Das Bibliotheksgebäude, in dem der Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929) die letzten Jahre seines Lebens forschte, steht immer noch in Hamburg. Sein Bestand – ca. 60.000 Bände und Warburgs Aufzeichnungen – konnte 1933 nach London gerettet werden. Eine Ausstellung bringt Warburgs unvollendetes Hauptwerk, den Bilderatlas Mnemosyne, nun zurück.
Wanderstrassen der Kultur. Foto: Wootton / fluid, Courtesy The Warburg Institute
In der Heilwigstraße 116 befindet sich in einem ansonsten unauffälligen Villenviertel Hamburgs an einem Zufluss zur Alster gelegen ein Backsteinbau, über dessen Eingang der Schriftzug »Mnemosyne« prangt. Darüber stehen an der backsteinernen Außenfassade die drei Buchstaben K, B und W, als Kürzel für Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg.
Ihr Bauherr Aby Warburg, der Privatgelehrte und Spross der bis heute bestehenden lokalen Bankiersdynastie, ließ das Gebäude 1926 erbauen, um in ihr seine wachsende Bibliothek unterzubringen. Mit dem Neubau schuf Warburg eine für die damalige Zeit neuartige Institution, deren Innovationsgehalt sich sowohl in der infrastrukturellen Gestaltung als auch in der wissenschaftlichen Ausrichtung niederschlug – Kunstgeschichte sollte hier als Kulturgeschichte, mithin als breit angelegte Kulturwissenschaft betrieben werden.
Betritt man das Gebäude, sieht man, dass in den Sturz der Tür zum Bibliothekssaal ein Wort in griechischen Lettern eingemeißelt ist: »ΜΝΕΜΟΣΥΝΗ«. Dieser Begriff verweist auf Warburgs viel beachtetes und zugleich unzugänglichstes Werk, das er an diesem Ort mit seinen Mitarbeiter:innen – Gertrud Bing und Fritz Saxl – schuf: den Bilderatlas Mnemosyne. Den Begriff der Mnemosyne übernahm Warburg aus der evolutionsbiologischen Forschung zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Dort bestanden bereits Ansätze, etwa durch Richard Semon, zur Übertragung auf die Kulturgeschichte: Mneme, die griechische Muse der Erinnerung, wurde zur Namensgeberin für die Annahme eines erhaltenden Prinzips erworbener Eigenschaften im Bereich der Kultur. Warburg knüpfte an diese Annahmen an, die er mitsamt dem Begriff in seine kunstgeschichtliche Arbeit übertrug. In seiner Forschungsarbeit weitete er damit das Verständnis einer hergebrachten Kunstgeschichte aus und überführte sie in eine breitangelegte Kulturwissenschaft.
Präsentation der Bilderreihe »Urworte leidenschaftlicher Gebärdensprache« im Lesesaal der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Foto: Courtesy The Warburg Institute
Mnemosyne bezeichnet nun das Erinnern als gesamten Prozess. Mit den Mitteln der Ikonographie versuchte Warburg, ein geographisches sowie thematisches Wandern von Formen, Mustern und Stilen durch die Geschichte in Abhängigkeit zu den jeweilig herrschenden gesellschaftlichen Zuständen nachzuzeichnen. Hierzu entwickelte er mit seinen Mitarbeiter:innen den Bilderatlas Mnemosyne: Auf insgesamt 63 Tafeln wurden von Warburg und seinen Mitarbeiter:innen auf schwarzem Grund fotografische Reproduktionen arrangiert. Dabei handelt es sich um Kunstwerke aus dem Nahen Osten, der europäischen Antike und der Renaissance neben zeitgenössischen Zeitungsausschnitten sowie Werbeanzeigen. Die Tafeln des Bilderatlas stellen das zentrale Hilfsmittel innerhalb des durch Warburg entwickelten experimentellen Verfahrens zur Vergegenwärtigung der kulturgeschichtlichen Entwicklung dar. Anhand der fotografischen Reproduktionen lässt sich die Überlieferung nachvollziehen – es lassen sich Prozesse des Erinnerns anhand der Wanderung durch die Kulturgeschichte sowohl visuell darstellen als auch nachvollziehen. Zeitgenössisch ausgedrückt, richteten sich Warburgs Forschungen auf die Entwicklung einer medientheoretischen Genealogie von Bildmotiven.
In den Dienst der Erkundung des Erinnerungsprozesses stellte Warburg seine in Hamburg-Eppendorf gelegene kulturwissenschaftliche Bibliothek. Nach Warburgs Tod im Herbst 1929 von seinen Mitarbeiter:innen weitergeführt, wurden die Bestände auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach London verschifft. Dabei konnte auch das Material zu Warburgs letztem großem Projekt, dem Bilderatlas, gerettet werden. Zur Erhaltung des Bibliotheksbestands entstand in London das bis heute, auch gegen kostensparende Eingliederungsversuche der University of London, weiterhin bestehende Warburg Institute.
Wiederentdeckung des Bildmaterials
Zu Lebzeiten Warburgs nicht mehr abgeschlossen und danach mit dem Bestand der KBW von seinen Mitarbeiter:innen ins Londoner Exil verschifft, hatten die Originalabbildungen vom Herbst 1929 in ihrer Mehrzahl überlebt. Für die Nachwelt kaum nachvollziehbar, lagerten die einzelnen Abbildungen im Bildarchiv des Warburg Institute. Die Wiederentdeckung des Bildmaterials und die Ergebnisse der Rekonstruktionsarbeiten sind derzeit in einer Ausstellung in der Außenstelle der Deichtorhallen in der Sammlung Falckenberg in Harburg zu besichtigen. Erstmalig kann damit in Hamburg der geneigten Öffentlichkeit der Bilderatlas vollständig rekonstruiert präsentiert werden, was nicht allein sensationell ist, sondern den mehrfachen Besuch lohnt. Besucher:innen können anhand der einzelnen Tafeln des Atlas das Wandern der Bilder eigenständig nachverfolgen.
Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 39, rekonstruiert von Roberto Ohrt und Axel Heil 2020. Foto: Wootton / fluid; Courtesy The Warburg Institute
Kuratiert wurde die Ausstellung von Axel Heil und Roberto Ohrt sowie dem Warburg Institute in Zusammenarbeit mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt. Die Ausstellung ist noch bis zum 31. Oktober 2021 in der Sammlung Falckenberg in Harburg zu besichtigen. Weitere Informationen unter gibt es hier.
Wer es bis dahin nicht schafft, dennoch aber einmal mehr von dem Hamburger Kulturwissenschaftler und seinem Schaffen erfahren möchte, dem sei die nachfolgende Ausgabe der Deutschlandfunk Sendung Lange Nacht über den Kulturwissenschaftler Aby Warburg anempfohlen.
Fred Stiller
Der Autor lebt und lohnarbeitet in Hamburg. Er hält die Stadt und ihre Bewohner:innen im Gegensatz zu ihrer Größe für intellektuell und (sub-)kulturell mit anderen Provinzstädten vergleichbar. Dennoch schätzt er die nährenden Brotkrumen, durch welche sich die Stadt vor anderen ihrer Größe und Konstitution auszeichnet.
Hamburger Handelsfirmen beteiligten sich während des Zweiten Weltkriegs intensiv an der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft im östlichen Europa. Die Geschichte dieser Zusammenarbeit spielt in der lokalen Erinnerungskultur praktisch keine Rolle. Unser Autor leuchtet die Hintergründe des sogenannten »Osteinsatzes« der Hamburger Wirtschaft aus.
Der »Ehrenhof« zwischen Handelskammer und Rathaus. Foto: Klaus Bärwinkel / Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY 4.0
In Hamburg hat der Gemeinplatz, demnach Geld die Welt regiere, eine städtebauliche Entsprechung: An das imposante Hamburger Rathaus schließt ein weiteres repräsentatives Bauwerk unmittelbar an: Die Börse, Sitz der Hamburger Handelskammer, ist durch einen gemeinsamen »Ehrenhof« mit den Räumen der Hamburgischen Bürgerschaft verbunden. Dass Architektur den Zusammenhang von politischer Herrschaft und wirtschaftlicher Macht derart versinnbildlicht, scheint indes eine hanseatische Besonderheit zu sein: In Bremen residiert die Handelskammer im »Haus Schütting« – mit Blick auf das Rathausgebäude.
Wie diese Baulichkeiten erahnen lassen, bildeten die hansestädtischen Kaufmannschaften bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die unangefochtenen gesellschaftlichen Eliten ihre Städte. Dass insbesondere Hamburg dabei ein koloniales Erbe mit sich schleppt, gewinnt langsam an erinnerungskultureller Bedeutung. So beteiligte sich eine ganze Reihe von Hamburger Kaufleuten maßgeblich am Erwerb deutscher Kolonien in Afrika. Weniger bekannt ist, dass die hiesige Kaufmannschaft – selbsterklärte »ehrbare Kaufleute« – tief in nationalsozialistische Verbrechenskomplexe involviert waren. Dabei geht es nicht nur um die Teilhabe Hamburger Unternehmer an der Verdrängung und Enteignung jüdischer Gewerbetreibender, der sogenannten »Arisierung« . Zahlreiche historische Quellen (und nach wie vor nur wenige Forschungsarbeiten1Götz Aly, Susanne Heim, Vordenker der »Vernichtung«. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, überarbeitete Neuauflage, Frankfurt am Main 2013 (zuerst Hamburg 1991), 216−221; Frank Bajohr, »Arisierung« in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945, Hamburg 1997, 325−331; Karl Heinz Roth, Ökonomie und politische Macht. Die »Firma Hamburg« 1930–1945, in: Ebbinghaus, Angelika/Linne, Karsten (Hg.), Kein abgeschlossenes Kapitel. Hamburg im »Dritten Reich«, Hamburg 1997, 15−176; Karsten Linne, Deutsche Afrikafirmen im »Osteinsatz«, in: 1999 16 (2001), H. 1, 49–90.) zeigen zudem, dass hansestädtische Firmen während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Polen und den besetzten Teilen der Sowjetunion aktiv waren.
Wieso betätigten sich hansestädtische Unternehmen im besetzten Polen?
Als die Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfiel, erklärten Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg. Die Briten errichteten sofort eine Seeblockade gegen das Deutsche Reich, die die Wirtschaft Hamburgs und Bremens von ihren überseeischen Betätigungsfeldern abschnitt. Die Handelskammern und ihre Mitgliedsfirmen suchten nun händeringend nach alternativen Geschäftsmöglichkeiten innerhalb Europas. Die Hamburger Kaufmannschaft hatte bereits in den Vorjahren ein dichtes Lobbynetzwerk in die Institutionen des NS-Staats eingeflochten und kooperierte eng mit dem hamburgischen NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann und dessen Apparat. Die Hamburger Außenhandelskaufleute litten nämlich seit 1933 unter der NS-Rüstungspolitik, die der Industrie zwar nutzte, den Außenhandel aber massiv einschränkte. Auf der Suche nach Kompensation banden sich die Kaufmannseliten an den nationalsozialistischen Herrschaftsapparat. Dieser eröffnete den Kaufleuten wiederum die Perspektive, an der »Arisierung« sowie der territorialen Expansionspolitik NS-Deutschlands auf profitable Weise teilzuhaben. So hatten die Hamburger NSDAP-Führung und die Handelskammer nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 darauf hingearbeitet, dass hamburgische Handelsfirmen und Speditionen von der »Arisierung« in der Handelsmetropole Wien profitierten.
Die Eroberung Polens nahm hanseatischen Unternehmern also ihr traditionelles Arbeitsfeld, eröffnete jedoch gleichzeitig neue Felder, die Ausgleich zu versprechen schienen. In den zentralpolnischen Gebieten, die die Deutschen als »Generalgouvernement« (GG) unterwarfen, ergab sich im Frühjahr 1940 eine wirtschaftliche Kooperation mit dem NS-Besatzungsapparat. Und zwar beschloss die Regierung des GG in Krakau, hansestädtische Handelsfirmen für eine Tätigkeit im besetzten Gebiet heranzuziehen. Um die polnische Wirtschaft für deutsche Zwecke zu mobilisieren, sollten die Kaufleute ein neues Handelssystem aufbauen. Der bisherige polnische Handel galt den Nationalsozialisten nämlich als »verjudet«, denn er wurde bislang weitgehend von jüdischen Kaufleuten getragen. Diese wollten die Besatzer nun verdrängen.
Die Regierung des Generalgouvernements – gute Verbindungen nach Hamburg. Foto: Narodowe Archiwum Cyfrowe Nr. 2–2817
Forciert durch das hanseatische Lobbynetzwerk und die Handelskammern eröffnete 1940 einige deutsche Handelsfirmen Filialen im GG, die meisten stammten aus Hamburg und Bremen. Als das Gebiet nach dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 vergrößert wurde, sollten weitere folgen. Anhand von Archivquellen lassen sich insgesamt 51 hamburgische Unternehmen benennen, die in diesem Teil Polens tätig wurden. Elf weitere Firmen stammten aus Bremen. Die Mehrheit von ihnen arbeitete unter strengen behördlichen Vorgaben als sogenannte Kreisgroßhandelsfirmen, die in den einzelnen Landkreisen des GG Niederlassungen eröffneten, die die NS-Behörden mit Monopolen ausstatteten. Viele der Firmen war bis 1939 in Kolonien tätig gewesen. Es befanden sich darunter renommierte Überseehäuser mit langer Tradition, zum Beispiel C. Woermann, G. L. Gaiser oder Arnold Otto Meyer.
Judenverfolgung und Ausbeutung: Der »Osteinsatz« hanseatischer Kaufleute
Die Kreisgroßhandelsfirmen hatten dabei eine Doppelaufgabe. Die erste Aufgabe bestand darin, mit ihrem so bezeichneten »Osteinsatz« die wirtschaftliche Existenzvernichtung der jüdischen Bevölkerung zu unterstützen, die die NS-Besatzer schnellstmöglich durchführen wollten. Die Expropriation der Jüd:innen hatte anfangs zu schweren Störungen der Wirtschaft geführt, da mit ihr der Handel zusammengebrochen war. Indem die Hamburger und Bremer die ökonomische Rolle der jüdischen Gewerbetreibenden übernahmen, konnten unerwünschte Begleiterscheinungen der »Arisierung« gemindert werden. Die Hansestädter profitierten somit von der Judenverfolgung, indem sie an deren wirtschaftliche Stelle traten und deren Warenbestände teilweise übereignet bekamen.
