Veranstaltung: Weltbilder der Kunst – Kollektivität
Eine Veranstaltungsreihe der Innenrevision Kulturbetrieb fragt nach antisemitischen Weltbildern in gegenwärtigen Kunstdiskursen. Die Auftaktveranstaltung findet am 03.05.2023, 19.30 Uhr im BARBONCINO zwölphi statt.
Im September 2022 traten zwei Vertreter des indonesischen Documenta-Kuratorenkollektivs Ruangrupa eine Gastprofessur an der Hamburger HfbK an. Seitdem ist die Auseinandersetzung über die von Ruangrupa verantwortete antisemitische Kunstschau auch zu einem Streit in Hamburg geworden. Bisher gab es zwar verdienstvolle, aber vereinzelte Proteste, zurückhaltende Ermahnungen aus der Landespolitik sowie einige wenig ergiebige Interviews und Veranstaltungen mit den Ruangrupa-Leuten. Insgesamt aber ist von Betroffenheit oder gar (Selbst-)Kritik innerhalb des Hamburger Kunst- und Kulturbetriebs wenig zu vernehmen. Woran liegt das – auch und gerade jenseits des offensichtlich unverbesserlichen Ruangrupa-Kollektivs?
Um dem auf den Grund zu gehen hat sich in Hamburg eine „Innenrevision Kulturbetrieb“ gegründet. In ihr haben sich in Kunst und Kultur Tätige zusammengeschlossen, die mit einer Veranstaltungsreihe in das beredte Hamburger Schweigen intervenieren wollen. Die Reihe untersucht anhand dreier für den gegenwärtigen Kunstbetrieb zentraler Begriffe – Kollektivität, Widerstand und Solidarität – über welche Einfallstore sich antisemitische Weltbilder im Kunstdiskurs immer wieder verbreiten können.
Die Reihe beginnt am 03.05. mit einer Veranstaltung zu „Kollektivität“.
Die Redaktion Untiefen unterstützt diese Intervention (wie auch der Bagrut e.V., die Untüchtigen sowie der Textem-Verlag) und dokumentiert im Folgenden den Ankündigungstext der Veranstaltung.
Weitere Informationen zu den folgenden Veranstaltungen werden zu gegebener Zeit hier auf Untiefen und auf dem Instagramaccount der Innenrevision Kulturbetrieb veröffentlicht.
Zahlreiche antisemitische Darstellungen auf der Documenta 15 haben einen seit Jahren schwelenden Konflikt in die breite Öffentlichkeit geholt – und altbekannte Frontbildungen verschärft. Mittlerweile kann ohne Übertreibung von einem Kulturkampf gesprochen werden. Gestritten wird über eine vermeintliche Konkurrenz zwischen der Erinnerung an die Shoah und der Erinnerung an deutsche Kolonialverbrechen. Gestritten wird nicht zuletzt auch über das jeweilige Verhältnis zu Israel. Spätestens durch die Berufung zweier Mitglieder des Künstlerkollektivs Ruangrupa an die HFBK ist dies auch ein Hamburger Streit. Gerade im Kunstfeld wird er vehement geführt. Das lässt die Frage aufkommen, ob zentrale Begriffe in der aktuellen Selbstbeschreibung künstlerischer Praxis nicht selbst ideologische Elemente enthalten, die gewollt oder ungewollt antisemitische Weltbilder reproduzieren. Anhand der Begriffe Kollektivität, Solidarität und Widerstand stellen sich die Gäste unserer dreiteiligen Veranstaltungsreihe dieser wichtigen, aber in der bisherigen Debatte vernachlässigten Frage.
Soviel steht fest: Kollektivität liegt im Trend. Noch nie gab es so viele künstlerische Kollektive wie heute. Sie gewinnen renommierte Preise, leiten Theater, Biennalen und Großereignisse wie die Documenta 15. Ihre Popularität verdanken sie einem Versprechen: Basisdemokratisch und anti-hierarchisch, gerecht und inklusiv sollen sie sein, nahbar und zum Mitmachen anregend. Über globale Grenzen hinweg und gleichzeitig lokal verbunden gelten sie als Wegweiser zu einer neuen solidarischen Sharing-Ökonomie, von der alle profitieren. Auf grundlegende Veränderungen der Gesellschaft – so die verbreitete Vorstellung – reagieren heutige Kollektive mit einer grundlegenden Veränderung der Kunst. Sie integrieren politischen Aktivismus, um gesellschaftlichen Fortschritt anzustoßen. Aber geht diese Rechnung auf? Welches Weltbild entwirft die Idee des Kollektivs in der zeitgenössischen Kunst? Was sind die problematischen Implikationen der damit verbundenen Vorstellung von Gemeinschaft und kultureller Identität?
Es diskutieren:
- Tina Turnheim (Theatermacherin, Institut für Neue Soziale Plastik)
- Ole Frahm (Bildtheoretiker, Comicexperte und Mitglied des Künstlerkollektivs Ligna)
Im August 1977 eröffnete das erste der autonomen Hamburger Frauenhäuser. Seitdem sind sie unerlässlich für den Schutz vor Gewalt. Doch die Plätze sind rar und die Finanzierung von politischem Wohlwollen abhängig. Aus einer feministischen Praxis sind prekäre Institutionen geworden. Anlässlich des Internationen Tags gegen Gewalt an Frauen fragt unsere Autorin eine Mitarbeiterin: Wie geht es den Hamburger Frauenhäusern heute?
Die Forderung bleibt bestehen. Transparent auf einer »One Billion-Rising«-Aktion gegen Gewalt an Frauen 2014 in Hamburg. Foto: www.sommer-in-hamburg.de Lizenz: CC BY-SA 2.0
Für die Frauenbewegung der 1970er-Jahre war die Organisierung gegen Gewalt gegen Frauen zentraler Bestandteil der politischen Arbeit. Gewalt in der Beziehung galt zuvor lange als »Einzelschicksal«. Die Frauen der zweiten Welle des Feminismus thematisierten diese männliche Gewalt durch Selbsterfahrungsgruppen und Organisierung als strukturelles Problem von Frauen im Patriarchat. Auch in Hamburg organisierten sich im Jahr 1976 Frauen, um gegen geschlechtsspezifische Gewalt zu kämpfen. Sie gründeten den Verein Frauen helfen Frauen e.V. und erschufen innerhalb eines Jahres das erste autonome Hamburger Frauenhaus. Das Selbstverständnis damals: Das Frauenhaus ist ein Teil der Frauenbewegung und soll unabhängig sein – alle Frauen entscheiden gemeinsam, was passieren soll.
Da die Finanzierung noch nicht staatlich abgesichert war, mussten die Frauen zunächst alles selbst machen – renovieren, Möbel organisieren, Spenden sammeln, das Haus schützen. So erinnert sich auch eine Zeitzeugin in der filmischen Dokumentation »Juli 76 – Das Private ist Politisch« an die ersten Jahre des Hauses: »Selbstorganisation. Selbstbestimmung. Das ist auch eine Utopie gewesen.« Das Frauenhaus selbst war feministische Praxis.
Selbstorganisation und Professionalisierung
Die Selbstorganisation stieß jedoch auch an zeitliche, finanzielle und emotionale Grenzen, wie die ehemalige Redakteurin der Hamburger Frauenzeitung Dr. Andrea Lassalle in einer Chronik der Hamburger Frauenhäuser im digitalen deutschen Frauenarchiv nachzeichnet. Innerhalb der Frauenbewegung wurden daher Debatten um die Organisierung und Struktur der Frauenhäuser geführt, die eng verzahnt waren mit den damaligen politischen und theoretischen Analysen um (unbezahlte) Sorgearbeit, Hierarchiefreiheit und Unabhängigkeit.
Mittlerweile wurden Frauenhäuser durch bezahlte Mitarbeiterinnen aus der Sozialen Arbeit professionalisiert. Dadurch entstand ein Widerspruch zwischen Selbstwirksamkeit und Professionalität, der im Alltag der Mitarbeiterinnen und Bewohnerinnen bis heute eine Rolle spielt. Im Gespräch mit Untiefen berichtet eine Mitarbeiterin eines Frauenhauses in der Metropolregion Hamburg, die Professionalisierung sei grundsätzlich der anspruchsvollen Arbeit mit Frauen und Kindern aus akuten Gewaltsituationen angemessen. In vielen autonomen Frauenhäusern übernehmen allerdings auch die Bewohnerinnen selbst noch Teile der täglichen Arbeit, beispielsweise die nächtliche Aufnahme.
