Der Hamburger Dom ist beliebtes Ausflugsziel für kurzzeitiges Vergnügen. Der Spaß hat jedoch seinen Preis, und den zahlen nicht zuletzt Saisonarbeiter:innen aus dem Ausland. Die Lokalpresse verbreitet hingegen das Glücksversprechen des größten Volksfestes im Norden. Gäbe es nicht bessere Verwendungsmöglichkeiten für eine Freifläche mitten in der Stadt?
Was hinter den glitzernden Fassaden des Hamburger Doms liegt, bleibt zumeist im Dunkeln. Foto: privat
Im Frühjahr und Sommer des Jahres 2021 – wie auch bereits im Jahr zuvor – wurde das Heiligengeistfeld zum tatsächlichen Herz von St. Pauli. Waren die Kneipen und Clubs noch pandemiebedingt geschlossen, so fanden sich des Nachts feierwütige Hamburger:innen mit Flaschenbier und Soundsystem auf dem Platz ein – zumindest solange der Stadtstaat nicht seine Muskeln spielen ließ und Wasserwerfer schickte. Tagsüber drohte das nicht und so war das Feld häufig schon mittags Freifläche für spielende Kinder, Skater:innen und Sonnenbadende. Im Juli begannen dann die ersten Schausteller:innen den Platz mit ihren Fahrgeschäften für sich zu reklamieren. Aus der für viele unkommerziell nutzbaren Freifläche wurde die Gated Community einiger weniger, die den öffentlichen Raum kapitalisierten. »Juhu«, freute sich die BILD, »Freitag startet endlich wieder der Dom!«
Der jenseits pandemischer Lagen dreimal jährlich stattfindende Riesenrummel verspreche, so der Artikel weiter, »Sommer, Sonne und viel Spaß«. Für alle, die diese Dreifaltigkeit der Vergnügungskultur schon zuvor auf dem Feld genossen hatten, waren die anrückenden Schausteller:innen jedoch weniger Grund zur Freude. Zwischen den nach und nach zusammengehämmerten Karussells fanden sich immer wieder die vormaligen Nutzer:innen des Heiligengeistfeldes ein – bis der Platz Ende Juli endgültig umzäunt und der Zugang streng kontrolliert wurde. Für viele bot sich so in diesen Juliwochen, quasi als kleiner Ausgleich für die genommene Fläche, die Möglichkeit ethnografischer Studien über das Schausteller:innenleben.
Nicht nur in Sommernächten begehrt – eine Freifläche mitten in der Stadt. Während des Coronasommers 2021 zog das Heiligengeistfeld gar so viele Menschen an, dass die Polizei regelmäßig die Party unterbrach. Fotos: privat
Amusement und Ausbeutung
Den neugierigen Blicken offenbarte sich jedoch nicht jener weit verbreitete Mythos des Familienbetriebs im Wohnwagen. Oder wie es nach wie vor im Volksmund und in der Presseberichterstattung heißt: des »fahrenden Volkes« (dessen Romantisierung gerade in diesem Land mit seiner Geschichte einige Fragen aufwirft). Der real existierende Kapitalismus, dessen Fassade auf dem Hamburger Dom nicht nur metaphorisch glitzert, zeigte hinter den Karussellkulissen seine nur allzu gern verschwiegenen Widersprüche. Um es einmal zuzuspitzen: Das Ticket für den Eintritt ins Schausteller:innenleben ist offenbar ein Mercedes-SUV; Modellreihe irgendetwas mit »G«. Den hohen Anschaffungspreis dieser Statussymbole erwirtschaften auch jene Saisonarbeiter:innen, deren Rumänisch bei Sommerhitze von den halbfertigen Achterbahnen über den Platz schallte. Schätzungsweise 90 Prozent der Hilfsarbeiter:innen, die auf deutschen Jahrmärkten und Volksfesten als »billige Arbeitskräfte« schuften, kommen aus Rumänien.
Der „Shaker“ – rumänische Hilfsarbeiter:innen und Mercedes SUV. Foto: privat
»Jede Menge Spaß auf St. Pauli«, wie es zum nun auslaufenden Winterdom auf der offiziellen Seite der Stadt Hamburg heißt, beruht eben auch auf der Ausbeutung importierter Arbeitskraft aus Niedriglohnländern. Das ist an sich wenig verwunderlich. Auch Amusement muss unter kapitalistischen Verhältnissen produziert werden. Was beim Hamburger Dom auffällt: Gesprochen wird über diese Verhältnisse höchst ungern.
Mindestlöhne…
Denn wer die Beobachtungen zu teuren Autos und Saisonarbeiter:innen – sie sind in der Tat nur Beobachtungen – belegen will, der findet nicht viel. In der hiesigen Presse und seitens der Stadt wird der Dom zumeist bejubelt und seine glitzernde Fassade, der Schein im wahrsten Sinne des Wortes, als Wahrheit eingekauft. Zur Frage nach der Unterkunft der Saisonarbeiter:innen findet sich indes ein mittlerweile fast 20 Jahre alter Artikel. Der hat es allerdings in sich. Das Hamburger Arbeitsamt war nach der Beschwerde eines rumänischen Arbeiters aktiv geworden. Der Arbeiter hatte weniger Lohn als vereinbart erhalten – musste dafür jedoch mehr Arbeitszeit ableisten (105 Stunden) als vertraglich vereinbart (40 Stunden).
Das Amt rückte zur Großkontrolle aus: Dabei konnten zwar nur wenige der erwarteten Verstöße festgestellt werden, doch sei eine ganz andere Sache schockierend gewesen. Die Unterkünfte der Arbeiter erinnerten die Kontrolleur:innen an die »Haltung von Tieren«. Die mit dieser Tatsache konfrontierten Schausteller:innen nahmen zur Sache keine Stellung. Empört war man jedoch, dass das Arbeitsamt kurz vor der Eröffnung des Volksfestes offenbar ihren Ruf ruinieren wolle. Und wieviel verdienen Saisonarbeiter:innen nun? Wenn sie Glück haben, wird ihnen offenbar der Mindestlohn ausgezahlt – einem Sprecher des Zolls zufolge gibt es hier nur wenige Verstöße.
Viel mehr findet sich dann allerdings auch nicht über die Arbeitsverhältnisse auf dem Hamburger Dom. Aber auch ein Nichtbefund ist ein Befund – die Saisonarbeiter:innen bleiben unsichtbar. Dies steht erstens im Gegensatz zu jenen Lebewesen, die Tierhaltung im Wortsinne erleiden: Für die Dom-Ponys, die dort auf engstem Raum trist ihre kleinen Kreise ziehen, konnten viele ihr Herz erwärmen – sie schafften es etwa ins Wahlprogramm der Grünen (S. 133/143) für die Bürgerschaftswahl 2020. Das Pony-Karussell sorge »für Unbehagen bei den Besucher*innen«, heißt es dort, man wolle die Tierhaltung bei Volksfestens abschaffen. Zweitens steht die Unsichtbarkeit der Arbeiter:innen im krassen Gegensatz zur Medienpräsenz ihrer Vorgesetzten. Gerade in Zeiten der Pandemie, der Branche ging es ja in der Tat nicht gut, erfuhren die Schausteller:innen viel Aufmerksamkeit. Das dabei in Dauerschleife gespielte Lamento existenzieller Nöte erinnert bisweilen an die Pressearbeit deutscher Polizeigewerkschaften. Wie schlecht es um die Branche tatsächlich bestellt ist, ist dabei schwer zu sagen. Konkrete Zahlen werden nicht genannt.
… und Millionenumsätze
Was verdienen also Schausteller:innen? Genau beziffern lässt sich dies nicht. Aber: Der Umsatz auf Volksfestplätzen, so eine Studie des Deutschen Schaustellerbundes aus dem Jahr 2018, lag bei 4,75 Milliarden Euro. Wenn nun, wie es besagter Studie zu entnehmen ist, der Winterdom rund zwei und der Sommerdom rund zweieinhalb Millionen Besucher:innen anzog – wohlgemerkt: vor Corona – und diese im Schnitt 25 Euro ausgaben, so lag der Umsatz der Fahrgeschäfte und Buden des Doms zwischen 50 und 62,5 Millionen Euro. Was davon tatsächlich als Gewinn bei den Betrieben hängenbleibt, ist ebenfalls unklar. Der ethnografische Blick und der sich ihm zeigende Fuhrpark der Schausteller:innen – die Mercedes-SUVs – lassen jedoch vermuten, dass es zum Leben reicht.
Derzeit neigt sich der Winterdom dem Ende zu. Folgt man der Hamburger Morgenpost, dann war diese Ausgabe des Volksfestes die »wichtigste aller Zeiten«. Denn »selbst im Krieg« hätten die Schausteller:innen mehr verdient als während der Corona-Lockdowns. Es geht also – mal wieder – um die Existenz. Während Mopo und Co. ihre Leser:innen dazu aufrufen, mit ihrem solidarischen Besuch das Bestehen des Doms zu sichern, hätte so manche:r Anwohner:in womöglich nichts dagegen, wenn es der letzte Dom wäre. Die dann ganzjährig freie Fläche (von Events wie dem »Schlagermove« einmal abgesehen, der doch bitte noch dringender der Pandemie zum Opfer fallen soll) haben die Hamburger:innen ja schon für sich zu nutzen gelernt.
Johannes Radczinski, Dezember 2021
Der ethnografische Blick auf das Leben von Schausteller:innen offenbarte sich dem Autor, der das Heiligengeistfeld im Sommer 2021 fast täglich nutzte, eher unfreiwillig. Zuletzt schrieb er auf Untiefen über das nur einen Steinwurf vom Dom entfernte Bismarckdenkmal.
Die Szene Hamburg ist in dieser Stadt eine Institution. Seit bald 50 Jahren erscheint das Stadtmagazin monatlich. Es verstand sich nie als Teil einer Gegenöffentlichkeit, lieferte aber dennoch mitunter kritischen Journalismus. Heute, eine Insolvenz und mehrere Eigentümerwechsel später, ist es kaum mehr als ein Anzeigenblatt. Wir haben uns das November-Heft angeschaut.
Dickie war noch ein Kind, als er die Szene »quasi im Alleingang erfunden« hat. Foto: Youtube-Screenshot
Aus dem seit 2013 in einigen Hamburger Programmkinos laufenden Werbespot zum vierzigsten Jubiläum der Szene Hamburg wissen wir: Die Idee für diese Zeitschrift hatte Dickie Schubert, Betreiber des Internetcafés Surf n’ Schlurf im Schanzenviertel und einer der Gründer der Band Fraktus. Dickie hatte sich auf »so ’nem kleinen Schmierzettel« seine genialen Einfälle notiert: »verschiedene Rubriken wie zum Beispiel, was ich gut finde – Mode, Musik, Essen und so«. Dann aber entwendeten »die Leute von der Szene« den Zettel – und bauten auf ihm das Konzept ihres Stadtmagazins auf. So jedenfalls geht der von Rocko Schamoni und Regisseur Christian Hornung (»Manche hatten Krokodile«) präsentierte Mythos.
Tatsächlich wurde die Szene Hamburg 1973 von Klaus Heidorn gegründet, der zuvor als Texter in einer Werbeagentur gearbeitet hatte. Ziel war ein Kultur- und Veranstaltungsblatt, das den bis dahin vernachlässigten Bereich zwischen etabliertem Kulturbetrieb und linker Subkultur abdeckt. Er wolle »alle Unternehmungslustigen zwischen 14 und 40, in Anzug und Jeans« erreichen, wird Heidorn 1974 vom Spiegel zitiert. Damit unterscheidet sich die Szene Hamburg von den allermeisten anderen Stadtmagazinen in der BRD, die sich häufig auch als »Stattzeitungen« bezeichneten. Denn egal ob Tip und Zitty in Berlin, der Pflasterstrand in Frankfurt oder die Stadtrevue in Köln, all diese Magazine gründeten sich in den siebziger Jahren als Organe der Gegenöffentlichkeit. Sie verstanden sich – jedenfalls in ihren Anfangszeiten – als nicht-kommerzielle Freiräume für kritischen Journalismus und alternative Kultur und waren unter anderem für ihre wilden Kleinanzeigen-Seiten bekannt.1Eine Sammlung der kuriosesten Kleinanzeigen aus diesen und anderen Magazinen findet sich in Franz-Maria Sonner (Hg.): Werktätiger sucht üppige Partnerin. Die Szene der 70er Jahre in Kleinanzeigen, Antje Kunstmann Verlag: München 2005.
Die Szene Hamburg hingegen verhehlte nie, dass sie vor allem ein lukratives Segment des Anzeigenmarkts erschließen wollte. Das schloss journalistische Qualität nicht unbedingt aus: Heidorn bezeichnete die Zeitschrift gerne als »den Spiegel unter den Stadtmagazinen«. In einer Forschungsarbeit von 1994 wurde der Szene attestiert, sie gehöre »zu den intellektuellsten und geistreichsten Stadtmagazinen Deutschlands«.2 Christian Seidenabel: Der Wandel von Stadtzeitungen. ›Was widersteht, darf überleben nur, indem es sich eingliedert‹. Roderer: Regensburg 1994, S. 58. René Martens, zeitweilig Redaktionsleiter der Szene schrieb 2015 in der taz: »Was die Szene schrieb, hatte Gewicht im (Sub-)Kulturbetrieb, und das Blatt stand für eine politische Haltung, die sich abhob von der der etablierten Medien in der Stadt.« Und Christoph Twickel, von 2000 bis 2003 Chefredakteur der Szene, meinte: »Die Szene Hamburg war für viele, die sich nicht nur für Mainstreamkultur interessierten, überlebenswichtig.«
Überleben durch Anpassung
Zu diesem Zeitpunkt, im März 2015, stand die Szene Hamburg allerdings kurz vorm Aus, nachdem sie bereits lange von Krise zu Krise gehangelt war: Im Jahr 2000 hatte der laut Twickel »dauerbetrunkene« Heidorn, kurz vor dem Konkurs stehend, die Zeitschrift verkauft und sich das Leben genommen. 2004 wurde bekannt, dass die Szene systematisch die Auflagezahlen geschönt hatte, und sie wurde an eine Consulting-Firma verkauft. 2015 kam dann die zuvor mehrfach soeben noch verhinderte Insolvenz. Die Szene war damit aber noch nicht Geschichte: Die Vermarktungsgesellschaft VKM sicherte sich die Namensrechte und konnte die Szene auf diese Weise »vor dem scheinbar sicheren Tod […] retten«, wie es auf der Unternehmenshomepage heißt. Inzwischen verzeichnet das Stadtmagazin eine vergleichsweise stabile Auflagenzahl in Höhe von ca. 15.000 verkauften Exemplaren, darüber hinaus gibt es ein gutes Dutzend Sonderhefte, vom »Uni-Extra« bis zum »Summer Guide«.
