterbrot nicht erlaubt ist, bleibt unklar. Foto: privat
Die Realität sieht anders aus. Gleich am Eingang, der mit martialischen Drehkreuzen (Öffnungszeiten derzeit 9 bis 21 Uhr, nicht wie versprochen 7 bis 23 Uhr) aufwartet, prangen vier große Verbotsschilder: keine Hunde, keine mitgebrachten Speisen und Getränke, Rauchverbot. Durchgesetzt werden diese Verbote von einem privaten Sicherheitsdienst, der die Besucher:innen nicht nur auf Schritt und Tritt beäugt, sondern am Eingang bisweilen auch strengstens durchsucht. Der Zutritt zum Dachgarten fühlt sich an wie ein Grenzübertritt. Wer es dann über die Grenze schafft, sollte jedoch kein grünes Paradies erwarten. Denn wie dieser Park zum Verweilen oder Picknicken einladen soll, wenn selbst ein Butterbrot nicht erlaubt ist und Sitzmöglichkeiten – zumindest solche, für die nicht konsumiert werden muss – rar sind, bleibt unklar. Zumindest derzeit scheint es, als hoffe man auf einen möglichst kurzen Aufenthalt der Besucher:innen. Immerhin ist der Zutritt zum Garten auf 900 Personen begrenzt und es sollen ja möglichst viele über den sogenannten „Bergpfad“ auf den Bunker steigen, um zumindest das Versprechen eines öffentlichen Parks gewahrt bleiben zu lassen. Barrierefrei ist der Dachgarten indes nicht. Wer im Rollstuhl sitzt oder nicht gut zu Fuß ist, kommt „nur auf spezielle Nachfrage und in Begleitung“ ganz nach oben.
Der Dachgarten ist ein trojanisches Pferd aus Beton und Gestrüpp. Unter dem Schein der Gemeinnützigkeit lassen sich die innenliegenden Flächen nur umso besser vermarkten.
Aber wofür dann der große Aufwand und die in der Presse genannte Investitionssumme von 60 Millionen Euro? In der offiziellen Erzählung heißt es, dass die Vermietung der Räume im Inneren des aufgestockten Bunkers seine Begrünung finanziere und die laufenden Kosten decke. Nun, nach der Eröffnung, scheint doch eingetroffen zu sein, was manche schon vor einiger Zeit befürchtet hatten. Der Dachgarten ist ein trojanisches Pferd aus Beton und Gestrüpp. Unter dem Schein der Gemeinnützigkeit lassen sich die innenliegenden Flächen nur umso besser vermarkten. So geriert sich der grüne Bunker als Park für alle, fällt jedoch hinter sein Versprechen zurück. Entstanden ist ein neuartiger herrschaftlicher Garten – nicht eines frühneuzeitlichen Monarchen, sondern eines Unternehmers im Zeitalter des digitalen Finanzmarktkapitalismus. Der vermeintlich öffentliche Dachgarten soll nicht Reichtum zur Schau stellen, sondern ein profitables Investment ermöglichen und gegen Kritik schützen.
Öko-Gentrifizierung: die New Yorker High Line als zweifelhaftes Vorbild
Sowohl in der Lokalpresse als auch vonseiten der Macher:innen des Bunkers wird immer wieder auf die New Yorker High Line als Vorbild des städtischen Dachgartens verwiesen. Aus einer alten Bahntrasse wurde in der US-Metropole ein über zwei Kilometer langer, mittlerweile weltberühmter Park. Eine lokale Interessensgemeinschaft hatte sich Ende der 1990er Jahre zusammengefunden, um die Bahntrasse vor ihrem Abriss zu retten und in einen Park umzugestalten. Nach dessen Eröffnung wurde die High Line schnell zum Tourist:innen-Magnet. Insbesondere die umliegenden Gebäude erfuhren eine massive Wertsteigerung. Mittlerweile wird in Verbindung mit der High Line auch von Öko-Gentrifzierung gesprochen. Nun war diese Entwicklung kein genuines Anliegen der High Line-Interessensgemeinschaft; auch manche ihrer Gründer:innen kritisieren die massive Wertsteigerung im Umfeld des neugeschaffenen Parks.
Der Bunker ohne Dachgarten im Jahr 2018. Foto: privat.
In der Berichterstattung um den grünen Bunker sowie in der Selbstdarstellung seiner Macher:innen erfahren diese Folgen der High Line keine Erwähnung. Es verhält sich beim Bunker auch anders. Ist zwar zu vermuten, dass eine weitere Attraktion im Stadtteil zu dessen Aufwertung beiträgt, so steigert die Begrünung wohl vor allem den Wert des Bunkers selbst. Und: anders als bei der High Line war diese Entwicklung hier wohl von vornherein geplant. Bereits Jahre bevor die ersten Besucher:innen den Bunker erklimmen konnten und noch vor seiner tatsächlichen Begrünung, wurde er über letztere schon vorauseilend zur Marke gemacht. Der Instagram-Account unter den Namen „hamburgbunker“ setzte schon Ende 2021 seinen ersten Post ab. Nur durch die vermeintlich gemeinwohlorientierte Begrünung erfuhr der Bunker ein großes Medienecho. In den letzten Monaten berichte die Lokalpresse wöchentlich, zuletzt gar täglich über ihn.
Der Account verlinkt auf die offizielle Webseite der RIMC Bunker Hamburg Hotelbetriebsgesellschaft beziehungsweise der RIMC International Hotels & Resorts GmbH, die den Zuschlag für die Vermietung und Vermarktung der Innenflächen erhalten hatte. Dass die bekannte Hard Rock-Kette nach langem Hin-und-Her ihre neue Hotelmarke unter dem Namen „Reverb“ im Bunker platzieren konnte, dürfte sich für sie auszahlen, um diese, wie es im Jargon heißt, Brand Extension bekannt zu machen. Die Medienberichterstattung hämmerte den Leser:innen beiläufig nicht nur den Namen der neuen Hotelmarke ein, sondern auch einen offenbar aus firmeneigenen Pressemitteilugen abgeschrieben Passus. Dieses Hotel sei das erste seiner Art in Europa und damit wie der Bunker eine Attraktion, ja ein „Erlebnis“. Das anhaltende Medienecho dürfte sich in den kommenden Jahren für künftige Vermietungen auszahlen und insgesamt den Wert des Gebäudes steigern.
Der neue Geist des Kapitalismus und seine Gärten
„Aus grau wird bunt“, lautet das Motto des Bunkers beziehungsweise der Fläche, die die Betreibergesellschaft nun vermarktet. Ihr Logo setzt sich entsprechend aus verschiedenfarbigen Buchstaben zusammen. „Sankt Pauli bleibt bunt“, fordert ein, zu seinen Füßen gesprühtes Graffiti; unweit entfernt bekennt ein anderes ein „Herz für St. Pauli“. Unterschrieben ist dieses Graffiti auch mit Viva con Agua, einer ansässigen Non-Profit-Organisation, die jedoch in jüngerer Zeit in Kritik geriet – unter anderem wegen eines von ihr betriebenen Hotels unweit des Hamburger Hauptbahnhofs.
Die Vermarktung des Bunkers funktioniert also nicht nur über seine Begrünung, sondern ebenso über den Verkauf eines Lebensgefühls. Dieses Lebensgefühl generiert sich über den immer wieder genannten Stadtteil. Diesen kennzeichnete einst, gerade nicht vermarktbar, sondern widerständig zu sein. Das aber ist vollends vom Marketing aufgesogen worden. So lässt sich gar der im Inneren des Bunkers befindliche, bis heute jedoch nicht fertiggestellte Informations- und Erinnerungsort an Krieg und Zwangsarbeit in die Kampagnen integrieren. Das neue Hotel bewirbt seinen Standort nicht nur mit einem im nachbarlichen Stadtteil zu findenden „diverse mix of cultures“ und dem „artistic flair“, sondern beherbergte als ersten Gast auch öffentlichkeitswirksam einen Zeitzeugen. Die Webseite der Betreibergesellschaft lädt dazu ein, die „Magie dieses geschichtsträchtigen Ortes selbst zu erleben“. Dass die beworbene Immobilie ein Nazi-Bunker war, wird zum Unique Selling Point.
Eine ungeheure Markensammlung, Schild am Eingang des Bunkers. Foto: privat
Ohne die Begrünung, aber auch nicht ohne die ehrenamtliche Arbeit der nach wie vor tätigen Anwohner:innen-Initiative sowie die Aneignung ursprünglich linker (stadtteil-)politischer Anliegen hätte der Bunker wohl nie die ihm nun zukommende Aufmerksamkeit erfahren. Am Bunker lässt sich damit eine zwar nicht mehr neue, aber zunehmende Form der Stadtentwicklung und ‑kapitalisierung erkennen, die größere Aufmerksamkeit verdient. Denn die Verwertung der Stadt wird heute nicht mehr gegen ihre Kritik durchgesetzt, sondern mit ihr und über sie. Die Natur und ihre Renaturierung, die fehlenden Frei- und Kreativräume in der beengten Stadt, gar erinnerungspolitische Arbeit und damit die Spuren nationalsozialistischer Herrschaft, die im Wiederaufbau noch unter grauem Beton verschwanden, werden heute zu Elementen begehrter Investitionsobjekte.
Wie konnte das passieren? Einige Hinweise gibt die Analyse der Soziolog:innen Luc Boltanski und Ève Chiapello, die in Anlehnung an Max Weber von einem „neuen Geist des Kapitalismus“ sprechen. Dieser neue Geist, der im Allgemeinen die jeweils hegemoniale Form kapitalistischer Verhältnisse mit Sinn und Legitimation ausstattet, zeichnet sich gegenüber seinen älteren Formen dadurch aus, dass er die einst gegen ihn gewendete Kritik aufnahm und produktiv wendete. Zu Hochzeiten der Industriemoderne beziehungsweise des Fordismus in den 1960er Jahren wurde eine Kritik laut, die den Verhältnissen etwa Sinnverlust und Entfremdung und damit mangelnde Möglichkeiten der Selbstverwirklichung vorwarf. Es waren nun diese und andere Elemente der Künstlerkritik, wie es Boltanski und Chiapello ausdrücken, die sich der Kapitalismus in der Krise der 1970er mehr und mehr aneignete. Heute finden sie sich etwa in der Managementliteratur und der Figur kreativen Unternehmertums wieder. Aber nicht nur Arbeit wurde subjektiviert, sondern auch der Konsum – Produkte erzählen eine Geschichte, stiften Sinn und Selbstverwirklichung.
In Waren transformiert, rückt der Kapitalismus die einstmals gegen ihn gerichtete Kritik ins Zentrum der Verwertung. Foto: privat
Wie an anderer Stelle dieses Blogs gezeigt, lassen sich auch in der Stadtentwicklung die ökonomischen und kulturellen Transformationen der 1970er und fortfolgenden Jahrzehnte als Wendung vom Allgemeinen der Moderne zum Besonderen der Postmoderne beschreiben: Singularisierung statt Standardisierung. Gefragt ist nicht mehr der Wohnblock industriellen Bauens, sondern die verschnörkelte Altbauvilla, ähnliches gilt für Supermärkte und Hotels. Wer etwas verkaufen will, wirbt mit den Elementen der Künstlerkritik wie Authentizität, Individualität, Kreativität, Sinn und Selbstverwirklichung[1]. Dieses einst abgelehnte Besondere – beim Bunker etwa seine Geschichte und das ihn umgebende Stadtviertel – kann der Kapitalismus jedoch nur bedingt aus sich selbst heraus erzeugen. Er muss es aus externer Quelle aneignen. In Waren transformiert, rückt er die einstmals gegen ihn gerichtete Kritik ins Zentrum der Verwertung. Dass der einst versprochene Park nun als Dachgarten die spezifischen Qualitäten eines Parks, also seinen Gebrauchswert, verloren hat, liegt auch daran, dass er als Marketingtool vor allem Tauschwert ist. Zu hoffen bleibt derzeit nur, dass sich aus diesem Widerspruch – die Verwertung zehrt das Besondere als Abstraktes auf und beraubt sich somit ihrer eigenen Quelle – das baldige Ende dieser Form der Stadtentwicklung ergibt. Gegen diese Hoffnung sprechen jedoch die zahlreichen Apologet:innen der neoliberalen Stadt.
Die versuchte Ehrenrettung der neoliberalen Stadt
Es wird kaum jemanden überraschen, dass die Hamburger Sozialdemokratie nicht als Verteidigerin der Wohlfahrtsstaatlichkeit gegen die privatwirtschaftliche Aneignung der Stadt auftritt. Bereits im Jahr 1983 hatte der damalige Hamburger Bürgermeister und Sozialdemokrat Klaus von Dohnanyi das „Unternehmen Hamburg“ ausgerufen und die Stadt zur Marke gemacht, wie es Christoph Twickel in seinem nach wie vor lesenswerten Gentrifidingsbums beschreibt (kauft mehr Nautilus-Bücher!). Gerade diese Politik und damit die Privatisierung der Stadt(-entwicklung) als Ort der Kapitalakkumulation geriet jedoch im Herbst 2023 in die Krise. Der Elbtower ist – neben anderen innerstädtischen Brachflächen – deren sichtbarstes Zeichen. Die Pleite der von René Benko gegründeten Signa Holding führte indes nicht nur zum Baustopp zuvor gerühmter Prestigebauten, sondern auch zu Zweifeln, ob Investor:innen für die Gestaltung des öffentlichen Raumes verantwortlich sein sollten. Letztlich geriet die gesamte Erzählung, der neue Geist des Kapitalismus, ins Wanken: René Benko, einst zur Lichtgestalt kreativen Unternehmertums hochgeschrieben, ist ein Betrüger.
Das neue Antlitz der neoliberalen Stadt? Dieses Signa-Projekt am Gänsemarkt liegt seit längerer Zeit brach. Foto: privat.
Das seit Wochen zu vernehmende überschwängliche Lob des begrünten Bunkers dient insofern auch zur Ehrenrettung der neoliberalen Stadt und seiner Unternehmer:innen. Etwa war Andreas Dressel, Finanzsenator und Sozialdemokrat, bei der Eröffnungsfeier des grünen Bunkers „geflasht“. Er „lobte den Bauherren überschwänglich, der das gesamte Projekt“, wie die Hamburger Morgenpost schreibt, „ohne einen Euro öffentlichen Geldes durchzog.“ Gerettet ist damit offensichtlich die Idee der neoliberalen Stadt; einen öffentlichen Park gab es dafür jedoch nicht. Vor allem die Anwohner:innen profitieren nicht von den Früchten, die in den neuen Gärten des Kapitalismus wachsen – sie dürfen dort ja nicht einmal einen Apfel essen.
Johannes Radczinski, August 2024
Der Autor genoss beim Verfassen dieses Artikels alle Annehmlichkeiten eines öffentlichen Parks (u.a. Sitzgelegenheiten, mitgebrachte Getränke, Zigaretten) in Sichtweite des begrünten Bunkers. Auf Untiefen blickte er bereits auf andere, in Schieflage befindliche Orte der Hamburger Stadtentwicklung wie das Bismarckdenkmal oder auch die Rindermarkthalle.
[1] Dass die sogenannte Rindermarkthalle in Nachbarschaft des Bunkers, die durch die Freilegung ihrer Backsteinfassade vor rund zehn Jahren zu einem besonderen, da authentischen und geschichtsträchtigem Ort vermarktet wurde, nun mit dem grünen Bunker auf ihrer Webseite wirbt, ist kein Zufall.
Geschichtsrevisionismus und nostalgischer Nationalismus bei der AfD Hamburg
Die deutsche Geschichte ist für radikal rechte Parteien ein zentrales Agitationsfeld. Auch die Hamburger AfD verbreitet einerseits immer wieder klassisch revisionistische Thesen, die vor allem den Holocaust und die Kolonialgeschichte umdeuten. Vor allem aber vertritt sie einen nostalgischen Nationalismus, der für die eigene politische Agenda durch gezieltes Auswählen und Verschweigen Mythen über die deutsche Vergangenheit entwirft.