In Hamburg ist dafür seit 2016 die 24/7, die zentrale Notaufnahme für die Hamburger Frauenhäuser, zuständig. Die Mitarbeiterinnen nehmen die akut betroffenen Frauen auf und vermitteln sie dann an Häuser weiter. Dies entlaste die Bewohnerinnen von den nächtlichen und wöchentlichen Notdiensten, so die Mitarbeiterin. Gleichwohl könne es den Bewohnerinnen auch Stärke zurückgeben, einen Teil beizutragen und andere Frauen zu unterstützen. Allerdings übernehmen die Bewohnerinnen diese Aufgaben nicht in erster Linie aufgrund dieser ermächtigenden Wirkung, sondern schlichtweg, weil das Personal fehle.
Kein Frauenhaus, sondern der Sitz von Frauen helfen Frauen e.V., der anderen Trägervereine der autonomen Frauenhäuser sowie der Koordinationsstelle der 24/7 in der Amandastraße. Foto: Dirtsc Lizenz: CC BY-SA 3.0
Die befürchtete Hierarchie zwischen professionalisierten und ehrenamtlich arbeitenden Frauen in den Häusern konnte trotz basisdemokratischer Struktur nicht vermieden werden. Da die Frauenhäuser mittlerweile öffentlich finanziert und tariflich gebunden sind, werden auch die Anforderungen an die Qualifikationen der Mitarbeiterinnen höher – und schließen damit viele Frauen, auch ehemalige Bewohnerinnen, aus. Doch gerade diese Frauen bringen oft sowohl eigene Erfahrung mit partnerschaftlicher Gewalt und dem Leben im Frauenhaus mit als auch Sprachkenntnisse, die dem Leben im Haus zuträglich sein könnten. Die geringe Anerkennung ausländischer Abschlüsse in der Sozialen Arbeit und die strukturelle Ungleichheit im Bildungssystem in Deutschland tragen dazu bei, dass die Mitarbeit im Frauenhaus nicht allen gleichermaßen zugänglich ist – und die Teams ihrem Anspruch an Diversität nicht immer gerecht werden können.
Feministische Debatten in der Frauenhauspraxis
Mit dem Auftreten antirassistischer Diskurse an den Universitäten und in der feministischen Szene entbrannten auch innerhalb der Frauenhäuser Debatten über Rassismus und Diskriminierung, im Zuge derer mit Quotierungen in den Teams und bei den Aufnahmen experimentiert wurde. Weniger diskutiert wurde hingegen jahrelang das hot topic der aktuellen feministischen Debatten: Was ist eine Frau? Bis vor wenigen Jahren, so eine Mitarbeiterin, war die Diskussion darum, was Geschlecht eigentlich ist, in Frauenhäuser nicht anschlussfähig. Dies ändert sich jedoch derzeit, insbesondere durch jüngere Kolleginnen.
Die etwa in der Debatte um das »Selbstbestimmungsgesetz« geäußerte Befürchtung einiger Feministinnen, Frauenschutzräume könnten unterlaufen werden, wenn Geschlecht an eine empfundene Identität statt an körperliche Merkmale geknüpft ist, erscheint angesichts des von der Mitarbeiterin beschriebenen Frauenhausalltags weniger eine praktische als vielmehr eine theoretische Frage zu sein: »Die Frau kommt – die kann mir auch irgendwas erzählen, wer sie ist – sie muss mir auch nicht ihren Perso zeigen. So arbeiten wir nicht. Die Frau erzählt, und wenn sie von häuslicher Gewalt betroffen ist, dann wird sie aufgenommen.« Der rechtliche Personenstand spielt in der Praxis keine Rolle. Jede Aufnahme ist außerdem eine Einzelfallentscheidung und berücksichtigt die Erfahrungen der Bewohnerinnen. Und: nicht jede sei für diese Art des Zusammenwohnens geeignet, auch das spielt bei den Aufnahmegesprächen eine Rolle.
In Hamburg wurde zudem vor zwei Jahren das 6. Frauenhaus gegründet, das sich explizit als Schutzraum für trans Frauen positioniert und die seit Jahren gängige Praxis untermauert. Viel wichtiger als die theoretische Definition von Geschlecht erscheint jedoch die Frage, ob in den Häusern überhaupt genug Plätze vorhanden sind. Zu Beginn der Pandemie fehlten in Hamburg rund 200 Frauenhausplätze.
Zu wenige Plätze, zu wenig Geld, zu wenig Personal
Obwohl aktuelle innerfeministische Debatten durchaus zum Thema werden, nimmt das alltägliche Rotieren, auch aufgrund fehlenden Personals, in den Häusern einen Großteil der Zeit ein. Die Art und Weise der öffentlichen Finanzierung unterscheidet sich je nach Bundesland und Gemeinde. Während in Hamburg, Schleswig-Holstein und Berlin die autonomen Frauenhäuser durch eine Pauschale pro Platz im Haus finanziert werden, ist die Finanzierung in anderen Bundesländern direkt an die betroffene Frau gekoppelt. Da sie in einigen Ländern über das Sozialhilfegesetz abgewickelt wird, sind Frauen mit eigenem Einkommen, Studentinnen und Frauen mit unsicherem Aufenthaltsstatus davon ausgeschlossen. Diese Frauen werden, wenn möglich, in Ländern mit Pauschalfinanzierung untergebracht, da sie die Plätze sonst selbst zahlen müssten – vorausgesetzt, Aufenthaltsbestimmungen oder der Job lassen einen Umzug zu und es sind freie Plätze vorhanden. Die Zentrale Informationsstelle der autonomen Frauenhäusern (ZIF) fordert dementsprechend eine bundesweite einzelfallunabhängige Finanzierung der Frauenhäuser.
Doch auch die pauschale Finanzierung bringt Schwierigkeiten mit sich. Der Erhalt sowie die Ausweitung der Plätze sind vom Wohlwollen der jeweiligen Landesregierungen abhängig. Um einer drohenden Schließung zu entgehen, wurden im Jahr 2006 das 1. und das 3. Autonome Frauenhaus zusammengelegt. Der CDU-geführte Senat hatte Kürzungen beschlossen, da die Versorgungslage in Hamburg besser sei als in anderen Großstädten.
Feministische Perfomance »Der Vergewaltiger bist du« des Kollektivs Las Tesis aus Argentinien, die mittlerweile auch in Hamburg regelmäßig zum 25. November im Rahmen von Demonstrationen aufgeführt wird. Foto: Paulo Slachevsky Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0
Männergewalt und Femizide
Laut behördlicher Auskünfte wurden in Hamburg im laufenden Jahr insgesamt 16 Frauen getötet, sechs davon von ihrem (Ex-)Partner, bei den zehn anderen ist die Einordnung unklar. Die Zahl der Femizide, also der Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts, ist in jedem Fall alarmierend. Allerdings ist Femizid im deutschen Recht kein eigener Tatbestand, er wird unter Partnerschaftsgewalt subsumiert. Studien und genaue Fallzahlen zu Femiziden fehlen entsprechend im deutschsprachigen Raum weitgehend. Die frauenpolitische Sprecherin der Linksfraktion in der Hamburgischen Bürgerschaft Cansu Özdemir kritisierte daher jüngst den Senat für seine Weigerung, eine Untersuchung zu Femiziden in Hamburg als »nötige wissenschaftliche Basis für ein zielgerichtetes und wirkungsvolles Präventionskonzept« in Auftrag zu geben.
Bewohnerinnen und ehemaligen Bewohnerinnen von Frauenhäusern steht die Gefahr, Opfer eines Femizids zu werden, besonders deutlich vor Augen. 2018 wurde die 42-Jährige Juliet H. von ihrem Expartner ermordet. Nachdem sie in einem Hamburger Frauenhaus Schutz gesucht hatte, zog sie mit ihren Kindern in eine eigene Wohnung, wo sie von ihrem Exmann getötet wurde. Doch nicht nur für die Bewohnerinnen sind solche Fälle alarmierend. Es setzt auch die Mitarbeiterinnen enorm unter Druck, die mit knappen Ressourcen und staatlichen Hürden kämpfen, um den Frauen Schutz und eine Perspektive zu bieten.
Väterrechte stehen über dem Schutz von Frauen und ihren Kindern. Die Veränderungen im Familienrecht der letzten Jahre machen die Situation von Frauen aus Gewaltbeziehungen gefährlicher. Die Zeit unmittelbar nach der Trennung vom gewalttätigen Partner birgt das höchste Risiko, Opfer eines (versuchten) Femizids zu werden. Umso wichtiger ist dann ein unkomplizierter Zugang zu einem Frauenhaus. Dieser Schutz wird allerdings durch das familienrechtlich angestrebte Wechselmodell untergraben.