Führender Kopf dieser Maßnahmen war der Hamburger Ökonom und Wirtschaftsfunktionär Walter Emmerich, der eng mit der Handelskammer sowie der Hamburger NSDAP verbunden war und seit Juni 1940 die Wirtschaftsabteilung der Krakauer Besatzungsregierung leitete. Er konzipierte die Enteignung der jüdischen Gewerbetreibenden als »rassische Neuordnung« der polnischen Wirtschaft. In dieser sollten die hanseatischen Großhändler eine Oberschicht bilden, die über eine nicht-jüdische polnische Mittelschicht herrschte. Als Unterschicht blieben christliche polnische Arbeiter und Bauern, denn die jüdische Bevölkerung sollte vollständig verschwinden. In der Tat übergab die NS-Administration die Positionen im Einzelhandel, die durch die Enteignung der Juden frei wurden, an nicht-jüdische Polen, die damit ebenfalls von der antisemitischen Politik profitierten. Die einheimischen Kleinkaufleute waren dabei den hanseatischen Großhandelsfirmen untergeordnet. Emmerich und insbesondere die Kaufleute mit Erfahrungen in Afrika betrachteten das besetzte Polen und seine Bevölkerung dabei durch eine koloniale Brille. So schrieb etwa der Inhaber einer Firma, die bis 1939 in afrikanischen Territorien tätig gewesen war, in einem Tätigkeitsbericht von 1944, den das Bremer Staatsarchiv verwahrt: »Einen Begriff vom Wert der Zeit hat der polnische Bauer und Kleinhändler – auch der Arbeiter – nicht, und die ganze Primitivität des Handels, der Umgebung und der Menschen erinnerte uns manchmal stark an Afrika.«
Der zweite Teil jener Doppelaufgabe der Firmen, die ihre Betriebe teilweise mit kolonialwirtschaftlichen »Faktoreien« verglichen, bestand darin, die NS-Besatzer bei der Ausbeutung der polnischen Landwirtschaft zu unterstützen. Die Krakauer Administration zwang die polnische Landbevölkerung mit brutaler Gewalt, ihre Feldfrüchte und ihr Vieh an den deutschen Wirtschaftsapparat zu verkaufen – zu niedrigen, behördlich festgelegten Preisen. Die Landwirte schlugen ihre Produkte jedoch lieber auf dem für sie viel rentableren Schwarzmarkt los, der für die hungernde Bevölkerung überlebenswichtig war. Um diesen illegalen Handel zu unterbinden, schufen die Besatzer zusätzliche positive Ablieferungsanreize in Form sogenannter »Prämienwaren«. Bäuer:innen, die ihre Produkte ablieferten, erhielten Bezugsscheine mit denen sie die »Prämien« erwerben konnten, die die hansestädtischen Kreisgroßhandelsfirmen in den Handel einspeisten. Das waren hauptsächlich Textilien und andere industriell hergestellte Konsumprodukte. Mit dem Vertrieb der »Prämien« übernahmen diese Firmen eine tragende Rolle im NS-Ausbeutungsapparat. Das Prämiensystem entwickelte für die Besatzungswirtschaft zentrale Bedeutung. Um die Deutschen zu sättigen, hungerte die NS-Führung skrupellos die Menschen in den besetzten Gebieten aus. Der Landwirtschaft im GG pressten die Besatzer Jahr für Jahr immer größere Getreidemengen ab, allein 1943/44 waren es 1,5 Millionen Tonnen. Die Hamburger und Bremer Kaufleute, die die für dieses System von Peitsche und Zuckerbrot benötigten »Prämien« verkauften, steigerten zugleich ihre Umsätze und Profite.
»Hamburger Kaufleute vom Generalgouvernement bis zum Kaukasus«
Das hansestädtische Engagement in Zentralpolen erwies sich für die beteiligten Deutschen als Erfolg und das GG somit als Versuchslabor für viel weitergehende Aktivitäten im besetzten »Osten«. Nach dem Überfall auf die UdSSR preschten die Hamburger los, um sich an der Ausbeutung dieser Territorien ebenfalls zu beteiligen. Internen Unterlagen der Handelskammer Hamburg zufolge wurden 179 hamburgische Firmen in den besetzen Teilen der Sowjetunion aktiv beziehungsweise waren dafür »vorgemerkt»«. Außerdem arbeiteten demnach 700 Hamburger Kaufleute für die Zentralhandelsgesellschaft Ost, die die sowjetische Landwirtschaft ausbeutete. Der Präses der Handelskammer Joachim de la Camp frohlockte in seiner Silvesteransprache von 1942: »Unternehmerinitiative hat ferner gerade in Hamburg einen Weg gefunden, an den wir vor dem Krieg noch nicht denken konnten. […] Beginnend mit der Westgrenze des Generalgouvernements bis zu den Bergen des Kaukasus, finden Sie zur Erschließung der wirtschaftlichen Möglichkeiten Hamburger Menschen und Hamburger Firmen in großer Zahl.« Zuvor hatte Hans E. B. Kruse, Vizepräses der Kammer, bereits intern festgestellt, es stehe »Hamburg im Osten an führender Stelle«. An zweiter Stelle kamen die zahlreichen Bremer Unternehmen, die in der besetzten UdSSR tätig wurden. Zwar stehen vergleichende Forschungen noch aus, doch allem Anschein nach war das hansestädtische Engagement im besetzten Osteuropa besonders groß.
Die Hamburger Kaufleute begannen, den »Osten« als ihr neues Kolonialgebiet zu betrachten. In den Vorjahren hatten sie noch gehofft, dass Deutschland Kolonien in Afrika zurückerhalte. Doch 1941 hieß es etwa bei der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft, einer hamburgischen Handelsfirma, die nun im GG tätig war: »Momentan gilt die Parole: Die Kolonien liegen im Osten!« Die hanseatischen mental maps, die bislang auf Länder und Territorien jenseits der Ozeane konzentriert gewesen waren, hatten sich gewandelt. In Übersee wollten die Kaufmannschaften nach dem erwarteten Kriegsende erneut tätig werden, doch Osteuropa sollte diese Betätigungsfelder nun wesentlich ergänzen. Der Kolonialstandort Hamburg passte seine Ausrichtung somit an die wirtschaftliche Großwetterlage an, die Hitlers Herrschaft brachte, der nicht von Kolonien in Afrika träumte, sondern von »Lebensraum im Osten«.
An die breite Teilhabe hamburgischer Wirtschaftskreise an der NS-Besatzungsherrschaft erinnert in der Stadt fast nichts. Die meisten der beteiligten Unternehmen, die heute noch existieren, wollen von ihrer problematischen Geschichte nichts wissen. Eine Auftragsstudie der Handelskammer von 2015, die beanspruchte die NS-Geschichte der Institution aufzuarbeiten, stieß wegen ihrer beschönigenden Stoßrichtung auf scharfe öffentliche Kritik. Zwar bemühte sich die Kammer in letzter Zeit stärker um die »Aufarbeitung« ihrer NS-Vergangenheit, etwa indem sie ihrer jüdischen Mitglieder gedachte, die während der NS-Zeit verfolgt wurden. Die Diskussion um die historische Schuld der hansestädtischen Wirtschaftseliten ist jedoch längst nicht abgeschlossen.
Felix Matheis, Oktober 2021.
Der Autor ist Historiker in Hamburg und hat im Rahmen seiner Doktorarbeit intensiv zur Beteiligung Hamburger und Bremer Kaufleute an der Besatzungsherrschaft im Generalgouvernement geforscht.
1
Götz Aly, Susanne Heim, Vordenker der »Vernichtung«. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, überarbeitete Neuauflage, Frankfurt am Main 2013 (zuerst Hamburg 1991), 216−221; Frank Bajohr, »Arisierung« in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945, Hamburg 1997, 325−331; Karl Heinz Roth, Ökonomie und politische Macht. Die »Firma Hamburg« 1930–1945, in: Ebbinghaus, Angelika/Linne, Karsten (Hg.), Kein abgeschlossenes Kapitel. Hamburg im »Dritten Reich«, Hamburg 1997, 15−176; Karsten Linne, Deutsche Afrikafirmen im »Osteinsatz«, in: 1999 16 (2001), H. 1, 49–90.
Der Übergriff auf einen Juden bei einer proisraelischen Mahnwache am 18. September in der Mönckebergstraße bewegte bei der Wiederaufnahme der Mahnwache am vergangenen Samstag nur wenige Hamburger:innen. Warum solidarisieren sich nicht mehr mit dem Opfer? Unser Autor hat sich die Veranstaltung angesehen.
Die Mahnwache in der Mönckebergstraße am 2. Oktober. Foto: privat
Vor knapp drei Wochen wurde ein 60-jähriger Jude auf einer proisraelischen Mahnwache in der Hamburger Mönckebergstraße von einem Jugendlichen antisemitisch beleidigt und krankenhausreif geschlagen. Am vergangenen Samstag fand die Mahnwache zum ersten Mal seit dem Übergriff wieder statt. Die Veranstalter:innen der christlichen Gruppe Fokus Israel hatten unter dem Motto »Jetzt erst recht« zu einer »Gedenkveranstaltung für alle Opfer antisemitischer Gewalt« aufgerufen.
Statt der sonst wohl 15 bis 20 fanden sich diesmal etwa 60 Teilnehmer:innen ein, um ihre Solidarität mit dem Betroffenen zu zeigen. Der Angegriffene konnte das Krankenhaus zwar unterdessen verlassen, bangt aber laut den Veranstalter:innen nach wie vor um sein Augenlicht und ließ daher sein Grußwort nur verlesen. Darin rief er zur »Verteidigung der liberalen Gesellschaft« auf und beklagte, dass er bis heute mit seiner (!) Kontaktaufnahme weder Bürgermeister Peter Tschentscher noch die zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank zu einer Antwort, geschweige denn einer öffentlichen Stellungnahme bewegen konnte.
Öffentlich eingeladen hatte zur Mahnwache am Samstag neben Fokus Israel einzig die Hamburger Junge Union. Deren Landesvorsitzender Philipp Heißner sprach von »unseren Werten« bzw. »unserer Kultur«, die es zu verteidigen gelte, und betonte, dass darin auch »provokante Meinungen« einbegriffen seien. Damit spielte er offenbar auf den ihm vorangehenden Redner an, Ralf-Andreas Müller, laut eigener Angabe Theologe und tagesschau-Redakteur, Initiator und Kopf der Gruppe Fokus Israel. In seinem Redebeitrag hatte er, motiviert durch eine Art politisches Ur-Christentum, in aggressivem Tonfall einem jüdisch-israelischen Nationalismus das Wort geredet. Er griff weit in die Vergangenheit aus, um zu postulieren, dass es keine authentische Verbindung des Islam zum Gebiet des heutigen Israel gebe und ausschließlich die Juden das Land als »nationales Königreich für sich beansprucht« hätten. Nach dem Sieg der Römer über die Juden 70 n. Chr. sei die Provinz Palästina annähernd 2000 Jahre verelendet und verfallen, ein leeres und »wüstes Land« geworden; erst wieder einwandernde Juden hätten es bewohnbar gemacht. Die Pointe, auch auf Müllers Website zu finden, ist: Die Juden verfügten über eine »entscheidende Verbindung zwischen Gott, Volk und Land« – die Muslime nicht. Palästina, Palästinenser, besetzte Gebiete gebe es alles nicht und sie stellten deshalb auch kein Problem dar. Christen hingegen müssten Israel als »Herzensthema Gottes […] im Fokus haben, lieben und unterstützen«, um Gott zu ehren, heißt es in einem anderen Text auf der Website.
Ralf-Andreas Müller (mit Mikro) bei der Kundgebung am Samstag. Foto: privat.
Keine Solidarität für proisraelische Juden?
Diese Geschichtsklitterung ist natürlich unhaltbar. Den modernen israelischen Staat nationalreligiös auf eine Mischung aus christlicher Bibelexegese und völkischem Verwurzelungsmythos begründen zu wollen, geht völlig fehl. Sollte diese Ideologie aber der Grund für die geringe Solidarisierung mit dem Opfer des Übergriffs sein, wäre das dennoch falsch. Wer dem Angegriffenen wegen einer bestimmten Vorstellung von Israel die Solidarität verweigert, verkennt den Charakter des antisemitischen Angriffs: Offensichtlich schlug der Täter einen Juden als Juden, weil dieser selbstbewusst mit der israelischen Fahne Stellung bezog.
Der Angegriffene fragte in seinem verlesenen Grußwort, ob die verhaltene Reaktion der Hamburger Politik und Öffentlichkeit wohl anders ausgefallen wäre, hätte er als weißer Mann den mutmaßlichen Täter, einen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, angegriffen. Dieses Umkehrszenario braucht es aber gar nicht, um das geringe Interesse jenseits der Springer-Medien einzuordnen. Der Vergleich mit dem rechten antisemitischen Angriff am 4. Oktober 2020 auf einen jüdischen Studenten vor der Synagoge in der Hohen Weide ist deutlich aufschlussreicher. Vor einem Jahr gab es neben sofortigen Stellungnahmen von Tschentscher, Fegebank, Bundesjustizministerin Christine Lambrecht etc. auch eine Mahnwache des linken Hamburger Bündnisses gegen Rechts, der sich trotz strenger Corona-Maßnahmen damals immerhin etwa 200 Personen anschlossen.
Die Vermutung liegt nahe und wurde von mehreren am Samstag Anwesenden geteilt, dass die Bezugnahme auf Israel hier einen Unterschied macht. Dort ein Jude bei der Religionsausübung, hier ein Jude, der offensiv mit der blau-weißen Fahne für Israel eintritt. Diese explizit proisraelische Positionierung des Angegriffenen ist sicher für viele, zumal viele Linke, ein Ärgernis.
Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus
Dazu kommen die unterschiedlichen Täterprofile: Letztes Jahr war es ein offenbar rechter, deutsch-kasachischer Ex-Bundeswehrangehöriger in Uniform und mit Hakenkreuz-Zettel in der Tasche, der für viele Beobachter:innen Parallelen zum rechtsterroristischen Attentat vom Oktober 2019 in Halle plausibel erscheinen ließ. Dieses Jahr ist der mutmaßliche Täter ein Jugendlicher mit möglicherweise arabisch-muslimischem Hintergrund. (Laut der Schauspielagentur Kokon, die ihn bis zum Übergriff vertreten hat, spricht Aram A. Arabisch. BILD will herausgefunden haben, dass seine Mutter Hisbollah- und Assad-Unterstützerin ist.) Das stellt die deutliche Verurteilung des Übergriffs in der Wahrnehmung wohl auch vieler Linker in ein Spannungsverhältnis zum eigenen antirassistischen Anspruch. Die Sorge, möglicherweise antimuslimischen Rassismus zu bedienen, könnte einer Positionierung im Wege stehen.
Zwar ist erst wenig über den mutmaßlichen Täter bekannt. Warum der mögliche arabisch-muslimische Hintergrund für Hamburger Jüdinnen und Juden aber relevant ist, verdeutlicht Philipp Stricharz, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Hamburg, in einer Stellungnahme zu dem Angriff: »Es gibt eine politisch aufgehetzte, gewalttätige Minderheit unter den Muslimen, häufig junge Leute, die meinen, sie müssten Rache üben für vermeintliches Unrecht im Nahen Osten. […] Natürlich gibt es auch die Gefahr von rechts, aber die größten Sorgen bereitet den Juden in Hamburg die Gefahr, die von dieser Gruppe ausgeht.«
Die Kundgebung am Samstag ließ diesen Eindruck insofern als plausibel erscheinen, als gegenüber klassisch antisemitischen Kommentaren von Passant:innen (»Alles Lüge!« oder »Na, wer steckt denn hier wohl dahinter?«) die antizionistischen Rufe (post-)migrantischer Jugendlicher und Kinder à la »Fuck Israel!« und »Free Palestine!« deutlich dominierten.