Bezugspunkt des rechten Revisionismus: Der erste Reichskanzler und Sozialistenjäger Otto von Bismarck. Das deutschlandweit größte Denkmal für ihn steht auf St. Pauli. Foto: Marco Hosemann
Das Verhältnis zur deutschen Vergangenheit ist die zentrale Eintrittskarte in den politischen Diskurs der BRD. Offene Holocaustleugnung oder ‑relativierung sind nicht nur strafbar, sondern auch politisch äußerst schädlich. Bei der populistischen, als Verteidigerin der Demokratie auftretenden AfD spielen sie daher auch in Hamburg nur eine untergeordnete Rolle. Dennoch wird immer wieder erkennbar, dass es sich hier um strategische Zurückhaltung handelt.
Offener Revisionismus
Bekannt sind etwa NS-Relativierungen des Hamburger AfD-Bundestagsabgeordneten Bernd Baumann, frühere revisionistische Kommentare des derzeitigen Hamburger AfD-Pressesprechers Robert Offermann und der Verdacht auf antisemitische Aussagen eines Mitarbeiters der Bürgerschaftsfraktion. Am meisten Aufsehen erregte wohl der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der AfD in der Bürgerschaft, Alexander Wolf. 2017 wurde bekannt, dass er 1994 eine Sammlung von NS-Liedern unter dem Titel „Schlachtruf“ herausgab, in deren Vorbemerkungen er mit Blick auf die Kapitulation Nazi-Deutschlands im Zweiten Weltkrieg zu einem „entschlossenen ‚Nie wieder!’“ aufrief.
Überhaupt, Alexander Wolf: Er ist in der Bürgerschaftsfraktion der Mann für die provokanten historischen Thesen. So behauptete er etwa im März 2023 in der Bürgerschaft, die Nazis hätten sich „keineswegs als rechts, sondern bewusst als Sozialisten“ verstanden. Die DDR und den NS-Staat parallelisierte er als „Diktaturen“, um sogleich zu seinem eigentlichen Anliegen zu kommen, nämlich der Lüge, auch der heutige Kampf gegen Rechts sei wieder ähnlich eine ähnliche „Freiheitseinschränkung“ und „Ausgrenzung“.
„Vogelschiss“ als Programm: der nostalgische Nationalismus
Diese offenen Relativierungen sind aber die Ausnahme. Die wirkliche geschichtspolitische Strategie der Hamburger AfD besteht darin, die Gaulandsche Rede vom „Vogelschiss“ in die Praxis umzusetzen. In den Beiträgen der AfD-Abgeordneten findet sich kaum eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus oder mit der Kolonialgeschichte. Und wenn diese Themen berührt werden, dann geht es stets darum, für die radikal rechte Politik nostalgisch-nationalistische, positive Ankerpunkte in der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu finden.
Historische Würdigung fordert die AfD etwa für folgende Gruppen: die Verschwörer um Claus Schenk Graf von Stauffenberg („Höhepunkt des deutschen Widerstands“), die Opfer der alliierten Bombardierung Hamburgs im Juli 1943 („Kriegsverbrechen“), die Aufständigen vom 17. Juni 1953 in der DDR („identitätsstiftendes Datum“) sowie für die an der Grenzen zwischen DDR und BRD Ermordeten und den Mauerbau 1961 („Schicksalsdatum der deutschen Nation“).
Und die im Jahr 2020 aufgekommenen Rufe nach einem Denkmal für die Leistungen der sogenannten türkischen „Gastarbeiter“ konterte Wolf im November 2021 mit der Forderung, stattdessen ein Denkmal für „Trümmerfrauen“ zu schaffen.
Das Kaiserreich soll rechtsradikale Herzen wärmen
Neben den deutschen Opfern alliierter Bomben und kommunistischer SED-Herrschaft sowie patriotischen konservativen Generälen steht vor allem das Deutsche Kaiserreich im Zentrum der AfD-Geschichtspolitik. Eine Folge des Podcasts „(Un-)Erhört!“ der Hamburger AfD-Fraktion vom Januar 2021 zum 150. Jahrestag der Reichsgründung 1871 illustriert das.
Zum eingangs gespielten „Heil dir im Siegerkranz“ spricht Wolf von einem „der glücklichsten Momente der deutschen Geschichte“. Heutige Politiker:innen würden sich jedoch der Erinnerung daran verweigern, sie hätten ein „gestörtes Verhältnis zur „eigenen Geschichte“. So hätte die „über tausendjährige Geschichte Deutschlands“ zwar „problematische Seiten“, doch sei sie eben auch „mehr“. Ab dort verschwindet der Nationalsozialismus aus dieser Erzählung und das heutige Deutschland wird schlicht in Kontinuität zum Kaiserreich gesetzt. Das ist eine ganz bewusste Konstruktion einer Tradition, die nur über Auslassung funktioniert. An die „positiven Momente der Geschichte“ soll erinnert werden, so Wolf weiter, „weil das unsere Identität prägt. Eine Nation lebt nicht nur von der Ratio und von der Verfassung, sondern auch von einem positiven Gemeinschaftsgefühl.“ Nur daraus könnten „Solidarität und Miteinander erwachsen.“
Gereinigt werden soll die deutsche Geschichte also nicht, indem der Holocaust geleugnet wird. Der „Schuldkult“-Vorwurf wird hier subtiler formuliert: Der bedingten Anerkennung der Verbrechen in den 12 Jahren NS-Herrschaft wird eine saubere Version der vermeintlich anderen 988 Jahre deutscher Geschichte und deutschen Glanzes entgegengestellt.
Bismarck, Begründer des deutschen Kolonialreiches, strahlt frisch renoviert.Foto: Marco Hosemann
Mit Bismarck gegen die Wahrheit
Diese Strategie zeigt sich auch an der Position der AfD zur Debatte um das Otto von Bismarck-Denkmal auf St. Pauli. In einer Folge des besagten Podcasts vom Juli 2021 zeichnet Wolf den ersten Reichskanzler als eine positive Figur der deutschen Geschichte. Die geforderte Neu-Kontextualisierung des Denkmals sei selbst Geschichtsrevisionismus, schließlich würde Bismarck dabei „aus dem Blickwinkel eines Antifanten und einer Feministin“ gesehen. Die sogenannte Westafrika-Konferenz 1884/85 in Berlin, zu der Bismarck einlud und bei der die europäischen Großmächte den afrikanischen Kontinent als Kolonialbesitz unter sich aufteilten, verschweigt Wolf dabei nicht. Aber er stellt sie als rein friedensstiftende Maßnahme zur Sicherung der innereuropäischen Ordnung dar. Das funktioniert wiederum nur durch Ausblenden der Folgen für die kolonisierten Bevölkerungen außerhalb Europas. Aber mehr noch: Kolonialismus ist für Wolf „nicht per se von vornherein schlecht“. Denn es sei „viel Positives geleistet worden, Infrastruktur, Gesundheit etc.“ Es dürfe eben nicht „einseitig die negative Brille“ aufgesetzt werden, wie es bei der Black Lives Matter-Bewegung geschehen sei. So hält Wolf dann auch die gängige Forschungsposition, dass die Deutschen 1904/5 in Südwestfrika einen Völkermord begangen haben, für „absurd“, ja „Quatsch“. Man sieht: Obwohl nostalgischer Nationalismus die Kernstrategie der AfD Hamburg ausmacht, ist der Schritt zu offenem Revisionismus schnell gemacht.
Zamzam Ibrahim durfte auf Kampnagel sprechen. Während draußen eine propalästinensische Demo antizionistische Parolen brüllte, eröffnete sie das Klima-Festival online per Zoom – und setzte mit ihrer Mischung aus Esoterik und raunender ›Systemkritik‹ den Ton fürs Wochenende. Jüdische und antisemitismuskritische Stimmen wurden von diesem ›vielstimmigen‹ Chor übertönt.
»There is no climate justice with the muderers of Iranian women.« Demonstrant:innen am Donnerstag vor Kampnagel. Foto: Screenshot Instagram
»Ich sollte nicht hier sein.« Diesen Satz äußerte Dor Aloni in einem so persönlichen wie politischen Statement, das er seiner Performance Atlantis am Donnerstagabend im Saal K4 auf Kampnagel voranstellte und in dem er seiner Kritik an der Einladung Zamzam Ibrahims deutlichen Ausdruck verlieh. Alonis Satz lässt sich auf zwei Arten verstehen: als Feststellung, dass er als jüdisch-israelischer Theatermacher auf einem Klimafestival, das von einer antisemitischen Rednerin eröffnet wurde, fehl am Platze ist; und als Hadern mit seiner Entscheidung, nun auf Kampnagel aufzutreten, obwohl Zamzam Ibrahim nicht ausgeladen wurde.
Denn seit Aloni Anfang der Woche erfahren hatte, wessen Keynote-Vortrag den Klimaschwerpunkt »How Low Can We Go?« eröffnen solle, in dessen Rahmen auch er auftreten würde, konnte er nicht mehr ruhig schlafen. Auch davon sprach er in seinem Statement. Für ihn, dessen Familie in Israel lebt und der durch den antisemitischen Terror der Hamas vom 7. Oktober auch Kolleg:innen verloren hat, war der Gedanke unerträglich, einen (Diskurs-)Raum mit einer Aktivistin zu teilen, die den Terror der Huthi im Jemen und der Hamas in Israel als ›Widerstand‹ verklärt. Am Dienstag hatte er daher bei der Kampnagel-Leitung interveniert und deutlich gemacht, dass für ihn hier eine rote Linie überschritten ist: Entweder Ibrahim wird ausgeladen, oder er sagt seine Auftritte ab.
Kampnagel befand sich dadurch in einer misslichen Lage: Dass ein jüdischer Künstler sich aus Protest gegen die Tolerierung antisemitischer Positionen und aus Sorge um sein Wohlbefinden zurückzieht, wäre für ein – laut Selbstdarstellung »diskriminierungssensibles« – deutsches Theater gelinde gesagt problematisch. Aber eine antiisraelische Aktivistin auszuladen, zumal eine, die Schwarz und muslimisch ist, hätte Kampnagel wohl ebenso geschadet, insbesondere in der internationalen ›freien Szene‹, in der Terrorapologie weithin als ›Israelkritik‹ zu gelten scheint und jede Kritik daran als ›Silencing‹ und ›Cancel Culture‹ beklagt wird.
Um wessen Sicherheit geht es?
Man kann sich vorstellen, wie der »empathische Dialog« (Kampnagel-Leitbild) aussah, in dem Aloni unter Druck gesetzt wurde, Kampnagel doch nicht in diese Lage zu bringen. Und tatsächlich ließ er sich auf einen Alternativvorschlag ein: Am Mittwoch verkündete Kampnagel, dass man Zamzam Ibrahim nicht auslade, dass sie aber nur online, per Zoom-Zuschaltung, sprechen werde. Dies als Kompromiss oder salomonische Lösung zu bezeichnen, wäre jedoch völlig verfehlt. Denn erstens bot man Ibrahim so weiterhin eine Bühne (und sogar eine größere als zuvor); und zweitens wurde in der am Mittwochabend veröffentlichten Erklärung der Antisemitismus konsequent entnannt, während Ibrahim zum Opfer einer rassistischen Kampagne stilisiert wurde.
Zu den »Antisemitismusvorwürfen« gegen Ibrahim äußert Kampnagel sich in der Erklärung mit einer Distanzierung, die sich schwächer nicht formulieren ließe: »In der Tat sind von der Speakerin Äußerungen bekannt geworden, die auch wir so nicht teilen können.« Nicht ›antisemitische Äußerungen‹ oder wenigstens ›Äußerungen, die wir nicht teilen‹, sondern: ›Äußerungen, die wir so nicht teilen können.‹ Was mag das heißen – so nicht, aber in anderer Form schon? Kampnagel wollte dazu auf Nachfrage nichts antworten.1Wenn Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard gegenüber Untiefen lediglich allgemein proklamiert: »Wir distanzieren uns in aller Deutlichkeit von antisemitischen und israelfeindlichen Haltungen«, muss sie sich die Frage gefallen lassen: Wo war diese Deutlichkeit im konkreten Falle Zamzam Ibrahims?
Als verantwortlich für die Verlegung ins Internet präsentiert die Erklärung nicht Ibrahims Antisemitismus, sondern zum einen das mangelnde Vertrauen »Einzelner« in die Versicherung Kampnagels, »dass es im Rahmen des Klimaschwerpunktes zu keiner antisemitischen Äußerung kommen wird«, und zum anderen die mediale Verbreitung der Kritik und die dadurch laut werdenden »Aufrufe zum Verhindern der Keynote«. Beklagt wird schließlich noch, die Berichterstattung habe »rassistische und islamfeindliche Narrative« hervorgerufen. Auch wenn vage von der »Sicherheit aller Anwesenden« geschrieben wird, ist der Tenor deutlich: Weil Ibrahim von einem aufgeheizten Mob bedroht werde, könne sie zu ihrem eigenen Schutz nur online sprechen.
Es ist eine klassische Form des relativierenden Umgangs mit Antisemitismus: Als Problem gilt nicht der Antisemitismus selbst, sondern der Umstand, dass er benannt und kritisiert wird – und dass Konsequenzen aus dieser Kritik gefordert werden.2Auch in Ihren Eröffnungsworten nannte Amelie Deuflhard die Debatte als Grund für die Verlegung ins Internet: »The controversy around the keynote made us decide to place it online.« Als Problem gilt nicht der Antisemitismus, sondern der ›Antisemitismusvorwurf‹, gelten also Menschen, die es für falsch halten, eine Antisemitin unwidersprochen öffentlich reden zu lassen. Und weil es nun einmal oft die Betroffenen selbst sind, die gegen Antisemitismus einstehen, heißt das: Als Problem gelten Jüdinnen und Juden. Vom Kampnagel-Statement zum am Donnerstag in antiisraelischen Kreisen zirkulierenden Aufruf, die »Hetze« gegen Ibrahim zu stoppen, ist es nur ein kleiner Schritt. Man nennt das Täter-Opfer-Umkehrung.
Nicht gar so offene Debattenräume
Symptomatisch war hierfür das Bild, das sich am Donnerstagabend vor Kampnagel bot. Etwa dreißig Kritiker:innen des Antisemitismus – darunter Mitglieder des Jungen Forums der DIG Hamburg und der jüdischen Gemeinde sowie Exiliraner:innen – versammelten sich dort gegen halb sechs, um gegen die Einladung Ibrahims zu protestieren. Zahlenmäßig überlegen war jedoch eine spontan angemeldete antiisraelische Gegenkundgebung, die von der Polizei in Sicht- und Hörweite vorgelassen wurde.
Dank Lautsprecheranlage übertönten deren Sprechchöre zudem diejenigen der Kundgebung gegen Antisemitismus. Und im Gegensatz zum Anti-Antisemitismus konnte der Israelhass auf ein großes Repertoire griffiger Slogans zurückgreifen – neben dem notorischen »From the river to the sea« gehörte dazu am Donnerstag etwa »Alle zusammen gegen Zionismus«. Die antisemitismuskritischen Demonstrant:innen wurden als ›Verteidiger eines Genozids‹ verleumdet.