Mit der Übernahme durch VKM wurde eine Entwicklung zum Abschluss gebracht, die Twickel zufolge schon länger im Gange gewesen war. Auf der organisatorischen Ebene lautete sie: weniger Lohn, weniger feste Mitarbeiter:innen, mehr unbezahlte Praktikant:innen.3Die im Impressum der Ausgabe 11/2021 genannte Praktikantin hat tatsächlich einen beträchtlichen Teil der Beiträge verfasst. Und dass das Schlusslektorat, wie Twickel berichtet, schon vor einiger Zeit gestrichen wurde, macht sich auch bemerkbar: Ein Beitrag zu den Hamburger Weihnachtsmärkten bricht mitten im Satz ab. Die Entwicklung auf der inhaltlichen Ebene wird von Twickel mit einer Anekdote beschrieben: »Nachdem ein Verriss des Musicals König der Löwen erschienen war, stand die klagende Anzeigenverkaufsleiterin vor meinem Schreibtisch: ›Du setzt unsere Arbeitsplätze aufs Spiel!‹ Die Musicalbetreiber hatten nach dem Verriss sämtliche Anzeigen storniert.«4Tatsächlich wurde Christoph Twickel 2003 wohl vor allem wegen seiner unbequemen, nicht zu Kompromissen zugunsten von Anzeigenkund:innen bereiten Haltung als Chefredakteur gefeuert. Darüber berichtete damals unter anderem Tino Hanekamp (Link).
Großspurig und unscharf: Das Novemberheft der SZENE Hamburg. Foto: privat
Ein positives Anzeigenumfeld
Der Verriss eines Musicals der Stage Entertainment GmbH wäre in der Szene heute undenkbar. Das zeigt auch ein Blick in die November-Ausgabe. Zwischen redaktionellen Beiträgen und Anzeigen ist hier keinerlei Widerspruch zu spüren. In der gemeinsam mit dem Hamburger Sportbund (HSB) verantworteten Sport-Beilage etwa inserieren alle Sponsoring-Partner des HSB. Zu den Anzeigenkund:innen gehören natürlich auch die Kultureinrichtungen, die im Heft mit Interviews und Artikeln bedacht werden. Das Mehr! Theater am Großmarkt etwa revanchiert sich für eine aalglatte Besprechung über sein Harry-Potter-Musical (ein »magisches Spektakel«, das »natürlich nicht nur etwas für Harry-Potter-Anhänger, sondern für alle« sei) mit einer ganzseitigen Anzeige auf der Rückseite des Hefts. Und selbst beim Titelthema »Tod« steht das Anzeigengeschäft nicht hintan. Redaktionelle Beiträge zum Bestattungsunternehmen trostwerk und zu den Erinnerungsgärten, einer ökologischen Bestattungsanlage, werden von Anzeigen ebendieser Unternehmen flankiert (aber nicht auf derselben Seite, sonst könnte es ja wieContent-Marketing aussehen). Dass VKM in den Redaktionsräumen der Szene auch »einige Handelskammer-Magazine« produziert, ist ein Sinnbild dafür, wie symbiotisch die Beziehung zwischen der Zeitschrift und ihren Anzeigenkund:innen ist.5Geradezu grotesk wirkt angesichts dieses offenkundigen quid-pro-quo-Prinzips ein bierernstes Plädoyer für die Presse des Redakteurs Marco Arellano Gomes, das im August 2020 in der Szene erschien. »Die Welt droht eine zu werden, in der das Ich mehr zählt als das Wir«, klagt der Autor angesichts von Social Media und Content Marketing, und fordert die Einhaltung der »journalistischen Grundregeln«, zu denen auch gehöre, »Beiträge nicht im Austausch gegen Anzeigenbuchungen [zu] lancieren«. Ob er wohl mal eine Ausgabe der Szene in der Hand gehabt hat?
Anzeige im Novemberheft: „Dein Leben verdient ein happy END…!“ – Und was ist mit der Szene? Foto: privat
Selbstverständlich hat die Szene auch zahlreiche »Kooperationspartner«, u.a. HVV switch, Lotto Hamburg und MINI Hamburg. Die Marke MINI baut hochpreisige Kleinwagen und ist Teil der BMW AG, womit sie natürlich prädestiniert dafür ist, eine im Nachhaltigkeits-Kostüm daherkommende Online-Veranstaltung »über die Zukunft der Stadt« auszurichten. Mit dabei: Tanya Kumst, Geschäftsführerin der Szene Hamburg, und der Gastronom Sebastian Junge. Moment, kennen wir den nicht? Ach ja, der hat den u.a. von MINI Hamburg gesponsorten »Nachhaltigkeitspreis« der Szene gewonnen, wie wir in der Rubrik »Essen+Trinken« erfahren. Er setze sich für eine »wertschätzende Genusskultur« ein, heißt es in der von der Szene angeführten Begründung: »›Alles grün bei uns!‹ ist hier keine leere Worthülse, sondern gelebter Alltag. Beispiele gefällig? Sebastian Junge bezeichnet sich selbst als Aktivist für nachhaltige sowie umweltgerechte Genusskultur und kreiert mit seinem Team handgemachte Gerichte aus regionalen Zutaten, die von Produzenten stammen, mit denen das Restaurant eng und teilweise freundschaftlich verbunden ist.«
Reklamesprache auf der Höhe der Zeit
Man merkt: Hier sind die Worthülsen nicht leer, sondern prall gefüllt mit gut angedicktem Diskursbrei. Denn es finden sich in der Szene nicht nur die üblichen Phrasen vom »schnuckeligen Café« und vom Sterben als dem »letzten Streckenabschnitt des Lebens« oder tautologischer Sprachmüll wie der vom Restaurant, das durch überzeugende Kochkunst überzeugt. Nein, so wie MINI Hamburg ist auch die Szene auf dem aktuellen Stand der Reklamesprache: Alles hier ist ›nachhaltig‹ und ›regional‹, ›divers‹ und ›facettenreich‹. Das ist kein Zufall, kommen doch viele der Beiträger:innen aus Werbung und Marketing und schreiben daher nicht, sondern »texten« oder »erstellen content«.
Einer dieser Texter schreibt beispielsweise eine launige Glosse über den Tod, die witzig sein soll, aber so arm an Witz wie reich an schiefen Metaphern ist (»Da nimmt der eine oder andere die Unsterblichkeit einfach in die eigene Hand, bevor sie kalt ist.«). Am Schluss weiß man zumindest, in welchem Zustand der Autor diesen Stuss geschrieben hat: »Ich sage: Lebe so, dass deine Stammkneipe nach deinem Ableben dichtmachen kann.«
All das heißt nicht, dass das Heft nicht auch manches Interessantes enthält. Ein Beitrag über den Schriftsteller Mesut Bayraktar etwa, dessen Gastarbeitermonologe am 25. November am Schauspielhaus uraufgeführt wurden, ist zwar eine Gefälligkeitsarbeit (der Autor des Beitrags ist wie Bayraktar Teil des Literaturkollektivs nous – konfrontative Literatur), aber eine lesenswerte; Diversität ist in dem Heft, etwa bei der Auswahl der Interviewpartner:innen, mehr als nur eine Phrase; und die Filmkritiken (v.a. diejenigen von Ressortleiter Marco Arellano Gomes) sind trotz ihrer Kürze gehaltvoll und genau.
Auf Affirmation getrimmt
Wollte man das Heft aber auf einen Nenner bringen, wäre es eindeutig: Affirmation. Egal ob es um Gastronomie geht oder um den Tod, nichts möchte hier schlechte Laune machen, für Irritation oder Zweifel sorgen. Wenn einer der vielen als ›Interview‹ bezeichneten Werbebeiträge mit einem kursiv gesetzten »(lacht fröhlich)« endet, ist das für die Stimmung in diesem Heft symptomatisch. Auch die Testimonials von drei Hamburger:innen in der Rubrik »SZENEzeigen« sind weitgehend auf Affirmation getrimmt. »Für mich ist Hamburg die schönste Stadt der Welt«, sagt eingangs etwa die in Rotherbaum aufgewachsene Natascha. Und der Beitrag von John, der sein Geld als Taxifahrer verdient, schließt mit dem Satz: »Manchmal gucke ich aus dem Fenster und sage mir: Du bist im Paradies.«
Um ein gutes Anzeigenumfeld darzustellen (die Inhaberfirma verspricht »maßgeschneidertes Marketing in einem passenden Rahmen«), sendet die Zeitschrift stets eine positive ›Message‹ aus. Damit das gewährleistet ist, muss manchmal etwas herumgewurstelt werden. Etwa wenn die ehemalige FDP-Landesvorsitzende Katja Suding in der Rubrik »Gude Leude« von ihrem schwierigen Quereinstieg in die Politik erzählt und davon, »wie ich dann aber auch Fuß gefasst habe und es gut lief, es mir aber nicht so wirklich gut ging«. Vielleicht, denkt man dann, ist dieser verunglückte Satz nicht nur in sprachlicher Hinsicht charakteristisch für diese Zeitschrift, sondern auch in inhaltlicher: Es läuft gut bei der Szene, sie verkauft Hefte und Anzeigen. Aber misst man sie an ihrem Anspruch, über »gesellschaftliche Themen und stadtpolitische Entwicklungen in Hamburg« zu berichten, also journalistisch zu arbeiten, muss man konstatieren: Es geht ihr nicht so wirklich gut.
Lukas Betzler
Der Autor freut sich trotz allem jedes Mal wieder, wenn er den Szene-Werbespot im Kino sieht.
1
Eine Sammlung der kuriosesten Kleinanzeigen aus diesen und anderen Magazinen findet sich in Franz-Maria Sonner (Hg.): Werktätiger sucht üppige Partnerin. Die Szene der 70er Jahre in Kleinanzeigen, Antje Kunstmann Verlag: München 2005.
2
Christian Seidenabel: Der Wandel von Stadtzeitungen. ›Was widersteht, darf überleben nur, indem es sich eingliedert‹. Roderer: Regensburg 1994, S. 58.
3
Die im Impressum der Ausgabe 11/2021 genannte Praktikantin hat tatsächlich einen beträchtlichen Teil der Beiträge verfasst. Und dass das Schlusslektorat, wie Twickel berichtet, schon vor einiger Zeit gestrichen wurde, macht sich auch bemerkbar: Ein Beitrag zu den Hamburger Weihnachtsmärkten bricht mitten im Satz ab.
4
Tatsächlich wurde Christoph Twickel 2003 wohl vor allem wegen seiner unbequemen, nicht zu Kompromissen zugunsten von Anzeigenkund:innen bereiten Haltung als Chefredakteur gefeuert. Darüber berichtete damals unter anderem Tino Hanekamp (Link).
5
Geradezu grotesk wirkt angesichts dieses offenkundigen quid-pro-quo-Prinzips ein bierernstes Plädoyer für die Presse des Redakteurs Marco Arellano Gomes, das im August 2020 in der Szene erschien. »Die Welt droht eine zu werden, in der das Ich mehr zählt als das Wir«, klagt der Autor angesichts von Social Media und Content Marketing, und fordert die Einhaltung der »journalistischen Grundregeln«, zu denen auch gehöre, »Beiträge nicht im Austausch gegen Anzeigenbuchungen [zu] lancieren«. Ob er wohl mal eine Ausgabe der Szene in der Hand gehabt hat?
Die Untiefen stellen sich vor: Am kommenden Sonntag, den 5. Dezember 2021, um 19 Uhr sprechen wir im Rahmen des Bücherbasars Booky McBookface mit Textem-Verlegerin Nora Sdun über unser Projekt.
Schon 32 Bände hat Textem in der Reihe Kleiner Stimmungs-Atlas in Einzelbänden publiziert. Foto: privat
Bald ist es wieder so weit: Der Textem-Verlag lädt zur Booky McBookface, der traditionellen vor- und unweihnachtlichen Mini-Buchmesse, in die Verlagsräume in der Schäferstraße 26. Vom 2.–5. Dezember kann man dort nicht nur schöne Bücher kaufen (von Textem, adocs, Montez Press und eeclectic), sondern auch tolle Veranstaltungen besuchen. Auch wir werden dort sein, unseren Blog vorstellen und gemeinsam mit Nora von Textem darüber sprechen, warum es ein Stadtmagazin gegen Hamburg braucht. Am 5. Dezember, 19 Uhr. See you there!
Vor 98 Jahren begann der »Hamburger Aufstand« der KPD. Der letzte Revolutionsversuch in Hamburg scheiterte zwar beinahe sofort, wirkte aber in der Karriere Ernst Thälmanns und der Stalinisierung der KPD nach. Wie kann eine Auseinandersetzung mit den weitgehend vergessenen Ereignissen von damals heute aussehen?
Eins von offenbar wenigen Bildern der Aufständigen. In Barmbek (Hamburger Str. Ecke Schmalenbecker Str.) wird eine Barrikade errichtet. Foto: unbekannt
Heute, am 23. Oktober 2021, jährt sich zum 98. Mal der sogenannte »Hamburger Aufstand« der KPD. Zwei oder drei, höchstens vier Tage lang lieferten Anhänger*innen der Kommunistischen Partei sich mit der Polizei in Hamburg und den angrenzenden preußischen Gemeinden Wandsbek und Schiffbek (heute Billstedt) einen bewaffneten Straßenkampf. Sie stürmten in den frühen Morgenstunden des 23. Oktober Polizeiwachen in Arbeiter*innenstadtteilen, um Gewehre und Pistolen zu erbeuten und verschanzten sich auf Dächern und hinter Barrikaden. Vor allem in Barmbek und Schiffbek konnten sie einige Straßenzüge zunächst verteidigen, insgesamt aber war der Aufstandsversuch von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Er wurde blutig niedergeschlagen.