Gegen solche Herrschaftsgesten ist es sicher richtig, die projüdische, proisraelische öffentliche Präsenz aufrecht zu erhalten, gegen die die antisemitische Wut sich richtet. In Abwesenheit linker Solidarität übernehmen allerdings vorerst andere diese Rolle: Für den 16. Oktober ruft die Kölner jüdische Aktivistin Malca Goldstein-Wolf auf Facebook zu einem »Solidaritätsschweigemarsch« unter dem Titel »Keinen Fußbreit auch dem islamistischen Antisemitismus« in der Mönckebergstraße auf. Zu den im Aufruf genannten, meist liberal-konservativen Unterstützern zählt auch der Hamburger Anwalt Joachim Steinhöfel, der in den vergangenen Jahren häufiger als Redner und Kommentator für die neurechte Zeitschrift Junge Freiheit in Erscheinung getreten ist.
Felix Jacob
Der Autor war zum ersten Mal auf einer politisch-christlichen Kundgebung und kann auf Wiederholungen gern verzichten.
In der HafenCity entsteht momentan das dritthöchste Gebäude Deutschlands. An dem Prestigeprojekt »Elbtower« offenbart sich die enge Verflechtung von Wirtschaft und Politik in Hamburg – und die besondere Rolle, die der ehemalige Bürgermeister Olaf Scholz dabei spielt.
Auf der Baustelle direkt neben der S‑Bahn-Haltestelle Elbbrücken ist schon Betrieb. (Foto: privat).
Hamburg wäre nicht Hamburg, wenn nicht alle paar Jahre irgendein neues, großartiges Bauprojekt um die Ecke gebogen käme. Aber wo so viel Licht ist, wie bei den Lobpreisungen des Elbtowers, gibt es auch Schatten. Die stadtpolitische Durchsetzung solcher Projekte erweckt den Eindruck, als wäre der alte Hamburger Filznoch immer in bester Verfassung.
Der Elbtower sieht, den Stararchitekt:innen von David Chipperfield zum Dank, so aus, als hätte ein Märchenriese seinen zu großen Stiefel in Hamburg stehen gelassen. Im Schatten dieser »Ouvertüre« derHafenCity stehen Aktiengesellschaften, ihre Stiftungen, der heutige Finanzminister Olaf Scholz und – nicht zu vergessen – die Bewohner:innen von Rothenburgsort.
Prestigeprojekt durchgewunken
Diesmal scheint alles perfekt zu sein. Hamburg hat Europas größtes Bauprojekt angeleiert. Top Lage in der Hafencity, direkt an der neuen S‑Bahn-Station Elbbrücken, und das Megaprojekt soll sogar nachhaltig sein – was auch immer das bei einem Projekt dieser Größenordnung heißen mag: Platinstandard des HafenCity-Umweltzeichens.1Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Jörg Hamann (CDU) vom 07.09.18 und Antwort des Senats. Drucksache 21/14277, 14.09.2018. [online]. Das dritthöchste Gebäude Deutschlands kann »endlich« gebaut werden.
Die Auslobung des Elbtowers fand Mitte 2017 statt. Anfang 2021 ist der Bebauungsplan schließlich durchgewunken worden. Der Tower wird 245 Meter hoch und damit noch zwölf Meter höher als ursprünglich geplant. Oder wie die geneigten User:innen von ScyscraperCity-Foren es sagen: »[D]a kann man Hamburg nur neidvoll gratulieren! 😊«.
Im Gegensatz zur Fangemeinde phallusartiger Denkmäler und Weltwunder des Kapitalismus werden die Rothenburgsorter:innen im wortwörtlichen Schatten des Elbtowersleben. Die Anzahl der Einwände und Beschwerden, die bei der Kommission für Stadtentwicklung vorgebracht wurden, fiel mit überschaubaren 26 dabei ziemlich niedrig aus. Rothenburgsort weist einen hohen Anteil von Migrant:innen, Sozialhilfeempfänger:innen und Alleinerziehenden auf. Dass die Kritik am Elbtower so schmal ausfällt, könnte damit zusammenhängen, dass die subalternen Klassen in Hamburg nicht gehört werden.
Wackelige Finanzierung
Den Zuschlag für den Bau des Gebäudes bekam die Signa Prime Selection AG. So wurden weder die Bestbietenden ausgewählt, noch bekam ein Gebäudeentwurf den Zuschlag, der voll auf Klimaneutralität setzte. Die Aktiengesellschafterhielt vielmehr den Zuschlag, weil sie der verlässlichste Geschäftspartner sei. Das sagt zumindest René Benko, der österreichische Gründer von Signa Prime. Und auch Olaf Scholz begründete die Vergabe seinerzeit damit, dass die Signa sehr finanzstark sei und ein A+ Rating innehat.
Es geht schließlich um (nach aktueller Planung) 700 Millionen Euro für den Bau. Die Signa möchte den Turm komplett aus eigener Tasche finanzieren – mit Büromieten um die 28 Euro pro Quadratmeter. Mindestens fünf Jahre soll das Unternehmen für die Instandhaltung des Gebäudes aufkommen. Für die Stadt Hamburg gebe es »kein Risiko«, behauptet Jürgen Bruns-Berentelg, Vorsitzender der Geschäftsführung der stadteigenen HafenCity Hamburg GmbH.2Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Protokoll/Wortprotokoll der öffentlichen/nichtöffentlichen Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses, 22. Oktober 2018, S. 15 [online]. Das ist allerdings gar nicht so einfach nachzuvollziehen. Denn große Teile des Kaufvertrags sind, wie Heike Sudman von der Linksfraktion festgestellt hat, geschwärzt und somit für die Bürger:Innen Hamburgs nicht einsehbar. Was passiert, wenn dem Unternehmen das Geld ausgeht, wird noch diskutiert. Allerdings wäre es aus Sicht der Stadt wohl unsinnig, das Projekt nicht fortzuführen, wenn etwa ein 120 Meter hoher, nicht fertiggestellter Turm dasteht. Ganz abwegig ist es nicht, dass es zu finanziellen Problemen kommen wird. Das Mutterunternehmen Signa Holding ist auch Eigentümerin von Karstadt – und die gehen bekanntlich gerade insolvent. Des Weiteren macht das Unternehmen es fast unmöglich, einzusehen, woher es welche Gelder für welche Projekte bezieht.
Noch der Anblick dieser Baustellen-Ödnis ist erfreulicher als der vom Investor angepriesene bzw. angedrohte »neue Blick […] auf die Belange der Welt«, den der Elbtower eröffnen werde. (Foto: privat)
Hamburger Filz
Bei der Vergabe des Bauprojekts hatten alle Bürgermeister der letzten Jahre einen Auftritt. Christoph Ahlhaus, der in seiner kurzen Amtszeit kein Großprojekt durchsetzen konnte, hatte sich mit seinem eigenen Immobilienunternehmen beworben. Zu mehr hat es dann aber auch nicht gereicht. Ole von Beust – hauptverantwortlich für den Bau der Elbphilharmonie – hat inzwischen ein Beratungsunternehmen, welches einen Beraterauftrag von der Signa innehat. Von Beust trat, selbstbekennend, als Lobbyist für die Signa im Zuge des Elbtower-Projekts auf.
Unter den Beratern der Signa finden sich neben Ole von Beust dann auch (alte) Genossen von Olaf Scholz: Alfred Gusenbauer (SPÖ) war von 2008 bis 2009 österreichischer Bundeskanzler und tut sich seit seinem Rücktritt als umtriebiger Lobbyist hervor, etwa für den kasachischen Diktator Nursultan Nasarbajew. Zu Scholz steht er in guten Beziehungen. Das schreibt Olaf Scholz zumindest in seinem Buch Hoffnungsland.
Gusenbauer (Team Benko) und Scholz (Team Hamburg) waren im gleichen Zeitraum in der International Union of Socialist Youth (IUSY) aktiv, einem internationalen Zusammenschluss verschiedener sozialdemokratischer und sozialistischer Jugendorganisationen, dem auch die Jusos und die Falken angehören. Gusenbauer war bis 1989 einige Jahre Vizepräsident der IUSY, genau wie Scholz. Von seinem Netzwerk aus dieser Zeit profitiert Scholz heute noch, worüber er jedoch ungern redet.
Wirtschaft und Politik
Die Verflechtungen von Politik und Unternehmen werden besonders an politischen Stiftungen deutlich. Sie dienen der Machtakkumulation auf beiden Seiten: Die Stiftungsunternehmen erhalten eine starke Interessensvertretung. Den Mitgliedern der Stiftungen, die in der Politik aktiv sein können, winken dagegen gut bezahlte Aufsichtsratsposten und Rückendeckung bei Entscheidungen von den Stiftungsunternehmen.3vgl. Marc Eulerich/Martin K. Welge, Die Einflussnahme von Stiftungen auf die unternehmerische Tätigkeit deutscher Großunternehmen, Düsseldorf 2011, S.73ff. [online].
So ist auch Olaf Scholz seit 2018 geborenes Mitglied des Kuratoriums der RAG-Stiftung. Sie ist Teilhaberin am KaDeWe, einem Tochterunternehmen der Signa Holding. Weitere fünf Prozent hält die Stiftung seit 2017 an der weiteren Tochter Signa Prime, die den Elbtower baut. Die Anteile an den Unternehmen, haben der RAG-Stiftung dieses Jahr bereits einen kleinen »Geldregen« beschert, was noch einmal aufzeigt, dass die RAGdavon profitiert, wenn es der Signa gut geht. Und Prestigeobjekte wie der Elbtower sind meistens gut für das Geschäft.
Wenn die RAG-Stiftung durch ihre Beteiligungen an Unternehmen wie der Signa Prime also Dividenden einkassiert, im Fall der Signa in Höhe von vier Prozent, ist das nicht nur für die Stiftung und die Stiftungsunternehmen gut. Vielmehr kann die RAG mithilfe dieses Geldes ihre Marktmacht steigern, sich an mehr Unternehmen beteiligen und mehr Unternehmen als Stiftungsunternehmen aufnehmen. By the way: Armin Laschet, Peter Altmaier, Norbert Lammert und Heiko Maas sind ebenso Mitglieder des RAG-Kuratoriums.
Das bedeutet für die Stiftungsmitglieder im Kuratorium ein wachsendes Netzwerk von Unternehmen, mit denen sie zusammenarbeiten können. Die RAG und die in ihr organisierten Unternehmenerhöhen so ihre Einflussmöglichkeiten auf die Politik. Die Stiftung sieht ihren Aufgabenbereich hauptsächlich im Bereich des Steinkohlebergbaus in NRW – dahin fließt also ein Teil des Gewinns aus den Dividenden der fünf Prozent Anteile an der Signa, die einen klimafreundlichen Turm in Hamburg bauen möchte: in den Kohlebergbau.
Chefsache
Der Tower wird nicht nur Höhepunkt der Hafencity, sondern gleich das mit Abstand höchste Gebäude der Stadt. Dementsprechend motiviert und emotional soll Scholz schon bei der Präsentation des Gebäudes gewesen sein. »Hervorragend«, »elegant«, »raffiniert«, waren die Begriffe, die Scholz zur Beschreibung des Projekts wählte. Als Scholz noch in Hamburg weilte, nahm er sich des Projekts daher auch persönlich an; machte es zur »Chefsache«, wie die lokale Presse schrieb, und verdonnerte den Oberbaudirektor und die Stadtentwicklungssenatorin auf die billigen Plätze.
Parteigenossen von Scholz haben der MoPo zufolge gefrotzelt: »Kleiner Mann, großer Turm.« Aber lassen wir uns vom Napoleon-Komplex nicht beirren. Es war nicht Olaf Scholz’ Körpergröße, die zu der zwielichtigen Vergabe des Bauauftrags führte. Aber mit dem Baubeginn 2021 wird Scholz ein Denkmal gesetzt. Das offenbart eher einen »Cheops-Komplex«, der sich an die ägyptischen Pyramiden zum Zweck der Machtdemonstration anlehnt. Immerhin wird die Elbphilharmonie dann nicht mehr der unangefochtene Höhepunkt der Stadt sein.
Scholz setzte das Projekt mit viel Krafteinsatz durch und tat dies »mit einem guten Gewissen«, denn, so seine bestechende Argumentation, das Ergebnis werde sehr gut sein. Falls das Ergebnis nicht »sehr gut« wird, sollten wir ihn besser an sein Engagement erinnern. Immerhin ist seit seinem Einsatz für die Warburg Bank in Hamburg hinlänglich bekannt, dass der Herr Finanzminister Probleme mit der Erinnerung hat, wenn es um größere Geldsummen geht.
Joe Chip
Der Autor hat zwölf Jahre im Hafen gearbeitet, der Arbeit den Rücken gekehrt und Soziologie studiert. Als Gewerkschafter bleibt er mit den besitzenden Klassen in Verbindung. Seine Erfahrungen verarbeitet er in Kurzgeschichten und Polemik.
1
Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Jörg Hamann (CDU) vom 07.09.18 und Antwort des Senats. Drucksache 21/14277, 14.09.2018. [online].
2
Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Protokoll/Wortprotokoll der öffentlichen/nichtöffentlichen Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses, 22. Oktober 2018, S. 15 [online].
3
vgl. Marc Eulerich/Martin K. Welge, Die Einflussnahme von Stiftungen auf die unternehmerische Tätigkeit deutscher Großunternehmen, Düsseldorf 2011, S.73ff. [online].
Die Emanzipatorische Linke.Shalom Hamburg protestiert immer wieder gegen die politische Verharmlosung des IZH. Dabei erhielt sie zuletzt sogar Gegenwind aus der eigenen Partei. Jan Vahlenkamp, einer ihrer Sprecher:innen, erklärt im Interview mit Felix Jacob warum die Hamburger LINKE sich gegen eine Kundgebung der Gruppe stellte und wieso er nun aus der Partei austritt.
Jan Vahlenkamp (Bildmitte) mit dem derzeitigen Sprecher:innenrat der Emanzipatorischen Linken.Shalom sowie Volker Beck bei einer Demo vorm IZH im Mai 2021. Bild: privat.
Untiefen: Lieber Jan, das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) steht derzeit öffentlich in der Kritik wie lange nicht mehr. Anlässlich der Diskussion um den Staatsvertrag mit den muslimischen Verbänden und, in den letzten Wochen, um einen möglichen Platz für die Schura im NDR-Rundfunkrat ist der Außenposten des iranischen Mullah-Regimes der zentrale Streitpunkt zwischen FDP, CDU und AfD einerseits, SPD und Grünen andererseits. Ihr als Emanzipatorische Linke.Shalom Hamburg beteiligt euch unabhängig von solchen Konjunkturen schon seit langem immer wieder an den Protesten gegen das IZH. Wie bewertet ihr die aktuelle politische Lage? Mit wem arbeitet ihr zusammen?
Vahlenkamp: Wenn die Politik das IZH und den Staatsvertrag thematisiert, dann ist das gut. Wenn das zu einem oberflächlichen Wahlkampfthema zwischen dem rechten und dem linken Flügel der Bürgerschaft wird, dann ist das schlecht. Ich glaube aber gar nicht, dass das der Fall ist. Auch bei den Grünen wird ja über das IZH diskutiert. Die grüne Bürgerschaftsabgeordnete Gudrun Schittek hat schon mal einen Redebeitrag auf einer der Kundgebungen gehalten, ebenso wie der ehemalige Bundestagsabgeordnete Volker Beck. Ich habe auch schon Leute von der AG Säkulare der Linken dort gesehen. Die linksliberale Mopo schreibt recht kritisch über das IZH und der SPD-nahe Sascha Lobo hat die Staatsverträge in seiner Spiegel-Kolumne auch schon kritisiert. Ich glaube, da ist einiges in Bewegung.