Drinnen, in der Installation »Cruise Tentare«, eröffnete Amelie Deuflhard währenddessen kurz angebunden den Klima-Schwerpunkt vor ca. vierzig etwas desorientierten Gästen. Die eigentlich für 18:15 Uhr angekündigte Keynote von Zamzam Ibrahim war wenige Minuten vor dem geplanten Beginn auf 19:45 Uhr verlegt worden. Der Hintergrund dieser Verschiebung ist brisant: Die Kampnagel-Leitung wollte dem Radiosender NDR 90,3 untersagen, O‑Töne aus Ibrahims Keynote-Vortrag für die Berichterstattung zu nutzen. Die Kulturredaktion von NDR 90,3 wandte sich in der Sache an ihr Justiziariat, das ein derartiges Verbot als unzulässig erachtete. Auch das daraufhin kontaktierte Justiziariat von Kampnagel folgte dieser Einschätzung. Kampnagel entschied sich vor diesem Hintergrund gegen eine Live-Übertragung und stellte – anderthalb Stunden später als eigentlich geplant – eine Aufzeichnung des Gesprächs online.3Das Video ist nun auch wieder aus dem Internet verschwunden – samt vieler kritischer Kommentare. Ein erstaunliches Verhalten für ein Haus, das stets die Notwendigkeit offener Debatten betont.
Auf Nachfrage erläutert Amelie Deuflhard, Ibrahim habe zunächst nur einer einmaligen Veröffentlichung ihrer Rede zugestimmt, nicht aber einer Aufzeichnung; erst nach erneuter Rücksprache habe Ibrahim die Zustimmung, O‑Töne zu verwenden, erteilt. »Zu keiner Zeit wurde die freie Presseberichterstattung über die Rede Zamzam Ibrahims beschränkt oder sollte beschränkt werden.« Doch wie sonst soll man es bezeichnen, wenn einem Radiojournalisten untersagt werden soll, O‑Töne aus einem öffentlichen Vortrag für seine Berichterstattung zu verwenden?
Climate Justice lies with God?
Ibrahims Keynote-Vortrag war dann eine Mischung aus religiös-esoterischem Pathos und raunender ›Systemkritik‹. Zur Klimagerechtigkeit hatte sie nur Gemeinplätze zu bieten. Stattdessen war ihre Rede voll von Anspielungen auf das Thema, über das zu sprechen ihr ›verboten‹ worden war: »I wouldn’t be me without talking about the pain and suffering that is happening this very second«, proklamierte sie, und sprach sodann von »Genoziden«, die wir alle live auf unseren Bildschirmen verfolgen könnten. Zu diesem raunenden Sprechen in Anspielungen passte auch ihr Outfit – ein weißer Pullover mit einem Print der Jerusalemer al-Aqsa-Moschee, der gerade deutlich genug zu sehen war, um die Botschaft erkennen zu lassen, und gerade unauffällig genug, um sich keinen Bruch der Abmachung vorwerfen lassen zu können.
Zamzam Ibrahim atmet in ihrem Vortrag good vibes ein. Foto: Screenshot Youtube
In politischer Hinsicht offenbarte Ibrahim ein mit religiösem Pathos aufgeladenes Schwarz-Weiß-Denken – Gerechtigkeit vs. Unterdrückung, Gut vs. Böse, Globaler Süden vs. Globaler Norden, ›wir‹ gegen ›die‹. Eine Anerkennung von Widersprüchen suchte man vergeblich: »You are either part of the problem or part of the solution. There is no other side to this coin.« Dieses dichotome Denken verband sich mit einer raunenden Verdammung ›des Systems‹, das jede Kritik mundtot zu machen und jeden Widerstand im Keim zu ersticken versuche.4»You see, when you stand on the side of justice, the systems of oppression that we seek to break down will try to deplatform you, but no sensations headlines or lies can ever win against you.« Gegen eine politisch-ökonomische Ordnung, die auf white supremacy, Rassismus, Ausbeutung und Gier beruhe und »profit over people« stelle, brachte Ibrahim die Vorstellung einer »green economy« in Anschlag, die den Bedürfnissen der Menschen und unseres Planeten diene.5Wörtlich heißt es in der Rede: »See, the fight against climate change is a fight against all systems that fuel the climate crisis: white supremacy, racism, economic exploitation, greed – I could be here all day.« Und weiter: »We need a green economy, financial systems that exist to serve the needs of people and our planet.« Diese von Gier befreite »green economy« klingt auffällig ähnlich wie das Programm des »Islamic Banking«, das als ein mit der Scharia konformes Finanzwesen etwa im Iran propagiert wird.
Mögen diese Ausführungen auch nicht explizit antisemitisch gewesen sein – ihre Nähe zu dem, was der Künstler Leon Kahane in einem Interview mit dem Ausdruck ›Antisemitismus als Kulturtechnik‹ bezeichnet, ist evident: »Antisemiten positionierten sich immer gegen das Establishment und gesellschaftliche Zwänge und für etwas vermeintlich Fortschrittliches. Der Antisemitismus als Kulturtechnik ist der Versuch, Widersprüche aufzulösen – zur Not mit Gewalt. Die eigenen Konflikte und das eigene Böse werden externalisiert und auf Jüdinnen und Juden oder den jüdischen Staat Israel projiziert.«
Aloe Vera streicheln für mehr Klimagerechtigkeit – ein Workshop auf Kampnagel. Foto (Ausschnitt): Screenshot Instagram.
Es fragt sich zudem, was genau Ibrahims Rede zum Problem der Klimagerechtigkeit beizutragen hatte. Wenn es in der Erklärung von Kampnagel heißt, »Ibrahims Perspektive bleibt für den Diskursschwerpunkt des Festivals ein wichtiger Bestandteil«, bleibt offen, worin genau diese ›Perspektive‹ liegt. Mit ihrem Denken in Dichotomien und ihrer religiös-esoterisch verbrämten Systemkritik gab Ibrahim aber zumindest einen Vorgeschmack darauf, was im Rest des Diskursprogramms passierte – etwa die Beschwörung eines Olivenbaums als Zeuge oder das »öko-intime« Streicheln von Aloe-Vera-Pflanzen. Wenn das die von Kampnagel versprochenen neuen »Strategien im Klimadiskurs« sind, ist wenig Grund zur Hoffnung.
Antisemit:innen mit Grund zum Jubeln
Draußen vor Kampnagel hatte sich die antisemitismuskritische Kundgebung derweil aufgelöst, die Gegenkundgebung blieb jedoch noch eine Weile vor Ort, um in ausgelassener Stimmung bei lauter Musik zu tanzen und ihren Sieg zu feiern. Man feiere, »dass Kampnagel nicht vor den Zionisten eingeknickt ist«, erklärte eine Demonstrantin. Und bevor die Lautsprecheranlage abgebaut wurde, rief der Versammlungsleiter zum Abschluss noch einmal ins Mikro: »Danke, Kampnagel!«
Die Hamasfans vor Kampnagel hatten Grund zum Feiern. Foto (Ausschnitt): Screenshot Instagram.
»Danke, Kampnagel!« ist auch der Tenor der propalästinensischen Kommentare in den sozialen Medien. Die Verlegung von Zamzam Ibrahims Vortrag ins Internet wird hier keineswegs als ›Einknicken‹ verstanden.6Daher ist auch der Bericht im Hamburger Abendblatt irreführend, der behauptet, die propalästinensische Demo habe gegen die Verlegung von Ibrahims Vortrag ins Internet demonstriert, und die Situation also so darstellt, als werde Kampnagel von zwei Seiten gleichermaßen angegriffen. Richtig ist: Diejenigen, die für Zamzam Ibrahim demonstrierten, sahen sich mit Kampnagel auf derselben Seite – und das zu Recht. Davon zeugen vor allem viele Kommentare zur Erklärung von Kampnagel auf Instagram.7Ein Statement der im Workshopprogramm von »How Low Can You Go« auftretenden Künstlerin Niya B brint diese Sicht auf den Punkt: »[…] they [Kampnagel] are refusing to cancel speakers who are falsely branded as antisemitic. In the current climate, this is a bold public statement for a German cultural institution.« Und auch Ibrahim selbst präsentierte sich nach ihrem Auftritt als Siegerin. In ihrer Instagram-Story zeigt sie sich mit Siegerlächeln, Victoryzeichen und dem nun in Gänze sichtbaren al-Aqsa-Moschee-Pullover, den sie auch schon bei der Keynote trug. Ergänzt ist dieses Bild um die Worte: »Just Germanys most hated climate activist reporting in let you all know, I’m doing great and also to remind ya’ll… Ain’t Climate Justice without a FREE PALESTINE«.
Zamzam Ibrahim feiert nach ihrer Keynote… Fotos: Screenshot Instagram
… und zeigt ihre Haltung nochmal überdeutlich.
Kampnagel ›verlernresistent‹
Für all jene, die gegen Antisemitismus einstehen, endete die Debatte um Ibrahims Auftritt so in einer Niederlage. Und hegte man die Hoffnung, dass man zumindest auf Kampnagel etwas aus den Vorfällen gelernt (oder eher, wie es im Jargon heißt, verlernt) habe, wurde man ebenfalls enttäuscht. Gegenüber Untiefen sagte Amelie Deuflhard zwar: »Den Prozess rund um den Schwerpunkt zur Klimagerechtigkeit werden wir gründlich aufarbeiten. Dabei nehmen wir die geäußerte Kritik ernst und setzen uns damit auseinander, was der Vorgang für jüdisches und antisemitismuskritisches Publikum hervorgerufen hat.« Bisher deutet aber nichts darauf hin, dass man sich auf diese Ankündigung verlassen könnte.
Eher das Gegenteil ist der Fall: Deuflhard zeigte sich nach der Keynote in ihrer Entscheidung bestärkt. Ibrahims Vortrag bezeichnete sie gegenüber NDR 90,3 als »ausgewogene, gemäßigte und kämpferische Rede für alle«. Und auf die Frage, ›ob es das wert war‹, antwortete sie: »Es war’s vielleicht wert dafür, dass es keine gute Idee ist, dass wir unterschiedliche Stimmen von schwarzen Aktivistinnen, von muslimischen Aktivistinnen verstummen lassen. Wir müssen ohne solche harten Anwürfe diskutieren können«. Mit den »harten Anwürfen« ist fraglos die vornehmlich von Jüdinnen und Juden geäußerte Benennung von Ibrahims Positionen als antisemitisch gemeint. Die Botschaft ist also deutlich: Kampnagel will den ›vielstimmigen Diskurs‹ gerne ohne antisemitismuskritische jüdische Stimmen führen.
Diese Erkenntnis ist bitter enttäuschend. In Enttäuschung aber steckt zumindest immer auch die aufklärerische Dimension einer Desillusionierung. Die Vorgänge um den Auftritt Zamzam Ibrahims waren gut geeignet, Illusionen zu verlieren – allen voran die Illusion, dass man Kampnagel im Kampf gegen Antisemitismus zu den Verbündeten zählen könne.
Anti-Antisemitismus bleibt Handarbeit
Enttäuscht in diesem Sinne sind auch einige Kampnagel-Künstler:innen. Dor Aloni fand in einem Interview mit Zeit Online am Dienstag klare Worte: »Für mich ist das eine politische Frage, ich finde, die Relativierung des Holocaust und die Rechtfertigung des Hamas-Massaker keine Position, die man mit anderen konträren Positionen diskutieren kann. Kampnagel hat den Anspruch, sichere Räume für bedrohte und marginalisierte Gruppen zu bieten. Ich habe den Eindruck, dass das für Juden so nicht gilt.«
Und der Performancekünstler Tucké Royale kommentierte auf Instagram, das Verhalten Kampnagels zeige die gefährliche Tendenz, dass in Sachen Antisemitismus aufs Bauchgefühl gehört wird statt auf die Antisemitismusforschung und auf Jüdinnen und Juden: »Ein absoluter Irrtum zu denken, dass sich Antisemitismuskritik und Antirassismus ausschließen.« Ansonsten aber wurde Ibrahims Antisemitismus von Künstler:innen aus dem Kampnagel-Umfeld geleugnet oder legitimiert – oder es herrschte Schweigen. Das zeigt: Sich hier offen gegen Antisemitismus und Israelhass zu stellen, macht schnell einsam.
In ihrer Eröffnungsrede am Donnerstag sagte Amelie Deuflhard: »Ich bin mir sicher, dass uns diese Kontroverse auch in den nächsten Wochen und Monaten beschäftigen wird.« Damit das keine leeren Worte bleiben, gilt es, diesen Satz als Aufforderung zu verstehen. Hätte es keine kritische Öffentlichkeit gegeben, wäre der Antisemitismus Zamzam Ibrahims nicht einmal Thema geworden; ohne eine weiterhin kritische Öffentlichkeit wird die Debatte auch keine Konsequenzen haben.
Lukas Betzler
Der Autor hat vor einer Woche eine ausführliche Recherche zum Antisemitismus Zamzam Ibrahims veröffentlicht.
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Wenn Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard gegenüber Untiefen lediglich allgemein proklamiert: »Wir distanzieren uns in aller Deutlichkeit von antisemitischen und israelfeindlichen Haltungen«, muss sie sich die Frage gefallen lassen: Wo war diese Deutlichkeit im konkreten Falle Zamzam Ibrahims?
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Auch in Ihren Eröffnungsworten nannte Amelie Deuflhard die Debatte als Grund für die Verlegung ins Internet: »The controversy around the keynote made us decide to place it online.«
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Das Video ist nun auch wieder aus dem Internet verschwunden – samt vieler kritischer Kommentare.
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»You see, when you stand on the side of justice, the systems of oppression that we seek to break down will try to deplatform you, but no sensations headlines or lies can ever win against you.«
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Wörtlich heißt es in der Rede: »See, the fight against climate change is a fight against all systems that fuel the climate crisis: white supremacy, racism, economic exploitation, greed – I could be here all day.« Und weiter: »We need a green economy, financial systems that exist to serve the needs of people and our planet.« Diese von Gier befreite »green economy« klingt auffällig ähnlich wie das Programm des »Islamic Banking«, das als ein mit der Scharia konformes Finanzwesen etwa im Iran propagiert wird.
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Daher ist auch der Bericht im Hamburger Abendblatt irreführend, der behauptet, die propalästinensische Demo habe gegen die Verlegung von Ibrahims Vortrag ins Internet demonstriert, und die Situation also so darstellt, als werde Kampnagel von zwei Seiten gleichermaßen angegriffen. Richtig ist: Diejenigen, die für Zamzam Ibrahim demonstrierten, sahen sich mit Kampnagel auf derselben Seite – und das zu Recht.
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Ein Statement der im Workshopprogramm von »How Low Can You Go« auftretenden Künstlerin Niya B brint diese Sicht auf den Punkt: »[…] they [Kampnagel] are refusing to cancel speakers who are falsely branded as antisemitic. In the current climate, this is a bold public statement for a German cultural institution.«
Der geplante Auftritt der antisemitischen Klimaaktivistin Zamzam Ibrahim in der Kulturfabrik Kampnagel sorgt für Empörung. Die Kritik an Ibrahim ist mehr als berechtigt, der Eklat legt jedoch vor allem grundsätzliche Probleme offen.
»Wie tief kann man sinken?«, fragt Kampnagel – und erleidet dabei leider selbst Schiffbruch. Foto: Screenshot kampnagel.de
Eigentlich soll sich auf Kampnagel von Donnerstag bis Samstag alles um die gesellschaftlichen Herausforderungen durch die Klimakatastrophe drehen. Der dreitägige Schwerpunkt unter dem Titel How Low Can We Go? umfasst drei (Theater-)Performances, eine Performance-Installation sowie ein Workshop- und Vortragsprogramm. Gemeinsam sollen diese Formate zu einer kollektiven »Reorientierung« angesichts der Klimakatastrophe, der »wahrscheinlich langfristigsten politischen Mega-Krise unserer Zeit«, beitragen, wie es in der Ankündigung heißt.
Jetzt erhält die Veranstaltungsreihe breite mediale Aufmerksamkeit. Im Fokus stehen jedoch nicht die Herausforderungen der Klimakatastrophe, sondern die Gefahren des Antisemitismus. Grund dafür ist die Einladung der britischen Aktivistin Zamzam Ibrahim, die den Klima-Schwerpunkt mit einem Keynote-Vortrag »über intersektionale Aspekte von Klimagerechtigkeit« eröffnen und einen ›Safer-Space‹-Workshop für BIPoC (Schwarze, Indigene und People of Color) leiten soll.