Das von der jetzigen Bundesregierung in den Mittelpunkt von Sorge- und Umgangsrecht gestellte Wechselmodell soll eigentlich zu einer gleichberechtigten Aufteilung der Erziehung und Verantwortung für gemeinsame Kinder führen. Es bedarf jedoch einer Kommunikation auf Augenhöhe, um die nötigen Absprachen für dieses Arrangement zu treffen. Übt der Vater Gewalt über die Mutter aus, ist diese Augenhöhe offensichtlich nicht gegeben. Aus der Praxis berichtet die Mitarbeiterin, dass dem Vater durch das Umgangsrecht in diesen Fällen ermöglicht wird, weiterhin Kontrolle und Gewalt auszuüben. Das Wechselmodell steht deshalb bei Feministinnen und Initiativen für Alleinerziehende Mütter in der Kritik.
Gerichte ordnen sogar bei Müttern, die im Frauenhaus leben, das Wechselmodell an. Die Mitarbeiterin des Frauenhauses beschreibt: »Wenn die [Frau] Kinder hat, geht’s sofort los mit Kontakt zu Jugendamt, Kontakt zu Anwälten, dann wird irgendwer versuchen sofort das Aufenthaltsbestimmungsrecht zu beantragen, es werden Sofortumgänge in die Wege geleitet mit den gewalttätigen Vätern – und das ist krass.«
Die Gerichte gingen ohne weiteres davon aus, dass die Gewalt durch den Auszug der Mutter aufgehört habe und also bei Verfahren zum Sorge- und Umgangsrecht nicht berücksichtigt zu werden brauche. Die Mütter müssten daher irgendwie Vorkehrungen treffen, um dem gewalttätigen Mann die Kinder zu übergeben, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Durch Personalmangel ist es den Mitarbeiterinnen in den Frauenhäusern oft nicht möglich, Frauen zu diesen Übergaben zu begleiten.
Nach 45 Jahren sind autonome Frauenhäuser also zwar anerkannte Institutionen zum Schutz von Frauen vor Gewalt. Aber ihre Existenz bleibt prekär und die Situation der Frauen selbst wird komplexer. Die Mitarbeiterin und ihre Kolleginnen erwarten vom Senat und der Bundesregierung eine Erhöhung der Anzahl der Plätze und eine bundesweite pauschale Finanzierung. Im Sorge- und Umgangsrecht müsse das Personal geschult werden, um den Gewaltschutz konsequenter berücksichtigen. Nicht die Frauen sollten im Haus Schutz suchen und dann um ihre Kinder kämpfen müssen, sondern die Männer sollten beweisen, dass sie nicht gefährlich sind, schließt die Mitarbeiterin.
Lea Remmers
Die Autorin schrieb für Untiefen bereits über die Herbertstraße als Symbol männlicher Herrschaft.
Am 18. September wird im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals in Hamburg der renommierte Klaus-Michael Kühne-Preis verliehen. Nun haben zwei Schriftsteller:innen ihre Nominierungen zurückgezogen – weil der Geld- und Namensgeber die NS-Historie seines Familienunternehmens nicht aufarbeite. Wir hatten zuvor sie und die übrigen Nominierten kontaktiert, um über die finanzielle Abhängigkeit des Kulturbetriebes von privater Förderung und die Imagepolitik problematischer Mäzene zu sprechen.
Weiß wie die Unschuld: In Kühnes Luxushotel „The Fontenay“ an der Alster soll der Klaus-Michael Kühne-Preis am 18.09. verliehen werden. Foto: travelswiss1 Lizenz: CC BY-NC 2.0
Im Kunst- und Kulturbetrieb rumort es: Das Londoner British Museum benennt alle nach einem Großspender benannten Räume um, die Videokünstlerin Hito Steyerl zieht eines ihrer Werke aus einer angesehenen Sammlung zurück, die Salzburger Festspiele beenden in Reaktion auf einen offenen Brief des Autors Lukas Bärfuss und der Regisseurin Yana Ross die Zusammenarbeit mit einem Sponsor. All diese Auseinandersetzungen ereigneten sich in den letzten Monaten. Und bei allen ging es um ganz ähnliche Fragen: Wer finanziert eigentlich Kulturinstitutionen und Kulturschaffende? Aus welchen Quellen stammen die Milliarden an privaten Mitteln, mit denen Museen, Konzerthäuser, Preise und Festivals gefördert werden? Und wie kann oder soll man sich gegenüber ›schmutzigen‹ Fördergeldern verhalten, die aus fragwürdigen Quellen stammen und von den Geldgeber:innen zumReinwaschen des eigenen Namens bzw. dem Verdecken von Schandtaten genutzt werden?
Auf die Frage nach dem praktischen Umgang haben Kulturinstitutionen und Künstler:innen in den genannten drei Fällen klare Antworten gefunden. Sie zogen Konsequenzen daraus, dass die Milliardärsfamilie Sackler mit ihrem Unternehmen Purdue Pharma maßgeblich für die Opioidkrise in den USA verantwortlich war; daraus, dass die Unternehmerin und Kunstsammlerin Julia Stoschek ihr Milliardenvermögen ihrem Nazi-Urgroßvater verdankt, der den Automobilzulieferer Brose gründete, den NS-Staat belieferte und als treues NSDAP-Mitglied zum Wehrwirtschaftsführer aufstieg; und daraus, dass das Bergbauunternehmen Solway nicht nur massive Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung verantwortet, sondern zudem enge Verbindungen zum Kreml unterhalten soll.
Die Kühne-Stiftung
Eine in Hamburg besonders aktive und ebenfalls fragwürdige Kultursponsorin ist die Kühne-Stiftung: Bei der Elbphilharmonie, dem Philharmonischen Staatsorchester und dem Harbour Front Literaturfestival tritt die Stiftung als Hauptförderin auf. Gegründet wurde sie 1976 vom Unternehmer Alfred Kühne, seiner Frau Mercedes und ihrem gemeinsamem Sohn Klaus-Michael Kühne. Das Stiftungskapital stammt aus den Erträgen der Kühne Holding, also vorrangig aus jenen des Unternehmens Kühne + Nagel (K+N), eines der weltweit größten Transport- und Logistikunternehmen.
Damit aber verdankt sich das Kapital zum einen dem Umstand, dass Alfred Kühne und sein Bruder Werner 1933 ihren jüdischen Teilhaber Adolf Maass aus dem Unternehmen drängten, und zum anderen der maßgeblichen Beteiligung von K+N an der ›Arisierung‹ jüdischen Eigentums in den von Deutschland besetzten Ländern während des Zweiten Weltkriegs. Hinzu kommt: Klaus-Michael Kühne, der das Unternehmen von 1966 bis 1998 leitete und bis heute sowohl die Mehrheit der Aktienanteile als auch die Fäden in der Hand hält, zeigt keinerlei Verständnis dafür, dass die NS-Vergangenheit seines Unternehmens »immer wieder hochgekocht wird«, und wehrt jegliche Aufarbeitung dieser – seiner – Familien- und Unternehmensgeschichte vehement ab.
Kulturförderung als Schweigegeld
Bislang scheint Klaus-Michael Kühnes Strategie des Relativierens und Verschweigens aufzugehen. Zwar haben insbesondere aus Anlass des 125-jährigen Firmenjubiläums im Jahr 2015 viele Medien kritisch über die Unternehmensgeschichte berichtet, über die man dank der Recherchen des ehemaligen taz-Redakteurs Henning Bleyl und von Historikern wie Wolfgang Dreßen, Frank Bajohr und Johannes Beermann-Schön immerhin einiges weiß. Doch einer breiten Öffentlichkeit sind Klaus-Michael Kühne und sein Unternehmen nach wie vor nicht als NS-Profiteure bekannt. Das öffentliche Bild von Kühne bestimmt vielmehr sein Engagement als Investor und Kulturförderer. Die Hamburger Morgenpost etwa veröffentlichte in den letzten zwei Jahren 50 Artikel über Kühne; nur ein einziger von ihnen behandelt die Geschichte des Unternehmens im Nationalsozialismus und seine Nachgeschichte. Stattdessen produziert Kühne (überwiegend) positive Schlagzeilen mit seinem Engagement beim HSV (dem er die Benennung des Stadions nach Uwe Seeler finanzieren will), mit Investitionen (er hat seine Anteile an der Lufthansa und an der Immobiliengesellschaft Signa Prime erhöht und Anteile am Elbtower erworben) und eben mit seinen Aktivitäten in der Kulturförderung.