Dem Aufstand gingen in einer Hochphase der Inflation spontane Hungerrevolten und Plünderungen voraus, zudem rechtsextreme Putschversuche in Bayern und zugespitzte Auseinandersetzungen zwischen KPD und SPD. Gescheitert ist er nicht erst militärisch, sondern schon politisch im Vorfeld. Er wurde vom »ultralinken« Flügel der Hamburger KPD unter Führung von Hugo Urbahns, Hans Kippenberger und Ernst Thälmann gegen den Mehrheitswillen der Partei ausgerufen und erhielt keine nennenswerte Hilfe von außerhalb. Es waren zwar große Teile des Hamburger Proletariats politisch in Bewegung, doch sie und die breite Bevölkerung unterstützten die etwa 300 kämpfenden Kommunist*innen offenbar nicht maßgeblich.
Folgenlos blieb der Aufstand aber keineswegs. Nationale und konservative Kreise nutzten ihn in Hamburg und der Republik zur Agitation für Ausnahmegesetze und den Abbau demokratischer Rechte. In der KPD dagegen wurde er schnell zum Mythos. Die Diskussion über die Schuld für das Scheitern in Hamburg entschied die Komintern 1924, indem sie die »rechten«, moderaten Kräfte in der KPD verantwortlich machte. So konnte der »ultralinke« moskauhörige Flügel in der KPD zur Macht gelangen und Ernst Thälmann zum Vorsitzenden aufsteigen. Damit trug der Hamburger Aufstand letztlich zur 1924 beginnenden Bolschewisierung und Stalinisierung, auch der deutschen KP, bei. Deren »ultralinke« Politik ab 1929 spielte bekanntlich eine wesentliche Rolle in der Katastrophe, dass keine Einheitsfront von Sozialdemokrat*innen, Kommunist*innen und Gewerkschafter*innen gegen den Nationalsozialismus zu Stande kam. In der Geschichtsschreibung der späteren KPD und der offiziellen Version der DDR wurde er dennoch zu einem heroischen, aber verratenen Aufstand stilisiert, der Vorbild für die kommende Revolution sein sollte. Das wiederum dürfte einer der Gründe dafür sein, dass er heute selbst unter radikalen Linken weitgehend in Vergessenheit geraten ist. Es ist doch nicht »unser« Aufstand, nicht »unser« Kommunismus, der da gescheitert ist. Gefeiert wird er selbst in Hamburg nur von einigen traditionell kommunistischen Linken im Umfeld der DKP.
Diese Ignoranz aber geht in jene Falle, die Bini Adamczak in Gestern Morgen für die kommunistische Aufarbeitung des Stalinismus insgesamt benannt hat:
»In ihrer Rhetorik des Bruchs mit einer Vergangenheit, mit der sie nicht brechen können, weil sie sie beschweigen, sie nicht einmal kennen, bestätigen diese Kommunistinnen der Gegenwart die Behauptung ihrer Gegner, das Ende der Geschichte sei bereits erreicht, weil für sie diese Geschichte beendet ist. Als gäbe es keine Vorfahren, als habe es keine Vorkämpferinnen gegeben. Aber die vergangenen Kämpfe um die Zukunft zu begraben bedeutet unter den fortwirkenden Bedingungen der Niederlage nichts anderes als die Zukunft selbst, eine andere Zukunft zu begraben.« 1Adamczak, Gestern Morgen, S. 25
Wer eine kommunistische Revolution noch immer für notwendig hält oder gar die Selbstbezeichnung »revolutionär« beansprucht, muss die gescheiterten Revolutionsversuche – zumal im eigenen Land, in der eigenen Stadt – als Teil der eigenen Geschichte begreifen. Sie als Geschichte der Anderen, der Antiimps, der DKP, der Paläomarxist*innen abzutun, gibt den Anspruch Preis, das Befreiungsversprechen der Vergangenheit doch noch Gegenwart werden zu lassen.
Den »Hamburger Aufstand« als Teil der eigenen Geschichte anzuerkennen kann jedoch nicht heißen, einer bloßen (militärischen, politischen, organisatorischen, strategischen…) Niederlage glorifizierend zu gedenken, also »solche Revolutionäre zu Ikonen zu erheben, die starben, bevor sie soweit hätten kommen können« 2Adamczak, S. 26. Es muss der Aufstand auch als Teil eben des Scheiterns begriffen werden, das er mitbewirkt hat: Das stalinistische Totalversagen der kommunistischen Emanzipation.
Wie kann eine solche »kommunistische Trauerarbeit« (Hendrik Wallat) heute aussehen, die weder beschönigt, noch Freiheit unterstellt, wo die Bedingungen nicht frei gewählt waren? Ein Blick auf die Veröffentlichungen zum »Hamburger Aufstand« zeigt, dass von den 1960ern bis in die 1980er recht rege publiziert wurde, seitdem aber immer seltener. Die folgenden Hinweise können vielleicht zumindest die Hürden senken, die Auseinandersetzung von neuem zu beginnen:
Einen mitreißenden, sprachlich starken, aber ebenso stark verklärenden »Erlebnisbericht« hat die russische Kommunistin Larissa Reisner schon 1924 geschrieben. Ihrer Ansicht nach blieb der Aufstand unbesiegt, da er sich »planmäßig zurückgezogen« habe:
(Die jüngste Neuauflage des Berichts in einem nationalbolschewistischen Umfeld (neben Texten von u.a. Otto Strasser) durch den Haag + Herchen-Verlag ist zwar mit Blick auf die Geschichte der KPD wohl leider nicht ganz zufällig, tut aber Reisner und ihrem Bericht Gewalt an.)
Knapp zwei Stunden Interviews mit Beteiligten des Aufstands haben die Dokumentarfilmer*innen Klaus Wildenhahn und Gisela Tuchtenhagen 1971 unter dem Titel »Der Hamburger Aufstand Oktober 1923« veröffentlicht. Die vollständige Fassung ist leider nur vor Ort im Filmarchiv Berlin einsehbar. Die Hamburger Staatsbibliothek bietet in einer DVD-Box mit Wildenhahns Filmen zumindest eine 45-minütige Kurzversion zur Ausleihe an:
Einen kurzen Überblick mit Fokus auf die Auseinandersetzungen innerhalb der KPD und zwischen KPD, SPD und Gewerkschaften hat Wulf D. Hund 1983 veröffentlicht:
Eine umfangreiche wissenschaftliche Aufarbeitung aus engagierter Perspektive und mit großem Materialteil liefert Karl Heinrich Biehl:
Eine auf Karl Heinrich Biehls Arbeit basierende Broschüre mit (teilweise gewagten) Bezügen zur Gegenwart hat die mittlerweile verflossene Gruppe »Rotes Winterhude« 2003 vorgelegt. Sie sticht als aktivistischer Aneignungsversuch heraus und liefert tolle Details und Beobachtungen zur Erinnerungspolitik. Mit ihrem grottigen Layout und dem post-autonomen Tonfall ist sie dazu selbst auch schon Zeitdokument:
Rotes Winterhude: Der Hamburger Aufstand 1923. Verlauf – Mythos – Lehren. Hamburg 2003. Teil 1 und Teil 2 sind über das Internet Archive abrufbar.
Felix Jacob
Der Autor forscht privat zu Hamburger Aufstandsbewegungen.
Das Bibliotheksgebäude, in dem der Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929) die letzten Jahre seines Lebens forschte, steht immer noch in Hamburg. Sein Bestand – ca. 60.000 Bände und Warburgs Aufzeichnungen – konnte 1933 nach London gerettet werden. Eine Ausstellung bringt Warburgs unvollendetes Hauptwerk, den Bilderatlas Mnemosyne, nun zurück.
Wanderstrassen der Kultur. Foto: Wootton / fluid, Courtesy The Warburg Institute
In der Heilwigstraße 116 befindet sich in einem ansonsten unauffälligen Villenviertel Hamburgs an einem Zufluss zur Alster gelegen ein Backsteinbau, über dessen Eingang der Schriftzug »Mnemosyne« prangt. Darüber stehen an der backsteinernen Außenfassade die drei Buchstaben K, B und W, als Kürzel für Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg.
Ihr Bauherr Aby Warburg, der Privatgelehrte und Spross der bis heute bestehenden lokalen Bankiersdynastie, ließ das Gebäude 1926 erbauen, um in ihr seine wachsende Bibliothek unterzubringen. Mit dem Neubau schuf Warburg eine für die damalige Zeit neuartige Institution, deren Innovationsgehalt sich sowohl in der infrastrukturellen Gestaltung als auch in der wissenschaftlichen Ausrichtung niederschlug – Kunstgeschichte sollte hier als Kulturgeschichte, mithin als breit angelegte Kulturwissenschaft betrieben werden.
Betritt man das Gebäude, sieht man, dass in den Sturz der Tür zum Bibliothekssaal ein Wort in griechischen Lettern eingemeißelt ist: »ΜΝΕΜΟΣΥΝΗ«. Dieser Begriff verweist auf Warburgs viel beachtetes und zugleich unzugänglichstes Werk, das er an diesem Ort mit seinen Mitarbeiter:innen – Gertrud Bing und Fritz Saxl – schuf: den Bilderatlas Mnemosyne. Den Begriff der Mnemosyne übernahm Warburg aus der evolutionsbiologischen Forschung zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Dort bestanden bereits Ansätze, etwa durch Richard Semon, zur Übertragung auf die Kulturgeschichte: Mneme, die griechische Muse der Erinnerung, wurde zur Namensgeberin für die Annahme eines erhaltenden Prinzips erworbener Eigenschaften im Bereich der Kultur. Warburg knüpfte an diese Annahmen an, die er mitsamt dem Begriff in seine kunstgeschichtliche Arbeit übertrug. In seiner Forschungsarbeit weitete er damit das Verständnis einer hergebrachten Kunstgeschichte aus und überführte sie in eine breitangelegte Kulturwissenschaft.
Präsentation der Bilderreihe »Urworte leidenschaftlicher Gebärdensprache« im Lesesaal der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Foto: Courtesy The Warburg Institute
Mnemosyne bezeichnet nun das Erinnern als gesamten Prozess. Mit den Mitteln der Ikonographie versuchte Warburg, ein geographisches sowie thematisches Wandern von Formen, Mustern und Stilen durch die Geschichte in Abhängigkeit zu den jeweilig herrschenden gesellschaftlichen Zuständen nachzuzeichnen. Hierzu entwickelte er mit seinen Mitarbeiter:innen den Bilderatlas Mnemosyne: Auf insgesamt 63 Tafeln wurden von Warburg und seinen Mitarbeiter:innen auf schwarzem Grund fotografische Reproduktionen arrangiert. Dabei handelt es sich um Kunstwerke aus dem Nahen Osten, der europäischen Antike und der Renaissance neben zeitgenössischen Zeitungsausschnitten sowie Werbeanzeigen. Die Tafeln des Bilderatlas stellen das zentrale Hilfsmittel innerhalb des durch Warburg entwickelten experimentellen Verfahrens zur Vergegenwärtigung der kulturgeschichtlichen Entwicklung dar. Anhand der fotografischen Reproduktionen lässt sich die Überlieferung nachvollziehen – es lassen sich Prozesse des Erinnerns anhand der Wanderung durch die Kulturgeschichte sowohl visuell darstellen als auch nachvollziehen. Zeitgenössisch ausgedrückt, richteten sich Warburgs Forschungen auf die Entwicklung einer medientheoretischen Genealogie von Bildmotiven.
In den Dienst der Erkundung des Erinnerungsprozesses stellte Warburg seine in Hamburg-Eppendorf gelegene kulturwissenschaftliche Bibliothek. Nach Warburgs Tod im Herbst 1929 von seinen Mitarbeiter:innen weitergeführt, wurden die Bestände auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach London verschifft. Dabei konnte auch das Material zu Warburgs letztem großem Projekt, dem Bilderatlas, gerettet werden. Zur Erhaltung des Bibliotheksbestands entstand in London das bis heute, auch gegen kostensparende Eingliederungsversuche der University of London, weiterhin bestehende Warburg Institute.
Wiederentdeckung des Bildmaterials
Zu Lebzeiten Warburgs nicht mehr abgeschlossen und danach mit dem Bestand der KBW von seinen Mitarbeiter:innen ins Londoner Exil verschifft, hatten die Originalabbildungen vom Herbst 1929 in ihrer Mehrzahl überlebt. Für die Nachwelt kaum nachvollziehbar, lagerten die einzelnen Abbildungen im Bildarchiv des Warburg Institute. Die Wiederentdeckung des Bildmaterials und die Ergebnisse der Rekonstruktionsarbeiten sind derzeit in einer Ausstellung in der Außenstelle der Deichtorhallen in der Sammlung Falckenberg in Harburg zu besichtigen. Erstmalig kann damit in Hamburg der geneigten Öffentlichkeit der Bilderatlas vollständig rekonstruiert präsentiert werden, was nicht allein sensationell ist, sondern den mehrfachen Besuch lohnt. Besucher:innen können anhand der einzelnen Tafeln des Atlas das Wandern der Bilder eigenständig nachverfolgen.
Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 39, rekonstruiert von Roberto Ohrt und Axel Heil 2020. Foto: Wootton / fluid; Courtesy The Warburg Institute
Kuratiert wurde die Ausstellung von Axel Heil und Roberto Ohrt sowie dem Warburg Institute in Zusammenarbeit mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt. Die Ausstellung ist noch bis zum 31. Oktober 2021 in der Sammlung Falckenberg in Harburg zu besichtigen. Weitere Informationen unter gibt es hier.
Wer es bis dahin nicht schafft, dennoch aber einmal mehr von dem Hamburger Kulturwissenschaftler und seinem Schaffen erfahren möchte, dem sei die nachfolgende Ausgabe der Deutschlandfunk Sendung Lange Nacht über den Kulturwissenschaftler Aby Warburg anempfohlen.