Der Antisemitismusbeauftragte der Stadt Hamburg, Stefan Hensel, kritisierte diese Einladung in einer Pressemitteilung am Montag scharf: Kampnagel biete »einer ausgewiesenen Antisemitin […] eine Bühne«, lasse damit die Jüdinnen und Juden Hamburgs im Stich und wiederhole die Fehler der Documenta fifteen. Hensels Kritik, die sich zudem an den Kultursenator Carsten Brosda richtete, dessen Behörde den dreitägigen Klimaschwerpunkt finanziell unterstützt, wurde in den Medien schnell und breit rezipiert.
Wo verlaufen die ›roten Linien‹?
Hensel fordert, Ibrahim auszuladen: Sie unterstütze die antisemitische BDS-Kampagne gegen Israel und relativiere den Hamas-Terror, schreibt er mit Verweis auf Social-Media-Aktivität und öffentliche Auftritte Ibrahims. Amelie Deuflhard hingegen, die Intendantin von Kampnagel, verteidigt die Einladung: Man habe Ibrahim eingeladen, weil sie Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit verbinde, wird Deuflhard im Hamburg-Journal zitiert. Außerdem werde sie am Donnerstag nicht über den ›Nahostkonflikt‹ sprechen und habe im persönlichen Gespräch auf Nachfrage bestätigt, »dass sie den Anschlag der Hamas [vom 7. Oktober 2023] klar verurteilt«.
Der von Hensel ebenfalls adressierte Kultursenator Carsten Brosda zeigt sich kritischer: Ibrahim sei »aufgrund ihrer teils antisemitischen Äußerungen im Zusammenhang mit dem Nahost-Konflikt zu Recht auf Kritik gestoßen«, urteilte er in einer Stellungnahme. Politischen Eingriffen in die Programmgestaltung von Kultureinrichtungen stehe er allerdings kritisch gegenüber; die Absage der Veranstaltungen mit Zamzam Ibrahim wollte er nicht fordern. Dass er dabei auf die Kunstfreiheit verwies, erstaunt jedoch, schließlich ist Ibrahim dezidiert als Aktivistin eingeladen, nicht als Künstlerin.
Dass alle Beteiligten an der Debatte ihre anti-antisemitische Haltung betonen, versteht sich. Deuflhard etwa benennt ihre ›roten Linien‹ in Sachen Antisemitismus – »die Absprache des Existenzrechtes Israels, Aufrufe zu Gewalt oder Hass gegenüber Juden und Jüdinnen«. Der Streit scheint sich somit mal wieder um die Frage zu drehen, wo genau diese ›roten Linien‹ verlaufen und wann sie erreicht sind: ob etwa die Unterstützung der BDS-Kampagne oder die Behauptung, Israel begehe in Gaza einen Genozid, auszuhaltende politische Positionen oder eine nicht zu tolerierende Form des Antisemitismus darstellen.
Deuflhard hat – wie auch Kultursenator Carsten Brosda – im Jahr 2020 die Erklärung der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit unterzeichnet, die im Namen der Vielfalt gegen die BDS-Resolution des Bundestags Stellung bezieht: »Unter Berufung auf diese Resolution werden durch missbräuchliche Verwendungen des Antisemitismusvorwurfs wichtige Stimmen beiseitegedrängt und kritische Positionen verzerrt dargestellt«, so die Erklärung.
Ist die Debatte also eigentlich nur eine um unterschiedliche Antisemitismusdefinitionen, wie Deuflhard es auch am Dienstag Abend im Hamburg Journaldarstellte? Ist es schlicht so, dass Ibrahims Äußerungen gemäß IHRA-Definition antisemitisch sind, qua JDA-Definition jedoch nicht, und dass der Bezug auf die umfassendere IHRA-Antisemitismusdefinition hier eine ›wichtige Stimme beiseitedrängen‹ soll? Um diese Fragen zu beantworten, gilt es, sich die Äußerungen und Positionen Zamzam Ibrahims genauer anzuschauen, für die sie nun kritisiert wird.
Als Studierendenvertreterin gegen Israel
Zamzam Ibrahim ist eine profilierte und gut vernetzte Klimaaktivistin. Sie hat eine Nachhaltigkeits-NGO gegründet, ist Beraterin der UN und besuchte bereits drei UN-Klimakonferenzen, zuletzt die COP28 in Dubai. Aber auch vor ihrem Klimaaktivismus war sie bereits politisch umtriebig – erst als Präsidentin der Students’ Union ihrer Universität in Salford, dann als Vorsitzende der britischen National Union of Students (NUS) und als Vizepräsidentin der European Students’ Union (ESU). Aktivismus gegen Israel bildet dabei eine Konstante ihres studentischen Engagements.
Als frisch gewählte NUS-Präsidentin versprach sie 2019, Antisemitismus-Trainings für NUS-Funktionär:innen anzubieten, nachdem es in den Jahren zuvor mehrere antisemitische Vorfälle1Im Januar 2023 veröffentlichte die NUS einen unabhängigen Bericht, der den Antisemitismus in der Studierendengewerkschaft aufarbeitet. Zamzam Ibrahim wird darin nicht erwähnt. in der Studierendengewerkschaft gegeben hatte. Der Erfolg dieser Trainings ist allerdings zweifelhaft: Zwei Jahre nach dem Ende von Ibrahims Amtszeit, im März 2022, lud die NUS zu ihrer Jahreskonferenz den antizionistischen und verschwörungsideologischen Rapper Lowkey ein.2Lowkey hatte sich durch Songtexte wie »You say you know about the Zionist lobby / But you put money in their pocket when you’re buying their coffee« und »It’s about time we globalised the intifada« profiliert. Auch zum 7. Oktober hat er antisemitische Verschwörungsideologien verbreitet. Auf Kritik jüdischer Mitglieder an diesem Programmpunkt reagierte die NUS mit der Aufforderung, diese sollten dann doch einfach den Konzertsaal verlassen.3Vgl. dazu diesen Artikel der Zeitung The Jewish Chronicle. Als daraufhin Forderungen an Spotify laut wurden, Songs von Lowkey mit antisemitischen Lyrics von der Plattform zu nehmen, protestierte Ibrahim auf Twitter gegen diese Unterdrückung ›unseres [!] palästinensischen Aktivismus‹ und drohte mit Boykott: »If Spotify remove a single song of his [i.e. Lowkey], I swear will make it my full time job to campaign for a mass boycott. Don’t play with your bag Oga, ya’ll know how BDS has impacted companies.«
Mit ›Massenboykott‹ gegen die ›Israel-Lobby‹. Foto: Screenshot Twitter/Archive.org
Bereits 2021, da war sie Vizepräsidentin der ESU, kritisierte die European Union of Jewish Students (EUJS) Ibrahim für ihre Gleichsetzung Israels mit dem Nationalsozialismus auf Instagram.4In einer Instagram-Story habe sie einen Post geteilt, in dem es heißt: »If you are silent when it comes to Palestine, you would have been silent at the time of the Holocaust.« Die Aufforderung der EUJS, Ibrahim solle sich von ihrem Instagram-Post distanzieren oder anderenfalls von ihrem Amt entfernt werden, verhallte jedoch wirkungslos.
Nach dem 7. Oktober
Die Anschläge der Hamas vom 7. Oktober scheint Ibrahim nie öffentlich verurteilt zu haben. Im Gegenteil, sie veröffentlichte in den Sozialen Medien mehrere Posts, die kaum anders denn als Legitimierung des Massakers gelesen werden können. Am 9. Oktober, zwei Tage nach dem Massaker, schrieb sie auf Twitter: »History will remember those that sided with the oppressor and ignored the oppressed. Justice lies with God, but the resistance is in our hands.« Am 12. Oktober polemisierte sie gegen einen Artikel Naomie Kleins, der die Legitimierung oder gar Feier des Hamas-Massakers durch viele (vermeintlich) Linke kritisiert: »Babe, what did you mean by Radical resistance you spoke about for indigenous communities? Or did that never apply to Palestinians?« Über die Opfer des zum ›(radikalen) Widerstand‹ verklärten Terrors verlor Ibrahim kein Wort.
Ibrahims Twitter-Profil ist seit dem 14. Januar auf ›privat‹ gestellt. Aber auch auf ihrem weiterhin öffentlichen Instagram-Profil ist sie aktiv. Am 15. Januar teilte Ibrahim in ihrer Instagram-Story etwa ein Bild mit dem Spruch: »Palestine has showed the world what resilience is. Yemen has showed the world what courage is. South Africe has showed the world what justice is.« Was genau mit der »palästinensischen Resilienz« gemeint ist, ist hier offen gelassen. Mit dem »Mut« des Jemen ist in diesem Zusammenhang aber unmissverständlich der Terrorismus der vom Iran finanzierten Huthi-Rebellen gemeint.
Gutes Klima mit Islamisten
Der Einwand, dass einzelne Posts in den sozialen Medien als Grundlage für eine Ausladung womöglich nicht ausreichen, hat durchaus seine Berechtigung. Im Falle Ibrahims geht das antiisraelische Engagement jedoch weit über symbolischen Social-Media-Aktivismus hinaus. Dabei offenbaren sich vor allem ihre Verbindungen zum politischen Islam.
Am 29. November etwa war sie eingeladener Gast bei einer Veranstaltung der Friends of Al-Aqsa (FOA), einer der Muslimbruderschaft zugehörigen, die Hamas unterstützenden britischen Organisation.5Ihr Gründer Ismail Patel vertritt einen politischen Islam und ist offener Anhänger der Hamas. 2009 verkündete er auf einer Demonstration für Gaza: »[W]e salute Hamas for standing up to Israel«. Am 7. Oktober postete FOA triumphierend das Video eines Baggers, der im Rahmen des Hamas-Angriffs auf Israel den Zaun an der Grenze von Gaza zerstört. Vgl. für eine palästinasolidarische, aber vergleichsweise antisemitismuskritische Perspektive auf FOA: https://www.workersliberty.org/story/2023–11-22/who-are-friends-al-aqsa. Ibrahims, vorsichtig formuliert, unkritische Nähe zum politischen Islam äußert sich auch in ihrem Aufruf im Februar 2022, für das Forum of European Muslim Youth and Student Organizations (FEMYSO) zu spenden, das vom Landesverfassungsschutz Baden-Württemberg ebenfalls der Muslimbruderschaft zugerechnet wird.6Im Bericht des Landesverfassungsschutzes Baden-Württemberg von 2022 wird FEMYSO als »Dachorganisation für die Jugendarbeit der Muslimbruderschaft« bezeichnet, die »in enger Kooperation mit den nationalen muslimischen Studenten- und Jugendverbänden als breiter Nachwuchspool für die europäische Muslimbruderschaft fungiert«.
Zamzam Ibrahim spricht im iranischen Staatsfernsehen über intersektionale Aspekte von Klimagerechtigkeit. Foto: Screenshot Press TV.
So fragt der Moderator sie etwa nach der »intersectionality« der Anti-Israel-Proteste am Rande der COP28. Ibrahim antwortet: »Climate justice fundamentally is a global call for the end of destruction, displacement of people and land, which of course perfectly fits into the experience of the Palestinian people. […] The call for climate justice itself is very much intersectional in its practice, and calls for understanding that [in] any form of ethnic cleansing and genocide, wether it’s indigenous communities in the Amazonia forest or it’s the people of Palestine, the issues and the systems of oppression that exist there are very much the same.« Auf die Suggestivfragen des Moderators, etwa danach, ob das Ziel Israels es sei, den Gazastreifen »unbewohnbar« zu machen, antwortet Ibrahim stets zustimmend: »absolutely«.
Zweierlei Antisemitismus?
Zamzam Ibrahim ist also, das zeigen diese Quellen, eine ausgewiesene antizionistische Aktivistin, die es selbst beim Thema Klimagerechtigkeit schafft, in Israel das größte Übel auszumachen. Sie hat zur Unterstützung der BDS-Kampagne aufgerufen und Israels Politik mit der Shoah verglichen, sie hat den antisemitischen Terror der Hamas und der Huthi legitimiert und sie pflegt enge Verbindungen zu Organisationen und Vertretern des politischen Islam. Zusammengenommen sprechen diese Aspekte eine derart deutliche Sprache, dass selbst die Antisemitismusdefinition der – von vielen Antisemitismusforscher:innen als unzureichend kritisierten – Jerusalemer Erklärung hinreicht, um Ibrahims Äußerungen und Positionen als antisemitisch zu erkennen. Das Zusammentreffen all dieser Aspekte unterscheidet sie auch von anderen Eingeladenen im Rahmen des Klimafestivals, die in den sozialen Medien teilweise vergleichbar antisemitische Positionen zu Israel vertreten.7 Da ist zum Beispiel Juneseo Hwang, der auf Twitter ein Posting des rechten antiisraelischen Aktivisten Jackson Hinkle geteilt hat, das die internationale Unterstützung der von Südafrika initiierten Anklage Israels vor dem IGH feiert. Hwang verbindet diesen Tweet mit der Forderung, Israel nicht nur für ›Genozid‹, sondern aufgrund der mit dem Krieg einhergehenden Umweltzerstörung in Gaza auch für ›Ökozid‹ anzuklagen. Und da ist Giulia Casalini, die in einer Instagram-Story einen Post geteilt hat, in dem Gaza als »the world’s largest open-air prison and concentration camp« bezeichnet wird. Dass internationale Klimaaktivist:innen derartige antiisraelische Positionen vertreten, ist wenig überraschend. Dass solche Positionen und Haltungen auch in Deutschland keinerlei öffentliche Kritik hervorrufen, widerlegt zudem die verbreitete Erzählung, man könne angesichts der Zensur durch eine ›proisraelische Lobby‹ gar keine Kritik an Israel üben, ohne mit ›Antisemitismusvorwürfen‹ überzogen zu werden. So wie die allermeisten antiisraelischen und ›israelkritischen‹ Künstler:innen und Aktivist:innen haben Casalini und Hwang nichts zu befürchten.
Es stellt sich daher die Frage: Wie kann es sein, dass dieser Antisemitismus nicht erkannt wurde und dass daraus keine Konsequenzen gezogen wurden? Schließlich wurden informierten Kreisen zufolge nach dem 7. Oktober eigens interne Schulungen zu Antisemitismus angeboten. Und schließlich hat Kampnagel im November selbst gezeigt, dass es auch anders geht, indem eine Lesung des soeben mit antisemitischen Äußerungen hervorgetretenen Fernsehphilosophen Richard David Precht abgesagt wurde. Offiziell geschah die Ausladung bloß, weil am selben Abend der israelische Sänger Asaf Avidan im Haus auftrat und eine »Konfrontation« vermieden werden sollte. Die Kampnagel-Sprecherin Siri Keil machte gegenüber t‑online jedoch ein Bemühen Prechts »um ein tiefergehendes Verständnis der berechtigten Kritik und damit verbundenen Reflexion seiner Äußerungen« zur Bedingung für zukünftige Auftritte. Warum im Falle Ibrahims nicht einmal derartige Bedingungen formuliert werden, ist nicht nachvollziehbar.
Antisemitismus als blinder Fleck
Dass ein Umgang mit dem Problem des Antisemitismus hier gänzlich ausblieb, ist auch deshalb besonders frappierend, weil mit dem Hamburger Schauspieler und Regisseur Dor Aloni, der in Israel geboren und aufgewachsen ist, ein Künstler im Programm des Klimafestivals auftritt, der von Antisemitismus unmittelbar betroffen ist. In seiner gemeinsam mit Meera Theunert entwickelten (und bereits an allen drei Abenden ausverkauften) Performance Atlantis spürt er dem Atlantis-Mythos als »Vorlage für die Verbreitung faschistoider Welterzählungen und Zerstörungsphantasien« nach. Auch Antisemitismus wird in der Performance thematisiert. Die Idee, Aloni über die antisemitischen Haltungen der Eröffnungsrednerin zu informieren und ihn nach seiner Perspektive zu fragen, scheint aber niemandem gekommen zu sein – etwas, das auf Kampnagel im Falle von Rassismus oder Queerfeindlichkeit wohl undenkbar wäre. Es fällt schwer, daraus andere Schlüsse zu ziehen als, wie es der britische Comedian David Baddiel prägnant formuliert hat: Jews don’t count.