Bei uns gibt es personelle Überschneidungen mit der »Deutsch-Israelischen Gesellschaft«, die sich zu dem Thema recht klar positioniert. Außerdem haben wir Kontakt zum »Bündnis gegen Antisemitismus Kiel«, die jedes Mal anreisen, wenn gegen das IZH demonstriert wird. Wir arbeiten auch mit den Gruppen »International Women in Power« und »Nasle Barandaz« zusammen, die jeweils Kundgebungen gegen das IZH organisiert haben. Dasselbe gilt auch für den »Zentralrat der Ex-Muslime«.
Untiefen: Am 07. August fand unter dem Motto »1400 Jahre Genozid im Iran – IZH muss geschlossen werden« erneut eine Kundgebung gegen das IZH statt, organisiert von der iranischen Hamburger Gruppe Nasle Barandaz (»Subversive Generation«), mitgetragen von euch. Sie wurde im Vorfeld vom IZH und einigen Zeitungen als »antimuslimische Hetze« diffamiert. Geht diese Strategie eurer Erfahrung nach auf?
Vahlenkamp: Das glaube ich kaum. Ich selbst habe durch die Pressemeldung überhaupt erst davon erfahren, dass da eine Kundgebung geplant ist. Wir haben dann schnell entschieden, dass wir uns öffentlich hinter die Kundgebung stellen, auch wenn uns das Motto etwas fraglich erschien. Hinterher gab es dann ja auch einen ziemlich sachlichen Bericht im Hamburg Journal des NDR. Wenn Leute bereit sind, einfach mal zuzuhören, verpuffen solche Diffamierungen recht schnell.
Ein Beispiel: Vor fünf Jahren hatte die Linksjugend Solid Mina Ahadi vom Zentralrat der Ex-Muslime eingeladen. Die Veranstaltung wurde im Vorfeld stark kritisiert und es wurde behauptet, Mina Ahadi sei eine Rassistin. Ich kenne eine Genossin, die damals auch in diese Richtung polemisiert hat. Heute steht dieselbe Genossin mit Mina Ahadi zusammen auf der Bühne und beide applaudieren einander.
Untiefen: Wie ist das Motto »1400 Jahre Genozid im Iran« denn eurer Meinung nach zu verstehen?
Die Veranstalter:innen der Kundgebung ziehen hier den Bogen von der Eroberung des Sassanidenreiches im 7. Jahrhundert hin zur Islamischen Republik von heute. So eine Eroberung war natürlich nicht unblutig und die Islamisierung nicht das Ergebnis einer friedlichen Mission. Und bis heute dürfen Iraner, bei Androhung drakonischer Strafen, ihre Religion nicht frei wählen, sie bleiben zwangsislamisiert. Dies wird von manchen als kultureller Genozid angesehen, bei dem der Islam als Ideologie die iranische Nation unterdrückt. Eine solche Sichtweise hat schon etwas Nationalromantisches. Aber wie so oft können wir hier schlecht deutsche Maßstäbe an ein Land legen, dass eine ganz andere Geschichte, Gegenwart, Gesellschaft und Politik vorzuweisen hat. Und dieses Land, also der Iran, hat die Veranstalter:innen nun mal entscheidend geprägt. Die meisten von ihnen sind erst vor wenigen Jahren als Flüchtlinge hierher gekommen.
Untiefen: Vor gut zwei Wochen wurden von Unbekannten politische Parolen auf das IZH gesprüht, offenbar im Zusammenhang mit den Protesten gegen das Regime in der Provinz Khuzestan. In der Presse war von einem»Anschlag auf eine Moschee« die Rede. Teilt ihr diese Perspektive?
Vahlenkamp: Ein Farbanschlag ist kein Mittel eines demokratischen Diskurses. Dafür stehen andere Mittel zur Verfügung.
Ich kann auch verstehen, dass Landesrabbiner Shlomo Bistritzky sich hier mit der Schura solidarisiert hat. Synagogen sind ja sehr oft von Farbanschlägen und ähnlichem betroffen und wenn diese Gebäude nicht so aufwändig geschützt wären, dann wären sie es wohl noch viel häufiger. Diese Anschläge wirken bedrohlich und einschüchternd – und das ist ja auch beabsichtigt. Auch Moscheen waren in den letzten Jahren immer wieder das Ziel von xenophoben Angriffen, seien es Brandanschläge oder das Ablegen von Schweineköpfen oder ähnliches. Für so etwas habe ich absolut kein Verständnis.
Beim IZH ist der Fall aber meines Erachtens nach etwas anders gelagert. Es ist ja offensichtlich, dass die Tat durch iranische Dissidenten begangen wurde. Die Parolen waren in persischer Sprache und hatten politischen, auf den Iran bezogenen Inhalt. Man muss sich vergegenwärtigen, dass der Iran eines der sehr wenigen Länder auf der Welt ist, wo Klerus und politische Machthaber nicht bloß eng miteinander verstrickt sind, sondern wo der Klerus selbst die politische Macht innehat. Hier haben sich also Leute quasi an ihren Unterdrückern gerächt und ich denke, das ist etwas anderes, als wenn man einer Minderheit Angst einjagen möchte. Im Iran würde man für so etwas seinen Kopf verlieren, hier droht nur eine Anzeige wegen Sachbeschädigung.
Untiefen: Auch die Bürgerschaftsfraktion der Linken hatte vor der Demo in einer Pressemitteilung behauptet, hier würde – grade nach dem genannten »Anschlag« – »gezielt Stimmung gemacht gegen Hamburgs muslimische Bürger:innen« und so das »Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen« in Hamburg gefährdet. Ihr habt diese Darstellung zurückgewiesen. Hat eure Partei in Hamburg eine grundsätzlich andere Haltung zum IZH als ihr?
Vahlenkamp: Die Linke hat ja überhaupt keine Position zum IZH. Arbeit, Wirtschaft und Soziales – das sind die Themen der Linken. Aber weder zum Thema IZH noch zum Thema Islamismus stand irgendetwas im Bürgerschaftswahlprogramm. Darauf angesprochen heißt es dann meist, man wolle keine rechten Diskurse bedienen. Viele verstehen einfach nicht, dass die rechten Diskurse durch das Ignorieren solcher Themen erst recht bedient werden. Diese Unbedarftheit sah man ja auch der Pressemitteilung an. Da wurde die Haltung und Sichtweise der Schura einfach übernommen. Dann haben wohl ein paar Leute dort angerufen und sich beschwert. Daraufhin wurde die Pressemitteilung schnell wieder kommentarlos aus dem Internet entfernt.
Zumindest ein Teil der Linken hegt aber auch mehr oder weniger offen Sympathie mit der Islamischen Republik Iran. Das wirkt natürlich erstmal grotesk, weil es ein strikt antikommunistisches Regime ist. Aber es ist eben auch ein erklärter Feind des »US-Imperialismus« und das ist manchen im Zweifel wichtiger. Besonders die Gruppe Marx21 hat ja immer besonders viel Verständnis für Islamisten aller Couleur. Ich glaube, sie tun das, weil sie den westlichen Liberalismus als gemeinsamen Feind ansehen. Im Fall Iran kommt aber auch noch mit hinzu, dass das Land beste Beziehungen zu den ALBA-Staaten und Putins Russland hat. Von daher hat das Regime für manche Linke den Status eines Verbündeten und da hält man sich dann mit Kritik zurück.
Untiefen: Gibt es aus der Hamburger Linkspartei Belege für solche Haltungen?
Vahlenkamp: Ja, zum Beispiel postete die Bürgerschaftsfraktion 2017 zum »Internationalen Tag gegen Homo‑, Bi‑, Inter- und Transphobie« bei Facebook einen Aufruf und erinnerte daran, dass viele Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung flüchten müssen. Darauf folgte eine Liste solcher Unterdrückerstaaten, wie etwa Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate. Auffällig war aber, dass der Iran, der auch beim Thema Homosexualität der Hinrichtungsweltmeister ist, auf der Liste fehlte, ebenso wie Russland. Dafür stand dort die Ukraine, obwohl dort homosexuelle Handlungen gar nicht verboten sind und sich seit dem Euromaidan die Politik für mehr Toleranz einsetzt. Es waren ausschließlich prowestliche Staaten auf der Liste verzeichnet. Ich fragte dann nach, ob dieses Weglassen der Achse Moskau-Teheran-Damaskus geschuldet sei.
Das Presseteam antwortete: »Das Engagement der LINKEN gegen Diskriminierung ist universell und nimmt weder Rücksicht auf irgendwelche konstruierten ›Achsen‹ noch auf den Iran, auf Russland oder auf sonstwen. Und auch nicht auf diejenigen, die meinen, der LINKEN bei wirklich jeder Gelegenheit die übelsten Absichten unterstellen zu müssen.« Erst Jahre später erfuhr ich von der damaligen Praktikantin, die den Aufruf geschrieben hatte, dass in der ursprünglichen Liste natürlich auch Iran und Russland standen. Allerdings hatte der damalige queerpolitische Sprecher Martin Dolzer die Liste vor der Veröffentlichung abgeändert. Dolzer gehört zu einem Kreis von Putin-Lobbyisten, die oft in Russland zu Gast sind. Und die stehen dann eben auch zu Putins Alliierten.
Untiefen: Die israelsolidarischen Shalom-Arbeitskreise wie ihr waren von Anfang an marginal in der Linksjugend Solid und Dissens besteht sicher nach wie vor in einer ganzen Reihe von Fragen. Wie ist heute das Verhältnis zur Linksjugend?
Vahlenkamp: Der BAK Shalom in der Linksjugend Solid hatte zu Beginn einen schweren Stand, auch wenn das in den einzelnen Landesverbänden unterschiedlich ausgeprägt war. Er wurde natürlich immer vor dem Hintergrund der »AntiD-Antiimp« Kontroverse gesehen. Aber dann gab es 2014 die von der Linksjugend Solid organisierte Demo »Stoppt die Bombardierung Gazas – für ein Ende der Eskalation im Nahen Osten« in Essen. Daran nahmen höchst zweifelhafte Gestalten teil, die antisemitische Sprechchöre riefen, jüdische Einrichtungen anzugreifen versuchten und Gegendemonstranten mit Flaschen bewarfen. Das war eine Art Schockmoment, der dazu führte, dass im Jahr darauf der Antrag »Gegen jeden Antisemitismus« vom Bundeskongress der Linksjugend Solid beschlossen wurde.
Ich glaube, das war das erste Mal, dass ein Antrag vom BAK Shalom angenommen wurde. Heute sind die Strukturen des BAK Shalom relativ gut eingebunden in die Arbeit der Linksjugend Solid, was man ja auch an der diesjährigen Erklärung »Trauer um die Toten – Hass für die Hamas!« erkennen kann. Da haben sich einige aus der jüdischen und israelsolidarischen Community gewundert, dass so etwas von den Linken kommt. Die denken ja oft, dass wir ihnen feindlich gesonnen sind. Ich sehe den Jugendverband insgesamt auf einem guten Weg, auch wenn es vor Ort weiterhin sehr unterschiedlich bleibt.
Untiefen: Und wie sieht es hier in Hamburg für Euch aus?
Vahlenkamp: Hier hapert es nicht zuletzt mit der innerparteilichen Demokratie. Vor zwei Jahren haben wir uns als hamburgischer Landesverband der Emanzipatorischen Linken zusammengeschlossen, nachdem wir zunächst drei Jahre unter dem Dach des BAK Shalom im Jugendverband organisiert waren. Die Emanzipatorische Linke ist eine innerparteiliche Strömung, die sich an gesellschaftsliberalen, radikaldemokratischen und emanzipatorischen Standpunkten orientiert. Der Landesvorstand der Linken wollte uns zunächst gar nicht als Zusammenschluss anerkennen, obwohl er laut Satzung zur Anerkennung verpflichtet ist, wenn die formalen Kriterien erfüllt sind. Dementsprechend konnte die Landesschiedskommission den Nicht-Anerkennungs-Beschluss schnell wieder aufheben.
Aber man sah uns im Landesvorstand wohl von Beginn an als Feinde. Unser Antrag an den Landesparteitag 2020, »Keine Liebesgrüße nach Moskau«, der sich kritisch mit Putins Kriegspolitik auseinandersetzte, wurde von der Antragskommission »versehentlich« layouttechnisch dermaßen zerhackt, dass er kaum noch lesbar war, bevor der Parteitag dann die Nichtbefassung beschloss. Im Frühjahr 2021 haben wir eine Online-Veranstaltungsreihe zu Verschwörungsmythen gemacht. Dafür bekamen wir von der Partei ein wenig Geld, was allerdings im Nachgang zu wüsten Debatten im Landesvorstand führte. Lustigerweise hatte niemand inhaltlich etwas an der Veranstaltungsreihe auszusetzen, aber es wurde ein großer Alarm gemacht, dass man damit ja »Antideutsche« unterstützen würde.
Untiefen: Zieht ihr aus solchen und den neusten Enttäuschungen rund um die Kundgebung politische Konsequenzen?
Ich bin gerne bereit, mit allen und über alles zu diskutieren. Aber dann möchte ich über Fakten sprechen und nicht über gestreute Gerüchte oder Dogmen, die sich Leute in den 1970er Jahre so angewöhnt haben. Wenn man sich gegen Antisemitismus einsetzt, hat man ja automatisch eine Menge Feinde, ob nun aus der Nazi-Szene, aus islamistischen Zirkeln oder in den letzten Jahren vermehrt auch aus dem Aluhut-Milieu. Da kann man dann nicht auch noch »Friendly Fire« aus der eigenen Partei gebrauchen. Außerdem haben wir natürlich eine gewisse Verantwortung gegenüber unseren Sympathisanten, die wir in den letzten Jahren gewonnen haben. Allein bei Facebook folgen uns über 800 Leute. Die meisten sind parteilich nicht gebunden. Die kommen dann zu unseren Infoveranstaltungen und Demos, lesen unsere Texte, hören unsere Redebeiträge und denken sich: »Oh, es gibt stabile Leute in der Linken. Dann wähle ich die.«
Aber wen wählen sie damit in Hamburg? Sie wählen die Spitzenkandidatin Żaklin Nastić. Also die Frau, die Angela Merkel wegen »Beihilfe zum Mord« angezeigt hat, weil sie die Liquidierung des Topterroristen Qasem Soleimani nicht verhindert hat. So ein Vorgehen ist zum einen ziemlich gaga, zum anderen zeigt es aber auch, wo die »Sprecherin für Menschenrechtspolitik« so ihre Prioritäten sieht und bei wem ihre Sympathien liegen. Dann will man aufspringen und schreien: »Nein, nein, wählt sie nicht!« Ich fühle mich da wie Oskar Lafontaine, der ja mittlerweile auch zur Nicht-Wahl der Linken aufruft, wenn auch aus gänzlich anderen Gründen. Ich möchte aber authentisch bleiben und trete dann konsequenterweise aus der Partei Die Linke aus. Ich finde mich weder in der Außenpolitik noch in dem ganzen Dogmatismus der Linken heute noch wieder.