Fred Stiller
Der Autor lebt und lohnarbeitet in Hamburg. Er hält die Stadt und ihre Bewohner:innen im Gegensatz zu ihrer Größe für intellektuell und (sub-)kulturell mit anderen Provinzstädten vergleichbar. Dennoch schätzt er die nährenden Brotkrumen, durch welche sich die Stadt vor anderen ihrer Größe und Konstitution auszeichnet.
Hamburger Handelsfirmen beteiligten sich während des Zweiten Weltkriegs intensiv an der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft im östlichen Europa. Die Geschichte dieser Zusammenarbeit spielt in der lokalen Erinnerungskultur praktisch keine Rolle. Unser Autor leuchtet die Hintergründe des sogenannten »Osteinsatzes« der Hamburger Wirtschaft aus.
Der »Ehrenhof« zwischen Handelskammer und Rathaus. Foto: Klaus Bärwinkel / Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY 4.0
In Hamburg hat der Gemeinplatz, demnach Geld die Welt regiere, eine städtebauliche Entsprechung: An das imposante Hamburger Rathaus schließt ein weiteres repräsentatives Bauwerk unmittelbar an: Die Börse, Sitz der Hamburger Handelskammer, ist durch einen gemeinsamen »Ehrenhof« mit den Räumen der Hamburgischen Bürgerschaft verbunden. Dass Architektur den Zusammenhang von politischer Herrschaft und wirtschaftlicher Macht derart versinnbildlicht, scheint indes eine hanseatische Besonderheit zu sein: In Bremen residiert die Handelskammer im »Haus Schütting« – mit Blick auf das Rathausgebäude.
Wie diese Baulichkeiten erahnen lassen, bildeten die hansestädtischen Kaufmannschaften bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die unangefochtenen gesellschaftlichen Eliten ihre Städte. Dass insbesondere Hamburg dabei ein koloniales Erbe mit sich schleppt, gewinnt langsam an erinnerungskultureller Bedeutung. So beteiligte sich eine ganze Reihe von Hamburger Kaufleuten maßgeblich am Erwerb deutscher Kolonien in Afrika. Weniger bekannt ist, dass die hiesige Kaufmannschaft – selbsterklärte »ehrbare Kaufleute« – tief in nationalsozialistische Verbrechenskomplexe involviert waren. Dabei geht es nicht nur um die Teilhabe Hamburger Unternehmer an der Verdrängung und Enteignung jüdischer Gewerbetreibender, der sogenannten »Arisierung« . Zahlreiche historische Quellen (und nach wie vor nur wenige Forschungsarbeiten1Götz Aly, Susanne Heim, Vordenker der »Vernichtung«. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, überarbeitete Neuauflage, Frankfurt am Main 2013 (zuerst Hamburg 1991), 216−221; Frank Bajohr, »Arisierung« in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945, Hamburg 1997, 325−331; Karl Heinz Roth, Ökonomie und politische Macht. Die »Firma Hamburg« 1930–1945, in: Ebbinghaus, Angelika/Linne, Karsten (Hg.), Kein abgeschlossenes Kapitel. Hamburg im »Dritten Reich«, Hamburg 1997, 15−176; Karsten Linne, Deutsche Afrikafirmen im »Osteinsatz«, in: 1999 16 (2001), H. 1, 49–90.) zeigen zudem, dass hansestädtische Firmen während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Polen und den besetzten Teilen der Sowjetunion aktiv waren.
Wieso betätigten sich hansestädtische Unternehmen im besetzten Polen?
Als die Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfiel, erklärten Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg. Die Briten errichteten sofort eine Seeblockade gegen das Deutsche Reich, die die Wirtschaft Hamburgs und Bremens von ihren überseeischen Betätigungsfeldern abschnitt. Die Handelskammern und ihre Mitgliedsfirmen suchten nun händeringend nach alternativen Geschäftsmöglichkeiten innerhalb Europas. Die Hamburger Kaufmannschaft hatte bereits in den Vorjahren ein dichtes Lobbynetzwerk in die Institutionen des NS-Staats eingeflochten und kooperierte eng mit dem hamburgischen NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann und dessen Apparat. Die Hamburger Außenhandelskaufleute litten nämlich seit 1933 unter der NS-Rüstungspolitik, die der Industrie zwar nutzte, den Außenhandel aber massiv einschränkte. Auf der Suche nach Kompensation banden sich die Kaufmannseliten an den nationalsozialistischen Herrschaftsapparat. Dieser eröffnete den Kaufleuten wiederum die Perspektive, an der »Arisierung« sowie der territorialen Expansionspolitik NS-Deutschlands auf profitable Weise teilzuhaben. So hatten die Hamburger NSDAP-Führung und die Handelskammer nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 darauf hingearbeitet, dass hamburgische Handelsfirmen und Speditionen von der »Arisierung« in der Handelsmetropole Wien profitierten.
Die Eroberung Polens nahm hanseatischen Unternehmern also ihr traditionelles Arbeitsfeld, eröffnete jedoch gleichzeitig neue Felder, die Ausgleich zu versprechen schienen. In den zentralpolnischen Gebieten, die die Deutschen als »Generalgouvernement« (GG) unterwarfen, ergab sich im Frühjahr 1940 eine wirtschaftliche Kooperation mit dem NS-Besatzungsapparat. Und zwar beschloss die Regierung des GG in Krakau, hansestädtische Handelsfirmen für eine Tätigkeit im besetzten Gebiet heranzuziehen. Um die polnische Wirtschaft für deutsche Zwecke zu mobilisieren, sollten die Kaufleute ein neues Handelssystem aufbauen. Der bisherige polnische Handel galt den Nationalsozialisten nämlich als »verjudet«, denn er wurde bislang weitgehend von jüdischen Kaufleuten getragen. Diese wollten die Besatzer nun verdrängen.
Die Regierung des Generalgouvernements – gute Verbindungen nach Hamburg. Foto: Narodowe Archiwum Cyfrowe Nr. 2–2817
Forciert durch das hanseatische Lobbynetzwerk und die Handelskammern eröffnete 1940 einige deutsche Handelsfirmen Filialen im GG, die meisten stammten aus Hamburg und Bremen. Als das Gebiet nach dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 vergrößert wurde, sollten weitere folgen. Anhand von Archivquellen lassen sich insgesamt 51 hamburgische Unternehmen benennen, die in diesem Teil Polens tätig wurden. Elf weitere Firmen stammten aus Bremen. Die Mehrheit von ihnen arbeitete unter strengen behördlichen Vorgaben als sogenannte Kreisgroßhandelsfirmen, die in den einzelnen Landkreisen des GG Niederlassungen eröffneten, die die NS-Behörden mit Monopolen ausstatteten. Viele der Firmen war bis 1939 in Kolonien tätig gewesen. Es befanden sich darunter renommierte Überseehäuser mit langer Tradition, zum Beispiel C. Woermann, G. L. Gaiser oder Arnold Otto Meyer.
Judenverfolgung und Ausbeutung: Der »Osteinsatz« hanseatischer Kaufleute
Die Kreisgroßhandelsfirmen hatten dabei eine Doppelaufgabe. Die erste Aufgabe bestand darin, mit ihrem so bezeichneten »Osteinsatz« die wirtschaftliche Existenzvernichtung der jüdischen Bevölkerung zu unterstützen, die die NS-Besatzer schnellstmöglich durchführen wollten. Die Expropriation der Jüd:innen hatte anfangs zu schweren Störungen der Wirtschaft geführt, da mit ihr der Handel zusammengebrochen war. Indem die Hamburger und Bremer die ökonomische Rolle der jüdischen Gewerbetreibenden übernahmen, konnten unerwünschte Begleiterscheinungen der »Arisierung« gemindert werden. Die Hansestädter profitierten somit von der Judenverfolgung, indem sie an deren wirtschaftliche Stelle traten und deren Warenbestände teilweise übereignet bekamen.
Führender Kopf dieser Maßnahmen war der Hamburger Ökonom und Wirtschaftsfunktionär Walter Emmerich, der eng mit der Handelskammer sowie der Hamburger NSDAP verbunden war und seit Juni 1940 die Wirtschaftsabteilung der Krakauer Besatzungsregierung leitete. Er konzipierte die Enteignung der jüdischen Gewerbetreibenden als »rassische Neuordnung« der polnischen Wirtschaft. In dieser sollten die hanseatischen Großhändler eine Oberschicht bilden, die über eine nicht-jüdische polnische Mittelschicht herrschte. Als Unterschicht blieben christliche polnische Arbeiter und Bauern, denn die jüdische Bevölkerung sollte vollständig verschwinden. In der Tat übergab die NS-Administration die Positionen im Einzelhandel, die durch die Enteignung der Juden frei wurden, an nicht-jüdische Polen, die damit ebenfalls von der antisemitischen Politik profitierten. Die einheimischen Kleinkaufleute waren dabei den hanseatischen Großhandelsfirmen untergeordnet. Emmerich und insbesondere die Kaufleute mit Erfahrungen in Afrika betrachteten das besetzte Polen und seine Bevölkerung dabei durch eine koloniale Brille. So schrieb etwa der Inhaber einer Firma, die bis 1939 in afrikanischen Territorien tätig gewesen war, in einem Tätigkeitsbericht von 1944, den das Bremer Staatsarchiv verwahrt: »Einen Begriff vom Wert der Zeit hat der polnische Bauer und Kleinhändler – auch der Arbeiter – nicht, und die ganze Primitivität des Handels, der Umgebung und der Menschen erinnerte uns manchmal stark an Afrika.«
Der zweite Teil jener Doppelaufgabe der Firmen, die ihre Betriebe teilweise mit kolonialwirtschaftlichen »Faktoreien« verglichen, bestand darin, die NS-Besatzer bei der Ausbeutung der polnischen Landwirtschaft zu unterstützen. Die Krakauer Administration zwang die polnische Landbevölkerung mit brutaler Gewalt, ihre Feldfrüchte und ihr Vieh an den deutschen Wirtschaftsapparat zu verkaufen – zu niedrigen, behördlich festgelegten Preisen. Die Landwirte schlugen ihre Produkte jedoch lieber auf dem für sie viel rentableren Schwarzmarkt los, der für die hungernde Bevölkerung überlebenswichtig war. Um diesen illegalen Handel zu unterbinden, schufen die Besatzer zusätzliche positive Ablieferungsanreize in Form sogenannter »Prämienwaren«. Bäuer:innen, die ihre Produkte ablieferten, erhielten Bezugsscheine mit denen sie die »Prämien« erwerben konnten, die die hansestädtischen Kreisgroßhandelsfirmen in den Handel einspeisten. Das waren hauptsächlich Textilien und andere industriell hergestellte Konsumprodukte. Mit dem Vertrieb der »Prämien« übernahmen diese Firmen eine tragende Rolle im NS-Ausbeutungsapparat. Das Prämiensystem entwickelte für die Besatzungswirtschaft zentrale Bedeutung. Um die Deutschen zu sättigen, hungerte die NS-Führung skrupellos die Menschen in den besetzten Gebieten aus. Der Landwirtschaft im GG pressten die Besatzer Jahr für Jahr immer größere Getreidemengen ab, allein 1943/44 waren es 1,5 Millionen Tonnen. Die Hamburger und Bremer Kaufleute, die die für dieses System von Peitsche und Zuckerbrot benötigten »Prämien« verkauften, steigerten zugleich ihre Umsätze und Profite.
»Hamburger Kaufleute vom Generalgouvernement bis zum Kaukasus«
Das hansestädtische Engagement in Zentralpolen erwies sich für die beteiligten Deutschen als Erfolg und das GG somit als Versuchslabor für viel weitergehende Aktivitäten im besetzten »Osten«. Nach dem Überfall auf die UdSSR preschten die Hamburger los, um sich an der Ausbeutung dieser Territorien ebenfalls zu beteiligen. Internen Unterlagen der Handelskammer Hamburg zufolge wurden 179 hamburgische Firmen in den besetzen Teilen der Sowjetunion aktiv beziehungsweise waren dafür »vorgemerkt»«. Außerdem arbeiteten demnach 700 Hamburger Kaufleute für die Zentralhandelsgesellschaft Ost, die die sowjetische Landwirtschaft ausbeutete. Der Präses der Handelskammer Joachim de la Camp frohlockte in seiner Silvesteransprache von 1942: »Unternehmerinitiative hat ferner gerade in Hamburg einen Weg gefunden, an den wir vor dem Krieg noch nicht denken konnten. […] Beginnend mit der Westgrenze des Generalgouvernements bis zu den Bergen des Kaukasus, finden Sie zur Erschließung der wirtschaftlichen Möglichkeiten Hamburger Menschen und Hamburger Firmen in großer Zahl.« Zuvor hatte Hans E. B. Kruse, Vizepräses der Kammer, bereits intern festgestellt, es stehe »Hamburg im Osten an führender Stelle«. An zweiter Stelle kamen die zahlreichen Bremer Unternehmen, die in der besetzten UdSSR tätig wurden. Zwar stehen vergleichende Forschungen noch aus, doch allem Anschein nach war das hansestädtische Engagement im besetzten Osteuropa besonders groß.
Die Hamburger Kaufleute begannen, den »Osten« als ihr neues Kolonialgebiet zu betrachten. In den Vorjahren hatten sie noch gehofft, dass Deutschland Kolonien in Afrika zurückerhalte. Doch 1941 hieß es etwa bei der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft, einer hamburgischen Handelsfirma, die nun im GG tätig war: »Momentan gilt die Parole: Die Kolonien liegen im Osten!« Die hanseatischen mental maps, die bislang auf Länder und Territorien jenseits der Ozeane konzentriert gewesen waren, hatten sich gewandelt. In Übersee wollten die Kaufmannschaften nach dem erwarteten Kriegsende erneut tätig werden, doch Osteuropa sollte diese Betätigungsfelder nun wesentlich ergänzen. Der Kolonialstandort Hamburg passte seine Ausrichtung somit an die wirtschaftliche Großwetterlage an, die Hitlers Herrschaft brachte, der nicht von Kolonien in Afrika träumte, sondern von »Lebensraum im Osten«.