Das Leitbild von Kampnagel, man wolle ein von »Rücksichtnahme und Fürsorge« geprägter Ort des (Ver)Lernens sein, der »solidarisch mit marginalisierten, diskriminierten und illegalisierten Künstler:innen, Gästen und Kolleg:innen« ist, wird dadurch konterkariert. Wenn sich Kampnagel in einem Statement »zur Debatte über die Lage im Nahen Osten« zur Aufgabe setzt, »komplexe und widersprüchliche Realitäten von Menschen zu vermitteln«, dann ist das Haus an dieser Aufgabe durch die Einladung Ibrahims und den ungenügenden Umgang mit Kritik krachend gescheitert. Der ›plurale Diskursraum‹ Kampnagel erweist sich in Hinblick auf israelbezogenen Antisemitismus als ziemlich einstimmig. Nonkonformistische jüdische Perspektiven wie die von Dor Aloni sind in diesem Raum offenbar nicht vorgesehen.
Ob sich daran noch einmal etwas ändern wird, muss bezweifelt werden. Denn von Lernfähigkeit und Problembewusstsein ist in einem Statement Amelie Deuflhards gegenüber dem NDR gelinde gesagt wenig zu merken. »Es muss«, warnt sie, »auch in Deutschland möglich sein, die Regierungspolitik von Israel zu kritisieren. Wenn das nicht mehr möglich ist, wäre nicht nur die Kunstfreiheit, sondern auch die Meinungsfreiheit verloren.« Deuflhard suggeriert hier zum einen, es gehe Zamzam Ibrahim um eine ›Kritik der Regierungspolitik von Israel‹, und impliziert zum anderen ebenso wahrheitswidrig, in Deutschland drohe die Verunmöglichung dieser Kritik und damit das Ende von Kunst- und Meinungsfreiheit. Damit aber malt sie ein derart verzerrtes Bild des öffentlichen Diskurses, dass sich die Frage stellt, zu welchem Grad es sich in dieser Hinsicht von jenem Ibrahims unterscheidet.
Was tun?
Stefan Hensels Pressemitteilung zu den Hintergründen der Einladung Zamzam Ibrahims hat starke öffentliche Reaktionen hervorgerufen. Vor allem Jüdinnen und Juden äußerten ihre Bestürzung und ihr Unverständnis angesichts der Entscheidung Kampnagels, an der Einladung festzuhalten. Das Junge Forum der DIG Hamburg und der DIG-Vorsitzende Volker Beck rufen inzwischen für Donnerstag zu einer Kundgebung vor Kampnagel auf.
Weitgehend still ist es bisher hingegen aus der Klimabewegung geblieben. In der Vergangenheit kam es hier, insbesondere angesichts antisemitischer Tendenzen in der weltweiten Klimabewegung, auch immer wieder zu Solidaritätserklärungen mit Jüdinnen und Juden und Bekenntnissen gegen Antisemitismus und Israelfeindschaft, etwa von Fridays for Future (FFF) Hamburg. Nicht so im aktuellen Fall. Eine Anfrage von Untiefen an FFF Hamburg blieb ebenso unbeantwortet wie eine Anfrage an Quang Paasch, ehemaliger Sprecher von FFF Deutschland, der am Samstag zusammen mit Zamzam Ibrahim den intersektionalen BIPoC-Workshop leiten soll.
Es ist wichtig, dass Jüdinnen und Juden in der aktuellen Situation konkrete sicht- und hörbare Solidarität erfahren. Und es gilt, den verbreiteten Versuchen der Selbstviktimisierung antiisraelischer Stimmen entgegenzutreten, mit denen die Gewalt antisemitischer (Sprech-)Handlungen geleugnet und die Rolle von Tätern und Opfern vertauscht wird. Gleichzeitig müssen ressentimentbeladene Reflexe und Instrumentalisierungsversuche der aktuellen Situation aber auch als solche benannt werden. Blickt man auf die Kommentare in den sozialen Medien, drängt sich der Eindruck auf, dass manche sich weniger aus Empörung über den Antisemitismus speisen (der bei einem bayerischen Rechtskonservativen wie Hubert Aiwanger viel eher entschuldigt wird) als aus der Freude über die Gelegenheit, einer jungen schwarzen Muslima die Pest an den Hals zu wünschen. Wenn die Welt den Unternehmer Daniel Sheffer mit der Behauptung zitiert, Ibrahim stehe »auf so fast jeder Liste der gefährlichsten Antisemiten in Europa«, ist das außerdem nicht nur überzogen, sondern schlicht unseriös – wo, bitteschön, soll es solche Listen geben? Die Häme schließlich, mit der den Verantwortlichen auf Kampnagel nun bisweilen »Schämt euch!« zugerufen wird, hat auch deshalb einen faden Beigeschmack, weil hier eine Institution im Fokus steht, die – ungeachtet aller Kritik – als Ort queerer und (post-)migrantischer Kultur in Hamburg einmalig ist.
Fest steht: Zamzam Ibrahim muss zwingend ausgeladen werden. Aber statt polternder Rhetorik und ressentimentgeladener Empörung darüber, was da mit ›unseren Steuergeldern‹ gemacht wird, bedarf es einer grundlegenden Auseinandersetzung mit den Strukturen, die zu der aktuellen Situation geführt haben. In dieser Hinsicht ist Amelie Deuflhard sogar rechtzugeben: Es braucht Diskursräume für Austausch und Auseinandersetzung. Der erste Schritt dahin wäre freilich, zu dieser Auseinandersetzung keine Antisemit:innen einzuladen. Damit sich Jüdinnen und Juden angstfrei in diesen Diskursräumen bewegen können; und damit in ihnen Platz für den Austausch über die drängenden gesellschaftlichen Probleme ist: über die Klimakatastrophe, globale Ausbeutungsverhältnisse und Rassismus – und vor allem über den Antisemitismus, der im Kulturbetrieb wie im Rest der Gesellschaft einen festen Platz hat.
Lukas Betzler
Der Autor hatte bereits länger zu Haltungen zum Antisemitismus im Hamburger Kulturbetrieb recherchiert. Die Diskussion um die Einladung Zamzam Ibrahims hat der Recherche eine unerwartete Brisanz und Tagesaktualität gegeben – und den eigentlichen Artikelplan völlig über den Haufen geworfen.
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Im Januar 2023 veröffentlichte die NUS einen unabhängigen Bericht, der den Antisemitismus in der Studierendengewerkschaft aufarbeitet. Zamzam Ibrahim wird darin nicht erwähnt.
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Lowkey hatte sich durch Songtexte wie »You say you know about the Zionist lobby / But you put money in their pocket when you’re buying their coffee« und »It’s about time we globalised the intifada« profiliert. Auch zum 7. Oktober hat er antisemitische Verschwörungsideologien verbreitet.
In einer Instagram-Story habe sie einen Post geteilt, in dem es heißt: »If you are silent when it comes to Palestine, you would have been silent at the time of the Holocaust.«
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Ihr Gründer Ismail Patel vertritt einen politischen Islam und ist offener Anhänger der Hamas. 2009 verkündete er auf einer Demonstration für Gaza: »[W]e salute Hamas for standing up to Israel«. Am 7. Oktober postete FOA triumphierend das Video eines Baggers, der im Rahmen des Hamas-Angriffs auf Israel den Zaun an der Grenze von Gaza zerstört. Vgl. für eine palästinasolidarische, aber vergleichsweise antisemitismuskritische Perspektive auf FOA: https://www.workersliberty.org/story/2023–11-22/who-are-friends-al-aqsa.
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Im Bericht des Landesverfassungsschutzes Baden-Württemberg von 2022 wird FEMYSO als »Dachorganisation für die Jugendarbeit der Muslimbruderschaft« bezeichnet, die »in enger Kooperation mit den nationalen muslimischen Studenten- und Jugendverbänden als breiter Nachwuchspool für die europäische Muslimbruderschaft fungiert«.
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Da ist zum Beispiel Juneseo Hwang, der auf Twitter ein Posting des rechten antiisraelischen Aktivisten Jackson Hinkle geteilt hat, das die internationale Unterstützung der von Südafrika initiierten Anklage Israels vor dem IGH feiert. Hwang verbindet diesen Tweet mit der Forderung, Israel nicht nur für ›Genozid‹, sondern aufgrund der mit dem Krieg einhergehenden Umweltzerstörung in Gaza auch für ›Ökozid‹ anzuklagen. Und da ist Giulia Casalini, die in einer Instagram-Story einen Post geteilt hat, in dem Gaza als »the world’s largest open-air prison and concentration camp« bezeichnet wird. Dass internationale Klimaaktivist:innen derartige antiisraelische Positionen vertreten, ist wenig überraschend. Dass solche Positionen und Haltungen auch in Deutschland keinerlei öffentliche Kritik hervorrufen, widerlegt zudem die verbreitete Erzählung, man könne angesichts der Zensur durch eine ›proisraelische Lobby‹ gar keine Kritik an Israel üben, ohne mit ›Antisemitismusvorwürfen‹ überzogen zu werden. So wie die allermeisten antiisraelischen und ›israelkritischen‹ Künstler:innen und Aktivist:innen haben Casalini und Hwang nichts zu befürchten.
Am 19.01. eröffnete im Hamburger Rathaus eine Sonderausstellung über »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute«. Unter den Macher:innen sind auch Betroffene und Angehörige von Opfern rechter Gewalt. Die Ausstellung bietet einen sehr guten Einstieg in die lokale Geschichte rechtsextremer Gewalt, ringt aber mit einigen Schwierigkeiten.
Ausschnitt des Ausstellungs-Plakats. Bild: Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte
Im großen Festsaal des Rathauses wurde gestern, am 19.01.2024, die neue Sonderausstellung »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute« eröffnet. Wie schon seit über 20 Jahren präsentiert die Bürgerschaft wieder anlässlich des Gedenktages für die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar eine neue temporäre historische Ausstellung. Ungewöhnlich ist dieses Mal die große Aktualität. Denn die neue Ausstellung beleuchtet rechte Gewalt nach dem Zweiten Weltkrieg – bis heute. Verantwortet wird sie dabei wie immer von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Die Ausstellung eröffnet mit den persönlichen Geschichten von fünf Todesopfern rechter Gewalt in Hamburg:
Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân (1980; Nazi-Brandanschlag auf Flüchtlingsunterkunft in der Halskestraße), Mehmet Kaymakçı (1985; erschlagen von Skinheads im Kiwittsmoorpark), Ramazan Avcı (1985; erschlagen von Skinheads an der S‑Bahn-Station »Landwehr«) und Süleyman Taşköprü (2001; erschossen in der Schützenstraße von Terroristen des »NSU«).
Auch das letzte Wort haben die Betroffenen. In einer Videostation werden Ausschnitte aus Interviews mit Überlebenden rechter Gewalt und Angehörigen von Opfern gezeigt, die unter anderem von dem jahrzehntelangen Desinteresse von Staat und Gesellschaft und sogar Gedenkinitiativen an ihren Erfahrungen und Perspektiven berichten. Aber nicht nur in der Ausstellung kommen die Betroffenen zu Wort, auch in der Entstehung waren sie beteiligt. Im Gespräch mit Untiefen sagt Lennart Onken (KZ-Gedenkstätte Neuengamme), einer der Kurator:innen: »Insbesondere für die ersten fünf Tafeln haben wir eng mit Initiativen und Angehörigen zusammengearbeitet, haben Texte und Bildauswahl intensiv besprochen. Das war ein sehr spannender Prozess, bei dem auch wir sehr viel gelernt haben.«
İbrahim Arslan: »Ich führe das zurück auf unseren Widerstand und unsere Kämpfe«
Einer der Mitgestalter, der Aktivist İbrahim Arslan (Überlebender des rassistischen Brandanschlags 1992 in Mölln) betont gegenüber Untiefen: »Wir haben die gesamte Ausstellung gemeinsam konzipiert, haben die Vernetzung der Betroffenen und das Empowerment gemacht und unsere Expertise eingebracht.« Er findet die Ausstellung gelungen, denn: »Die Betroffenen sind zufrieden. Ihre Wünsche und Bedürfnisse stehen im Vordergrund. Das ist relativ neu, dass Antifaschist:innen und Antiras und Institutionen uns einbeziehen. Ich führe das zurück auf unseren Widerstand und unsere Kämpfe. Wir machen hervorragende Arbeit und langsam werden unsere Interventionen auch staatlich anerkannt.«
Die Ausstellung präsentiert auf über dreißig Tafeln die jeweils wichtigsten und prägnantesten Fälle rechter Gewalt für die Nachkriegsjahrzehnte, aber auch Widerstandsbewegungen finden Erwähnung. So bietet sie einen sehr guten Überblick über die Wellen rechter Gewalt – und eignet sich gut auch für jüngere Antifaschist:innen, die vielleicht das Gefühl haben, diese Geschichte Hamburgs bislang nur bruchstückhaft zu kennen. Aber auch für schon länger Interessierte gibt es neue Abgründe und bislang unbekannte Opfer zu entdecken, selbst für den Historiker Onken von der KZ-Gedenkstätte: »Besonders krass finde ich den Fall des Zeitungsboten Rudi M., der 1988 in Eimsbüttel von einem Skinhead erstochen wurde, weil er ihm angeblich homosexuelle Avancen gemacht hat. Ich hatte noch nie vorher von Rudi M. gehört. Sein Fall ist total unbekannt.«
Nicht viel bekannter dürfte das Schicksal des thailändischen Ingenieurs Prayong Rungjangs sein, der 1977 an den Folgen eines Neonazi-Übergriffs in der Talstraße starb. Hier hält lediglich sein Sohn, der Video- und Objektkünstler Arin Rungjang, die Erinnerung wach.
Der Gedenkstein für Süleyman Tasköprü in der Schützenstraße in Bahrenfeld. Foto: Kati Jurischka, Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte
Was tun mit den Tätern?
Auch auf der Täter:innenseite liefert die Ausstellung einen Überblick über die Organisationen und zentralen Personen. Nazi-Haufen wie die »Hamburger Bruderschaft«, »Aktionsfront Nationaler Sozialisten«, die »Wehrwolf-Gruppe«, die »Deutschen Aktionsgruppen« und natürlich der »NSU« werden vorgestellt. Dabei verzichten die Kurator:innen auf persönliche Anekdoten und letztlich auch auf Thesen dazu, warum bestimmte Milieus und Personen erstens für rechtsextreme Ideologie empfänglich sind und zweitens den Schritt zur Gewalt gehen. Lediglich für die unmittelbare Gegenwart verweist die Ausstellung darauf, dass die Zustimmungswerte der AfD mit Beginn des Krieges gegen die Ukraine und der zunehmenden Inflation gestiegen seien. Die theoretische Zurückhaltung ist vor dem Hintergrund der Fokussierung auf die Opfer und aus Platzgründen zwar verständlich, erschwert es aber, Schlussfolgerungen für die Gegenwart zu ziehen. Das Video-Interview am Ende der Ausstellung schließt mit Worten Thời Trọng Ngũs, Überlebender des Anschlags in der Halskestraße von 1980 und Aktiver der »Initiative für ein Gedenken an Nguyễn Ngọc Châu und Đỗ Anh Lân«: »Wie kann man weitere Taten vermeiden? Das ist die Frage.« Die Ausstellung antwortet auf ihren letzten Tafeln: durch antifaschistischen und migrantischen Widerstand sowie durch breites gesellschaftliches Engagement und staatliche Maßnahmen gegen Rechts. Das ist natürlich unerlässlich. Aber bleibt der antifaschistische Widerstand nicht im Modus des ewigen Reagierens, wenn er über kein Konzept der gesellschaftlichen Hintergründe rechter Gewalt verfügt? Wenn er nicht nach der psychischen und ökonomischen Funktionalität von Ressentiment und Gewalt fragt?