Untiefen: Planst Du in eine andere Partei einzutreten? Oder setzt Du deine Arbeit parteilos fort?
Vahlenkamp: Ich sehe mich heutzutage als Sozialliberalen. Und als solcher stimme ich am ehesten mit den Positionen von Bündnis90/Die Grünen überein. Deshalb werde ich dort demnächst einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen. Ein »Parteisoldat« werde ich aber in diesem Leben wohl nicht mehr. Dafür habe ich dann doch zu oft meinen eigenen Kopf. Glücklicherweise leben wir aber ja in einer Gesellschaft, in der es vielfältige Möglichkeiten gibt, sich einzubringen. Und das werde ich sicherlich auch weiterhin tun.
Im Zentrum Hamburgs übt sich eine neue Ausstellung der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung in Legendenbildung. Kann sie den Macher und Machtpolitiker Schmidt zu guter Letzt doch noch als »Superdemokraten« präsentieren? Und wie geht sie mit Schmidts Zeit als Offizier der Wehrmacht um? Unser Autor hat ihr einen kritischen Besuch abgestattet.
Der Eingang zur Ausstellung in der Hamburger Innenstadt: Welcome to Helmut! Foto: privat
Mit pandemiebedingt siebenmonatiger Verspätung wurde am 19. Juni 2021 die Dauerausstellung zu Ehren des fünften Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland in den Räumen der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung nahe dem Hamburger Rathaus eröffnet. Mit der Ausstellung, die über mehrere Jahre hier zu sehen sein soll, schreitet die vom Spiegel-Autor und Historiker Klaus Wiegrefe bereits im Zuge der Gründung der Stiftung befürchtete »Schmidtisierung der Republik« nun also weiter voran. Auch deshalb, weil die Ausstellung an ihrer eigenen Begriffslosigkeit scheitert: Unter dem Titel »Schmidt! Demokratie leben« will sie den ehemaligen Bundeskanzler als »Superdemokraten« inszenieren, hat allerdings selbst keinen Begriff von Demokratie. Hätte die Stiftung sich tatsächlich mit dem Demokratieverständnis Schmidts auseinandergesetzt, würde sie wohl kaum noch von ihm als »Vordenker« sprechen können. Von einer kritischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Person ist diese Ausstellung so weit entfernt, wie es Helmut Schmidt von einem Dasein als Intellektueller war.
In nur einem Raum mit einer Größe von circa 200 Quadratmetern werden Leben und Wirken Schmidts dargestellt. Weiterhin wirft die Ausstellung einzelne Schlaglichter auf Themen, die nach Ansicht der Stiftung innerhalb der westdeutschen Gesellschaft während der Kanzlerschaft Schmidts (1974–1982) an Relevanz gewannen. Ein ambitioniertes Vorhaben! Denn viel Platz ist das nicht für die Geschichte des 20. Jahrhunderts und Schmidts Rolle darin: Eine nuancierte und detaillierte Verhandlung der Themen wurde so von vornherein ausgeschlossen. Gegliedert ist die Ausstellung in drei chronologisch angeordnete Bereiche – das Leben vor der Kanzlerschaft, die Kanzlerschaft und die Zeit danach. Diese Bereiche heben sich visuell nicht voneinander ab, sondern werden jeweils durch Texttafeln eingeleitet. Die Unterkategorien, wie etwa Kindheit und Jugend, die RAF oder Protest gegen die Atomkraft, werden wiederum durch Großfotografien – darauf jeweils Zitate Schmidts – und sogenannte Thementische gegliedert. Die insgesamt acht Jahre Kanzlerschaft nehmen dabei fast die Hälfte des Raumes ein und bilden den inhaltlichen Schwerpunkt der Ausstellung.
100 Jahre Deutschland – 100 Jahre Helmut Schmidt
Bevor nun ein Blick in die Ausstellungsräume geworfen wird, ist es wichtig, den Titel – »Demokratie leben« – zu kontextualisieren. Denn dieser gibt nicht nur die Marschrichtung der Ausstellung vor. Er sagt uns, wie wir uns an Schmidt erinnern sollen. Neben dem Hinweis auf sein langes Leben, immerhin wurde er 96 Jahre alt, lautet die Botschaft: Helmut Schmidt war ein aufrechter Demokrat, der von der parlamentarischen Demokratie nicht nur überzeugt war, sondern diese wirklich »gelebt« habe. Die Ausstellung erinnert an und ehrt also auf eine emotionale Weise einen »Superdemokraten«. Warum die Ausstellung diesem Titel zwangsläufig nicht gerecht werden kann, hängt mit dem hier normativ verwendeten, nicht näher definierten Demokratiebegriff zusammen, der neben der Person das bestimmende Thema dieser Ausstellung zu sein scheint.
Wer war also Helmut Schmidt? Den jüngeren Menschen in der Bundesrepublik ist er wohl als kettenrauchender Welterklärer in Erinnerung. Schmidt hatte für alles eine Antwort und saß vornehmlich alleine in Talkshows, damit es bloß keinen Widerspruch gab. Den Hamburger:innen mag er noch als »Herr der Flut« in Erinnerung sein. Ein Mythos, an dem viele Medien und Schmidt selbst bis zu seinem Tod gearbeitet haben: Das Bild des »Machers«, der »Krisenmanager«, der nicht lange schnackt, sondern einfach das Richtige macht – und dem dabei auch mal das Grundgesetz egal ist. Dieses Bild des »Machers« ist wohl das beständigste Erbe des 2015 Verstorbenen. Doch sei dies, so möchte die Ausstellung zeigen, zu kurz gegriffen. Denn natürlich war er viel mehr: Ein Europäer, Pragmatiker und Realpolitiker, der für sein »oft weitsichtiges Handeln im Kontext großer internationaler Herausforderungen« bekannt sei, wie es im Einführungstext heißt – Krisenmanager, aber weltweit.
Die Wehrmacht und der Schlussstrich
Die Großfotografien sind das alles bestimmende visuelle Element der Ausstellung. Dies lässt eine Perspektive auf Helmut Schmidt zu, die sicher nicht im Sinne der Ausstellungsmacher:innen war. So fällt – noch bevor der eigentliche Ausstellungsraum betreten werden kann – ein Foto Schmidts ins Auge, das ihn im Jahr 1940 in der Uniform der deutschen Luftwaffe als Leutnant der Reserve zeigt. Schmidt war Offizier, wurde im Laufe des Krieges Oberleutnant. An der Ostfront eingesetzt, war er unter anderem an der Belagerung von Leningrad und womöglich auch an Kriegsverbrechen beteiligt. Nachweisen konnte man ihm das nie, doch seine Selbstverteidigung, die bis zu der Behauptung reichte, er sei sogar ein Gegner der Nazis gewesen, war schon immer unglaubwürdig. Selbstredend habe er auch von der Shoah keinerlei Kenntnis gehabt – dabei reiste er als Ausbilder in »Kriegsschulen« quer durch das Deutsche Reich und die im Krieg besetzten Gebiete. Wenige Meter hinter dieser Fotografie findet sich eine weitere, diesmal von seiner Vereidigung zum Bundeskanzler 1974. Von der Wehrmacht ins Kanzleramt: eine (west-)deutsche Karriere. Eine erfolgsbiografische Illusion für die Schmidt wohl nur Willen – und Zigaretten – brauchte.
Der erste Thementisch zum Wehrmachts-Foto hat es in sich. Er soll das Bild kontextualisieren, kann aber obige Erfolgsgeschichte kaum mehr einfangen. Auf die eklatanten Erinnerungslücken Schmidts weist das bereitgestellte Material zwar hin, aber es steht neben seiner Erzählung, als ob es zwei legitime Sichtweisen wären, die sich gegenseitig die Balance halten. Darüber hinaus wird der Begriff der »Pflicht« stark gemacht. Schließlich sei es soldatische Pflicht gewesen, die Stadt Leningrad zu belagern. Ein fast schon amüsanter Euphemismus für Mitläufertum, wenn es denn nicht so ernst wäre. Ein auf dem Thementisch gezeigter Film fasst dann die ganze Absurdität zusammen: Als Schmidt 1977 als erster Kanzler überhaupt nach Auschwitz zu einer Gedenkfeier anreiste, sprach er nicht über die Opfer der Shoah. Deutsche seien die ersten Opfer gewesen! Und überhaupt hätten die Deutschen 32 Jahre nach Kriegsende damit auch nichts mehr zu schaffen. Heute wäre es undenkbar, so etwas zu sagen – damals war es das auch. Nach dem Warschauer »Kniefall« von Willy Brandt sieben Jahre zuvor waren solche Worte aber offensichtlich Balsam auf die geschundene Seele der (West-)Deutschen.
Es irritiert insbesondere an dieser Stelle, dass die Stiftung Schmidts eigenes Narrativ reproduziert und als legitime Haltung darstellt. Dieser Eindruck verstärkt sich durch ein ebenfalls an diesem Tisch gezeigtes Gespräch, das zur ersten »Wehrmachtsausstellung« im Jahr 1995 im Zeit-Magazin abgedruckt wurde. So wollte Schmidt sich diese Ausstellung gar nicht erst ansehen: wiederholt betont er, nichts von den Verbrechen der Wehrmacht an der Ostfront gewusst zu haben, was er bei einer Wiederauflage des Gespräches noch einmal unterstrich. Natürlich erwartet nun niemand in dieser Ausstellung eine fundamentale Kritik an der Person Schmidts oder eine Analyse seiner nicht haltbaren Verteidigungsstrategie. Mit Begriffen wie Vernunft oder Nüchternheit, die Schmidt sich selbst attestierte und die ihm bisweilen attestiert werden (siehe die einschlägigen Biografien), hat das allerdings wenig zu tun. Denn man könnte doch meinen, dass der kantische Vernunftbegriff die Fähigkeit zur (Selbst-)Reflexion einschließt.
Kitsch statt Kritik: Im Museumsshop kehrt man lieber bei Loki und Helmut ein als vor der eigenen Tür. Foto: privat
Der »Herr der Flut« und die wilden 70er
Es folgt – nach der plötzlichen Läuterung zum Sozialdemokraten 1945 – ein etwas längerer Abschnitt in Schmidts Leben (1945–1969): Schmidt war ab Dezember 1961 Senator der Polizeibehörde (ab Juni 1962 Innensenator) und nahm vor allem eine prominente Rolle in der Nacht der Hamburger Sturmflut vom 17. auf den 18. Februar 1962 ein. Immerhin wird in der Ausstellung nicht mit dem beliebten Zitat gearbeitet, dass dem Demokraten so gar nicht zusagen würde (das mit dem Grundgesetz). Gebrochen wird der »Macher«-Mythos allerdings auch nicht, denn das Thema bleibt eine Randnotiz. Diese Marginalisierung ist befremdlich: Ranken sich doch allerlei Geschichten um dieses Ereignis.
Der Rest der Ausstellung folgt dem bekannten Muster. Eine Großfotografie zeigt Schmidt und ein Zitat. Auf dem jeweiligen Thementisch wird die Perspektive etwas geweitet, aber nie zu weit: Die Ausstellung wird durchzogen von einer kontinuierlichen Dichotomie zwischen der Position und Argumentation Schmidts und dem Rest der Welt. Gebrochen wird diese personenzentrierte visuelle Erzählung nur im Bereich der Kanzlerschaft Schmidts. Die hier gezeigten Fotografien zeigen Themen der 1970er und 1980er Jahre: Ein bisschen Wirtschaftskrise, RAF, Anti-Atom- und Friedensbewegung. Auf den Tischen bleibt jedoch die Herangehensweise: Eine historische Einordnung findet nicht statt, die Position Schmidts wird hingegen als vernunftgeleitet dargestellt. Im Umkehrschluss sind es die Gegenpositionen häufig nicht. So wird etwa am Thementisch »Deutscher Herbst« erst auf einer unteren Film-Ebene von Hans-Jochen Vogel (1974–1981 Justizminister im Kabinett Schmidt) zugegeben, dass der Staat eigentlich nie wirklich in Gefahr war. Dabei legitimierte dieses Bedrohungsszenario allerlei Politiken und eine Aufrüstung des Polizeiapparats, die in der Bundesrepublik bis dato beispiellos war. Während die Rollenverteilung beim RAF-Terrorismus wenig Spielraum lässt, verhält es sich bei den in den 1970er Jahren aufkommenden Neuen Sozialen Bewegungen schon anders. Denn hier zeigt sich, welchen Demokratiebegriff Schmidt pflegte. So konnte er zwar die Anti-AKW-Demonstrationen in Brokdorf nicht verhindern, rief aber dazu auf, nicht auf die Straße zu gehen. Auch drohte Schmidt als Kanzler mehrfach mit Rücktritt, sollte seinem Willen – Atomkraftwerke zu bauen – nicht nachgekommen werden. In Schmidts Verständnis von Demokratie war für die Sozialen Bewegungen kein Platz. Zulässige, also von ihm anerkannte Stimmen, gab es nur im Parlament und in seiner Partei. Doch auch letztere und Schmidt entfremdeten sich im Laufe seiner Kanzlerschaft zunehmend. Ein Spannungsverhältnis, dass bis zu seinem Tod nicht mehr aufgelöst wurde. Dass die Partei in der Ausstellung kaum stattfindet, scheint folgerichtig: Schmidt als überparteilicher Lenker, Denker und Welterklärer. Eine weitere Inszenierung Schmidts, die hier unhinterfragt weitergetragen wird.
Demokratie und Kritik
Nachdem auf dem letzten Kanzlertisch noch eben die Themen Europa, DDR und die restliche Welt eher wackelig abgehandelt werden, beginnt der letzte Bereich, also seine Zeit als Publizist und Mit-Herausgeber der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit. Es ist jene Lebensphase, in der Schmidt an seiner eigenen Legende arbeitete, wie der Historiker Axel Schildt 2017 feststellte. Mit diesen Aktivitäten schuf Schmidt ein Bild von sich, dem diese Ausstellung weitestgehend folgt.
Entsprechend wird sich in diesem Abschnitt auch nicht mit den rassistischen und kulturalistischen Positionen Schmidts auseinandergesetzt. Dabei sind diese Positionen nicht seiner späten Senilität geschuldet – sprach er doch bereit 1992 von einer »Überschwemmung« und »Entartung« der deutschen Gesellschaft –, sondern lassen einen roten Faden in Schmidts Politikverständnis erkennen. Würde dieser genauer untersucht, so würde sich zeigen, dass sein Weltbild nicht viel mit Nüchternheit oder Vernunft zu tun hat, ja vielmehr offenbart sich eine regelrechte Intellektuellenfeindlichkeit. Die Möglichkeit, auch diese Seiten Schmidts zu zeigen und zu diskutieren, wurde hier nicht genutzt. So kann die Ausstellung einer historisch-kritischen Einordnung der Person nicht gerecht werden, eine nüchterne Perspektive auf den fünften Bundeskanzler fehlt. Schmidts Politikverständnis blieb ein elitäres und exklusives. Die Ausstellung folgt weitestgehend dem Bild Schmidts, das dieser selbst installiert hat: ein überparteilicher Superdemokrat und Lotse (Bismarck lässt grüßen!), der die Bundesrepublik durch schwere Fahrwasser steuerte und eigentlich auch immer recht behielt – mit dieser Dauerausstellung nun auch über seinen Tod hinaus.