An die breite Teilhabe hamburgischer Wirtschaftskreise an der NS-Besatzungsherrschaft erinnert in der Stadt fast nichts. Die meisten der beteiligten Unternehmen, die heute noch existieren, wollen von ihrer problematischen Geschichte nichts wissen. Eine Auftragsstudie der Handelskammer von 2015, die beanspruchte die NS-Geschichte der Institution aufzuarbeiten, stieß wegen ihrer beschönigenden Stoßrichtung auf scharfe öffentliche Kritik. Zwar bemühte sich die Kammer in letzter Zeit stärker um die »Aufarbeitung« ihrer NS-Vergangenheit, etwa indem sie ihrer jüdischen Mitglieder gedachte, die während der NS-Zeit verfolgt wurden. Die Diskussion um die historische Schuld der hansestädtischen Wirtschaftseliten ist jedoch längst nicht abgeschlossen.
Felix Matheis, Oktober 2021.
Der Autor ist Historiker in Hamburg und hat im Rahmen seiner Doktorarbeit intensiv zur Beteiligung Hamburger und Bremer Kaufleute an der Besatzungsherrschaft im Generalgouvernement geforscht.
1
Götz Aly, Susanne Heim, Vordenker der »Vernichtung«. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, überarbeitete Neuauflage, Frankfurt am Main 2013 (zuerst Hamburg 1991), 216−221; Frank Bajohr, »Arisierung« in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945, Hamburg 1997, 325−331; Karl Heinz Roth, Ökonomie und politische Macht. Die »Firma Hamburg« 1930–1945, in: Ebbinghaus, Angelika/Linne, Karsten (Hg.), Kein abgeschlossenes Kapitel. Hamburg im »Dritten Reich«, Hamburg 1997, 15−176; Karsten Linne, Deutsche Afrikafirmen im »Osteinsatz«, in: 1999 16 (2001), H. 1, 49–90.
Der Übergriff auf einen Juden bei einer proisraelischen Mahnwache am 18. September in der Mönckebergstraße bewegte bei der Wiederaufnahme der Mahnwache am vergangenen Samstag nur wenige Hamburger:innen. Warum solidarisieren sich nicht mehr mit dem Opfer? Unser Autor hat sich die Veranstaltung angesehen.
Die Mahnwache in der Mönckebergstraße am 2. Oktober. Foto: privat
Vor knapp drei Wochen wurde ein 60-jähriger Jude auf einer proisraelischen Mahnwache in der Hamburger Mönckebergstraße von einem Jugendlichen antisemitisch beleidigt und krankenhausreif geschlagen. Am vergangenen Samstag fand die Mahnwache zum ersten Mal seit dem Übergriff wieder statt. Die Veranstalter:innen der christlichen Gruppe Fokus Israel hatten unter dem Motto »Jetzt erst recht« zu einer »Gedenkveranstaltung für alle Opfer antisemitischer Gewalt« aufgerufen.
Statt der sonst wohl 15 bis 20 fanden sich diesmal etwa 60 Teilnehmer:innen ein, um ihre Solidarität mit dem Betroffenen zu zeigen. Der Angegriffene konnte das Krankenhaus zwar unterdessen verlassen, bangt aber laut den Veranstalter:innen nach wie vor um sein Augenlicht und ließ daher sein Grußwort nur verlesen. Darin rief er zur »Verteidigung der liberalen Gesellschaft« auf und beklagte, dass er bis heute mit seiner (!) Kontaktaufnahme weder Bürgermeister Peter Tschentscher noch die zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank zu einer Antwort, geschweige denn einer öffentlichen Stellungnahme bewegen konnte.
Öffentlich eingeladen hatte zur Mahnwache am Samstag neben Fokus Israel einzig die Hamburger Junge Union. Deren Landesvorsitzender Philipp Heißner sprach von »unseren Werten« bzw. »unserer Kultur«, die es zu verteidigen gelte, und betonte, dass darin auch »provokante Meinungen« einbegriffen seien. Damit spielte er offenbar auf den ihm vorangehenden Redner an, Ralf-Andreas Müller, laut eigener Angabe Theologe und tagesschau-Redakteur, Initiator und Kopf der Gruppe Fokus Israel. In seinem Redebeitrag hatte er, motiviert durch eine Art politisches Ur-Christentum, in aggressivem Tonfall einem jüdisch-israelischen Nationalismus das Wort geredet. Er griff weit in die Vergangenheit aus, um zu postulieren, dass es keine authentische Verbindung des Islam zum Gebiet des heutigen Israel gebe und ausschließlich die Juden das Land als »nationales Königreich für sich beansprucht« hätten. Nach dem Sieg der Römer über die Juden 70 n. Chr. sei die Provinz Palästina annähernd 2000 Jahre verelendet und verfallen, ein leeres und »wüstes Land« geworden; erst wieder einwandernde Juden hätten es bewohnbar gemacht. Die Pointe, auch auf Müllers Website zu finden, ist: Die Juden verfügten über eine »entscheidende Verbindung zwischen Gott, Volk und Land« – die Muslime nicht. Palästina, Palästinenser, besetzte Gebiete gebe es alles nicht und sie stellten deshalb auch kein Problem dar. Christen hingegen müssten Israel als »Herzensthema Gottes […] im Fokus haben, lieben und unterstützen«, um Gott zu ehren, heißt es in einem anderen Text auf der Website.
Ralf-Andreas Müller (mit Mikro) bei der Kundgebung am Samstag. Foto: privat.
Keine Solidarität für proisraelische Juden?
Diese Geschichtsklitterung ist natürlich unhaltbar. Den modernen israelischen Staat nationalreligiös auf eine Mischung aus christlicher Bibelexegese und völkischem Verwurzelungsmythos begründen zu wollen, geht völlig fehl. Sollte diese Ideologie aber der Grund für die geringe Solidarisierung mit dem Opfer des Übergriffs sein, wäre das dennoch falsch. Wer dem Angegriffenen wegen einer bestimmten Vorstellung von Israel die Solidarität verweigert, verkennt den Charakter des antisemitischen Angriffs: Offensichtlich schlug der Täter einen Juden als Juden, weil dieser selbstbewusst mit der israelischen Fahne Stellung bezog.
Der Angegriffene fragte in seinem verlesenen Grußwort, ob die verhaltene Reaktion der Hamburger Politik und Öffentlichkeit wohl anders ausgefallen wäre, hätte er als weißer Mann den mutmaßlichen Täter, einen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, angegriffen. Dieses Umkehrszenario braucht es aber gar nicht, um das geringe Interesse jenseits der Springer-Medien einzuordnen. Der Vergleich mit dem rechten antisemitischen Angriff am 4. Oktober 2020 auf einen jüdischen Studenten vor der Synagoge in der Hohen Weide ist deutlich aufschlussreicher. Vor einem Jahr gab es neben sofortigen Stellungnahmen von Tschentscher, Fegebank, Bundesjustizministerin Christine Lambrecht etc. auch eine Mahnwache des linken Hamburger Bündnisses gegen Rechts, der sich trotz strenger Corona-Maßnahmen damals immerhin etwa 200 Personen anschlossen.
Die Vermutung liegt nahe und wurde von mehreren am Samstag Anwesenden geteilt, dass die Bezugnahme auf Israel hier einen Unterschied macht. Dort ein Jude bei der Religionsausübung, hier ein Jude, der offensiv mit der blau-weißen Fahne für Israel eintritt. Diese explizit proisraelische Positionierung des Angegriffenen ist sicher für viele, zumal viele Linke, ein Ärgernis.
Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus
Dazu kommen die unterschiedlichen Täterprofile: Letztes Jahr war es ein offenbar rechter, deutsch-kasachischer Ex-Bundeswehrangehöriger in Uniform und mit Hakenkreuz-Zettel in der Tasche, der für viele Beobachter:innen Parallelen zum rechtsterroristischen Attentat vom Oktober 2019 in Halle plausibel erscheinen ließ. Dieses Jahr ist der mutmaßliche Täter ein Jugendlicher mit möglicherweise arabisch-muslimischem Hintergrund. (Laut der Schauspielagentur Kokon, die ihn bis zum Übergriff vertreten hat, spricht Aram A. Arabisch. BILD will herausgefunden haben, dass seine Mutter Hisbollah- und Assad-Unterstützerin ist.) Das stellt die deutliche Verurteilung des Übergriffs in der Wahrnehmung wohl auch vieler Linker in ein Spannungsverhältnis zum eigenen antirassistischen Anspruch. Die Sorge, möglicherweise antimuslimischen Rassismus zu bedienen, könnte einer Positionierung im Wege stehen.
Zwar ist erst wenig über den mutmaßlichen Täter bekannt. Warum der mögliche arabisch-muslimische Hintergrund für Hamburger Jüdinnen und Juden aber relevant ist, verdeutlicht Philipp Stricharz, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Hamburg, in einer Stellungnahme zu dem Angriff: »Es gibt eine politisch aufgehetzte, gewalttätige Minderheit unter den Muslimen, häufig junge Leute, die meinen, sie müssten Rache üben für vermeintliches Unrecht im Nahen Osten. […] Natürlich gibt es auch die Gefahr von rechts, aber die größten Sorgen bereitet den Juden in Hamburg die Gefahr, die von dieser Gruppe ausgeht.«
Die Kundgebung am Samstag ließ diesen Eindruck insofern als plausibel erscheinen, als gegenüber klassisch antisemitischen Kommentaren von Passant:innen (»Alles Lüge!« oder »Na, wer steckt denn hier wohl dahinter?«) die antizionistischen Rufe (post-)migrantischer Jugendlicher und Kinder à la »Fuck Israel!« und »Free Palestine!« deutlich dominierten.
Gegen solche Herrschaftsgesten ist es sicher richtig, die projüdische, proisraelische öffentliche Präsenz aufrecht zu erhalten, gegen die die antisemitische Wut sich richtet. In Abwesenheit linker Solidarität übernehmen allerdings vorerst andere diese Rolle: Für den 16. Oktober ruft die Kölner jüdische Aktivistin Malca Goldstein-Wolf auf Facebook zu einem »Solidaritätsschweigemarsch« unter dem Titel »Keinen Fußbreit auch dem islamistischen Antisemitismus« in der Mönckebergstraße auf. Zu den im Aufruf genannten, meist liberal-konservativen Unterstützern zählt auch der Hamburger Anwalt Joachim Steinhöfel, der in den vergangenen Jahren häufiger als Redner und Kommentator für die neurechte Zeitschrift Junge Freiheit in Erscheinung getreten ist.
Felix Jacob
Der Autor war zum ersten Mal auf einer politisch-christlichen Kundgebung und kann auf Wiederholungen gern verzichten.
In der HafenCity entsteht momentan das dritthöchste Gebäude Deutschlands. An dem Prestigeprojekt »Elbtower« offenbart sich die enge Verflechtung von Wirtschaft und Politik in Hamburg – und die besondere Rolle, die der ehemalige Bürgermeister Olaf Scholz dabei spielt.
Auf der Baustelle direkt neben der S‑Bahn-Haltestelle Elbbrücken ist schon Betrieb. (Foto: privat).
Hamburg wäre nicht Hamburg, wenn nicht alle paar Jahre irgendein neues, großartiges Bauprojekt um die Ecke gebogen käme. Aber wo so viel Licht ist, wie bei den Lobpreisungen des Elbtowers, gibt es auch Schatten. Die stadtpolitische Durchsetzung solcher Projekte erweckt den Eindruck, als wäre der alte Hamburger Filznoch immer in bester Verfassung.
Der Elbtower sieht, den Stararchitekt:innen von David Chipperfield zum Dank, so aus, als hätte ein Märchenriese seinen zu großen Stiefel in Hamburg stehen gelassen. Im Schatten dieser »Ouvertüre« derHafenCity stehen Aktiengesellschaften, ihre Stiftungen, der heutige Finanzminister Olaf Scholz und – nicht zu vergessen – die Bewohner:innen von Rothenburgsort.
Prestigeprojekt durchgewunken
Diesmal scheint alles perfekt zu sein. Hamburg hat Europas größtes Bauprojekt angeleiert. Top Lage in der Hafencity, direkt an der neuen S‑Bahn-Station Elbbrücken, und das Megaprojekt soll sogar nachhaltig sein – was auch immer das bei einem Projekt dieser Größenordnung heißen mag: Platinstandard des HafenCity-Umweltzeichens.1Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Jörg Hamann (CDU) vom 07.09.18 und Antwort des Senats. Drucksache 21/14277, 14.09.2018. [online]. Das dritthöchste Gebäude Deutschlands kann »endlich« gebaut werden.
Die Auslobung des Elbtowers fand Mitte 2017 statt. Anfang 2021 ist der Bebauungsplan schließlich durchgewunken worden. Der Tower wird 245 Meter hoch und damit noch zwölf Meter höher als ursprünglich geplant. Oder wie die geneigten User:innen von ScyscraperCity-Foren es sagen: »[D]a kann man Hamburg nur neidvoll gratulieren! 😊«.
Im Gegensatz zur Fangemeinde phallusartiger Denkmäler und Weltwunder des Kapitalismus werden die Rothenburgsorter:innen im wortwörtlichen Schatten des Elbtowersleben. Die Anzahl der Einwände und Beschwerden, die bei der Kommission für Stadtentwicklung vorgebracht wurden, fiel mit überschaubaren 26 dabei ziemlich niedrig aus. Rothenburgsort weist einen hohen Anteil von Migrant:innen, Sozialhilfeempfänger:innen und Alleinerziehenden auf. Dass die Kritik am Elbtower so schmal ausfällt, könnte damit zusammenhängen, dass die subalternen Klassen in Hamburg nicht gehört werden.
Wackelige Finanzierung
Den Zuschlag für den Bau des Gebäudes bekam die Signa Prime Selection AG. So wurden weder die Bestbietenden ausgewählt, noch bekam ein Gebäudeentwurf den Zuschlag, der voll auf Klimaneutralität setzte. Die Aktiengesellschafterhielt vielmehr den Zuschlag, weil sie der verlässlichste Geschäftspartner sei. Das sagt zumindest René Benko, der österreichische Gründer von Signa Prime. Und auch Olaf Scholz begründete die Vergabe seinerzeit damit, dass die Signa sehr finanzstark sei und ein A+ Rating innehat.