Es steht daher außer Frage: Klaus-Michael Kühnes Mäzenatentum dient effektiv der Imagepflege des Familiennamens, dem Verschweigen bzw. Reinwaschen. ›Tue Gutes und sprich darüber‹, sagt man; im Fall von Kühne ließe sich ergänzen: ›damit über das Schlechte nicht gesprochen wird‹. Dass er den von ihm gestifteten Preis für das beste Romandebüt des Jahres ganz unbescheiden nach sich selbst benannt hat, ist davon der wohl krasseste Ausdruck. Es hat zur Folge, dass der Klaus-Michael-Kühne-Preis nicht nur eine Auszeichnung für die Autor:innen darstellt, die ihn erhalten. Vielmehr verschaffen die Preisträger:innen auch dem Mäzen, in dessen an der Außenalster gelegenen Luxushotel The Fontenay die Preisverleihung stattfinden wird, Ansehen und Anerkennung. Und sie drängen damit wider Willen die Beteiligung des Unternehmens an der Enteignung von Jüdinnen und Juden im NS aus dem Blick der Öffentlichkeit. Wenn etwa, wie im Jahr 2014 mit Per Leos Roman Flut und Boden, die literarische Aufarbeitung einer deutschen Familiengeschichte und Abrechnung mit der NS-Täter:innengeneration den Klaus-Michael Kühne-Preis erhält, ohne dass dieser zynische Widerspruch zur Sprache kommt, dient der Preis ganz offenkundig als Feigenblatt.
Suche nach dem angemessenen Umgang
Natürlich haben fast alle deutschen Großunternehmen, die vor 1945 gegründet wurden, eine Verbrechensgeschichte. Der niederländische Politikwissenschaftler David de Jong hat das in seinem Buch Braunes Erbe kürzlich noch einmal eindrücklich dargelegt. Doch das Ausmaß der Kollaboration der Gebrüder Alfred und Werner Kühne mit dem NS-Staat, die anhaltende Weigerung ihres Erben Klaus-Michael Kühne, diese Geschichte aufzuarbeiten und Konsequenzen daraus zu ziehen, sowie die Benennung des Preises nach Kühne selbst machen den Klaus-Michael Kühne-Preis zu einem besonders hervorstechenden Fall.
Was aber wäre ein angemessener Umgang mit dem problematischen Geldgeber? Diese Frage stellten wir, die Redaktion von Untiefen, uns im Vorfeld der diesjährigen Verleihung des Kühne-Preises, ohne zu einer befriedigenden Antwort zu kommen. Wir versuchten daher im Juli, mit den acht Nominierten des Preises selbst ins Gespräch darüber zu kommen. In einer E‑Mail an die Autor:innen schilderten wir ausführlich die Verstrickung von K+N in die NS-Verbrechen und hoben vor allem die Weigerung Klaus-Michael Kühnes hervor, das Firmenarchiv zu öffnen und die Unternehmensgeschichte von unabhängigen Historiker:innen untersuchen zu lassen. In unserem Schreiben an die Nominierten hoben wir auch die Komplexität der Situation hervor und fragten die Autor:innen nach einem möglichen Umgang:
»Klar ist einerseits: Diese Umstände können und dürfen nicht (weiter) beschwiegen werden. Klar ist andererseits aber auch: Ein Literaturpreis ist für eine Debütantin / einen Debütanten wie Sie auch über das hohe Preisgeld hinaus von beträchtlicher Bedeutung. Hinzu kommt, dass Kühnes eigene Ansichten bei der Entscheidung der Jury gewiss keine Rolle spielen werden. Die Forderung, den Preis oder gar schon die Nominierung zurückzuweisen, wäre daher wohlfeil. Doch wir fragen uns – und Sie: Wenn die öffentliche Ablehnung des Preises keine sinnvolle Option ist, was könnten dann alternative Wege sein, mit dem problematischen Hintergrund des Preises und seines Stifters dennoch einen Umgang zu finden? Diese Frage, auf die wir selbst bislang keine befriedigende Antwort gefunden haben, weist auch über den konkreten Fall hinaus und zieht weitere, grundsätzliche Fragen nach sich: Wie kann man sich zum Widerspruch der Neutralisierung von Kritik durch ihre Vereinnahmung, der auch nur die Zuspitzung eines generellen Widerspruchs im ›wiedergutgewordenen‹ Deutschland ist, ins Verhältnis setzen? Ist das Pathos etwa eines Thomas Brasch bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises 1981 (noch) angemessen? Stellt die Literatur selbst Mittel bereit, sich der Vereinnahmung zu widersetzen, oder ist sie ohnmächtig angesichts der Machtverhältnisse eines Betriebs, in dem man es sich mit seinen Geldgebern nicht ›verscherzen‹ darf?«
Die Antworten der Nominierten: Zwischen Realismus…
Auf unsere Fragen und unsere Bitte um Austausch erhielten wir in den folgenden Wochen von immerhin drei der acht Autor:innen Rückmeldung. Domenico Müllensiefen, der für seinen Roman Aus unseren Feuern nominiert wurde, schreibt: »Ich denke, dass es ein großes Problem ist, dass die öffentliche Kulturförderung in Deutschland stark eingeschränkt ist.« Denn in die Lücke, die die öffentliche Förderung lässt, stießen private Förderer. Was es bräuchte, so Müllensiefen, sei eine »breite und preisunabhängige Förderung von AutorInnen«. Bis dahin bleibe er auch beim Klaus-Michael Kühne-Preis „Realist“, denn: »Die Jury ist hochkarätig besetzt und frei in Ihrem Handeln. Die nominierten SchriftstellerInnen gefallen mir sehr gut. Der Umgang mit den AutorInnen ist erstklassig. […] Und ganz ehrlich, wäre es mir eine sehr große Freude, mal eine Nacht in diesem schicken Hotel von Herrn Kühne zu übernachten.« In einem späteren Statement gegenüber der ZEIT fügt er hinzu: »Deutscher Reichtum ist in vielen, wenn nicht sogar in den meisten Fällen auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit entstanden. So zu tun, als wäre alles in Ordnung, wenn Herr Kühne die NS-Vergangenheit aufarbeiten ließe, wäre auch falsch. Wir haben ein strukturelles Gesellschaftsproblem, zu dem wir AutorInnen uns individuell verhalten sollen.« Und: »Und wäre es nicht an der Zeit, dass wir, und da darf DIE ZEIT gern vorneweg gehen, ernsthaft über eine Umverteilung der Vermögen in Deutschland sprechen?«
Ähnlich antwortete Daniel Schulz, taz-Redakteur und Autor des Romans Wir waren wie Brüder. Er betont wie Müllensiefen: „Die Unabhängigkeit und Fachkompetenz der Jury stehen außer Zweifel. Klaus-Michael Kühne hat auf ihre Entscheidungen keinen Einfluss“. Vor allem hält er die Autor:innen für die falschen Ansprechpartner:innen für die Frage nach dem Umgang mit dem NS-Erbe von Kühne + Nagel. Schließlich seien sie in der abhängigsten und prekärsten Lage von allen und „auf die wenigen Förderungen angewiesen […], die es noch gibt“. Die Ressourcen und die Verantwortung dafür, einen Umgang mit problematischen Förderern wie Kühne zu finden, sieht er vor allem bei den Verlagen und der Kulturpolitik.
Der Tenor dieser Antworten ist klar: In dieser Gesellschaft als Schriftsteller:in tätig zu sein bedeutet, in zahlreiche Widersprüche verstrickt und nicht wenigen Zwängen unterworfen zu sein. Solange die Kulturförderung maßgeblich über private Stiftungen und Organisationen geleistet wird und die Autor:innen von deren Geld abhängig seien, müsse man letztlich damit leben, dass Gelder im Kulturbetrieb aus fragwürdigen Quellen stammen Das zentrale Problem sehen die beiden Autoren in der privatisierten Kulturförderung in einer postfaschistischen Gesellschaft – und die Verantwortung auf Seiten der öffentlichen Hand.