Lars Engelhardt, August 2021
Der Autor ist studierter Literaturwissenschaftler und als derzeit prekär Beschäftigter – unter anderem Uber-Fahrer in Teilzeit – schon länger enttäuscht von den leeren Versprechen der (Hamburger) Sozialdemokratie. Die Stadt Hamburg, so meint er, verdient Ausstellungen wie diese.
Die deutsche Phase direkter Kolonialherrschaft war im europäischen Vergleich kurz, dafür nicht minder gewalttätig. Ihre Spuren hat sie insbesondere in Hamburg, einem zentralen Ort des deutschen Kolonialismus, hinterlassen – sie sind bis heute sichtbar. Diese Fotoreihe führt ins Zentrum der Stadt. Erstaunlich ist vor allem der Kontrast zwischen den bisweilen an den Gebäuden angebrachten »Blauen Tafeln« des Denkmalschutzamtes und der hier erzählten Geschichte.
In Hamburg steht seit 1906 das weltweit größte Bismarck-Denkmal. Dass es von der Stadt nun teuer saniert wurde, hat eine Debatte um die Umgestaltung des Denkmals und Hamburgs Umgang mit seiner Kolonialgeschichte ausgelöst.
Ein erster Vorschlag zur Umgestaltung: Tafel vor der Baustelle des Bismarckdenkmals. Foto: privat (Januar 2021).
Das Bismarck-Denkmal im Hamburger Elbpark ist in Schieflage geraten. Zunächst einmal ganz materiell: Erbaut zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter anderem von Hamburger Kolonialkaufleuten unter Beifall völkischer Verbände, wurden die Gewölbe unterhalb des Denkmals im Zweiten Weltkrieg mit mehreren tausend Tonnen Beton verstärkt und zu einem Luftschutzbunker umfunktioniert. Der Beton war für die Statik zu viel. Risse entstanden, Wasser drang ein, die Statue neigte sich und galt bisweilen als einsturzgefährdet. Der Zugang zum Bunker, den allerlei nationalsozialistische Wandmalerei ziert, etwa ein Sonnenrad mit Hakenkreuz und ein markiger Spruch über die »germanische Rasse«, wurde in den fünziger Jahren für die Öffentlichkeit gesperrt. In den sechziger Jahren erfolgte der Denkmalschutz und bewahrte die Statue vor einem angedachten Abriss. In den folgenden Jahren blickte das weltweit größte Denkmal seiner Art – mal mehr, mal weniger beachtet von alten und neuen Nazis; mal mehr, mal weniger kritisiert – gen Westen über den Hamburger Hafen. Zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts kam erneut Bewegung in die Sache: Unter anderem Johannes Kahrs, Burschenschafter und ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordneter, setzte sich für eine Sanierung der Statue ein. Seit 2020 wird das Denkmal für fast neun Millionen Euro saniert. Zunächst wurde die Bismarckstatue rund zwei Monate lang vom Schmutz und Dreck, der sich in den letzten Jahrzehnten abgelagert hatte, gereinigt. Nach der nun erfolgenden baulichen Instandsetzung soll unter anderem der Bunker unter dem Denkmal wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und »über die Geschichte und Bedeutung des Denkmals informiert« werden, so ein Aushang an der Baustelle.
Bis hierhin liest sich dies geradezu als Allegorie deutscher Geschichte und des deutschen Umgangs mit selbiger. Das Ansehen Bismarcks und des Kaiserreichs hat Risse bekommen, da war mal was mit Nazis; in der frühen Bundesrepublik folgte dann notdürftiges Abdichten, Verdrängen und Verschließen, später ein wenig Kritik und schließlich: Öffnen, Ausstellen, Auseinandersetzen. Aber letzteres auch nur mit den NS-Hinterlassenschaften im Keller, während oben darüber das Kaiserreich gekärchert wird: Kultursponsoring im »Niederdruck-Partikelstrahlverfahren« made in Germany – und bereits erprobt am Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Porta Westfalica. Reinigungsrituale, die sich einreihen lassen in den neuerlichen Hype um die ›heile Welt‹ des Wilhelminismus, den damit verbundenen Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses und das im Jahr 2021 begangene 150jährige Jubiläum des Kaiserreichs.
Bismarck und die koloniale Amnesie der Deutschen – noch mehr Verdrängtes kehrt wieder
Nun ist das Bismarck-Denkmal nicht nur materiell in Schieflage geraten: Im Zuge der von den USA ausgehenden, sich weltweit formierenden Black-Lives-Matter-Protesten im Jahr 2020 und den mit ihnen einhergehenden Denkmalstürzen – prominentester Fall: die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston im Bristoler Hafenbecken – gerieten auch der Hamburger Bismarck und seine Sanierung in den Blick der Bewegung. Initiativen wie Decolonize Bismarck riefen im Sommer 2020 zu einer Demonstration zu Füßen des Eisernen Kanzlers auf. Die postkoloniale Kritik am Denkmal, seiner Sanierung und weit über dieses hinaus zielt unter anderem auf die koloniale Amnesie in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die weißen Narrative in Schulbüchern, die Nichtbeteiligung von BIPoCs an der Debatte und im konkreten Bezug auf Bismarck: seine Verstrickung in den europäischen Kolonialismus. Nicht zuletzt war Bismarck treibende Kraft der sogenannten Kongo-Konferenz 1884/1885 und damit der Aufteilung des afrikanischen Kontinents unter europäischen Kolonialmächten. Neben den lange Zeit im Kellergewölbe verschlossenen Hinterlassenschaften nationalsozialistischer Herrschaft wurden auch die kolonialen Verstrickungen Deutschlands in die Tiefen des kollektiven Unbewussten verdrängt. Sie sollen nun aufgearbeitet werden.
Decolonize Hamburg! Graffito an der Bismarck-Baustelle Foto: privat (Januar 2021)
Diese Kritik und die damit einhergehenden Forderungen, die indes schon in der Debatte um das Berliner Stadtschloss und anderswo zu hören waren, sind mit Nachdruck zu unterstreichen und zu unterstützen. Und es ist das Verdienst dieser Kritik, dass die aberwitzig teure Sanierung des Denkmals überhaupt dermaßen in Verruf geraten ist. Fraglich ist nur der bisweilen in den Forderungen anmutende Anspruch auf Alleinvertretung einer postkolonialen Perspektive. Das Bismarck-Denkmal, so ist es einem Arbeitspapier der Initiative Decolonize Bismarck zu entnehmen, sei »auch ein Kolonialdenkmal« und entsprechend sollten an der Debatte um Neu- oder Umgestaltung des Denkmals die »Nachkommen der Kolonisierten, die diasporischen BIPoC-Communities ebenso maßgeblich beteiligt werden wie die Opferverbände aus den ehemaligen Kolonien und die zivilgesellschaftlichen Initiativen«. Jenes auch im zitierten Papier scheint im Hinblick auf die angeführte Begründung bald hinfällig: Das Denkmal erinnere nicht an Bismarck als Reichsgründer, sondern sei »als Dank der hiesigen Kaufmannselite für die Gründung von Kolonien« zu verstehen, es sei damals nicht um Patriotismus, sondern um Wirtschaftsförderung gegangen. »Erst mit einer solchen globalhistorisch verorteten Analyse lässt sich die Bedeutung des Monuments verstehen, debattieren und ein weiterer angemessener Umgang mit ihm begründen.«
Nicht in Stein gemeißelt, oder: Für eine emanzipatorische Geschichtspolitik
Worin liegt das Problem? Es ist zunächst einmal diese in einer ansonsten dekonstruktivistisch informierten Perspektive aufscheinende Eigentlichkeit. So als hätte ein Denkmal eine ihm eigentümliche, in Stein gemeißelte Bedeutung. Könnte ein Denkmal, und das hier betrachtete im Besonderen, nicht vielmehr als ein gleitender Signifikant begriffen werden, dessen Bedeutung immer prekär und instabil ist? Würde dies nicht erklären, warum es einerseits so attraktiv für alte und neue Nazis war und ist und warum andererseits der Umgang mit der Statue bisweilen von derartiger Unbekümmertheit gekennzeichnet ist? Bismarck und das ihm zu Ehre gebaute Denkmal waren eben immer auch Projektionsflächen für verschiedenste reaktionäre und nationalistische Sehnsüchte. Diese Rezeptionsgeschichte ist nicht ohne Weiteres vom Denkmal zu trennen und sollte auch Gegenstand der Kritik bilden. Denn mit dem Hinweis auf die ›eigentliche Bedeutung‹ des Denkmals verschiebt sich zudem die Diskussion hin zu der Frage nach dessen vermeintlich fixierbarem Signifikat und damit zur trügerischen Faktizität historischer Debatten, in denen tatsächlich aber normative Geschichtsbilder verhandelt werden. War Bismarck nun ein Rassist oder hält »die Identifizierung des Kolonialpolitikers Bismarck als Rassist einer genaueren Prüfung nicht stand«? Letzteres schreibt der Historiker und Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung Ulrich Lappenküper für die Konrad Adenauer Stiftung und fügt hinzu, dass es bei den Denkmälern auch weniger um den Kolonialpolitiker gehe, »denn um den Reichskanzler, der Deutschland Einheit und Freiheit gebracht hatte«.
Die Engführung des Denkmals auf die historische Figur Bismarck und seine Rolle als Kolonialpolitiker eröffnet erst den Raum für Kritik von konservativer sowie rechter Seite und ermöglicht die Bewertung Bismarcks als »ambivalente historische Figur«, wie Lappenküper schreibt, der im selben Atemzug vor Cancel Culture warnt – schließlich müsse der Reichskanzler auch aus seiner Zeit heraus bewertet werden. Nun ist es vor dem Hintergrund von einer Kanzlerkultur der sogenannten Sozialistengesetze und der Verfolgung von Sozialist:innen und Kommunist:innen verwunderlich, gerade mit Bismarck gegen eine vermeintliche Cancel Culture zu argumentieren. Verwiesen werden müsste auch auf die antipolnische Politik Bismarcks: etwa die ab 1885 in die Wege geleitete Ausweisung von über 30.000 Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, was zumeist Polen und Juden betraf; oder die 1886 erfolgte Begründung der sogenannten Ansiedlungskommission, die bisweilen als erste ethnisch motivierte bevölkerungspolitische Maßnahme innerhalb Europas gilt. Indes werden diese nach Osten gerichteten Politiken in jüngerer Zeit auch als Ausdruck eines kontinentalen, mit dem überseeischen verwobenen Kolonialismus verstanden. Von all dem will indes die Hamburger AfD nichts wissen und setzt sich mit einem pathetischen Video dafür ein, ein Bild Bismarcks als »Kanzler der Einheit« zu installieren.
Für ein Verständnis von Geschichtspolitik als normatives Narrativ
Aber geht es nun um Bismarck als historischen Akteur und darum, wie er denn nun eigentlich war und warum er handelte, wie er handelte? Und geht es darum, zu fragen, wer das Denkmal eigentlich aufstellte und wofür? Ginge es nicht vielmehr darum, sich zur Normativität geschichtspolitischer Debatten zu bekennen und diese aktiv zu gestalten? Darunter kann verstanden werden, nicht zu versuchen, die ›eigentliche‹ Rolle Bismarcks zu fixieren, ihn nicht ›aus seiner Zeit heraus‹ verstehen zu wollen, aber eben auch nicht die vermeintlich eigentliche Bedeutung des Denkmals in den Vordergrund zu rücken.
Es geht um die Installation eines Narrativs, eines notwendigerweise normativen, idealiter emanzipatorischen und auf Gegenwart wie Zukunft gerichteten Geschichtsbildes. Einerseits müsste genau darin die koloniale Amnesie der Deutschen und das Verdrängen kolonialer Gräueltaten sichtbar werden – dem stimmt allerdings auch Lappenküper zu (der blinde Fleck »in der deutschen Erinnerungskultur [muss] beseitigt werden«, bekennt er). Andererseits ginge es wohl auch darum, Sand in das Getriebe der deutschen Wiedergutmachungsmaschine zu streuen und etwa die Rezeption des Denkmals zwischen Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik zu kritisieren. Das (neue) Bismarck-Denkmal sollte keine Wohlfühloase deutscher Aufarbeitungsweltmeister:innen werden, sondern zu dem werden, was es immer schon war: ein Ort der Schlechtigkeit. Gerade als solcher kann aber das Denkmal in seiner Negation für vieles stehen, was emanzipatorische Politik verspricht. Ob das Denkmal dann am Ende abgerissen wird und etwas anderes an seiner Stelle entsteht, oder ob es in einer anderen Form gebrochen wird, ist dabei zunächst zweitrangig.
Johannes Radczinski, Mai 2021
Der Autor studiert Kulturwissenschaften in Lüneburg, lebt aber in Hamburg. Dort radelt er fast täglich am Bismarck-Denkmal vorbei und hofft (nicht nur deshalb!) auf dessen baldige Umgestaltung.
In bester Hamburger Alsterlage residiert das Islamische Zentrum Hamburg mit seiner »Blauen Moschee«. Es fungiert als europäische Vertretung der islamistischen Despotie im Iran. Seit 2012 wird es durch einen Staatsvertrag mit der Stadt Hamburg politisch gefördert. Nach dem Willen von SPD und Grünen soll das so weitergehen. Warum?
Die Imam-Ali-Moschee an der Binnenalster. Foto: AltSylt Lizenz: CC BY 4.0
In bester Lage an der Außenalster residiert seit 1965 die Hamburger Imam-Ali-Moschee, laut Stadtmarketing »eine der schönsten Moscheen Deutschlands«. Träger des von iranischen Kaufleuten in den 1960ern finanzierten Prachtbaus ist das Islamische Zentrum Hamburg (IZH), das als europäischer Brückenkopf der schiitisch-islamistischen Despotie im Iran fungiert. Deren oberste religiöse Autorität und Revolutionsführer, Ajatollah Ali Chamenei, ist nicht nur Machthaber über die mörderischen Revolutionsgarden, Holocaustleugner und obsessiver Israelhasser mit atomaren Ambitionen, sondern entsendet seit 1989 auch persönlich seinen Stellvertreter für Europa an die Alster. Über das IZH reicht Teherans langer Arm bis zu iranischen Oppositionellen, die in Hamburg immer wieder Opfer von Übergriffen aus dem Umfeld der Imam-Ali-Moschee werden.
Dennoch hat die SPD das IZH 2012 im Rahmen des Staatsvertrags mit den muslimischen Verbänden offiziell zum politischen Partner aufgewertet. Anfang 2021 haben SPD und Grüne sich in ihrem Koalitionsvertrag darauf verständigt, diesen Staatsvertrag zu verlängern. Warum wird iranischer Islamismus in Hamburg offen gefördert?