Es geht schließlich um (nach aktueller Planung) 700 Millionen Euro für den Bau. Die Signa möchte den Turm komplett aus eigener Tasche finanzieren – mit Büromieten um die 28 Euro pro Quadratmeter. Mindestens fünf Jahre soll das Unternehmen für die Instandhaltung des Gebäudes aufkommen. Für die Stadt Hamburg gebe es »kein Risiko«, behauptet Jürgen Bruns-Berentelg, Vorsitzender der Geschäftsführung der stadteigenen HafenCity Hamburg GmbH.2Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Protokoll/Wortprotokoll der öffentlichen/nichtöffentlichen Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses, 22. Oktober 2018, S. 15 [online]. Das ist allerdings gar nicht so einfach nachzuvollziehen. Denn große Teile des Kaufvertrags sind, wie Heike Sudman von der Linksfraktion festgestellt hat, geschwärzt und somit für die Bürger:Innen Hamburgs nicht einsehbar. Was passiert, wenn dem Unternehmen das Geld ausgeht, wird noch diskutiert. Allerdings wäre es aus Sicht der Stadt wohl unsinnig, das Projekt nicht fortzuführen, wenn etwa ein 120 Meter hoher, nicht fertiggestellter Turm dasteht. Ganz abwegig ist es nicht, dass es zu finanziellen Problemen kommen wird. Das Mutterunternehmen Signa Holding ist auch Eigentümerin von Karstadt – und die gehen bekanntlich gerade insolvent. Des Weiteren macht das Unternehmen es fast unmöglich, einzusehen, woher es welche Gelder für welche Projekte bezieht.
Noch der Anblick dieser Baustellen-Ödnis ist erfreulicher als der vom Investor angepriesene bzw. angedrohte »neue Blick […] auf die Belange der Welt«, den der Elbtower eröffnen werde. (Foto: privat)
Hamburger Filz
Bei der Vergabe des Bauprojekts hatten alle Bürgermeister der letzten Jahre einen Auftritt. Christoph Ahlhaus, der in seiner kurzen Amtszeit kein Großprojekt durchsetzen konnte, hatte sich mit seinem eigenen Immobilienunternehmen beworben. Zu mehr hat es dann aber auch nicht gereicht. Ole von Beust – hauptverantwortlich für den Bau der Elbphilharmonie – hat inzwischen ein Beratungsunternehmen, welches einen Beraterauftrag von der Signa innehat. Von Beust trat, selbstbekennend, als Lobbyist für die Signa im Zuge des Elbtower-Projekts auf.
Unter den Beratern der Signa finden sich neben Ole von Beust dann auch (alte) Genossen von Olaf Scholz: Alfred Gusenbauer (SPÖ) war von 2008 bis 2009 österreichischer Bundeskanzler und tut sich seit seinem Rücktritt als umtriebiger Lobbyist hervor, etwa für den kasachischen Diktator Nursultan Nasarbajew. Zu Scholz steht er in guten Beziehungen. Das schreibt Olaf Scholz zumindest in seinem Buch Hoffnungsland.
Gusenbauer (Team Benko) und Scholz (Team Hamburg) waren im gleichen Zeitraum in der International Union of Socialist Youth (IUSY) aktiv, einem internationalen Zusammenschluss verschiedener sozialdemokratischer und sozialistischer Jugendorganisationen, dem auch die Jusos und die Falken angehören. Gusenbauer war bis 1989 einige Jahre Vizepräsident der IUSY, genau wie Scholz. Von seinem Netzwerk aus dieser Zeit profitiert Scholz heute noch, worüber er jedoch ungern redet.
Wirtschaft und Politik
Die Verflechtungen von Politik und Unternehmen werden besonders an politischen Stiftungen deutlich. Sie dienen der Machtakkumulation auf beiden Seiten: Die Stiftungsunternehmen erhalten eine starke Interessensvertretung. Den Mitgliedern der Stiftungen, die in der Politik aktiv sein können, winken dagegen gut bezahlte Aufsichtsratsposten und Rückendeckung bei Entscheidungen von den Stiftungsunternehmen.3vgl. Marc Eulerich/Martin K. Welge, Die Einflussnahme von Stiftungen auf die unternehmerische Tätigkeit deutscher Großunternehmen, Düsseldorf 2011, S.73ff. [online].
So ist auch Olaf Scholz seit 2018 geborenes Mitglied des Kuratoriums der RAG-Stiftung. Sie ist Teilhaberin am KaDeWe, einem Tochterunternehmen der Signa Holding. Weitere fünf Prozent hält die Stiftung seit 2017 an der weiteren Tochter Signa Prime, die den Elbtower baut. Die Anteile an den Unternehmen, haben der RAG-Stiftung dieses Jahr bereits einen kleinen »Geldregen« beschert, was noch einmal aufzeigt, dass die RAGdavon profitiert, wenn es der Signa gut geht. Und Prestigeobjekte wie der Elbtower sind meistens gut für das Geschäft.
Wenn die RAG-Stiftung durch ihre Beteiligungen an Unternehmen wie der Signa Prime also Dividenden einkassiert, im Fall der Signa in Höhe von vier Prozent, ist das nicht nur für die Stiftung und die Stiftungsunternehmen gut. Vielmehr kann die RAG mithilfe dieses Geldes ihre Marktmacht steigern, sich an mehr Unternehmen beteiligen und mehr Unternehmen als Stiftungsunternehmen aufnehmen. By the way: Armin Laschet, Peter Altmaier, Norbert Lammert und Heiko Maas sind ebenso Mitglieder des RAG-Kuratoriums.
Das bedeutet für die Stiftungsmitglieder im Kuratorium ein wachsendes Netzwerk von Unternehmen, mit denen sie zusammenarbeiten können. Die RAG und die in ihr organisierten Unternehmenerhöhen so ihre Einflussmöglichkeiten auf die Politik. Die Stiftung sieht ihren Aufgabenbereich hauptsächlich im Bereich des Steinkohlebergbaus in NRW – dahin fließt also ein Teil des Gewinns aus den Dividenden der fünf Prozent Anteile an der Signa, die einen klimafreundlichen Turm in Hamburg bauen möchte: in den Kohlebergbau.
Chefsache
Der Tower wird nicht nur Höhepunkt der Hafencity, sondern gleich das mit Abstand höchste Gebäude der Stadt. Dementsprechend motiviert und emotional soll Scholz schon bei der Präsentation des Gebäudes gewesen sein. »Hervorragend«, »elegant«, »raffiniert«, waren die Begriffe, die Scholz zur Beschreibung des Projekts wählte. Als Scholz noch in Hamburg weilte, nahm er sich des Projekts daher auch persönlich an; machte es zur »Chefsache«, wie die lokale Presse schrieb, und verdonnerte den Oberbaudirektor und die Stadtentwicklungssenatorin auf die billigen Plätze.
Parteigenossen von Scholz haben der MoPo zufolge gefrotzelt: »Kleiner Mann, großer Turm.« Aber lassen wir uns vom Napoleon-Komplex nicht beirren. Es war nicht Olaf Scholz’ Körpergröße, die zu der zwielichtigen Vergabe des Bauauftrags führte. Aber mit dem Baubeginn 2021 wird Scholz ein Denkmal gesetzt. Das offenbart eher einen »Cheops-Komplex«, der sich an die ägyptischen Pyramiden zum Zweck der Machtdemonstration anlehnt. Immerhin wird die Elbphilharmonie dann nicht mehr der unangefochtene Höhepunkt der Stadt sein.
Scholz setzte das Projekt mit viel Krafteinsatz durch und tat dies »mit einem guten Gewissen«, denn, so seine bestechende Argumentation, das Ergebnis werde sehr gut sein. Falls das Ergebnis nicht »sehr gut« wird, sollten wir ihn besser an sein Engagement erinnern. Immerhin ist seit seinem Einsatz für die Warburg Bank in Hamburg hinlänglich bekannt, dass der Herr Finanzminister Probleme mit der Erinnerung hat, wenn es um größere Geldsummen geht.
Joe Chip
Der Autor hat zwölf Jahre im Hafen gearbeitet, der Arbeit den Rücken gekehrt und Soziologie studiert. Als Gewerkschafter bleibt er mit den besitzenden Klassen in Verbindung. Seine Erfahrungen verarbeitet er in Kurzgeschichten und Polemik.
1
Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Schriftliche Kleine Anfrage des Abgeordneten Jörg Hamann (CDU) vom 07.09.18 und Antwort des Senats. Drucksache 21/14277, 14.09.2018. [online].
2
Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Protokoll/Wortprotokoll der öffentlichen/nichtöffentlichen Sitzung des Stadtentwicklungsausschusses, 22. Oktober 2018, S. 15 [online].
3
vgl. Marc Eulerich/Martin K. Welge, Die Einflussnahme von Stiftungen auf die unternehmerische Tätigkeit deutscher Großunternehmen, Düsseldorf 2011, S.73ff. [online].
Die Emanzipatorische Linke.Shalom Hamburg protestiert immer wieder gegen die politische Verharmlosung des IZH. Dabei erhielt sie zuletzt sogar Gegenwind aus der eigenen Partei. Jan Vahlenkamp, einer ihrer Sprecher:innen, erklärt im Interview mit Felix Jacob warum die Hamburger LINKE sich gegen eine Kundgebung der Gruppe stellte und wieso er nun aus der Partei austritt.
Jan Vahlenkamp (Bildmitte) mit dem derzeitigen Sprecher:innenrat der Emanzipatorischen Linken.Shalom sowie Volker Beck bei einer Demo vorm IZH im Mai 2021. Bild: privat.
Untiefen: Lieber Jan, das Islamische Zentrum Hamburg (IZH) steht derzeit öffentlich in der Kritik wie lange nicht mehr. Anlässlich der Diskussion um den Staatsvertrag mit den muslimischen Verbänden und, in den letzten Wochen, um einen möglichen Platz für die Schura im NDR-Rundfunkrat ist der Außenposten des iranischen Mullah-Regimes der zentrale Streitpunkt zwischen FDP, CDU und AfD einerseits, SPD und Grünen andererseits. Ihr als Emanzipatorische Linke.Shalom Hamburg beteiligt euch unabhängig von solchen Konjunkturen schon seit langem immer wieder an den Protesten gegen das IZH. Wie bewertet ihr die aktuelle politische Lage? Mit wem arbeitet ihr zusammen?
Vahlenkamp: Wenn die Politik das IZH und den Staatsvertrag thematisiert, dann ist das gut. Wenn das zu einem oberflächlichen Wahlkampfthema zwischen dem rechten und dem linken Flügel der Bürgerschaft wird, dann ist das schlecht. Ich glaube aber gar nicht, dass das der Fall ist. Auch bei den Grünen wird ja über das IZH diskutiert. Die grüne Bürgerschaftsabgeordnete Gudrun Schittek hat schon mal einen Redebeitrag auf einer der Kundgebungen gehalten, ebenso wie der ehemalige Bundestagsabgeordnete Volker Beck. Ich habe auch schon Leute von der AG Säkulare der Linken dort gesehen. Die linksliberale Mopo schreibt recht kritisch über das IZH und der SPD-nahe Sascha Lobo hat die Staatsverträge in seiner Spiegel-Kolumne auch schon kritisiert. Ich glaube, da ist einiges in Bewegung.
Bei uns gibt es personelle Überschneidungen mit der »Deutsch-Israelischen Gesellschaft«, die sich zu dem Thema recht klar positioniert. Außerdem haben wir Kontakt zum »Bündnis gegen Antisemitismus Kiel«, die jedes Mal anreisen, wenn gegen das IZH demonstriert wird. Wir arbeiten auch mit den Gruppen »International Women in Power« und »Nasle Barandaz« zusammen, die jeweils Kundgebungen gegen das IZH organisiert haben. Dasselbe gilt auch für den »Zentralrat der Ex-Muslime«.
Untiefen: Am 07. August fand unter dem Motto »1400 Jahre Genozid im Iran – IZH muss geschlossen werden« erneut eine Kundgebung gegen das IZH statt, organisiert von der iranischen Hamburger Gruppe Nasle Barandaz (»Subversive Generation«), mitgetragen von euch. Sie wurde im Vorfeld vom IZH und einigen Zeitungen als »antimuslimische Hetze« diffamiert. Geht diese Strategie eurer Erfahrung nach auf?
Vahlenkamp: Das glaube ich kaum. Ich selbst habe durch die Pressemeldung überhaupt erst davon erfahren, dass da eine Kundgebung geplant ist. Wir haben dann schnell entschieden, dass wir uns öffentlich hinter die Kundgebung stellen, auch wenn uns das Motto etwas fraglich erschien. Hinterher gab es dann ja auch einen ziemlich sachlichen Bericht im Hamburg Journal des NDR. Wenn Leute bereit sind, einfach mal zuzuhören, verpuffen solche Diffamierungen recht schnell.
Ein Beispiel: Vor fünf Jahren hatte die Linksjugend Solid Mina Ahadi vom Zentralrat der Ex-Muslime eingeladen. Die Veranstaltung wurde im Vorfeld stark kritisiert und es wurde behauptet, Mina Ahadi sei eine Rassistin. Ich kenne eine Genossin, die damals auch in diese Richtung polemisiert hat. Heute steht dieselbe Genossin mit Mina Ahadi zusammen auf der Bühne und beide applaudieren einander.
Untiefen: Wie ist das Motto »1400 Jahre Genozid im Iran« denn eurer Meinung nach zu verstehen?