… und Absagen
Sven Pfizenmaier, nominiert für Draußen feiern die Leute, ist zu einem anderen Schluss für seinen individuellen Umgang mit der Situation gekommen. Er hat seine Nominierung zurückgewiesen und seine Teilnahme am ›Debütantensalon‹ auf dem Harbour Front Literaturfestival abgesagt. In seiner am 29. August veröffentlichten Erklärung schreibt er so knapp wie deutlich: »Da sich Klaus-Michael Kühne aktiv dagegen wehrt, die NS-Historie seines Unternehmens aufzuarbeiten, möchte ich meinen Text nicht in einen Wettbewerb um sein Geld und eine Auszeichnung mit seinem Namen stellen.«
Anderthalb Wochen später, am 07.09., sagte auch Franziska Gänsler, nominiert für Ewig Sommer, ihre Teilnahme am Harbour Front Festival ab. In ihrer Erklärung, die diesmal durch die Festivalleitung veröffentlicht wurde, führt sie die Nicht-Diskussion um die Absage Pfizenmaiers als Grund an:
»Mich hat der Rückzug des mitnominierten Autors Sven Pfizenmaier und die darauf folgende Reaktion sehr beschäftigt. Ich denke, es hätte einen öffentlichen Diskurs gebraucht, der ein Ernstnehmen seiner Kritik erkennbar macht und zeigt, dass es das Anliegen der Stiftung ist, genau das zu fördern – kritische literarische Stimmen. Leider zeigt die Reaktion für mich, dass dies nicht gegeben scheint. Unter diesen Umständen weiter auf die Auszeichnung zu hoffen erscheint mir, unabhängig von der finanziellen Komponente, wie ein Wegsehen, das ich nicht gut mit mir und meinem Schreiben vereinbaren kann.«
Pfizenmaier und Gänsler haben damit drastische Schritte gewählt. Pfizenmaier betont in seiner Erklärung aber auch, dass er seine Entscheidung »explizit nicht als Vorwurf« gegen die Mitnominierten und Mitarbeitenden des Festivals verstanden wissen wolle: »Das Verhältnis zwischen Geldgeber:innen und Kulturschaffenden in Deutschland ist ein dermaßen komplexes Feld, dass es unzählige Wege gibt, einen angemessenen Umgang damit zu finden. Dieser hier ist meiner.«
Drastisch sind diese Entscheidungen nicht nur, weil beide damit auf die Möglichkeit verzichtet, das stattliche Preisgeld von 10.000 Euro zu gewinnen, sondern auch und vor allem, weil der Debütantensalon und der Klaus-Michael Kühne-Preis in den letzten Jahren zu einem wichtigen Sprungbrett für junge Autor:innen geworden sind. Bei Verlagen, Buchhändler:innen und Autor:innen genießt der Preis ebenso hohes Ansehen wie bei Kritik und Leser:innenschaft. Autor:innen, deren Debüt eine Nominierung erhalten oder den Preis gar gewonnen hat, steigern nicht nur die Verkäufe ihres Romans, sondern haben gute Aussichten, sich fest zu etablieren. Zu den bisherigen Preisträger:innen zählen etwa Olga Grjasnowa, Per Leo, Dmitrij Kapitelman, Fatma Aydemir und Christian Baron.
Der Eklat
Pfizenmaiers und Gänslers Entscheidung ist bisher präzedenzlos. Obwohl viele der früheren Nominierten und Preisträger:innen als engagierte Stimmen in der öffentlichen Debatte bekannt (geworden) sind, hatte bisher noch kein:e Autor:in öffentlich Kritik an Kühne geübt – geschweige denn die Nominierung oder den Preis zurückgewiesen.
Dementsprechend überfordert und ratlos wirkt der Umgang des Harbour Front-Festivals mit der Situation. Man glaubte dort offenbar, Pfizenmaiers Absage einfach unter den Teppich kehren zu können. Am 24. August wurde in einer Pressenachricht und auf Twitter lapidar ein »Programmupdate« verkündet: Nach Sven Pfizenmaiers Absage trete Przemek Zybowski durch ein Nachrückverfahren an seine Stelle. Bis zur Absage Gänslers ging das Festival weder auf die Gründe für Pfizenmaiers Absage ein, noch drückte es sein Bedauern darüber aus. Auf der Homepage des Festivals wurde Pfizenmaier stillschweigend ersetzt. Nach Gänslers Absage lässt das Festival auf der Website knapp verlautbaren:
»Wir finden diese Absagen sehr bedauerlich. Für die Beweggründe der Betreffenden haben wir Verständnis – auch wir sehen Diskussionsbedarf in dieser Angelegenheit.«
Vorher-Nachher Screenshot: das Harbour Front-Festival ersetzt auf seiner Homepage Pfizenmaier durch Zybowski und hofft, dass es keine:r merkt. Foto: Screenshot https://harbourfront-hamburg.com/.
Die Reaktion der Kühne-Stiftung aber übertrifft das anfängliche Schweigen des Festivalsum Längen. Während sie der Mopo noch keinen Kommentar geben wollte und wohl auch hoffte, das Problem löse sich von selbst auf, ging sie gegenüber der tazin die Offensive: Man habe »mit Vorgängen, die ca. 80 Jahre zurückliegen, nichts zu tun«. Und weil sich die Stiftung »in höchstem Maße« ungerecht behandelt fühlte, setzte man dort zum Gegenangriff gegen die undankbaren Kulturschaffenden und ‑liebhaber:innen an: Man werde »die traditionelle Verleihung des Klaus-Michael Kühne-Preises jetzt überdenken« ließ die Kühne-Stiftung auf Anfrage der taz verlauten. Wer Kritik übt, erhält kein Geld – das ist die Botschaft, die die Kühne-Stiftung vermittelt.
Kulturförderung entprivatisieren
Die Reaktion der Kühne-Stiftung zeigt: Man scheint sich dort sehr bewusst darüber zu sein, wer hier am längeren Hebel sitzt. Der Kulturbetrieb ist in hohem Grad abhängig von seinen (privaten) Gönnern. Sie können den von ihnen geförderten Einrichtungen und Veranstaltungen ihre Bedingungen diktieren – und bei Kritik oder Nichtbefolgen die Förderung beenden oder zumindest damit drohen. Die Kühne-Stiftung zeigt mit ihrem Verhalten gegenüber den Kulturschaffenden überdeutlich auf, wo die Grenze(n) der Autonomie der Kunst liegen: Don’t bite the hand that feeds you.
Die ersten Leidtragenden eines Rückzugs wären die Schriftsteller:innen und Künstler:innen, also ausgerechnet die schwächsten Glieder in der Kette. Tatsächlich sind die anderen Nominierten nicht zu beneiden. Durch Pfizenmaiers und Gänslers Absage stehen sie unter Druck, sich zu bekennen, womöglich gar, ihrem Beispiel zu folgen. Vieles hängt davon ab, dass die Debatte solidarisch geführt wird, und das heißt: nicht individualisierend und moralisierend, sondern im Bewusstsein der Widersprüche und des strukturellen Charakters des Problems.
Klar ist: Solange die Kultur den Marktgesetzen unterliegt und die Förderung der Kulturschaffenden nicht durch öffentliche Hand getragen wird, ist sie auf private Förder:innen angewiesen. Denn wenn nicht allein die Marktgängigkeit von Kunst, Musik oder Literatur zählen soll, sondern auch die inhärenten Maßstäbe der Kunst, braucht es Kultursponsoring. An Beispielen wie Kühne zeigt sich aber, zu welchen Problemen es führen kann, wenn dies privat organisiert und zwangsläufig von besonders vermögenden Unternehmen und Einzelpersonen mit eigenen Interessen übernommen wird. Deshalb muss im Sinne einer demokratischen Kulturförderung zumindest eine Reduktion des Anteils privaten Sponsorings durch die (Wieder-)Einführung öffentlicher Förderung durchgesetzt werden. Die Leidtragenden des privaten Kultursponsorings sind letztlich auch die Autor:innen selbst, denen in diesem System mitunter nur eine Wahl bleibt zwischen Verzicht auf das, was ihren Unterhalt finanziert, oder der Annahme fragwürdiger Fördergelder – eine infame Verantwortungsverschiebung.
In Bezug auf den aktuellen Eklat heißt das: Der Kühne-Preis muss umbenannt und öffentlich finanziert werden. Wie wäre es etwa mit einem von der Stadt Hamburg finanzierten Peter-Rühmkorf-Preis? Wenn man sich anschaut, wie schnell die Stadt im Cum-Ex-Skandal bereit war, auf 47 Millionen Euro an Steuern zugunsten der Warburg-Bank zu verzichten, sollten 10.000 Euro Preisgeld sicherlich kein Problem darstellen. Und Kühnes Geld könnte auch in einer unabhängigen, wissenschaftlichen Aufarbeitung der eigenen Firmengeschichte sehr gute Verwendung finden.
Während sich Frauen immer mehr Raum erkämpft haben und geschlechtliche Ungleichheiten angegangen wurden, blieb die Herbertstraße an der Reeperbahn für sie bis heute tabu – für einen Teil der Frauen zumindest. Wie kommt das und was hat das mit dem Patriarchat und männlichen Herrschaftsansprüchen zu tun?
Offen für alle? Blick in die Herbertstraße bei geöffnetem Tor. Foto: Hinnerk11, CC BY-SA 4.0, Wikipedia.
Hamburg steht mit der Reeperbahn, der Herbertstraße und den Burlesque Shows immer wieder im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit, zum Beispiel durch ›kultige‹ Kiez-Reportagen, und geriert sich als Inbegriff der sexuellen Offenheit. Der ›erotische‹ Humor und feuchtfröhliche Lifestyle, der durch allerhand kulturelle Praktiken rund um die »sündigste Meile der Welt«1Diese Phrase, die mit der Umwertung christlich-konservativer Moralvorstellungen kokettiert, ist inzwischen zum Marketing-Slogan geronnen und wird auch auf der offiziellen Tourismus-Webseite der Stadt Hamburg verwendet. präsentiert wird, zieht Tourist:innen an und lässt viele Feministinnen aufatmen, die sich immer wieder um die Moral von Sexarbeit beziehungsweise Prostitution streiten. Die Reeperbahn scheint zu zeigen: Alles ganz entspannt und frei – es geht um Spaß und lockere Sexualität, die kaum irgendwo sonst so frei ausgelebt werden könne wie hier. Doch wie jede Kulturindustrie ist auch diese nicht frei von Ideologie und Inszenierung: Sie verschleiert den Blick für ihre stabilisierende Funktion im Sinne der (durch den Feminismus infrage gestellten) männlichen Herrschaftsansprüche.