İbrahim Arslan hebt im Gespräch auch hier die Bedeutung der Betroffenenfokussierung hervor: »Migrantisch situiertes Wissen hat schon in den 1980ern rassistisch motivierte Taten vorhergesagt.« Seiner Wahrnehmung nach konnte man sich auch bei dieser Ausstellung nicht von »einer gewissen Täterfokussierung« befreien. Das Interesse an den Täter:innen und den Tathintergründen sei zwar verständlich, grade jetzt angesichts der ans Licht gekommenen Deportations-Pläne im Umfeld der AfD. Aber das führe eben immer wieder zu der Vorstellung, man habe es nun mit etwas Neuem zu tun. Stattdessen sei klar: »Die AfD wird von Neonazis getragen. Diese Pläne gibt es schon seit der Gründung der AfD.« Und würde man Betroffenen zuhören, so Arslan weiter, wüsste man, dass sie auch darauf schon lange hinweisen.
Was ist »rechte Gewalt«?
Eine konzeptuelle Unklarheit der Ausstellung ist derweil deutlich spürbar. »Rechtsextremes Denken« wird zunächst breit gefasst, im Sinne einer allgemeinen, gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit: »Grundlegend ist die Auffassung von einer generellen Ungleichwertigkeit der Menschen.« Laut Lennart Onken hat das Ausstellungsteam in dieser Perspektive allein durch eigene Recherchen eine Liste von 500 dokumentierten Fällen zusammengestellt, die von Beleidigungen bis zum Mord reichen. Ein parallel laufendes Forschungsprojekt der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg (FZH), der KZ-Gedenkstätte sowie der Landeszentrale für politische Bildung unter dem Titel »HAMREA – Hamburg rechtsaußen« hat laut Onken für Hamburg und das Umland seit 1945 schon »über 1000 Fälle« zusammengetragen – mit einer vermutlich deutlich höheren Dunkelziffer. Die Ergebnisse dieses Forschungsprojekts werden fortlaufend sehr anschaulich auf der neuen Website veröffentlicht: https://rechtegewalt-hamburg.de/ Selbstverständlich können aber 1000 oder auch nur 500 Fälle nicht in einer Ausstellung präsentiert werden. Angesichts der Fülle rechter Taten fokussieren die Kurator:innen notwendig auf bestimmte Opfer- und Tätergruppen. Laut Onken haben die Kurator:innen versucht, für jedes Nachkriegsjahrzehnt die zentralen Fälle darzustellen: »Wir haben uns gefragt: Was ist jeweils das bestimmende Thema, das bestimmende Feindbild der extremen Rechten gewesen?« Nur die sieben dokumentierten Todesopfer rechter Gewalt wurden ohne solche Gewichtung aufgenommen. Darunter ist auch der Fall des Bauingenieurs Neşet Danış, der 1977 in Norderstedt bei einem Überfall von türkischen Rechten aus dem Umfeld der »Grauen Wölfe« lebensgefährlich verletzt wurde und später seinen Verletzungen erlag. Das wirft die Frage auf: Zählen solche nicht-deutschen extremistischen Gewalttaten zu »rechter Gewalt«? Und wie ist es mit islamistischer oder israelfeindlicher Gewalt, die ja auch antisemitisch motiviert ist? In der Ausstellung tauchen etwa von den späten 1970ern bis in die 2020er keine antisemitischen Gewalttaten auf.
Onken erläutert den Umgang des Kurator:innen-Teams so: »Wir haben recht früh gesagt, dass wir uns auf die biodeutsche extrem rechte Szene fokussieren.« Und für die wäre der Antisemitismus zwar in den Nachkriegsjahren sehr wichtig gewesen, in den 1980ern habe sich das Feindbild allerdings deutlich auf Migrant:innen verlagert. »Beim Antisemitismus kommt noch hinzu, dass es kein Alleinstellungsmerkmal der extremen Rechten ist, sondern da unterschiedliche Gruppe zur Tat schreiten.« Bei der Fokussierung habe auch die Sorge eine Rolle gespielt, sich durch weitere Themen in Diskussionen zu verstricken, die von der Kontinuität deutscher extrem rechter Gewalt ablenken könnten. Onken ergänzt allerdings: »Grade im Nachgang des 7. Oktober 2023 ist fraglich, ob das so auch in Zukunft weiter klug und machbar ist. Mit Blick auf den Islamismus würde es aus meiner Sicht Sinn machen, die extreme Rechte und den Islamismus enger zusammen zu denken. Denn beide teilen die Modernitätsfeindschaft und den virulenten Antisemitismus.«
Die Fokussierung schafft es aber, zumindest für die deutsche extrem rechte Gewalt, einen guten Überblick über Opfer, Täter und Kontinuitäten zu geben. Vielleicht kann sie den Wunsch der Mehrheitsgesellschaft unterlaufen, in den kommenden rechten Mobilisierungen und den staatlichen Reaktionen wieder eigentlich doch längst Überwundenes, Ewiggestriges aus einer ganz anderen Zeit zu sehen. Gülüstan Avcı, die Witwe des 1983 ermordeten Ramazan Avcı, beklagte bei der Eröffnung der Ausstellung am Freitag unter anderem, dass in Hamburg bis heute kein Untersuchungsausschuss zum Mord des „NSU“ an Süleyman Taşköprü eingerichtet wurde. Auch das kann man im Gedächtnis behalten, wenn man dieser Tage mit der »Mitte« und den regierenden Parteien gegen Rechts demonstriert.
Felix Jacob
Die Ausstellung »Rechte Gewalt in Hamburg von 1945 bis heute« ist vom 19.01.2024 bis zum 18.02.2024 kostenlos in der Rathausdiele zu sehen. Öffnungszeiten:
Die Website des Forschungsprojektes »Hamburg rechtsaußen. Rechtsextreme Gewalt- und Aktionsformen in, mit und gegen die städtische Gesellschaft« ist unter https://rechtegewalt-hamburg.de/ zu erreichen.
Eine Veranstaltungsreihe der Innenrevision Kulturbetrieb fragt nach antisemitischen Weltbildern in gegenwärtigen Kunstdiskursen. Die dritte und letzte Veranstaltung findet am 30.11.2023, 19.30 Uhr in der Fabrique (Gängeviertel) statt.
Nachdem im September 2022 zwei Vertreter des indonesischen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruangrupa eine Gastprofessur an der Hamburger HfbK antraten, ist die Auseinandersetzung über die von Ruangrupa verantwortete antisemitische Kunstschau auch zu einem Streit in Hamburg geworden. Zwar gab es verdienstvolle, aber vereinzelte Proteste, zurückhaltende Ermahnungen aus der Landespolitik sowie einige wenig ergiebige Interviews und Veranstaltungen mit den Ruangrupa-Leuten. Insgesamt aber ist von Betroffenheit oder gar (Selbst-)Kritik innerhalb des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs wenig zu vernehmen. Der HfbK-Präseident Köttering lügt die von ihm initiierte Gastprofessur rückblickend zum Auslöser wichtiger »Lernprozesse« um, gar zum Beginn eines »Dialogs«: »Zum anderen ist durch die beiden DAAD-Gastprofessoren das Thema Antisemitismus im Kunstfeld nach Hamburg getragen worden, worauf wir mit vielen Veranstaltungen reagiert haben, vor allem mit dem Symposium. Damit ist es uns seit der documenta erstmalig gelungen, sehr divergente Positionen zusammen und in einen Dialog zu bringen«. Auf die Frage, ob er die Einladung wieder aussprechen würde, antwortete er entsprechend: »Das kann ich wirklich mit aller Deutlichkeit und sehr klar sagen: Ja, unbedingt! Denn es ist die Aufgabe und Pflicht von wissenschaftlichen Institutionen, sich diesen komplexen und schwierigen Diskursen zu stellen, um Lernprozesse entstehen zu lassen.« Antisemitismus geht in der Kunstwelt also weiterhin in Ordnung, so lange man dabei das Gefühl hat, mit irgendwem im Dialog zu sein. Woher kommt diese Unerschütterlichkeit – auch und gerade jenseits des offensichtlich unverbesserlichen Ruangrupa-Kollektivs?
Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Hamburg eine „Innenrevision Kulturbetrieb“ gegründet. In ihr haben sich in Kunst und Kultur Tätige zusammengeschlossen, die mit einer Veranstaltungsreihe in das beredte Hamburger Schweigen intervenieren wollen. Die Reihe untersucht anhand dreier für den gegenwärtigen Kunstbetrieb zentraler Begriffe – Kollektivität, Widerstand und Solidarität – über welche Einfallstore sich antisemitische Weltbilder im Kunstdiskurs immer wieder verbreiten können.
Die Reihe wird am 30.11. mit einer Veranstaltung zu „Widerstand“ fortgesetzt: 19.30 Uhr in der Fabrique im Gängeviertel, Valentinskamp 34a.
Die Redaktion Untiefen unterstützt diese Intervention (wie auch der Bagrut e.V., die Untüchtigen sowie der Textem-Verlag) und dokumentiert im Folgenden den Ankündigungstext der Veranstaltung.
Die feministische Revolution im Iran oder der ukrainische Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg. Widerstand wird mit emanzipatorische Bewegungen, die für Gerechtigkeit und Freiheit und gegen autoritäre oder totalitäre Machtstrukturen kämpfen, assoziiert. Gleichzeitig schaffen Widerstandsbewegungen auch klare Feindbilder, die von inneren Widersprüchen entlasteDer feministische Aufstand im Iran oder der ukrainische Widerstand gegen den russischen Angriffskrieg – Widerstand wird mit emanzipatorischen Bewegungen assoziiert, die für Freiheit, Gerechtigkeit und gegen autoritäre oder totalitäre Machtstrukturen kämpfen. Gleichzeitig schaffen Widerstandsbewegungen auch klare Feindbilder, die von inneren Widersprüchen entlasten. Aus einem gerechten Anliegen kann sich ein manichäisches Weltbild entwickeln: Die Komplexität der Welt wird in Gut und Böse überführt.
Viele Arbeiten der Documenta 15 nahmen auf konkrete Widerstandsbewegungen Bezug. Auch für diejenigen, die antisemitische Weltbilder reproduzierten, war Widerstand das zentrale Motiv. Tatsächlich wurde schon der Begriff des Antisemitismus als Selbstbezeichnung einer Widerstandsbewegung erfunden. Sie richtete sich gegen die vermeintliche Macht und kulturelle Übernahme Deutschlands durch „die Juden“. Antisemitische Pogrome wurden von den Nationalsozialisten als eine Form von Widerstand dargestellt.
Aktuell wird die Terroraktion der Hamas gegen Israel am 7. Oktober 2023, der größte Massenmord an Jüdinnen und Juden seit der Shoah, als Widerstand für eine gerechte Sache verklärt. Das ist nicht nur im Internet und auf Straßenprotesten überall auf der Welt zu beobachten, sondern auch in Hamburg. Zahlreiche renommierte Künstlerinnen und Künstler sehen sich an der Seite dieses vermeintlichen Freiheitskampfes. Ihre Reaktionen reichen von subtiler Relativierung bis zur offenen Glorifizierung des Terrors. Auch darüber wollen wir im letzten Teil unserer Veranstaltungsreihe reden.
»Die Gewalt muss endlich gesellschaftlich benannt und moralisch verurteilt werden«
Allein 2023 gab es in Hamburg mindestens elf Feminizide. Offizielle Statistiken über diese Morde an Frauen oder weiblich gelesenen Personen gibt es allerdings nicht. Für eine öffentliche Reaktion sorgt das Anti-Feminizid-Netzwerk Hamburg, das für jede dieser Gewalttaten eine Kundgebung abhält und eine eigene Zählung vornimmt. Untiefen sprach mit Viola vom Netzwerk über ihre Ziele, die Zusammenarbeit mit staatlichen und linken Akteur:innen sowie die theoretischen Bezüge des Netzwerks.
Eine der Kundgebungen des Anti-Feminizid-Netzwerks auf dem Alma-Wartenberg-Platz. Foto: Anti-Feminizid-Netzwerk
Untiefen: Warum braucht Hamburg ein Anti-Feminizid-Netzwerk?
Viola: Es braucht das Netzwerk, weil es Tötungen von Frauen und weiblich gelesenen Personen gibt und weil das Problem von staatlicher Seite zu wenig angegangen wird. Man muss es einfach stärker benennen. Man muss es sichtbarer machen. Die gegenwärtigen Gesetze reichen nicht aus und auch nicht die Schutzstrukturen durch Frauenhäuser, weil es zu wenig Plätze gibt, aber natürlich schätzen wir deren Arbeit sehr. Wir hatten vor Kurzem eine Soli-Aktion am Campus der Universität Hamburg und selbst dort kam oft die Frage: »Was? Das gibt es in Deutschland?!« Das spricht schon für sich. Deshalb braucht es das Netzwerk: Um das Problem zu benennen, es braucht einen Namen.
Untiefen: Wie ist das Netzwerk entstanden? Also, wie seid ihr zu dem Thema gekommen?
Viola: Es ist vor einem Jahr entstanden, im Oktober 2022, als offenes Netzwerk aus einem Zusammenschluss von verschiedenen feministischen Gruppen und Einzelpersonen. Einen besonderen Anlass zur Gründung gab es nicht. Es war eher ein Gespräch zwischen verschiedenen sehr aktiven Feministinnen, die gesagt haben: »Es reicht.« Jeden dritten Tag geschieht ein Feminizid in Deutschland, das ist Anlass genug. Mit dem Thema befasst sich sonst niemand, auch andere feministische Gruppen nicht dezidiert, was traurig ist.
Untiefen: Ihr habt einen sogenannten »Widerstandsplatz gegen Feminizide« am Alma-Wartenberg-Platz in Ottensen ausgerufen. Wie hat sich das entwickelt und warum habt ihr euch genau für diesen Platz entschieden?
Viola: Den Widerstandplatz haben wir kurz nach unserer Gründung im November 2022 ausgerufen. Mit der Auswahl dieses Ortes möchten wir sowohl die internationalistische Ausrichtung deutlich machen, die einige von uns haben, als auch an eine lokale feministische Tradition anschließen. Alma Wartenberg wurde in der Zeit des Kaiserreichs in Ottensen (Holstein) geboren. Sie war SPD-Politikerin und vor allem Feministin, die sich besonders im Bereich Mutterschutz, Empfängnisverhütung und für sexuelle Aufklärung eingesetzt hat.
Aber: Im Netzwerk wird der Platz durchaus ambivalent gesehen, nicht alle haben einen starken Bezug dazu. Für manche im Netzwerk könnte es auch ein anderer Ort sein. Wichtig ist einfach, dass wir Raum einnehmen und das Thema Feminizide sichtbar machen. Wir würden da auch gerne noch mehr machen.
Untiefen: Du sprichst an, dass es euch auch darum geht, Raum einzunehmen und Aufmerksamkeit für das Thema zu erzeugen. Seht ihr, dass ihr damit einen Effekt auf die Stadt und auf die Öffentlichkeit habt?
Viola: Die Stadt und die Öffentlichkeit sind zwei unterschiedliche Bereiche. Insgesamt aber schon. Wir hatten gerade einen Strategietag und haben dort reflektiert, was alles bisher passiert ist. Dafür, dass wir ein Netzwerk sind, in dem so viele unterschiedliche Gruppen und Einzelpersonen zusammensitzen, ist es schon enorm, wieviel Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit wir bisher herstellen konnten. Wir bekommen viele Interviewanfragen und zu unseren Kundgebungen kommen immer mehr Leute.