Die Veranstalter:innen der Kundgebung ziehen hier den Bogen von der Eroberung des Sassanidenreiches im 7. Jahrhundert hin zur Islamischen Republik von heute. So eine Eroberung war natürlich nicht unblutig und die Islamisierung nicht das Ergebnis einer friedlichen Mission. Und bis heute dürfen Iraner, bei Androhung drakonischer Strafen, ihre Religion nicht frei wählen, sie bleiben zwangsislamisiert. Dies wird von manchen als kultureller Genozid angesehen, bei dem der Islam als Ideologie die iranische Nation unterdrückt. Eine solche Sichtweise hat schon etwas Nationalromantisches. Aber wie so oft können wir hier schlecht deutsche Maßstäbe an ein Land legen, dass eine ganz andere Geschichte, Gegenwart, Gesellschaft und Politik vorzuweisen hat. Und dieses Land, also der Iran, hat die Veranstalter:innen nun mal entscheidend geprägt. Die meisten von ihnen sind erst vor wenigen Jahren als Flüchtlinge hierher gekommen.
Untiefen: Vor gut zwei Wochen wurden von Unbekannten politische Parolen auf das IZH gesprüht, offenbar im Zusammenhang mit den Protesten gegen das Regime in der Provinz Khuzestan. In der Presse war von einem»Anschlag auf eine Moschee« die Rede. Teilt ihr diese Perspektive?
Vahlenkamp: Ein Farbanschlag ist kein Mittel eines demokratischen Diskurses. Dafür stehen andere Mittel zur Verfügung.
Ich kann auch verstehen, dass Landesrabbiner Shlomo Bistritzky sich hier mit der Schura solidarisiert hat. Synagogen sind ja sehr oft von Farbanschlägen und ähnlichem betroffen und wenn diese Gebäude nicht so aufwändig geschützt wären, dann wären sie es wohl noch viel häufiger. Diese Anschläge wirken bedrohlich und einschüchternd – und das ist ja auch beabsichtigt. Auch Moscheen waren in den letzten Jahren immer wieder das Ziel von xenophoben Angriffen, seien es Brandanschläge oder das Ablegen von Schweineköpfen oder ähnliches. Für so etwas habe ich absolut kein Verständnis.
Beim IZH ist der Fall aber meines Erachtens nach etwas anders gelagert. Es ist ja offensichtlich, dass die Tat durch iranische Dissidenten begangen wurde. Die Parolen waren in persischer Sprache und hatten politischen, auf den Iran bezogenen Inhalt. Man muss sich vergegenwärtigen, dass der Iran eines der sehr wenigen Länder auf der Welt ist, wo Klerus und politische Machthaber nicht bloß eng miteinander verstrickt sind, sondern wo der Klerus selbst die politische Macht innehat. Hier haben sich also Leute quasi an ihren Unterdrückern gerächt und ich denke, das ist etwas anderes, als wenn man einer Minderheit Angst einjagen möchte. Im Iran würde man für so etwas seinen Kopf verlieren, hier droht nur eine Anzeige wegen Sachbeschädigung.
Untiefen: Auch die Bürgerschaftsfraktion der Linken hatte vor der Demo in einer Pressemitteilung behauptet, hier würde – grade nach dem genannten »Anschlag« – »gezielt Stimmung gemacht gegen Hamburgs muslimische Bürger:innen« und so das »Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen und Religionen« in Hamburg gefährdet. Ihr habt diese Darstellung zurückgewiesen. Hat eure Partei in Hamburg eine grundsätzlich andere Haltung zum IZH als ihr?
Vahlenkamp: Die Linke hat ja überhaupt keine Position zum IZH. Arbeit, Wirtschaft und Soziales – das sind die Themen der Linken. Aber weder zum Thema IZH noch zum Thema Islamismus stand irgendetwas im Bürgerschaftswahlprogramm. Darauf angesprochen heißt es dann meist, man wolle keine rechten Diskurse bedienen. Viele verstehen einfach nicht, dass die rechten Diskurse durch das Ignorieren solcher Themen erst recht bedient werden. Diese Unbedarftheit sah man ja auch der Pressemitteilung an. Da wurde die Haltung und Sichtweise der Schura einfach übernommen. Dann haben wohl ein paar Leute dort angerufen und sich beschwert. Daraufhin wurde die Pressemitteilung schnell wieder kommentarlos aus dem Internet entfernt.
Zumindest ein Teil der Linken hegt aber auch mehr oder weniger offen Sympathie mit der Islamischen Republik Iran. Das wirkt natürlich erstmal grotesk, weil es ein strikt antikommunistisches Regime ist. Aber es ist eben auch ein erklärter Feind des »US-Imperialismus« und das ist manchen im Zweifel wichtiger. Besonders die Gruppe Marx21 hat ja immer besonders viel Verständnis für Islamisten aller Couleur. Ich glaube, sie tun das, weil sie den westlichen Liberalismus als gemeinsamen Feind ansehen. Im Fall Iran kommt aber auch noch mit hinzu, dass das Land beste Beziehungen zu den ALBA-Staaten und Putins Russland hat. Von daher hat das Regime für manche Linke den Status eines Verbündeten und da hält man sich dann mit Kritik zurück.
Untiefen: Gibt es aus der Hamburger Linkspartei Belege für solche Haltungen?
Vahlenkamp: Ja, zum Beispiel postete die Bürgerschaftsfraktion 2017 zum »Internationalen Tag gegen Homo‑, Bi‑, Inter- und Transphobie« bei Facebook einen Aufruf und erinnerte daran, dass viele Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung flüchten müssen. Darauf folgte eine Liste solcher Unterdrückerstaaten, wie etwa Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate. Auffällig war aber, dass der Iran, der auch beim Thema Homosexualität der Hinrichtungsweltmeister ist, auf der Liste fehlte, ebenso wie Russland. Dafür stand dort die Ukraine, obwohl dort homosexuelle Handlungen gar nicht verboten sind und sich seit dem Euromaidan die Politik für mehr Toleranz einsetzt. Es waren ausschließlich prowestliche Staaten auf der Liste verzeichnet. Ich fragte dann nach, ob dieses Weglassen der Achse Moskau-Teheran-Damaskus geschuldet sei.
Das Presseteam antwortete: »Das Engagement der LINKEN gegen Diskriminierung ist universell und nimmt weder Rücksicht auf irgendwelche konstruierten ›Achsen‹ noch auf den Iran, auf Russland oder auf sonstwen. Und auch nicht auf diejenigen, die meinen, der LINKEN bei wirklich jeder Gelegenheit die übelsten Absichten unterstellen zu müssen.« Erst Jahre später erfuhr ich von der damaligen Praktikantin, die den Aufruf geschrieben hatte, dass in der ursprünglichen Liste natürlich auch Iran und Russland standen. Allerdings hatte der damalige queerpolitische Sprecher Martin Dolzer die Liste vor der Veröffentlichung abgeändert. Dolzer gehört zu einem Kreis von Putin-Lobbyisten, die oft in Russland zu Gast sind. Und die stehen dann eben auch zu Putins Alliierten.
Untiefen: Die israelsolidarischen Shalom-Arbeitskreise wie ihr waren von Anfang an marginal in der Linksjugend Solid und Dissens besteht sicher nach wie vor in einer ganzen Reihe von Fragen. Wie ist heute das Verhältnis zur Linksjugend?
Vahlenkamp: Der BAK Shalom in der Linksjugend Solid hatte zu Beginn einen schweren Stand, auch wenn das in den einzelnen Landesverbänden unterschiedlich ausgeprägt war. Er wurde natürlich immer vor dem Hintergrund der »AntiD-Antiimp« Kontroverse gesehen. Aber dann gab es 2014 die von der Linksjugend Solid organisierte Demo »Stoppt die Bombardierung Gazas – für ein Ende der Eskalation im Nahen Osten« in Essen. Daran nahmen höchst zweifelhafte Gestalten teil, die antisemitische Sprechchöre riefen, jüdische Einrichtungen anzugreifen versuchten und Gegendemonstranten mit Flaschen bewarfen. Das war eine Art Schockmoment, der dazu führte, dass im Jahr darauf der Antrag »Gegen jeden Antisemitismus« vom Bundeskongress der Linksjugend Solid beschlossen wurde.
Ich glaube, das war das erste Mal, dass ein Antrag vom BAK Shalom angenommen wurde. Heute sind die Strukturen des BAK Shalom relativ gut eingebunden in die Arbeit der Linksjugend Solid, was man ja auch an der diesjährigen Erklärung »Trauer um die Toten – Hass für die Hamas!« erkennen kann. Da haben sich einige aus der jüdischen und israelsolidarischen Community gewundert, dass so etwas von den Linken kommt. Die denken ja oft, dass wir ihnen feindlich gesonnen sind. Ich sehe den Jugendverband insgesamt auf einem guten Weg, auch wenn es vor Ort weiterhin sehr unterschiedlich bleibt.
Untiefen: Und wie sieht es hier in Hamburg für Euch aus?
Vahlenkamp: Hier hapert es nicht zuletzt mit der innerparteilichen Demokratie. Vor zwei Jahren haben wir uns als hamburgischer Landesverband der Emanzipatorischen Linken zusammengeschlossen, nachdem wir zunächst drei Jahre unter dem Dach des BAK Shalom im Jugendverband organisiert waren. Die Emanzipatorische Linke ist eine innerparteiliche Strömung, die sich an gesellschaftsliberalen, radikaldemokratischen und emanzipatorischen Standpunkten orientiert. Der Landesvorstand der Linken wollte uns zunächst gar nicht als Zusammenschluss anerkennen, obwohl er laut Satzung zur Anerkennung verpflichtet ist, wenn die formalen Kriterien erfüllt sind. Dementsprechend konnte die Landesschiedskommission den Nicht-Anerkennungs-Beschluss schnell wieder aufheben.
Aber man sah uns im Landesvorstand wohl von Beginn an als Feinde. Unser Antrag an den Landesparteitag 2020, »Keine Liebesgrüße nach Moskau«, der sich kritisch mit Putins Kriegspolitik auseinandersetzte, wurde von der Antragskommission »versehentlich« layouttechnisch dermaßen zerhackt, dass er kaum noch lesbar war, bevor der Parteitag dann die Nichtbefassung beschloss. Im Frühjahr 2021 haben wir eine Online-Veranstaltungsreihe zu Verschwörungsmythen gemacht. Dafür bekamen wir von der Partei ein wenig Geld, was allerdings im Nachgang zu wüsten Debatten im Landesvorstand führte. Lustigerweise hatte niemand inhaltlich etwas an der Veranstaltungsreihe auszusetzen, aber es wurde ein großer Alarm gemacht, dass man damit ja »Antideutsche« unterstützen würde.
Untiefen: Zieht ihr aus solchen und den neusten Enttäuschungen rund um die Kundgebung politische Konsequenzen?
Ich bin gerne bereit, mit allen und über alles zu diskutieren. Aber dann möchte ich über Fakten sprechen und nicht über gestreute Gerüchte oder Dogmen, die sich Leute in den 1970er Jahre so angewöhnt haben. Wenn man sich gegen Antisemitismus einsetzt, hat man ja automatisch eine Menge Feinde, ob nun aus der Nazi-Szene, aus islamistischen Zirkeln oder in den letzten Jahren vermehrt auch aus dem Aluhut-Milieu. Da kann man dann nicht auch noch »Friendly Fire« aus der eigenen Partei gebrauchen. Außerdem haben wir natürlich eine gewisse Verantwortung gegenüber unseren Sympathisanten, die wir in den letzten Jahren gewonnen haben. Allein bei Facebook folgen uns über 800 Leute. Die meisten sind parteilich nicht gebunden. Die kommen dann zu unseren Infoveranstaltungen und Demos, lesen unsere Texte, hören unsere Redebeiträge und denken sich: »Oh, es gibt stabile Leute in der Linken. Dann wähle ich die.«
Aber wen wählen sie damit in Hamburg? Sie wählen die Spitzenkandidatin Żaklin Nastić. Also die Frau, die Angela Merkel wegen »Beihilfe zum Mord« angezeigt hat, weil sie die Liquidierung des Topterroristen Qasem Soleimani nicht verhindert hat. So ein Vorgehen ist zum einen ziemlich gaga, zum anderen zeigt es aber auch, wo die »Sprecherin für Menschenrechtspolitik« so ihre Prioritäten sieht und bei wem ihre Sympathien liegen. Dann will man aufspringen und schreien: »Nein, nein, wählt sie nicht!« Ich fühle mich da wie Oskar Lafontaine, der ja mittlerweile auch zur Nicht-Wahl der Linken aufruft, wenn auch aus gänzlich anderen Gründen. Ich möchte aber authentisch bleiben und trete dann konsequenterweise aus der Partei Die Linke aus. Ich finde mich weder in der Außenpolitik noch in dem ganzen Dogmatismus der Linken heute noch wieder.
Untiefen: Planst Du in eine andere Partei einzutreten? Oder setzt Du deine Arbeit parteilos fort?
Vahlenkamp: Ich sehe mich heutzutage als Sozialliberalen. Und als solcher stimme ich am ehesten mit den Positionen von Bündnis90/Die Grünen überein. Deshalb werde ich dort demnächst einen Antrag auf Mitgliedschaft stellen. Ein »Parteisoldat« werde ich aber in diesem Leben wohl nicht mehr. Dafür habe ich dann doch zu oft meinen eigenen Kopf. Glücklicherweise leben wir aber ja in einer Gesellschaft, in der es vielfältige Möglichkeiten gibt, sich einzubringen. Und das werde ich sicherlich auch weiterhin tun.
Im Zentrum Hamburgs übt sich eine neue Ausstellung der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung in Legendenbildung. Kann sie den Macher und Machtpolitiker Schmidt zu guter Letzt doch noch als »Superdemokraten« präsentieren? Und wie geht sie mit Schmidts Zeit als Offizier der Wehrmacht um? Unser Autor hat ihr einen kritischen Besuch abgestattet.