Die Herbertstraße existiert in ihrer Funktion als Hort sexueller Dienste von Frauen für Männer etwa seit der Weimarer Republik. Seit den 1930er Jahren stehen an beiden Enden der nur etwa 60 Meter langen Straße Sichtschutzwände, im Jahr der Fußball-WM 1974 wurden Schilder mit der Beschriftung »Jugendliche unter 18 und Frauen verboten« auf Deutsch und Englisch angebracht. Zwar kann niemandem der Zutritt zu einer öffentlichen Straße, wie es die Herbertstraße ist, rechtlich verboten werden, schon gar nicht aufgrund des Geschlechts. Dennoch wird das Verbot für Frauen, die Straße ohne Absicht sexueller Dienstleistungen anzubieten, zu betreten, auch von öffentlicher Seite reproduziert. Was (angeblich) passiert, wenn man das Verbot missachtet, erfährt man woanders: Einem privaten Touristik-Anbieter zufolge ist dann »mit Beschimpfungen und einem Angriff durch Wasserbomben« zu rechnen, die SHZ warnt vor »deftigsten Schimpfworten, faulen Eiern und manchmal auch handfesten Argumenten«.
›Frauen verboten‹ – zum Schutz der Prostituierten?
Frauen von außen werden als störende Eindringlinge dargestellt, die nicht nur die Männer am Kauf von sexuellen Dienstleistungen behindern. Das Verbot von sich nicht prostituierenden Frauen soll der Wunsch der Prostituierten selbst sein, es soll sie vor den anderen Frauen schützen, die als »Schaulustige« die Straße besuchten. Ob das der tatsächliche Grund für das Verbot ist, bleibt unklar und Thema für Spekulationen. Gleichwohl schützt es fraglos die Geschäftsinteressen, wenn die Männer nicht durch Ehefrauen, Freundinnen, Schwestern gestört werden.2Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 vermerkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhälter der Herbertstraßen-Prostituierten hätten sich einer Öffnung für Frauen widersetzt. Weibliche Touristen in der No-go-Area, so das Kalkül, könnten das Geschäft vermasseln.«
Aktivistinnen der kontroversen feministischen Gruppe Femenbauten am 8. März 2019 die Sichtschutzwand am Zugang zur Herbertstraße unter dem Slogan ab, die »Mauer zwischen Frauen« zu demontieren. Gegen die Aktivistinnen wurde damals wegen Sachbeschädigung Strafanzeige erhoben. Wenngleich die Gruppe und vorangegangene Aktionen durchaus kritisch betrachtet werden können, werden Feministinnen im gesellschaftlichen Diskurs so zu Antagonist:innen der Prostituierten stilisiert.
Femen überwindet die »Mauern zwischen Frauen«. Protest am 8. März 2019. Screenshot: Youtube.
Frauen in der Prostitution sind einem weitaus größeren Risiko als andere Frauen ausgesetzt, Gewalt zu erfahren oder gar ermordet zu werden. Für ihren Schutz zu sorgen, ist daher dringend nötig. Aber warum sollen sie gerade vor anderen Frauen geschützt werden? Die Ausübenden der Gewalt gegenüber Prostituierten sind überwiegend Männer, die in verschiedenen Beziehungen zu den Frauen stehen – insbesondere durch Freier.3BMFSFJ: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. Ergebnisse der repräsentativen Untersuchung zu Gewalt gegen Frauen in Deutschland, S. 26–27. Online unter: https://www.bmfsfj.de/resource/blob/94200/d0576c5a115baf675b5f75e7ab2d56b0/lebenssituation-sicherheit-und-gesundheit-von-frauen-in-deutschland-data.pdf. Allein in den 20 Jahren seit der Entkriminalisierung sind in Deutschland mehr als hundert Frauen aus der Prostitution ermordet worden, wie die Initiative Sex Industrie Kills dokumentiert hat. Die Liberalisierung schützt die Frauen nicht, sondern macht Menschenhandel lukrativer. Es ist kaum vorstellbar, dass ein Anstieg des Menschenhandels zu weniger Gewalt gegen Frauen führt. Zuletzt wurde am 14. Mai eine Frau in Hamburg-Harburg tot aufgefunden, die gelegentlich der Prostitution nachging und von einem ihrer Freier erwürgt wurde. Aufgrund des massiven Dunkelfeldes kann jedoch von einer höheren Zahl ausgegangen werden. Wen oder was schützen die Wände an der Herberstraße also eigentlich?
Homosozialer Raum und männliche Herrschaft
Der schwedische Soziologe Sven-Axel Månsson beschrieb Prostitution bereits in den achtziger Jahren als männliche Praxis, sich der eigenen Potenz zu versichern und Maskulinität zu konstruieren.4Vgl. Sven-Axel Månsson: The man in sexual commerce, Lund 1988, S. 39. Online unter: https://lucris.lub.lu.se/ws/portalfiles/portal/66114471/1988_2.pdf. Dies geschieht in homosozialen Räumen, in denen Frauen lediglich Zutritt haben, wenn sie als Objekte der männlichen Libido existieren. Männern als sozialer Gruppe steht der weibliche Körper in diesen Räumen uneingeschränkt zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse zur Verfügung, um die eigene Männlichkeit in Abgrenzung zum Weiblichen über die sexuelle Dominanz zu bestätigen.
Es verwundert nicht, dass das explizite Verbot von Frauen in der Herbertstraße erst in den siebziger Jahren in Kraft trat. Mit der Zweiten Welle des Feminismus, die zu dieser Zeit Fahrt aufnahm, begannen Frauen sich intensiv mit ihren eigenen sexuellen Bedürfnissen auseinanderzusetzen. Die Akzeptanz der Frauen, sexuell von Männern beherrscht zu werden, sank rapide und stellte damit auch die Selbstverständlichkeit männlicher Herrschaft infrage. Prostitution stellte dagegen eine Art Zufluchtsort für Männer dar und diente damit als ›Konservatorium‹ von Männlichkeit sowie der hierarchischen Geschlechterordnung. Dass Prostitution als ’notwendiges Übel‹ im Rahmen eines hierarchischen Geschlechterverhältnisses gesehen im Konservativen fest verankert ist und nach wie vor reproduziert wird, zeigt nicht zuletzt die neue Hymne der Jungen Union.
Feiert da etwa die Junge Union? Die Disco Bierkönig auf Mallorca. Foto: O. Lipp, CC BY-SA 3.0, Wikipedia.
Die ›doppelte Moral‹ der Konservativen zeigt sich darin, dass sie Frauen, die der Prostitution nachgehen als ›Huren‹ entwerten, während sie andere Frauen zu ›Heiligen‹ stilisieren. Über die Entwertung der Frauen als ›Huren‹ im Gegensatz zur ›heiligen‹ Ehefrau und Mutter wird die körperliche und sexuelle Autonomie der entwerteten Frauen negiert. Gleichzeitig ermöglichen sie einen permanenten männlichen Zugriff auf den Körper der Frau – häufig mit dem Argument eines zu erfüllenden männlichen Triebes.5Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007. Solange eine patriarchale Organisation der Gesellschaft vorherrscht, ermöglichen konservative Kräfte in kreativen Formen, wie zum Beispiel mit der ›Zeitehe‹ im Iran, immer auch den Zugriff auf Frauenkörper.
Das Geschlechterverhältnis an sich ist so wieder klar: Frauen als Dienerinnen der männlichen Bedürfnisse, der sexuellen wie auch der fürsorglichen, die Männer als Herren. Frauen als eigenständige Subjekte, die Bedingungen und Grenzen umsetzen (können), stören diese Ordnung. In der Herbertstraße wird die homosoziale Struktur zusätzlich durch die Beschilderung und den Sichtschutz perpetuiert. Auch nach außen wird damit die Grenze zu dieser anderen Welt, in der noch nach den ›alten Regeln‹ gespielt wird, symbolisiert.