Was die Stadt betrifft: Wir sind zunehmend zu städtischen Beteiligungsrunden eingeladen. Das sind Räume, in denen auch autonome Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen und andere Gruppierungen von städtischer, behördlicher Seite mit drinsitzen. Da werden wir dann zum Beispiel eingeladen, um uns vorzustellen. Wir haben etwa am »Runden Tisch Gewalt« teilgenommen und sind beim »Arbeitskreis Gewalt« eingeladen. Es interessiert sich natürlich keine Partei außer Die Linke dafür. Das muss man ehrlich sagen. Mit Cansu Özdemir (Die Linke-Fraktionsvorsitzende in der Hamburgischen Bürgerschaft, Anm. Untiefen) gewinnt man tatsächlich viel. Sie macht sehr viel möglich. Wenn über sie nicht regelmäßig kleine Anfragen zum Sachstand von Feminiziden gestellt werden würde, sähe die Datenlage noch sehr viel schlechter aus.
Deutlich sichtbar ist auch, dass die Presse nun versucht, anders über das Thema zu schreiben. Wir veröffentlichen nach jedem Fall eine Pressemitteilung. Die bürgerliche Presse, wie das Abendblatt und die MoPo, achten schon verstärkt auf sensiblere Sprache und haben mittlerweile den Begriff Feminizid oder Femizid übernommen. Wir müssen nicht mehr darauf hinweisen, dass es eben ein Feminizid ist und sie es so benennen sollen. Trotzdem beobachten wir weiterhin sehr unsensbile und vor allem uninformierte Berichterstattung. Das betrifft einerseits Feminizide im Alter, aber auch generell weniger prominente Formen von Feminiziden, wie z.B. Feminizide die von Rechtsextremen, Kindern oder Enkeln begangen werden. Da insbesondere bei Rechtsextremen immer misogyne Motivlagen zu beobachten sind, müssen auch diese Morde klar als Feminizid eingeordnet werden.
Wenn man eine Bewegung aufbaut, läuft es oft erstmal sehr schleppend. Jetzt haben wir aber das Gefühl, dass richtig viel zurückkommt. Uns war es immer wichtig, mit den Kundgebungen nach Femiziden für eine öffentliche Reaktion zu sorgen. Daran halten sich viele fest, von uns und von außen. Deswegen ist es wichtig, dass wir damit weitermachen. Das hat uns glaube ich auch dahin gebracht, wo wir jetzt sind. Selbst wenn es immer sehr anstrengend ist, mental und organisatorisch.
»Wir müssen die Gewalt dort thematisieren, wo sie passiert«
Untiefen: Wie du es beschreibst, kommt ihr mittlerweile von dem Punkt weg, hauptsächlich Aufmerksamkeit zu generieren und auf Begriffe hin zu weisen. Gibt es langfristige Ziele, die ihr darüber hinaus verfolgt oder die als nächstes anstehen?
Viola: Als Netzwerk aus vielen unterschiedlichen Gruppen haben wir durchaus Schwierigkeiten, uns auf einheitliche Ziele festzulegen. Was wir gemeinsam fordern, beziehungsweise verfolgen, ist ein gewaltfreies Leben für alle Menschen. Zudem wollen wir ein umfassenderes Verständnis und begleitende Forschung von Feminiziden und eine Dokumentation der Fälle. Eine weitere Sache, die uns sehr wichtig ist und für die wir uns einsetzen, ist die Präventionsarbeit. Das beinhaltet auch Bildungsarbeit, die wir mittlerweile vermehrt machen. Ebenso Veranstaltungen außerhalb linker Räume.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Basisarbeit, was natürlich mit Bildungsarbeit einhergeht. Wir wollen da auch eine noch stärkere Vernetzung in die Stadtteile hinein. Wir tun das schon im Rahmen des »StoP«-Projekts (Stadtteile ohne Partnergewalt, Anmerkung Untiefen) Es geht uns auch darum Verbindungen zu wichtigen Multiplikator:innen in den Stadtteilen herzustellen. Wir haben als Netzwerk ein ernsthaftes Interesse daran, außerhalb unserer linken Blase aktiv zu sein. Denn es hilft nicht, wenn wir nur innerhalb unseres eigenen Kreises sprechen, dazu haben wir keine Lust mehr. Wir müssen die Gewalt dort thematisieren, wo sie passiert, sowohl innerhalb der Szene als auch darüber hinaus. Das bedeutet für uns, sich stark zu vernetzen, um ein breites gesellschaftliches Anti-Feminizid-Netzwerk aufzubauen.
Ein für uns wichtiges Ziel ist es, der Tat einen Namen zu geben. Es gibt zwar bei uns auch andere Ansätze und unterschiedliche Strafbedürfnisse. Manche fordern Gesetzesverschärfungen, für andere spielt die strafrechtliche Bewertung nicht so eine große Rolle. Aber die Gewalt, die passiert, muss endlich gesellschaftlich benannt und moralisch verurteilt werden.
Es gibt natürlich auch liberale Forderungen, die wir unterstützen, wie den Ausbau von Frauenhäusern. Wenn man aber weiß, wie massiv problematisch die aktuelle Wohnungspolitik ist, bringt diese Forderung nicht so viel. Die Frauen sollen schließlich nicht in Frauenhäusern bleiben, sondern wieder ihr sicheres Umfeld haben. Von daher braucht es pragmatische Lösungen. Es gibt aber auch den Wunsch nach anderen Schutzstrukturen, die mehr auf Selbstorganisierung setzen. Ein Beispiel dafür ist das »StoP«-Projekt, indem es darum geht, sich im Stadtteil gemeinsam zu organisieren und Hilfsstrukturen für Betroffene aufzubauen. Bei Selbstorganisierung geht es nicht um eine rechte Bürgerwehr oder so etwas, sondern zum Beispiel darum, dass wenn eine Frau bedroht ist, sie eine Nummer anruft und dann direkt drei Leute ansprechbar sind, die unterstützen. Alle müssen Verantwortung übernehmen und wir müssen anfangen Verantwortungsübernahme anders zu denken. Das ist eben nicht nur die Aufgabe des Staates ist, sondern von uns allen. Wir wollen dahin, dass es eine gesamtgesellschaftliche Reaktion gibt und Proteste auf die Straße getragen werden, wenn wieder eine Frau oder weiblich gelesene Person ermordet wird. Wir verfolgen mit unserer Arbeit einen kulturellen gesellschaftlichen Wandel, der patriarchale Machtstrukturen ernsthaft aufbricht und zerstört.
Untiefen: Es gibt also Forderungen an die staatliche Politik und an die Gesellschaft insgesamt?
Viola: Ja, genau. Die Istanbul-Konvention ist in Deutschland noch nicht richtig umgesetzt. Das ist eine Forderung, die häufig aus dem Gewaltschutz kommt, von den Beratungsstellen und den Frauenhäusern. Das ist auch für uns wichtig. Darüber hinaus braucht es eine bundesweite Zählung der Frauen*, die von ihren Partnern getötet wurden, weil es eben ein politisches Problem ist. In Hamburg macht das derzeit die Partei Die Linke. Deutschlandweit machen es vor allem verschiedene lose Gruppen. Für uns ist es mühselig, immer wieder die Medienberichte zu überprüfen: Ist wieder etwas passiert, gab es wieder einen Fall? Wir machen die Zählungen ja selbst. Das kostet sehr viele Ressourcen und es ist gar nicht immer so leicht, zu sagen, was ein Feminizid ist.
»Ein Femizid ist immer nur die Spitze des Eisbergs«
Untiefen: Daran anknüpfend: Wie definiert ihr und zählt ihr Feminizide? Wo liegen da die Schwierigkeiten?
Viola: Wir haben meistens nur die Presseberichte und keine Akteneinsicht oder ähnliches. Es gibt Fälle, die sind sehr eindeutig: Ex-Partner tötet Frau im Streit, Mann erschießt seine Frau. Da gehen wir einfach davon aus, dass es das politische Motiv gab. Also, dass sie getötet wurde, weil sie eine Frau ist. Diesen Strukturen, die dazu führen, liegt das Patriarchat zugrunde.
In Hamburg hatten wir in den letzten Monaten allerdings ein paar schwierige Fälle. Da ging es etwa um die Tötung von älteren Frauen, also der Großmutter durch den Enkel. Danach hat man allerdings einen Abschiedsbrief von der Frau gefunden, dass sie sich tatsächlich umbringen wollte, weil sie so krank war. Bisher haben wir so agiert, dass wir, wenn es ein verwandtschaftliches Verhältnis beziehungsweise irgendein Verhältnis gab, das politische Motiv und den Feminizid als gegeben angenommen haben. Wir mussten uns aber auch schonmal korrigieren. Manchmal wissen wir schlicht gar nichts, wie zum Beispiel bei der vor einigen Wochen in der Elbe gefundenen Frauenleiche. Was wir aber auf jeden Fall sagen können ist, dass Feminizide oft auch im Kontext von psychischen Krisen, der aktuellen Pflegekrise und in Verbindung mit zusätzlichen Diskriminierungen vorkommen. Auch hier braucht es eine Sensibilität für die Verschränkung verschiedener Machtbeziehungen.
Wir haben auf jeden Fall aus dem einen Jahr gelernt, dass wir genauer hinschauen müssen. Zwar sind die allermeisten Fälle klassisch: Die Tat kurz nach der Trennung; in Familienverhältnissen geht es meist um junge Frauen und die Täter sind Väter, Brüder, Söhne oder Enkel. Wir haben für uns aber festgestellt, dass es genaue Marker oder Kriterien braucht. Wir müssen gucken, ob es irgendein Beziehungs- oder Machtverhältnis gab. Wir müssen herausfinden, ob es Abschiedsbriefe oder ähnliches gab. Es ist aber nicht einfach, das Patriarchat in Kriterien aufzuteilen. Man muss den Einzelfall genau anschauen. Wir haben zuletzt viel über unser zukünftiges Vorgehen gesprochen. Wenn wir zum Beispiel nur wissen, dass eine Frau getötet wurde und es uns nicht ganz klar erscheint, ob es ein Feminizid ist, dann warten wir erstmal, bis uns eindeutigere Daten vorliegen. Diese Arbeit ist aufwendig und erfordert manchmal sogar Aktenzugang, den wir zurzeit nicht haben.
Wir haben bisher nur über die vollendeten Femizide gesprochen. In Deutschland heißt es von offizieller Seite immer »jeden dritten Tag wird eine Frau getötet«. Bei uns im Netzwerk arbeiten viele in Schutzeinrichtungen und sehen es in der Praxis: Es geschieht häufiger und wird mehrmals pro Tag versucht! Wir sollten deshalb, auch als Gesellschaft, aufhören, uns immer so auf diese Zahl zu beziehen, sondern versuchen, eine andere Zählbasis zu finden. Die Erfahrungen von Frauenhäusern, Beratungsstellen und anderer Schutzeinrichtungen müssen dafür die Grundlage sein. Die haben die Erfahrung und kennen die Gewaltdynamiken. Ein Femizid ist immer nur die Spitze des Eisbergs. Diese Erzählung von »jedem dritten Tag« wird dem nicht gerecht. Es ist keine einstellige Zahl, sondern es sind sehr viel mehr Fälle und Versuche. Das macht einfach wütend.
Untiefen: In anderen Städten in Deutschland gibt es weitere Gruppen, die diese Zählungen durchführen. Seid ihr da vernetzt?
Viola: Unser Ziel ist es, eine ernstzunehmende soziale Bewegung zu sein. Dazu gehört auch, sich bundesweit zu vernetzen. Wir sind Teil eines Netzwerks, das Deutschland, Österreich und die Schweiz umfasst. Wir tauschen uns da auch zu der Arbeit und unseren Kriterien aus. Unsere Informationen halten wir in einer Statistik fest. Das geben wir an die überregionale Vernetzung weiter und wollen dazu auch Veröffentlichungen machen, damit alle damit arbeiten können.
Die Zählung ist aber nur ein Ziel. Im besten Fall möchten wir Gewalt verhindern. Aus der überregionalen Vernetzung sind schon praktische Dinge entstanden, etwa das Toolkit »Was tun gegen Feminizid?!« oder gemeinsam eingeworbene Gelder.
Untiefen: Du hast vorhin die Zusammenarbeit mit staatlichen und bürgerlichen Organisationen erwähnt, wie gestaltet sich die?
Das fängt gerade erst an. Erstmal geht es meistens darum, dass wir unsere Arbeit vorstellen, wie etwa beim Runden Tisch zum Thema Gewalt. Bei der Partei die Linke geht es um Vernetzung und Informationen. Zum Arbeitskreis Gewalt wurden wir eingeladen, er fand allerdings noch nicht statt, weshalb wir dazu noch nichts sagen können.
»Wir können keine weiteren 50 Jahre warten«
Untiefen: Seht ihr auch eine Gefahr in der Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen? Zum einen in Hinblick darauf, dass man eingehegt wird in den staatlichen Prozess des Gewaltschutzes, wie es der Frauenhausbewegung teilweise schon passiert ist, die nun durchaus finanziell abhängig ist vom Staat. Zum anderen, dass man zum Aushängeschild der Politik werden kann, ohne dass der Staat selbst etwas unternimmt oder die Verhältnisse sich ändern?
Viola: Klar, diese Gefahr gibt es. Wir haben in unserem Netzwerk aber sehr viele kritische Personen und im Gegensatz zu Frauenhäusern sind wir vor allem Aktivistinnen. Wir können dementsprechend andere Dinge tun und sagen. Das ist ein großer Vorteil und etwas, das ich an der Arbeit im Netzwerk schätze. Natürlich geht es oft Hand in Hand: Wir sind auch auf die Zusammenarbeit mit Frauenhäusern angewiesen, aber gleichzeitig schätze ich, dass wir uns ganz anders positionieren können. Wir haben uns auch gegründet, um zu zeigen, dass dieses Thema mehr angegangen werden muss. Das es mehr braucht, als bisher getan wird. Zum einen muss da explizit der Staat in den Blick genommen werden, zum anderen geht es da um gesellschaftliche Selbstorganisierung. Das sind beides Ebenen, die wir versuchen zu vereinen.
Staatliche Kooperationen sind bei uns noch nicht sonderlich ausgeprägt. An dem Punkt, dass die Gefahr der Instrumentalisierung besteht, sind wir glaube ich noch gar nicht. Aber vielleicht sollte man das immer im Hinterkopf behalten. Wir haben uns schon die Frage gestellt, wieweit unsere Arbeit gehen kann. Bei uns im Netzwerk sind Leute aus verschiedenen, auch staatlich finanzierten Organisationen, die sind aber bei uns auch als Einzelpersonen aktiv. Und wir kritisieren dann durchaus genau deren Geldgeber. Unsere Kritik richtet sich nicht immer, aber häufig an den Staat. Wenn wir richtig ungemütlich werden, dann könnte das schwierig werden, aber so weit ist es noch nicht. Unser Fokus auf Selbstorganisation soll gerade in dem Vakuum wirken, wo der Staat versagt Schutz zu gewährleisten. Wir können keine weiteren fünfzig Jahre warten, bis der Staat das Thema ernst nimmt und Geld zur Verfügung stellt. Die Bude brennt jetzt und heute!
Untiefen: Wie gestaltet sich eure Zusammenarbeit mit anderen Akteur:innen aus der linken Szene?