Der Eingang zur Ausstellung in der Hamburger Innenstadt: Welcome to Helmut! Foto: privat
Mit pandemiebedingt siebenmonatiger Verspätung wurde am 19. Juni 2021 die Dauerausstellung zu Ehren des fünften Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland in den Räumen der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung nahe dem Hamburger Rathaus eröffnet. Mit der Ausstellung, die über mehrere Jahre hier zu sehen sein soll, schreitet die vom Spiegel-Autor und Historiker Klaus Wiegrefe bereits im Zuge der Gründung der Stiftung befürchtete »Schmidtisierung der Republik« nun also weiter voran. Auch deshalb, weil die Ausstellung an ihrer eigenen Begriffslosigkeit scheitert: Unter dem Titel »Schmidt! Demokratie leben« will sie den ehemaligen Bundeskanzler als »Superdemokraten« inszenieren, hat allerdings selbst keinen Begriff von Demokratie. Hätte die Stiftung sich tatsächlich mit dem Demokratieverständnis Schmidts auseinandergesetzt, würde sie wohl kaum noch von ihm als »Vordenker« sprechen können. Von einer kritischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Person ist diese Ausstellung so weit entfernt, wie es Helmut Schmidt von einem Dasein als Intellektueller war.
In nur einem Raum mit einer Größe von circa 200 Quadratmetern werden Leben und Wirken Schmidts dargestellt. Weiterhin wirft die Ausstellung einzelne Schlaglichter auf Themen, die nach Ansicht der Stiftung innerhalb der westdeutschen Gesellschaft während der Kanzlerschaft Schmidts (1974–1982) an Relevanz gewannen. Ein ambitioniertes Vorhaben! Denn viel Platz ist das nicht für die Geschichte des 20. Jahrhunderts und Schmidts Rolle darin: Eine nuancierte und detaillierte Verhandlung der Themen wurde so von vornherein ausgeschlossen. Gegliedert ist die Ausstellung in drei chronologisch angeordnete Bereiche – das Leben vor der Kanzlerschaft, die Kanzlerschaft und die Zeit danach. Diese Bereiche heben sich visuell nicht voneinander ab, sondern werden jeweils durch Texttafeln eingeleitet. Die Unterkategorien, wie etwa Kindheit und Jugend, die RAF oder Protest gegen die Atomkraft, werden wiederum durch Großfotografien – darauf jeweils Zitate Schmidts – und sogenannte Thementische gegliedert. Die insgesamt acht Jahre Kanzlerschaft nehmen dabei fast die Hälfte des Raumes ein und bilden den inhaltlichen Schwerpunkt der Ausstellung.
100 Jahre Deutschland – 100 Jahre Helmut Schmidt
Bevor nun ein Blick in die Ausstellungsräume geworfen wird, ist es wichtig, den Titel – »Demokratie leben« – zu kontextualisieren. Denn dieser gibt nicht nur die Marschrichtung der Ausstellung vor. Er sagt uns, wie wir uns an Schmidt erinnern sollen. Neben dem Hinweis auf sein langes Leben, immerhin wurde er 96 Jahre alt, lautet die Botschaft: Helmut Schmidt war ein aufrechter Demokrat, der von der parlamentarischen Demokratie nicht nur überzeugt war, sondern diese wirklich »gelebt« habe. Die Ausstellung erinnert an und ehrt also auf eine emotionale Weise einen »Superdemokraten«. Warum die Ausstellung diesem Titel zwangsläufig nicht gerecht werden kann, hängt mit dem hier normativ verwendeten, nicht näher definierten Demokratiebegriff zusammen, der neben der Person das bestimmende Thema dieser Ausstellung zu sein scheint.
Wer war also Helmut Schmidt? Den jüngeren Menschen in der Bundesrepublik ist er wohl als kettenrauchender Welterklärer in Erinnerung. Schmidt hatte für alles eine Antwort und saß vornehmlich alleine in Talkshows, damit es bloß keinen Widerspruch gab. Den Hamburger:innen mag er noch als »Herr der Flut« in Erinnerung sein. Ein Mythos, an dem viele Medien und Schmidt selbst bis zu seinem Tod gearbeitet haben: Das Bild des »Machers«, der »Krisenmanager«, der nicht lange schnackt, sondern einfach das Richtige macht – und dem dabei auch mal das Grundgesetz egal ist. Dieses Bild des »Machers« ist wohl das beständigste Erbe des 2015 Verstorbenen. Doch sei dies, so möchte die Ausstellung zeigen, zu kurz gegriffen. Denn natürlich war er viel mehr: Ein Europäer, Pragmatiker und Realpolitiker, der für sein »oft weitsichtiges Handeln im Kontext großer internationaler Herausforderungen« bekannt sei, wie es im Einführungstext heißt – Krisenmanager, aber weltweit.
Die Wehrmacht und der Schlussstrich
Die Großfotografien sind das alles bestimmende visuelle Element der Ausstellung. Dies lässt eine Perspektive auf Helmut Schmidt zu, die sicher nicht im Sinne der Ausstellungsmacher:innen war. So fällt – noch bevor der eigentliche Ausstellungsraum betreten werden kann – ein Foto Schmidts ins Auge, das ihn im Jahr 1940 in der Uniform der deutschen Luftwaffe als Leutnant der Reserve zeigt. Schmidt war Offizier, wurde im Laufe des Krieges Oberleutnant. An der Ostfront eingesetzt, war er unter anderem an der Belagerung von Leningrad und womöglich auch an Kriegsverbrechen beteiligt. Nachweisen konnte man ihm das nie, doch seine Selbstverteidigung, die bis zu der Behauptung reichte, er sei sogar ein Gegner der Nazis gewesen, war schon immer unglaubwürdig. Selbstredend habe er auch von der Shoah keinerlei Kenntnis gehabt – dabei reiste er als Ausbilder in »Kriegsschulen« quer durch das Deutsche Reich und die im Krieg besetzten Gebiete. Wenige Meter hinter dieser Fotografie findet sich eine weitere, diesmal von seiner Vereidigung zum Bundeskanzler 1974. Von der Wehrmacht ins Kanzleramt: eine (west-)deutsche Karriere. Eine erfolgsbiografische Illusion für die Schmidt wohl nur Willen – und Zigaretten – brauchte.
Der erste Thementisch zum Wehrmachts-Foto hat es in sich. Er soll das Bild kontextualisieren, kann aber obige Erfolgsgeschichte kaum mehr einfangen. Auf die eklatanten Erinnerungslücken Schmidts weist das bereitgestellte Material zwar hin, aber es steht neben seiner Erzählung, als ob es zwei legitime Sichtweisen wären, die sich gegenseitig die Balance halten. Darüber hinaus wird der Begriff der »Pflicht« stark gemacht. Schließlich sei es soldatische Pflicht gewesen, die Stadt Leningrad zu belagern. Ein fast schon amüsanter Euphemismus für Mitläufertum, wenn es denn nicht so ernst wäre. Ein auf dem Thementisch gezeigter Film fasst dann die ganze Absurdität zusammen: Als Schmidt 1977 als erster Kanzler überhaupt nach Auschwitz zu einer Gedenkfeier anreiste, sprach er nicht über die Opfer der Shoah. Deutsche seien die ersten Opfer gewesen! Und überhaupt hätten die Deutschen 32 Jahre nach Kriegsende damit auch nichts mehr zu schaffen. Heute wäre es undenkbar, so etwas zu sagen – damals war es das auch. Nach dem Warschauer »Kniefall« von Willy Brandt sieben Jahre zuvor waren solche Worte aber offensichtlich Balsam auf die geschundene Seele der (West-)Deutschen.
Es irritiert insbesondere an dieser Stelle, dass die Stiftung Schmidts eigenes Narrativ reproduziert und als legitime Haltung darstellt. Dieser Eindruck verstärkt sich durch ein ebenfalls an diesem Tisch gezeigtes Gespräch, das zur ersten »Wehrmachtsausstellung« im Jahr 1995 im Zeit-Magazin abgedruckt wurde. So wollte Schmidt sich diese Ausstellung gar nicht erst ansehen: wiederholt betont er, nichts von den Verbrechen der Wehrmacht an der Ostfront gewusst zu haben, was er bei einer Wiederauflage des Gespräches noch einmal unterstrich. Natürlich erwartet nun niemand in dieser Ausstellung eine fundamentale Kritik an der Person Schmidts oder eine Analyse seiner nicht haltbaren Verteidigungsstrategie. Mit Begriffen wie Vernunft oder Nüchternheit, die Schmidt sich selbst attestierte und die ihm bisweilen attestiert werden (siehe die einschlägigen Biografien), hat das allerdings wenig zu tun. Denn man könnte doch meinen, dass der kantische Vernunftbegriff die Fähigkeit zur (Selbst-)Reflexion einschließt.
Kitsch statt Kritik: Im Museumsshop kehrt man lieber bei Loki und Helmut ein als vor der eigenen Tür. Foto: privat
Der »Herr der Flut« und die wilden 70er
Es folgt – nach der plötzlichen Läuterung zum Sozialdemokraten 1945 – ein etwas längerer Abschnitt in Schmidts Leben (1945–1969): Schmidt war ab Dezember 1961 Senator der Polizeibehörde (ab Juni 1962 Innensenator) und nahm vor allem eine prominente Rolle in der Nacht der Hamburger Sturmflut vom 17. auf den 18. Februar 1962 ein. Immerhin wird in der Ausstellung nicht mit dem beliebten Zitat gearbeitet, dass dem Demokraten so gar nicht zusagen würde (das mit dem Grundgesetz). Gebrochen wird der »Macher«-Mythos allerdings auch nicht, denn das Thema bleibt eine Randnotiz. Diese Marginalisierung ist befremdlich: Ranken sich doch allerlei Geschichten um dieses Ereignis.
Der Rest der Ausstellung folgt dem bekannten Muster. Eine Großfotografie zeigt Schmidt und ein Zitat. Auf dem jeweiligen Thementisch wird die Perspektive etwas geweitet, aber nie zu weit: Die Ausstellung wird durchzogen von einer kontinuierlichen Dichotomie zwischen der Position und Argumentation Schmidts und dem Rest der Welt. Gebrochen wird diese personenzentrierte visuelle Erzählung nur im Bereich der Kanzlerschaft Schmidts. Die hier gezeigten Fotografien zeigen Themen der 1970er und 1980er Jahre: Ein bisschen Wirtschaftskrise, RAF, Anti-Atom- und Friedensbewegung. Auf den Tischen bleibt jedoch die Herangehensweise: Eine historische Einordnung findet nicht statt, die Position Schmidts wird hingegen als vernunftgeleitet dargestellt. Im Umkehrschluss sind es die Gegenpositionen häufig nicht. So wird etwa am Thementisch »Deutscher Herbst« erst auf einer unteren Film-Ebene von Hans-Jochen Vogel (1974–1981 Justizminister im Kabinett Schmidt) zugegeben, dass der Staat eigentlich nie wirklich in Gefahr war. Dabei legitimierte dieses Bedrohungsszenario allerlei Politiken und eine Aufrüstung des Polizeiapparats, die in der Bundesrepublik bis dato beispiellos war. Während die Rollenverteilung beim RAF-Terrorismus wenig Spielraum lässt, verhält es sich bei den in den 1970er Jahren aufkommenden Neuen Sozialen Bewegungen schon anders. Denn hier zeigt sich, welchen Demokratiebegriff Schmidt pflegte. So konnte er zwar die Anti-AKW-Demonstrationen in Brokdorf nicht verhindern, rief aber dazu auf, nicht auf die Straße zu gehen. Auch drohte Schmidt als Kanzler mehrfach mit Rücktritt, sollte seinem Willen – Atomkraftwerke zu bauen – nicht nachgekommen werden. In Schmidts Verständnis von Demokratie war für die Sozialen Bewegungen kein Platz. Zulässige, also von ihm anerkannte Stimmen, gab es nur im Parlament und in seiner Partei. Doch auch letztere und Schmidt entfremdeten sich im Laufe seiner Kanzlerschaft zunehmend. Ein Spannungsverhältnis, dass bis zu seinem Tod nicht mehr aufgelöst wurde. Dass die Partei in der Ausstellung kaum stattfindet, scheint folgerichtig: Schmidt als überparteilicher Lenker, Denker und Welterklärer. Eine weitere Inszenierung Schmidts, die hier unhinterfragt weitergetragen wird.
Demokratie und Kritik
Nachdem auf dem letzten Kanzlertisch noch eben die Themen Europa, DDR und die restliche Welt eher wackelig abgehandelt werden, beginnt der letzte Bereich, also seine Zeit als Publizist und Mit-Herausgeber der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit. Es ist jene Lebensphase, in der Schmidt an seiner eigenen Legende arbeitete, wie der Historiker Axel Schildt 2017 feststellte. Mit diesen Aktivitäten schuf Schmidt ein Bild von sich, dem diese Ausstellung weitestgehend folgt.
Entsprechend wird sich in diesem Abschnitt auch nicht mit den rassistischen und kulturalistischen Positionen Schmidts auseinandergesetzt. Dabei sind diese Positionen nicht seiner späten Senilität geschuldet – sprach er doch bereit 1992 von einer »Überschwemmung« und »Entartung« der deutschen Gesellschaft –, sondern lassen einen roten Faden in Schmidts Politikverständnis erkennen. Würde dieser genauer untersucht, so würde sich zeigen, dass sein Weltbild nicht viel mit Nüchternheit oder Vernunft zu tun hat, ja vielmehr offenbart sich eine regelrechte Intellektuellenfeindlichkeit. Die Möglichkeit, auch diese Seiten Schmidts zu zeigen und zu diskutieren, wurde hier nicht genutzt. So kann die Ausstellung einer historisch-kritischen Einordnung der Person nicht gerecht werden, eine nüchterne Perspektive auf den fünften Bundeskanzler fehlt. Schmidts Politikverständnis blieb ein elitäres und exklusives. Die Ausstellung folgt weitestgehend dem Bild Schmidts, das dieser selbst installiert hat: ein überparteilicher Superdemokrat und Lotse (Bismarck lässt grüßen!), der die Bundesrepublik durch schwere Fahrwasser steuerte und eigentlich auch immer recht behielt – mit dieser Dauerausstellung nun auch über seinen Tod hinaus.
Lars Engelhardt, August 2021
Der Autor ist studierter Literaturwissenschaftler und als derzeit prekär Beschäftigter – unter anderem Uber-Fahrer in Teilzeit – schon länger enttäuscht von den leeren Versprechen der (Hamburger) Sozialdemokratie. Die Stadt Hamburg, so meint er, verdient Ausstellungen wie diese.