Zwischen Normalisierung…
Wie jedes Herrschaftsverhältnis braucht auch das patriarchale Geschlechterverhältnis die Illusion der Natürlichkeit, um sich aufrechtzuerhalten. Diverse Umfragen unter Freiern legen nahe, dass der durchschnittliche Freier von einer »männlichen Natur« und biologischen Zwängen überzeugt ist und darüber hinaus ein im Vergleich zu Männern, die keine sexuellen Dienstleistungen in Anspruch nehmen, aggressiveres Sexualverhalten aufweist.6Vgl. Claudine Legardinier: Der ›Freier‹ im Brennpunkt der Kritik, in: Feministisches Bündnis Heidelberg (Hg.): Was kostet eine Frau? Eine Kritik der Prostitution. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2020, 69–86. Der Wunsch nach Sexualität ohne Verantwortung spielt dabei ebenfalls eine Rolle. Bei sich prostituierenden Frauen, so die Prämisse, müsse keine Rücksicht genommen werden, da man für die Dienstleistung bezahlt. ›Der Kunde ist König‹ bleibt dabei nicht bloß ein Spruch aus der Dienstleistungsbranche, sondern steht sinnbildlich für das Geschlechterverhältnis.
Die Herbertstraße hat sich widersprechende und doch zusammengehörende Normalisierungsfunktionen. Auf der einen Seite konstituiert sich mit ihr die Selbstverständlichkeit männlicher Räume und der Erfüllung männlicher, vermeintlich natürlicher, Bedürfnisse. Freier wollen Frauen, die sexuell willig sind, aber genau dasselbe wollen wie sie selbst: all ihre sexuellen Wünsche erfüllen, ohne Gegenleistung. Prostitution als ›Arbeit‹ anzuerkennen steht dieser Illusion allerdings entgegen, da es sich letztlich auch für die Frauen um eine Dienstleistung bzw. um etwas handelt, das sie nicht freiwillig, nicht ohne eine Gegenleistung bzw. Kompensation tun würden. Um sich dieser Verantwortung zu entziehen, reichten zwei Freier gar eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz ein, das die Inanspruchnahme von sexuellen Dienstleistungen bei Zwangsprostituierten unter Strafe stellt. Die Geschichte der sexuell befreiten, aber missverstandenen Frau als erotisches Wesen, das den (unverbindlichen, einseitigen) Sex mit fremden Männern will, muss reproduziert werden: Sie hat ›ihr Hobby zum Beruf gemacht‹.
… und Exotisierung
Zusätzlich und entgegen der Normalisierung, braucht der Raum die Atmosphäre des Exotischen, des Verbotenen und ›Sündigen‹, damit sich Männer darin ihrer Virilität versichern können. Der ›Reiz des Versteckten‹ ist die Grundlage dieser männlichen Fantasie, Gewalt gegen die als minderwertig markierten ›Huren‹ ist ein Teil davon. Nicht erst die Erhebung Fritz Honkas, der in den siebziger Jahren zahlreiche sich prostituierende Frauen ermordete, zur Hauptfigur in Heinz Strunks Roman Der goldene Handschuh und seiner Verfilmung durch Fatih Akin oder die »Sex&Crime«-Rundgänge für Tourist:innen auf der Reeperbahn zeugen von der schaurigen Faszination, die das ›Rotlichtmilieu‹ und Gewalt gegen Frauen durch Männer generell in unserer Gesellschaft ausüben.
Der Reiz des Geheimen: Schummriges Licht und schwere Vorhänge. Foto: hds, CC BY 2.0, Wikipedia.
Die Atmosphäre des Exotischen, Sündigen wird durch die Sichtwände unterstützt und suggeriert Subversion. Prostitution ist in Deutschland allerdings sowohl für die sexuelle Handlungen anbietenden Frauen als auch für die Freier seit Jahrzehnten legal, die Herbertstraße eine öffentliche Straße, die grundsätzlich jede:r betreten dürfte. Auch die sogenannte »Sittenwidrigkeit«, durch die Prostitution trotz Legalität moralisch abgewertet und diszipliniert wurde, wurde 2002 abgeschafft. Es ist mittlerweile keine Seltenheit, dass Verfechter:innen und Sexarbeiter:innen in Talkshows, Podcasts und Artikeln über die Wichtigkeit von Prostitution und Pornografie sprechen.
Der Widerspruch zwischen der ›verbotenen‹, ’sündigen‹ und vermeintlich von Moralvorstellungen freien Sexualität und dem staatlich geförderten, gewerblich organisierten und vermarkteten Prostitutionsbetrieb ist offensichtlich. Der Mythos, im Nationalsozialismus sei Prostitution grundsätzlich illegal gewesen, wird auch nach wie vor im Kontext der Herbertstraße reproduziert. Die Nationalsozialisten hätten die Wand aufgestellt, um die Prostitution aus dem »Sichtfeld der Öffentlichkeit zu verbannen«, so eine Kiez-Seite. Es stimmt, dass Frauen für Prostitution verfolgt wurden, doch ging es praktisch in erster Linie um staatliche Kontrolle über die Prostitution und (unverheiratete) Frauen. Frauen, die sich regelmäßig untersuchen ließen und sich staatlich organisiert prostituierten, entgingen der Verfolgung, wenngleich dieses Arrangement kein sicheres für die Frauen war.7Vgl. Robert Sommer: Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Leiden: Brill & Schöningh, 2009. Die Darstellung der Prostitution als subversive, quasi emanzipatorische Praxis wird durch die wiederholte und verkürzte mediale Gegenüberstellung mit dem Nationalsozialismus unterstützt. Der Freier und die Prostituierte werden so ideologisch als Vorreiterinnen gegen eine überkommene Sexualmoral und für eine befreite Sexualität verklärt.
Hamburg, die »Puffmama«
Im Juni 2021, einen Tag vor der Abschaffung des pandemiebedingten Verbots körpernaher Dienstleistungen und damit auch von Prostitution, demonstrierten Frauen aus der Herbertstraße für die Wieder-Erlaubnis von sexuellen Diensten unter dem Namen Sexy Aufstand Reeperbahn. Unter anderem mit Plakaten mit der Aufschrift »Der Staat fickt uns und zahlt nicht« wiesen die Frauen auf ihre prekäre Situation, aber auch noch auf etwas anderes hin: Der Staat beziehungsweise die Stadt Hamburg nutzt die Frauen für den eigenen Vorteil – hat aber letztlich die Kontrolle über sie. Ein paar Monate fand in der Herbertstraße eine Kunstausstellung statt, die an den »Aufstand« erinnern sollte. Mit der Aktion wollte man sich u.a. beim Bezirksamt Hamburg St. Pauli bedanken, das – laut Organisator:innen der Aktion – die Gewerbe in der Herbertstraße und auf der Reeperbahn im Sinne der Wiedereröffnung unterstützt habe.
Der (Sex-)Tourismus in Hamburg lebt vom Reiz, den die Herbertstraße und die Reeperbahn ausüben. Parallel zu den Schritten der Entkriminalisierung der Prostitution in Deutschland stiegen die Tourismus-Zahlen in Hamburg rasant. Während die Zahl der Tourist:innen in den neunziger Jahren stagnierte, stieg sie seit 2002 um mehrere Millionen an. Hamburg profitiert maßgeblich vom Sextourismus als wichtiger ökonomischer Einnahmequelle. Der ›kultige‹ Kiez und das Versprechen lustvoller Frivolität und sexueller Verfügbarkeit von Frauen ziehen Besucher:innen an. Selbst diejenigen, die ’nur‹ der Atmosphäre der Reeperbahn, des Kiezes und des Milieus nachspüren wollen, bringen durch ihre Besuche Geld in die städtischen Taschen.
»Für mehr Fremdenverkehr«: Darauf können sich in der Herbertstraße alle einigen. Foto: S. McCann, flickr.
Mit dem boomenden (Sex-)Tourismus war Schluss, als vor zweieinhalb Jahren das Corona-Virus der Prostitution und Beherbergungsbranche für einige Monate den Garaus machte. Nicht ganz uneigennützig scheinen da die Bemühungen der Stadt- und Bezirksverwaltung von Hamburg Mitte, die Prostitutionsgewerbe wieder ›in Betrieb‹ zu nehmen. Ein Gruppenfoto mit Falko Droßmann, damaliger Bezirksamtsleiter, das groß auf der Homepage der Gruppe Sexy Aufstand Reeperbahn zu finden ist, weist auf die nicht uneigennützigen Motive des Bezirks hin. Die Brüche, die staatliche sowie städtische Politiken in Bezug auf sich prostituierende Frauen aufweisen, sind geprägt vom Machtverhältnis zwischen patriarchal organisierten Kapitalinteressen und den in der Regel vulnerablen Frauen, die sich für die Prostitution entscheiden oder in diese hineinrutschen.