Viola: Als Netzwerk vieler Gruppen sind wir uns nicht immer in allem einig. Aber wir sind uns einig in unserer Definition des Patriarchats und dass es allem zugrunde liegt. Das Angenehme an unserer Arbeit ist, dass wir sehr fokussiert am konkreten Thema »Feminizide« und Gewalt an Frauen arbeiten. Andere Inhalte lassen wir aus, weil klar ist, dass wir da unterschiedliche Einstellungen haben. Das ist in der linken Szene natürlich manchmal schwierig, weil zu bestimmten Themen Stellungnahmen eingefordert werden, selbst wenn das nichts mit unserem inhaltlichen Schwerpunkt zu tun hat. Wenn wir ernsthaft an unserem Thema arbeiten wollen und die Probleme vor Ort anschauen und angehen möchten, dann brauchen wir jede Einzelne. Da ist es oft nicht zielführend, sich an einzelnen Themen so zu zerreißen und wir müssen da intern einen Umgang finden, wozu wir uns äußern und was wir auslassen.
In der feministischen Bewegung insgesamt stehen wir vor dem Problem, dass wir viele vereinzelte Gruppen sind, die dann nicht oft oder gar nicht zusammenarbeiten. Durch unsere Vernetzung wollen wir diese Vereinzelung und Spaltung überwinden und uns trotz der Unterschiede zusammentun. Das übergeordnete gemeinsame Ziel ist es, alle Formen patriarchaler Gewalt zu beenden. Denn von dieser sind wir alle, wenn auch auf unterschiedliche Weise, betroffen.
Leider gilt das das Thema »Feminizide« scheinbar als »uncool«. Warum kriegen wir es denn nicht hin, bei Gewalt an Frauen groß und präsent zu sein? Vielleicht liegt es daran, dass das Thema nicht so ansprechend ist – und natürlich auch schwer. Es ist immerhin nicht angenehm, die ganze Zeit über den Tod zu reden.
Untiefen: Ihr bezeichnet euch selbst als Anti-Feminizid-Netzwerk, es gibt auch den Begriff Femizid: Wo liegt da der Unterschied?
Viola: Die Frage wird uns immer wieder gestellt. Erstmal ist es wichtig, dass man überhaupt einen Begriff hat. Bei uns im Netzwerk kommt es daher, weil wir stark internationalistisch orientiert sind. Das »ni« als Zusatz stammt aus der lateinamerikanischen Bewegung. Damit soll die staatliche Verantwortung noch mehr hervorgehoben werden, weil es dort noch ganz andere Strukturen gibt als bei uns. Patriarchale Gewalt gibt es überall, aber in vielen Ländern Lateinamerikas ist der Staat aktiv daran beteiligt. Hier in Deutschland ist der Staat auch an der Gewalt beteiligt, aber eher passiv.
»Die wichtige Frage ist: Wie können wir Sicherheit schaffen?«
Untiefen: Gibt es noch andere gemeinsame theoretische Bezüge und Perspektiven, die ihr in eurer Arbeit nutzt?
Viola: Gar nicht so viele. Wir sind uns einig darin, wie wir das Patriarchat definieren und wie es die Welt strukturiert und beziehen uns dazu oft auf bell hooks. Das Patriarchat ist für uns ein gesellschaftliches System, dass auf der Vormachtstellung des Mannes basiert und der Vorstellung, dass Männer von Natur aus dominant und den Schwachen überlegen sind und diese dominieren können. Frauen gelten nach dieser Logik als schwach und die männliche Dominanz wird ihnen gegenüber unter anderem durch Gewalt aufrechterhalten. Diese Machtstruktur des Patriarchats ermöglicht es erst, dass Feminizide passieren. Das Patriarchat formt alle Menschen und wird gleichzeitig durch sie getragen und stabilisiert. Geschlecht ist in diesem System maßgeblich für Gewalterfahrungen und wie stark man ihnen ausgesetzt ist. Gleichzeitig ist patriarchale Unterdrückung immer mit anderen strukturierenden Machtdimensionen wie Rassismus verschränkt. Wenn wir so denken, kommen wir natürlich manchmal an den Punkt, an dem man sich die Frage stellt: Wenn das Patriarchat allem zu Grunde liegt, ist dann nicht eigentlich jeder Mord an einer Frau ein Feminizid? Deswegen ist es so wichtig, Kategorien für Feminizide zu definieren.
Darüber hinaus haben wir ganz unterschiedliche politische Hintergründe und Orientierungen. Aber wir sind eben sehr praktisch ausgerichtet und führen keine Theoriestreits. Wir fokussieren uns auf das konkrete Problem. Was nicht bedeutet, dass man nicht unterschiedlicher Meinung sein kann.
Wir sind allerdings keine Strafrechtsfeminist:innen. Das ist eine Strömung, die verschärfte, also höhere Strafen für zum Beispiel Gewaltstraftäter gegenüber Frauen fordert. Wir wissen aber aus der Kriminologie, dass Strafen nicht der Abschreckung dienen. Man muss leider sagen, dass es tatsächlich unterschiedliche Strafbedürfnisse gibt, auch bei den Frauen, die Gewalt erfahren haben. Manche möchten, dass der Täter für immer im Gefängnis sitzt, andere möchten nur ihre Ruhe und sicher sein. Die wichtige Frage ist da: Wie können wir Sicherheit schaffen? Uns steht in unserer Gesellschaft dafür zurzeit eigentlich nur das Strafrecht zur Verfügung. Gefängnisse führen allerdings nicht dazu, dass Täter Verantwortung für ihr Handeln übernehmen oder sich selbst reflektieren.
Fest steht: Feminizide müssen als solche benannt werden. Dazu, was danach passieren soll, haben wir als Netzwerk noch keinen gemeinsamen Standpunkt. Es ist aber auch nicht an uns, die perfekten Lösungen zu haben. Wenn es uns gelingt, das konkrete Problem der Feminizide zu reduzieren, zum Beispiel durch Prävention oder durch das Aufbauen von Schutzstrukturen, dann ist schonmal viel erreicht.
Untiefen: Ist es im Patriarchat schon eine Form das System zu destabilisieren, wenn auf diese Gewalt hingewiesen wird?
Viola: Das ist für uns der erste Schritt. Den brauchen wir, um dann weiterzuarbeiten. Weitere Schritte sind Präventionsarbeit und gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Aber man kann nicht alles gleichzeitig angehen. Wir können nicht sagen, wie wir das Patriarchat stürzen können. Aber ein erster Schritt ist es zu mobilisieren, alle darauf hinzuweisen und darüber aufzuklären, dass das Patriarchat der Gewalt zugrunde liegt.
Untiefen: Spielt die Selbstermächtigung gegen die Gewalt auch eine Rolle bei der Organisierung im Netzwerk?
Viola: Die Gruppe ermächtigt schon, aber wir sprechen ja für die Frauen, die nicht mehr da sind, und für die Überlebenden. Aber wenn es nichts Empowerndes hätte, dann würden es viele von uns bestimmt nicht machen. Es kostet schon viel Kraft sich so einem Scheißthema in der eigenen Freizeit zu widmen. Die ganze Zeit über den Tod zu sprechen und für Tote zu sprechen. Wir versuchen auch, so gut es geht Angehörigenarbeit zu machen. Wir richten uns aber noch relativ wenig nach ihnen, weil wir nicht immer Zugang zu den Angehörigen haben oder manche das in dem Moment nicht schaffen und nicht sagen können, was sich die Verstorbene gewünscht hätte. Das respektieren wir, gehen aber natürlich trotzdem raus. Die Kundgebungen sind deshalb noch nicht so sehr auf die jeweiligen Personen ausgerichtet. Es ist gar nicht so leicht, zum einen immer wieder die gleiche politische Forderung zu stellen und gleichzeitig auf den individuellen Fall zu gucken.
»Die Kämpfe in Lateinamerika sind viel radikaler und lauter«
Untiefen: Kannst du kurz etwas zur Rolle des feministischen Kampfs in Lateinamerika für die Anti-Feminizid-Bewegung sagen?
Viola: Die erste große Bewegung gegen Feminizide in Lateinamerika ist in den neunziger Jahren in Ciudad Juárez in Mexiko entstanden, nachdem dort Dutzende, teilweise verstümmelte Frauenleichen gefunden worden sind. Es hat damals keine Strafverfolgung gegeben und die Medien haben Victim Blaming betrieben, anstatt das Problem ernsthaft aufzugreifen. Daraufhin haben sich Frauen zusammengetan. Das waren unter anderem Mütter von Opfern von Feminiziden aber auch Politiker:innen und Feminst:innen. Diese haben dann Proteste organisiert und in diesem Rahmen entstand dann auch die Bewegung Ni Una Más (»Keine mehr«). Eine ganze Zeit später ist 2015 in Argentinien Ni Una Menos (»Keine weniger«) in Reaktion auf dortige Feminizide entstanden. Die Bewegung in Argentinien hatte von Anfang an eine Verbindung zu der in Mexiko. Ni Una Menos wurde in Argentinien zur Massenbewegung und hat sich dann transnational verbreitet. Die lateinamerikanischen Bewegungen gegen den Feminizid haben gemeinsam, dass sie auf historisch gewachsenen Strukturen von feministischen Gruppen und Frauengruppen aufbauen können. Diese Gruppen haben sich teilweise schon in der Zeit der und als Reaktion auf die Diktaturen in den achtziger Jahren in Lateinamerika gebildet.
Untiefen: Was kann man von diesen Kämpfen für die Bewegung hier lernen?
Viola: Sie sind viel radikaler und lauter. Es werden auch einfach Dinge getan, zum Beispiel Häuser besetzt, um daraus ein Schutzhaus zu machen oder Antimonumente gegen Feminizide aufgestellt. Die Öffentlichkeit wird gestaltet, ohne das mit den Behörden abzusprechen. Es ist eine Massenbewegung entstanden, die ernsthaft den Status Quo angreift und auch eine »Bedrohung« für den Staat darstellt. Das ist für den deutschsprachigen Raum nur schwer vorstellbar. Sie nehmen auch viel mehr das Leben in den Blick: »Keine weniger«, »Keine mehr«. Das ist eben eine umgekehrte Art zu denken. Es darf keine mehr fehlen, wir brauchen alle, um uns zu schützen.
Was wir als aktuelle Anti-Feminizid-Bewegung in Deutschland von den Freund:innen und Genoss:innen in Lateinamerika lernen können, ist die Form der Mobilisierung und Organisierung und wie sie es geschafft haben, Hundertausende Menschen auf die Straße zu kriegen. Wie sie patriarchale Gewalt zu einem Thema gemacht haben, das gesamtgesellschaftlich relevant geworden ist. Wir müssen schauen, wie sie das gemacht haben, und wie es sich auf unseren Kontext anwenden lässt. Dabei geht es um die Frage, wie wir es als Linke schaffen können, zu anderen zu sprechen und auch zu uns selbst.
Es wird auch immer gerne darauf verwiesen, dass die feministischen Bewegungen in Lateinamerika es in fast allen Ländern geschafft haben, den Straftatbestand »Femizid« einzuführen. Das ist auf jeden Fall auch wichtig, um das Problem auf allen Ebenen sichtbar zu machen und zu benennen, auch auf juristischer Ebene. Das ist allerdings kein Aspekt, auf den sich unsere Kämpfe als Netzwerk konzentrieren.
Untiefen: Was lässt sich nicht von Lateinamerika nach Deutschland übertragen?
Viola: In Deutschland haben wir nicht so starke, historisch gewachsene feministische Strukturen. Eine der wichtigsten Aufgaben, die wir jetzt gerade angehen, ist die Vernetzung und damit auch die Überwindung von mindestens zwei Hindernissen in der feministischen Bewegung. Zum einen ist das der historische Bruch zwischen der Frauenbewegung der siebziger und achtziger Jahre, die auch gegen patriarchale Gewalt gekämpft hat, und den heutigen feministischen Gruppierungen. Zum anderen, wie bereits angesprochen, die Vereinzelung und interne Spaltung der aktuellen feministischen Bewegung in Deutschland.
Ein weiteres Problem in Deutschland ist das Metanarrativ, dass die Gleichheit zwischen den Geschlechtern bereits erreicht sei. Das müssen wir aufbrechen. Außerdem geht die Thematisierung patriarchaler Gewalt in Medien und Politik oft mit einer sogenannten Ethnisierung der Gewalt einher. Das bedeutet, dass Deutschland sich immer als politisch und gesellschaftlich progressiv darstellt und gesellschaftliche Probleme auf spezifische migrantische Gruppen abgewälzt werden. Dies führt zu einer Verlagerung des Problems, was nicht nur falsch ist, sondern auch zu Diskriminierung führt und die Suche nach ernsthaften Lösungsansätzen verhindert.
Interview: Elena Michel
Die Autorin lebt in Hamburg und sieht in der praktischen Ausrichtung der politischen Arbeit ein großes Potential für die feministische Bewegung.
Veranstaltung: »Gegen den Geist des Sozialismus«. Buchvorstellung mit Olaf Kistenmacher
Wie geht eine linksradikale Kritik des linken Antisemitismus? Der Hamburger Historiker und Autor Olaf Kistenmacher stellt sein Buch über Kritik der Judenfeinschaft in der KPD der Weimarer Republik vor: 01.11.2023, 19 Uhr, Monetastr. 4.
Der mörderische Terror der Hamas und des Islamischen Jihad gegen Israel wurde am 07. Oktober in einer neuen Qualität entfesselt. Wer in diesen Tagen mit linken und linksradikalen Freund:innen und Bekannten spricht oder in den sozialen Medien aus dieser Ecke liest, sieht viel Mitgefühl, Wut, Verzweiflung angesichts des Terrors. Aber auch: Verharmlosung, Gleichgültigkeit bis hin zu offener Billigung oder gar Befürwortung für das Morden als vermeintlichem »Widerstand« oder »Befreiungskampf«. Leider ist der linke Antisemitismus, ohne den dieser Abgrund nicht möglich wäre, keine neue und keine vorübergehende Erscheinung. Wer wissen will, wie Anarchist:innen und Kommunist:innen schon in der Weimarer Republik gegen ihn kämpften und wie sie ihn kritisierten, kann das am kommenden Mittwoch erfahren. Der Hamburger Historiker und Autor Olaf Kistenmacher stellt sein neues Buch vor: »Gegen den Geist des Sozialismus. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik« (ça ira).
Der politische Bildungsverein Bagrut e.V. organisiert die Vorstellung in Kooperation mit Untiefen zu 19 Uhr in der Zentralen Bibliothek Frauenforschung, Gender & Queer Studies (Monetastr. 4). Die historische Perspektive wird auch Bezüge zum aktuellen linken Elend und zur Hamburger Geschichte ermöglichen.
Im Folgenden dokumentieren wir den Klappentext des Verlags.
Antisemitismus in der politischen Linken wurde nicht erst nach 1945 zum Thema. Die Kritik daran ist so alt wie die Sache selbst. In der Weimarer Republik waren es ehemalige Gründungsmitglieder der KPD wie Franz Pfemfert oder Anarchosyndikalisten wie Rudolf Rocker, die die antisemitische Agitation während des Schlageter-Kurses kritisierten. Mitte der 1920er Jahre warnte Clara Zetkin auf dem Parteitag der KPD vor judenfeindlichen Stimmungen an der Basis. 1929 erschien im Zentralorgan der um Heinrich Brandler und August Thalheimer gebildeten KPD-Opposition eine der ersten radikalen Kritiken des Antizionismus der KPD. Mit ihrer Kritik knüpften die anarchistischen und kommunistischen Linken an Interventionen von Rosa Luxemburg oder Leo Trotzki an und reflektierten zugleich die Entwicklung in Russland nach der bolschewistischen Revolution. Marx’ Anspruch, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, schloss für sie den Kampf gegen Antisemitismus auch in den eigenen Reihen mit ein. Ihre Kritik kam nicht nur Jahrzehnte vor der innerlinken Debatte über Antisemitismus von links, Luxemburg und Pfemfert nahmen auch Argumente der späteren antinationalen und antideutschen Linken vorweg.
Olaf Kistenmacher »Gegen den Geist des Sozialismus«. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik November 2023, 156 Seiten Französisch Broschur 20,00 €