Das Offensichtliche
Dass man es bei den Islamisten von der Schönen Aussicht 36 mit Propagandisten und Schlägern im Auftrag der islamischen Republik zu tun hat, ist offensichtlich. Wer es wissen will, kann den Aussagen der überschaubaren aber hartnäckigen Gruppe iranischer Oppositioneller, Ex-Muslime und vereinzelter israelsolidarischer Linksradikaler zuhören, die sich regelmäßig auf Kundgebungen und Demonstrationen vor der Moschee versammeln. Mindestens das politische Personal der regierenden rot-grünen Koalition weiß, dass die Khomeinisten von der Schönen Aussicht seit zwei Jahrzehnten mal offen, mal verdeckt den antisemitischen Al-Quds-Marsch in Berlin mitorganisieren und unterstützen. Sie wissen, dass das IZH eine Anlaufstelle für Hisbollah-Anhänger:innen in Hamburg und darüber hinaus ist. Sie wissen, dass die IZH-Leiter nach außen gemäßigt und dialogbereit auftreten, ideologisch aber am Export der islamischen Revolution festhalten. Sie wissen, dass dort Misogynie und Homophobie verbreitet werden. Sie wissen, dass dort jedes Jahr Gedenkveranstaltungen für Ajatollah Chomeini abgehalten werden, oder, wie letztes Jahr, für den Kommandeur der Quds-Einheit und Schlächter Qasem Soleimani.
Trotzdem handelte die Stadt Hamburg zwischen 2006 und 2012, zunächst unter dem CDU-Senat Ole von Beusts, dann unter Olaf Scholz, einen Staatsvertrag mit dem DITIB Landesverband Hamburg, dem Verband der Islamischen Kulturzentren, der alevitischen Gemeinde und der SCHURA – Rat der islamischen Gemeinschaften in Hamburg aus. In der Schura stellt das IZH seit jeher einen von drei Vorsitzenden, entsprechend hat sich der Dachverband wiederholt hinter die Machenschaften um die Imam-Ali-Moschee gestellt. Intention des 2012 vom damaligen Bürgermeister Olaf Scholz unterzeichneten Staatsvertrags war es – ebenso wie zuvor mit christlichen und jüdischen Gemeinden – das Verhältnis zur Stadt Hamburg zu klären. Neben der Regelung praktischer Fragen zu muslimischen Feiertagen, Friedhöfen und islamischem Religionsunterricht sollte so für Integration und friedliches Miteinander geworben sowie innerhalb der Verbände die Abgrenzung gegenüber »Extremisten« gestärkt werden. Dafür suchten sich die Hamburger Regierungen ihre Partner explizit danach aus, wer die meisten und die diversesten Moscheevereine etc. repräsentiert. Gegen die öffentliche Kritik an den islamistischen »Ausrutschern« innerhalb der Partnervereine in der Schura – die es nicht nur beim IZH gibt – verteidigen SPD und Grüne ihren Staatsvertrag dann auch im Namen der Integration: »Die Ausrichtung des IZH war beim Abschluss der Verträge bekannt. Senat und Bürgerschaft hatten dies mit dem Nutzen schriftlicher Verträge als Grundlage für eine Zusammenarbeit im Sinne der Integration abzuwägen.« Sicher habe es hier und da »Anlass für Kritik und Schwierigkeiten« gegeben, insgesamt habe sich der Vertrag aber doch »bewährt«.
Der Bundesregierung auf der Spur
Hamburg folgt damit in doppelter Weise der Strategie der Bundesregierung. Erstens ist die deutsche Außenpolitik gegenüber dem iranischen Regime opportunistisch. Zugunsten des Iran-Geschäfts deutscher Konzerne hält die Bundesregierung entgegen aller Verstöße am Atomabkommen mit den Mullahs fest und verschließt dabei vor der Brutalität und dem militanten Antisemitismus des Regimes fest die Augen. Die BRD hat sogar – erfolgslos – versucht, die US-Handelssanktionen auszuhebeln. Hamburg ist dabei als Finanzstandort mittendrin: Wie Matthias Küntzel zusammengetragen hat, wurden bis 2011 Milliardensummen für Iranisch-Indische Öldeals über die Europäisch-Iranische Handelsbank im Kontorhausviertel an den Sanktionen der USA vorbeigeschoben – gedeckt von der Bundesfinanzaufsicht. Barack Obama rief gar persönlich bei Angela Merkel an, um ein Ende dieser Sabotage zu fordern. Bis heute spielt die ebenfalls von den Mullahs kontrollierte Niederlassung der Melli Bank am Hamburger Nikolaifleet eine Schlüsselrolle im europäischen Iran-Business. Offenbar hat die Bundesbank ihr noch 2020 ihre Dienste zur Verfügung gestellt, um das Iran-Geschäft deutscher Firmen zu ermöglichen. Durchaus denkbar also, dass die Zurückhaltung der wechselnden Hamburger Senate gegenüber dem IZH auch eine wenig beachtete geopolitische Komponente hat.
Zweitens macht die Stadt Hamburg mit ihrem Staatsvertrag ebenso wie die Bundesregierung konservative Islamverbände für die Integration von Migrant:innen und Nachfahren von Migrant:innen aus islamischen Ländern mitverantwortlich. Am Beispiel des IZH zeigt sich deutlich wie sonst selten, was damit eingekauft wird. Wer um jeden Preis Kontrolle und »Ansprechpartner« will, muss sich selbst die radikalsten Islamisten als irgendwie-auch- Extremismusbekämpfer zurechtbiegen. Angesichts der 2022/23 anstehenden Neuverhandlungen des Staatsvertrags will die Rot-Grüne Regierung ein Eingeständnis des Scheiterns dieser Strategie entgegen aller Kritik vermeiden.
Kritik von liberal bis rechtsextrem
Und diese Kritik fällt leider fast ausschließlich von Seiten der Abgeordneten von AfD, CDU und FDP deutlich aus. Immer wieder fordern vor allem AfD und CDU, Schritte gegen das IZH zu unternehmen: vom Ende der Zusammenarbeit mit dem IZH, über dessen Ausschluss aus der Schura bis hin zum Vereinsverbot, das zuletzt der innenpolitische Sprecher der CDU-Fraktion Dennis Gladiator ins Spiel brachte. Dass die CDU dabei stets die »Freiheitlich-Demokratische Grundordnung« gegen den »religiösen Extremismus« verteidigen will, um »Spannungen in der Stadt« zu vermeiden, lässt ahnen, dass es hier um konservative Profilbildung und Selbstdarstellung als staatstragende Partei geht. Die AfD indessen, insbesondere ihr rechtsextremer Fraktionsvorsitzender Alexander Wolf, versucht ihre Agitation gegen das IZH als Teil ihres Kulturkampfes gegen die »Islamisierung« zu inszenieren. Einen medialen Erfolg konnte sie im Oktober 2020 verbuchen, als durch eine große Anfrage der AfD in der Bürgerschaft herauskam, dass unter anderem der Islamisches Zentrum Hamburg e.V. laut eigener Auskunft von der Hamburger Steuerverwaltung bis heute als gemeinnütziger Verein anerkannt ist und dadurch erhebliche Steuervorteile genießt.
Die AfD argumentierte, durch die Einstufung des IZH als »extremistisch« durch den Verfassungsschutz sei das nicht nur ein politischer Skandal, sondern schlicht rechtswidrig. Zwar stellte sich Finanzsenator Andreas Dressel demonstrativ vor seine Behörde und behauptete, die Steuerverwaltung entziehe als »extremistisch« eingestuften Vereinen konsequent die Gemeinnützigkeit. Aber die AfD konnte nachsetzen und bekam in einer weiteren Anfrage im November heraus, dass nur wenige Tage nach Veröffentlichung der ersten Anfrage zwei weitere Verfahren zur Aberkennung der Gemeinnützigkeit wegen Extremismuseinstufung eingeleitet wurden. Gegen wen blieb mit Verweis auf das Steuergeheimnis unerwähnt. Für die AfD ein Coup, sieht es nun doch so aus als habe sie erfolgreich den Finanzsenator vor sich hergetrieben und quasi zum Eingeständnis genötigt, dass »extremistische Vereine« von der Finanzbehörde geduldet werden. Im Namen des Kampfes gegen »Extremismus« zielte die AfD-Anfrage neben dem IZH auf den marxistischen Lesekreis-Verein Marxistische Abendschule (MASCH) e.V., der dann im Januar 2021 bekanntgab, das Finanzamt Nord habe ihm die Gemeinnützigkeit mit Verweis auf den Verfassungsschutz entzogen. Es ist zu vermuten, dass ein Zusammenhang zur Anfrage der AfD besteht.
Dass ein rot-grüner Senat sich von der Extremismus-Rhetorik von Verfassungsschutz und AfD zum Verbot eines linken Vereins drängen lässt – oder es selbst angestrebt hat, ist ein Skandal. Ein weiterer ist es, dass die iranischen Islamisten tatsächlich auch finanziell gefördert werden und der Senat bis heute nicht Stellung dazu bezogen hat. Damit überlässt er ein wichtiges Thema der kultur-rassistischen Agitation der AfD.
Linker Zweckoptimismus
Auch die oppositionelle Hamburger Linksfraktion hat bislang keine Stellung zum IZH bezogen. Sie spricht sich zwar gegen Islamismus aus, wenn es um den IS und Rojava geht. Zu den schiitischen Islamisten in Hamburg schweigt sie aber. Die einzige Ausnahme innerhalb des Landesverbands ist die israelsolidarische Splittergruppe Emanzipatorische Linke.Shalom Hamburg. Die langjährige ehemalige innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion Christiane Schneider erklärte im März 2021, welche politischen Prioritäten einer Positionierung zum IZH entgegenstehen: Erstens hätten die Staatsverträge eine Ungleichbehandlung von Muslimen beendet und seien daher Ausdruck von Religionsfreiheit und kultureller Vielfalt. Zweitens sei die multikonfessionelle Schura eine Erfolgsgeschichte, da sie nicht nur mit dem Ziel gegründet wurde, sich zur deutschen Gesellschaft hin zu öffnen, sondern unterdessen tatsächlich ein »Selbstverständnis als islamische Religionsgemeinschaft in einem säkularen, demokratisch verfassten Rechtsstaat« erarbeitet hätte. Drittens hätten sich CDU und FDP mit ihrer Kritik an den islamischen Verbänden leider dem Kurs der AfD angeschlossen, einer eingebildeten Islamisierung den Kulturkampf zu erklären. Demgegenüber müsse DIE LINKE am Staatsvertrag auch mit dem IZH festhalten, denn:
»Die Verträge sind zugleich Grundlage, Konflikte zu thematisieren und zu Klärungen zu kommen. Dass das gelingen kann, zeigt die Tatsache, dass das ›Islamische Zentrum Hamburg‹ (IZH) seine Beteiligung an den höchst problematischen antiisraelischen Demonstrationen am jährlichen Al Quds-Tag nach 2018 beendet hat.«
Dass der Marsch 2020 wegen der Corona-Pandemie glücklicherweise ganz ausfiel; dass 2019 zwar keine iranischen Geistlichen, aber dennoch IZH-Anhänger am Marsch teilnahmen; dass wenn überhaupt, die Angst vor einem Vereinsverbot hier ein Zugeständnis des IZH erzwungen hat – geschenkt. Entscheidend ist der linke Wille, sich durch ein höchstens symbolisches Zugeständnis der IZH-Führung vorgaukeln zu lassen, mit Dialog und Gesprächen könnten aus Bediensteten eines Terror-Regimes doch noch Freunde von Diversität und Völkerverständigung werden. Ob Schneider ihren Dialog-Optimismus wirklich selber glaubt oder schlicht Angst hat, bei inhaltlicher Nähe zur Kritik von rechts und ganz rechts die wahltaktisch wichtige Glaubwürdigkeit in Sachen Anti-Rassismus zu verlieren, ist unklar. Ein Armutszeugnis ist das linke Schweigen in jedem Fall. Es ist ein zwar unspektakulärer, aber fortwährender Verrat an all jenen, die für Freiheit im Iran kämpfen.
Felix Jacob, Juni 2021
Der Autor ist Arbeitsloser ohne Gewissensbisse, Segler und Alsterspaziergänger. Für die Imam-Ali-Moschee schwebt ihm eine Nachnutzung als Stadtteilzentrum mit Freibad vor.
Die Elbphilharmonie ist nicht nur schnell zum Symbol für Hamburg geworden, zum Tourismusmagneten und zur Vorlage für Heimatkitsch. Sie ist auch der vorläufig krönende Abschluss einer Stadtentwicklung nach polit-ökonomischen Erfordernissen. Eine Entwicklung, in der die Herrschaft des Menschen über die Natur eine wesentliche Rolle spielt.
Anlässlich der Eröffnung der Elbphilharmonie Anfang 2017 stellte der belgische Künstler Peter Buggenhout eine 15 Meter hohe Skulptur mit dem Titel Babel Variationen in den Hamburger Deichtorhallen aus. Dieser Beitrag zur Ausstellung Elbphilharmonie Revisited, bestand aus großen Polyester- und Stahlteilen, die anmuteten, als habe der Künstler Sperrmüll gewagt in die Höhe gestapelt: ein fragiler Riese, der den Eindruck erweckte, jederzeit in sich zusammenzubrechen. Die raumgreifende Skulptur kontrastierte die glitzernde Ästhetik des soeben fertiggestellten, massiven Konzerthauses an der Elbe. Mit dem Titel Babel Variationen spielt Buggenhout auf die alttestamentarische Erzählung vom Turmbau zu Babel (Gen 11,1–9) an und bezieht sie auf die Hamburger Elbphilharmonie.
Romantisch verklärt statt bestraft
Im 21. Jahrhundert scheint die Erzählung vom Turmbau zu Babel obsolet: Die Kirchen in Deutschland sind wie leergefegt und Gottesfurcht taugt nicht mehr als Mittel der Politik. Auch für den Namensgeber des derzeit höchsten Gebäudes der Erde und gleichzeitige Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate, Scheich Chalifa bin Zayid Al Nahyan blieb eine göttliche Strafe bisher aus. Dem menschlichen Sprachwirrwar kann heute bequem per Handyapp begegnet werden. Weshalb also ein Konzerthaus am Fuße der Elbe zu einem neuen Turmbau zu Babel erklären?
In der Selbstbeschreibung der Elbphilharmonie heißt es wenig bescheiden, dass »dem traditionellen Backsteinsockel neues Leben« eingehaucht und dass »das Konzerthaus als funkelnde Krone oben drauf« gesetzt worden sei. Ein Affront, nicht gegen Gott, so doch aber gegen eine dem Menschen wie übermächtig gegenüberstehende Natur. In der architektonischen Entwicklung der Handels- und Hafenstadt spiegelt sich vielmehr das Verhältnis der Menschen zur Natur wider. Dass es sich dabei um ein durchweg polit-ökonomisches Herrschaftsverhältnis handelt, kann Epoche für Epoche nachgezeichnet werden:
In der Elbphilharmonie wird diese Entwicklung gewissermaßen an mehreren Jahresringen sichtbar. Der untere Teil des Konzerthauses besteht aus der backsteinernen Außenmauer des 1875 errichteten Kaispeicher A, der seinerzeit auch Kaiserspeicher genannt wurde. Mit Hilfe von Kränen konnten die Waren im damaligen Haupthafen Hamburgs direkt vom Schiff in das Speichergebäude gehievt werden. Das neugotische Speichergebäude wurde im 2. Weltkrieg zerstört und in den sechziger Jahren in schlichter Form wieder aufgebaut. Mit der globalen Umstellung des Seehandels von Stückgut auf den Containerfrachtverkehr fand der Schiffshandel zunehmend im rasant wachsenden Containerhafen statt, der der Stadt südwestlich vorgelagert wurde. In der Folge wurde der Lagerbetrieb im Kaispeicher in den neunziger Jahren vollständig eingestellt. Der trapezförmige Grundriss des ersten Kaispeichers blieb erhalten und die schlichte Kaimauer bildet den Sockel des von den Hamburger:innen mittlerweile Elphi genannten Baus. Im Ensemble mit der angrenzenden denkmalgeschützten Speicherstadt ist das Große Grasbrook genannte Gebiet, auf dem nun Elbphilharmonie und Hafencity stehen, eine romantisierende Reminiszenz an die Geschichte der Hansestadt Hamburg, die sich seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Tor zur Welt beschreibt und deren expansiver Seehandel eine große, reiche Oberschicht entstehen ließ.
Der Kampf gegen die erste Natur
Die Entwicklung Hamburgs zur Metropole der Seeschifffahrt war keineswegs vorgezeichnet, betrachtet man die geographische Lage und die natürlichen Ausgangsbedingungen der Region Hamburg: Die Stadt lag, salopp gesagt, im Matsch tief im Binnenland zwischen Nord- und Ostsee. Die Stadtgeschichte ist geprägt von dieser und weiteren für Landwirtschaft und Handel ungünstigen Umweltbedingungen, die bis heute massive Eingriffe durch den Menschen nach sich ziehen.
Die Elbregion bestand ursprünglich aus fruchtbaren, aber dauerhaft nassen Böden, die für eine Bewirtschaftung nicht geeignet waren. Die vorneuzeitlichen Siedler:innen der Elblandschaft mussten sich gegen die Kräfte der Natur wehren: Im flachen, sandigen Flussbett der vielfach verzweigten Elbe, mit ihren Zuflüssen Alster und Bille, kämpften sie gegen hohe Grundwasserspiegel, täglich wechselnde Pegelstände und drohende Sturmfluten. Sie wirkten auf die Natur ein, blieben ihr aber lange Zeit weitestgehend ausgeliefert. Um die Region sicherer besiedeln und bewirtschaften zu können, entwickelten sie technische Hilfsmittel, zur Steuerung der Wassermassen: Im 12. Jahrhundert installierten Siedler:innen eine Unzahl von Entwässerungsgräben und ‑mühlen, legten künstliche Erdhügel an, auf denen sie ihre Höfe errichteten, und bauten Deiche, die sie vor den Fluten schützen sollten. Die heutigen Kanäle, ja sogar die Elbinseln und Flüsse wurden in Folge der massiven Umgestaltung durch den Menschen geschaffen – sie sind das Resultat jahrhundertelanger Umstrukturierungen. Zahllose Bauten wurden als Wehre zum Schutz vor dem Wasser der Elbe errichtet, und zwar solcherart, dass sich zugleich ein ökonomischer Nutzen aus der Nähe zum Wasser ziehen ließ. Damit wurde der Grundstein für das Wachstum der Hamburger Wirtschaft gelegt.
Wo ein Wille, da ein Wasserweg
Die Entwicklung Hamburgs zur Welthandelsstadt ist das Ergebnis eines Willensaktes basierend auf einer ökonomischen Entscheidung. Die Wasserstraße Elbe führt zwar in die Nordsee, dies jedoch erst nach vielen Flusskilometern. Gleichzeitig liegt Hamburg in räumlicher Nähe zur Ostsee. Nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Binnenlage konnte die Stadt im 13. Jahrhundert zum entscheidenden Bindeglied zwischen Nord- und Ostsee aufsteigen, indem die Elbe in Richtung Nordsee stetig ausgebaut und in Richtung Ostsee eine sichere Straßenverbindung geschaffen wurde. Die Hanse sicherte sich hierzu Wegerechte und das Recht, Handelsschiffe und Waren auf direktem Weg und zollfrei bis nach Hamburg zu transportieren – auch durch die Anwendung von Waffengewalt und rechtswidrigen Mitteln.
In dem Wirkgefüge zwischen Ackerbau, Handel und Militär wurde Natur als warenförmige Ressource bestmöglich genutzt und als Wirtschaftsgrundlage optimiert: Dies bezeugen z.B. die Veröffentlichungen des Hamburger Wasserbaudirektors Reinhart Woltman aus dem Jahr 1802. Er schreibt darin: »Insofern schiffbare Kanäle Kunstwerke hydraulischer Architektur sind, müssen ihre Dimensionen, und die Größen ihrer verschiedenen Theile, in gewisser Proportion zueinander stehen, bei welcher diese Kanäle die größte Zweckmäßigkeit, Dauerhaftigkeit und Nutzen erreichen.«1Woltmann, Reinhard (1802): Beyträge zur Baukunst schiffbarer Kanäle. Mit 6 Kupfertafeln. Göttingen, S.165 [online]
Der Kanal gerät in der Vorstellung Woltmans zu einem Leistungsträger, dessen messbare Parameter es im ökonomischen Sinne bestmöglich zu nutzen gilt. Die Doppeldeutigkeit des Begriffs ‘Kunstwerke’ ist bezeichnend: Es weist nicht nur auf die Künstlichkeit der Kanäle hin, sondern unterstreicht gleichzeitig die kreative und schöpferische Tätigkeit des Wasserbauers. Der Begriff ist Ausdruck eines Bestrebens, die Kräfte der Natur erkennen und beherrschen zu wollen. So wie die technokratische Umformung der Natur die Handelsstadt florieren ließ, so formte der vermehrte Handel die Architektur. Im weitläufigen Hafenbereich wurde die Nähe zum Wasser bewusst gesucht: Bauwerke für Handel und Gewerbe waren eng verzahnt mit einem dicht verästelten Kanalsystem. Den Anforderungen angepasst, wurden sie z.B. durch Pfahlgründungen, damit Mauern direkt im Wasser errichtet werden konnten. Andere Bauwerke wiederum sind eigens zur Beherrschung der Naturkräfte entstanden, etwa Schleusen und Hochwasser-Schutzanlagen.
Der Kampf gegen die innere Natur
Auch heute noch meint man sich in Hamburg der Natur erwehren zu müssen: gegen die äußere, den Menschen bedrohende, ebenso wie gegen die innere. Beide gehören jedoch zusammen und haben ihre Einheit im Menschen. Was sich an der inneren nicht beherrschen lässt, wird auf die äußere projiziert und mit den Mitteln der instrumentellen Vernunft und dem fortschreitendem technischen Entwicklungsstand immer effizienter den polit-ökonomischen Prämissen unterworfen. Die teilweise Autonomie des Menschen von der äußeren Natur führte bisher nicht zu einer Neugestaltung des Verhältnisses, sondern zu einer Fortschreibung unter ideologischen Vorzeichen.2Hierzu ausführlich, siehe: Dirk Lehmann, Die Verdinglichung der Natur. Über das Verhältnis von Vernunft und die Unmöglichkeit der Naturbeherrschung, in: Phase 2, 33 (Herbst 2009), online: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/die-verdinglichung-der-natur-255/?druck=1
Weil die Hafenstadt wachsen muss, so die Ideologie, müssen sich die Hamburger:innen gegen die Wassermassen stellen. Die Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert wurde der zufolge im frühen 17. Jahrhundert erweitert und durch eine massive sternförmige Festungsanlage ersetzt, durch die der Personen- wie Warenverkehr kontrolliert werden konnte. Der Hafen wurde mehrfach ausgebaut und dann in Richtung Containerterminal verlagert. Das Flussbett der Elbe wird seit dem 19. Jahrhundert fortwährend vertieft. All das musste geschehen, um den immer größer werdenden Schiffen gerecht zu werden – um wettbewerbsfähig zu bleiben. Nach dem großen Elbhochwasser von 1962 wurden die Deiche wiederholt erhöht. Mit diesen Deicherhöhungen »konnte eine hohe Sicherheit zum Schutz der Bevölkerung und der Sachwerte erreicht werden« schreibt der Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG) im Rahmen seiner Neuermittlung von 2012 des »Sturmflutbemessungswasserstandes«. Bevölkerung und Sachwerte fallen in dieser Beschreibung in eins – sind gleichermaßen Ressource. Der LSBG prognostiziert:
»Aufgrund des Klimawandels ist jedoch ein weiteres Ansteigen der Wasserstände absehbar. Daher müssen die Anstrengungen für den Küstenschutz weiter fortgesetzt werden, um drohenden Gefahren zu begegnen.«
Der Klimawandel wird als Grund benannt, dafür, dass Deiche erhöht, die Elbe vertieft und die Dove-Elbe als Ausweichfläche für den Tidenhub erschlossen werden müssen. In einer Studie der Internationalen Bauausstellung von 2009 mit dem bezeichnenden Titel Klimafolgenmanagement hingegen, wird kein Hehl daraus gemacht, dass die Ursachen nebst (menschengemachtem) Klimawandel in lokalen polit-ökonomischen Entscheidungen zu verorten sind:
Es sind »die Vertiefung von Elbe und Hafenbecken sowie die starre Sicherung der Ufer, [die] zur Folge [haben], dass die Wasserschicht auf einen engen Fließraum begrenzt bleibt und sich nicht in die Fläche, sondern nur in die Höhe ausdehnen kann. Tidenhub und Sedimentation werden auf diese Weise verstärkt, folglich nimmt auch der Aufwand für die Ausbaggerung zu.«
Die Folgen des Klimawandels könnten gemäß der Studie nur dann ausgeglichen werden, wenn die dynamische Schaffung von weiterem Schwemmland – wie die zurzeit diskutierte Anbindung der Dove-Elbe an das Tidengewässer –, eine technologische Regulierung der Wasserströme und der Bau immer massiverer Hochwasserschutzanlagen forciert würden. All diese Maßnahmen sind eine Reaktion auf steigende Pegelstände. Sie stellen nicht in Frage, weshalb die Elbe und Hafenbecken vertieft und weshalb Ufer starr gesichert werden müssen. Der Schutz vor der Naturgewalt Wasser erweist sich als gutes Argument bei der Expansion von Stadt und Hafen. Nicht die Produktionsweise des Menschen, sondern die ihm äußere Natur erscheint als jener Wirkungsbereich, den es technisch zu beherrschen gilt – qua Klimafolgenmanagement.
Triumph über die Natur?
Die Architektur der Elbphilharmonie bringt das Verhältnis von Herrschern und Beherrschtem mit den Mitteln moderner Baukunst überspitzt zum Ausdruck: Der Mensch schafft die stabilste und größte aller Wellen selbst, nicht weil er es muss, sondern weil er es kann. Vor diesem Hintergrund wird Buggenhouts Skulptur mit Verweis auf die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel nachvollziehbar. Ein technisch hoch komplexes Orchestergebäude bedarf keiner Kaimauer. Es wurde inmitten der Elbe erbaut, der Aussage folgend anything goes. »Denn nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem was sie sich vorgenommen haben zu tun«. Das klingt größenwahnsinnig, aber immerhin könne nun jede:r Besucher:in ein »bisschen Fürst« sein – schwärmt Christian Marquart in der Architekturzeitschrift Bauwelt. Die gigantischen Baukosten von 866 Millionen Euro rechtfertigt das nicht. Auch die Plaza, die man während der Öffnungszeiten der Elbphilharmonie gegen ein Eintrittsgeld von 2,00 Euro pro Besucher:in betreten darf, lässt sich schwerlich als öffentlich bezeichnen.
Marquart sieht in der wellenförmigen Krone ein Bildzitat aus dem berühmten Werk Die große Welle vor Kanagawa des japanischen Holzschneiders Hokusai. Hokusais Werk jedoch erweckt Ehrfurcht angesichts der gewaltigen Natur. Der 110 Meter hohe statische Wellenkamm der Elphi ist hingegen dermaßen gigantisch, dass er die realen Wasserwogen, die die Philharmonie umgeben, ihrer Lächerlichkeit preisgibt. Das Bauwerk zwingt dem es umgebenden Wasser ihren instrumentellen Begriff von Natur und Naturbeherrschung auf. Eine solche Verkehrung ist Ausdruck gesellschaftlicher, und speziell der Hamburger, Verhältnisse. Die Riesenwelle bringt diese, wenn auch unfreiwillig, so doch gelungen zum Ausdruck. Sie macht sich den Begriff des Wassers zu eigen und keinen Hehl daraus, wer hier über die Natur triumphiert. Sie ist eine Kampfansage an die Natur.
Erste Entwürfe der Elbphilharmonie entstanden 2003 mit dem Ziel, ein neues Wahrzeichen für die Stadt zu erschaffen. Zu jener Zeit war Gerhard Schröder Bundeskanzler, Ole von Beust Hamburgs Erster Bürgermeister und in der bundesdeutschen Öffentlichkeit wurde zaghaft begonnen, über den Klimawandel zu diskutieren. Das Bewusstsein darüber, dass es sich um eine ausgewachsene Klimakrise handelt, folgte allmählich. So ersetzte der Guardian z.B. den Begriff climate change durch drastischeres Vokabular.3The Guardian, vom 19.10.2019: »We will use language that recognises the severity of the crisis we’re in. In May 2019, the Guardian updated its style guide to introduce terms that more accurately describe the environmental crises facing the world, using ›climate emergency, crisis or breakdown‹ and ›global heating‹ instead of ›climate change‹ and ›global warming‹. We want to ensure that we are being scientifically precise, while also communicating clearly with readers on the urgency of this issue«. Damit schien sich ein neues Bewusstsein des Verhältnisses von Mensch und Natur zumindest anzudeuten, das die bisherige Naturbeherrschung irgendwann einmal ablösen könnte. Die Elbphilharmonie, das technisch perfekte, hochkulturelle Wahrzeichen der Stadt Hamburg, mit integriertem Parkhaus, Hotel und teuren Eigentumswohnungen wirkt dagegen wie eine Trutzburg der in diesem Beitrag nachgezeichneten Ära. Ihr Baustil kann damit als steingewordene Herrschaftsarchitektur bezeichnet werden, errichtet in einer Zeit, in der eine unbeherrschbare Flut noch nicht vorstellbar schien.
Norika Rehfeld, Mai 2021
Die Autorin ist Sozialwissenschaftlerin, arbeitet aus Überzeugung nicht im Wissenschaftsbetrieb und findet die Kapriolen, die in der Elbphilharmonie zur Optimierung der Akustik geschlagen wurden, tatsächlich super.
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Woltmann, Reinhard (1802): Beyträge zur Baukunst schiffbarer Kanäle. Mit 6 Kupfertafeln. Göttingen, S.165 [online]
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Hierzu ausführlich, siehe: Dirk Lehmann, Die Verdinglichung der Natur. Über das Verhältnis von Vernunft und die Unmöglichkeit der Naturbeherrschung, in: Phase 2, 33 (Herbst 2009), online: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/die-verdinglichung-der-natur-255/?druck=1
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The Guardian, vom 19.10.2019: »We will use language that recognises the severity of the crisis we’re in. In May 2019, the Guardian updated its style guide to introduce terms that more accurately describe the environmental crises facing the world, using ›climate emergency, crisis or breakdown‹ and ›global heating‹ instead of ›climate change‹ and ›global warming‹. We want to ensure that we are being scientifically precise, while also communicating clearly with readers on the urgency of this issue«.