Unerwünscht sind Frauen in der Herbertstraße offensichtlich nicht. Sie sind sowohl ökonomische Grundlage als auch kultureller Bestandteil der Touristenattraktion und der Rituale einer sich selbst ihrer Herrschaft versichernden Männlichkeit. Dies gilt allerdings nur für bestimmte Frauen. Wenn sie selbst als Anbieterinnen sexueller Dienstleistungen und damit als durch Männer konsumierbare Ware auftreten, sind sie willkommen. Alle anderen müssen ›draußen bleiben‹ und sollen nicht an den Wänden der Männerbündelei, der kulturellen Grundlage patriarchaler Gesellschaften, rütteln.
Lea Remmers
Die Autorin ist feministische Soziologin und vermisst in aktuellen Debatten um Prostitution den Anspruch, das Bestehende als Ausdruck einer heterosexistisch-kapitalistisch organisierten Gesellschaft zu analysieren.
1
Diese Phrase, die mit der Umwertung christlich-konservativer Moralvorstellungen kokettiert, ist inzwischen zum Marketing-Slogan geronnen und wird auch auf der offiziellen Tourismus-Webseite der Stadt Hamburg verwendet.
2
Der bereits erwähnte SHZ-Artikel von 2010 vermerkt: »Auf dem Kiez heißt es, die Zuhälter der Herbertstraßen-Prostituierten hätten sich einer Öffnung für Frauen widersetzt. Weibliche Touristen in der No-go-Area, so das Kalkül, könnten das Geschäft vermasseln.«
Vgl. Sabine Grenz: Die (Un)Heimliche Lust. Über den Konsum sexueller Dienstleistungen, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2007.
6
Vgl. Claudine Legardinier: Der ›Freier‹ im Brennpunkt der Kritik, in: Feministisches Bündnis Heidelberg (Hg.): Was kostet eine Frau? Eine Kritik der Prostitution. Aschaffenburg: Alibri Verlag 2020, 69–86.
7
Vgl. Robert Sommer: Das KZ-Bordell. Sexuelle Zwangsarbeit in nationalsozialistischen Konzentrationslagern, Leiden: Brill & Schöningh, 2009.
Zwei neue Bücher über Olaf Scholz schreiben ihm hanseatische Tugenden zu und empfehlen ihn als Verwalter des neoliberalen Status Quo. Was wirklich über Scholz zu sagen wäre, fällt in dieser staatsjournalistischen Imagepflege unter den Tisch.
„Frei von Empathie“ und „ohne jedes Charisma“: Olaf Scholz laut zwei Hofberichterstattern. Foto: privat.
In der repräsentativen bürgerlichen Demokratie erfüllen politische Eliten immer auch eine symbolische Funktion. Sie sollen den Staat beziehungsweise „das Volk“ repräsentieren, den Bürger:innen ein Bild ihres Gemeinwesens verkörpern. Im Gegensatz zum königlichen Körper, der im Ancien Régime qua Geburt und göttlicher Auserwähltheit unfraglich die Einheit des Staates symbolisierte, müssen die wechselnden demokratischen Repräsentant:innen sich dem anpassen, was die Bevölkerung sich wünscht und was sie zu akzeptieren bereit ist. Sie müssen, zumal in der hochgradig medialisierten Demokratie der Gegenwart, ihr Image herstellen als Projektionsfläche für staatstragende Tugenden.
Angesichts der zunehmenden Personalisierung von Parteipolitik ist solche Imagepflege ein nicht zu vernachlässigender Bestandteil der Herstellung von politischer Hegemonie, also der Zustimmung der Beherrschten zu ihrer Beherrschung. Journalisten staatsnaher Medien versuchen von dieser Notwendigkeit zu profitieren und übernehmen dabei unaufgefordert diese Imagepflege, indem sie die vermeintlich bedeutsame „Persönlichkeit“ führender Politiker:innen in den Fokus rücken und ihre positiven Qualitäten beschreiben bzw. eben erfinden.
Eben so ist es im Fall Olaf Scholz. Zwar eignet Scholz sich denkbar schlecht für Imagepflege, verkörpert er doch der allgemeinen Wahrnehmung nach vor allem Langeweile. Aber das hindert Journalist:innen nicht, die es ja gewohnt sind, aus wenig Material viel leicht verdaulichen Text zu machen. Und nun, da er Kanzler ist, lässt sich so etwas auch verkaufen.
Beispiele dieser Art von kostenloser PR sind die beiden bisher über Olaf Scholz erschienenen Bücher: „Olaf Scholz: Der Weg zur Macht. Das Porträt“ (Klartext, Dezember 2021) vom Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, Lars Haider, und „Olaf Scholz – Wer ist unser Kanzler?“ (S. Fischer, Februar 2022) von Mark Schieritz, wirtschaftspolitischer Korrespondent im Haupststadt-Büro der ZEIT.
Natürlich können auch Haider und Schieritz zu Scholz nichts wirklich Interessantes berichten. Beide Bücher sind bürgerliche bundesdeutsche Hofberichterstattung ohne jede Gesellschaftskritik. Neben Langeweile können sie höchstens schaudern lassen, etwa, wenn Haider anbiedernd erzählt, wie oft er Scholz schon in Hintergrundgesprächen oder zu Interviews getroffen habe. Kurz: Sie gehören zu denen, die selbst in 7 langen Leben keinen Platz auf der Leseliste verdient hätten. Aber es ist interessant, welche Qualitäten sie Scholz im Sinne der genannten staatstragenden Imagepflege anzudichten versuchen.
Bei Haider sind Scholz‘ hanseatische Qualitäten, ins Politische gewendet, im Kern eine Affirmation des gegenwärtigen neoliberalen Regimes. Was die Bürger:innen in Scholz sehen sollen, ist „Kompetenz“, „Nüchternheit“ und „Erfahrung“ – also Politik unter dem Diktat des tristen Realismus, streng an den Sachzwängen orientiert, ohne verderbliche Utopie, Visionen (Helmut Schmidt ist für Scholz nicht ohne Grund ein „Gigant“) oder auch nur ein erkennbares Programm. Sicher, hier darf es auch mal Zugeständnisse geben – aber was nötig und möglich ist und was nicht, das entscheidet das Kapital. Er habe „das Geld zusammengehalten“ und in Hamburg „gut und solide“ regiert. Natürlich ist er ein „Machtmensch“ – denn anders geht es schließlich in den Kommandohöhen des Staates nicht. Haider stellt sich die Beziehung zu den Wähler:innen so vor: Sie bestellen „Führungsleistung“ und Scholz liefert sie.
Solch markige Management-Macherrhetorik soll beruhigen, suggeriert sie doch, dass der_die Einzelne noch etwas ausrichten kann. Dabei vernebelt sie natürlich, dass das politökonomische Wohl oder Verderben in kapitalistischen Staaten kaum von einzelnen Politiker:innen abhängt, selbst von Kanzlern nicht. Bei Scholz wird nun diese Personalisierung der Politik auf einen Kanzler gepresst, der sie mangels nennenswerter Persönlichkeit beinahe schon ad absurdum führt. Wer das schlucken kann, hofft wohl kaum noch, dass irgendwer den Irrsinn dieser Gesellschaft doch noch richten könnte. Haider offenbart genau den capitalist realism, den Mark Fisher beschrieb: Es ist nichts Anderes vorstellbar als ein ewiges „weiter so“, also ist es doch besser, jemandem die Sache zu überlassen, der genau das und auch nicht mehr will.
Die Person Scholz beschreibt Haider als „frei von Empathie“ und „ohne jedes Charisma“. Das ist nicht negativ gemeint, sondern soll wohl Sachkenntnis und Kompetenz noch einmal unterstreichen: Scholz hat keine Gefühle, er hat Ahnung. Über sein Leben gibt Scholz wenig preis, aber was man wissen kann, lässt ahnen: Er ist genauso langweilig und durchschnittlich, wie er erscheint. Geboren in Osnabrück in eine Mittelschichtsfamilie, politische Sozialisierung bei den Jusos, Jurastudium, Selbstständigkeit als Anwalt für Arbeitsrecht, SPD-Parteikarriere.
Haiders Scholz „arbeitet hart“, ist „ehrgeizig“, man kann ihm vertrauen, denn „er kann was“. Er ist hart im Nehmen – aber auch hart zu sich selbst. Er studiert tagelang Akten, ohne zu ermüden. Er ist von sich überzeugt, aber auch zu Recht. Er hat zwar kein Charisma, aber denkt analytisch und ist ein „Arbeitstier“. Er ist höflich und nicht arrogant.
Schließlich auch noch ein Schuss Sozialdemokratie: Er ist ein „Aufsteiger, der an soziale Gerechtigkeit glaubt“, ja, ein „Außenseiter“. Haider widmet gar sein Buch „allen Außenseitern“. Was einen sozialdemokratischen Juristen mit jahrzehntelanger erfolgreicher Politkarriere zum Außenseiter macht, bleibt freilich Haiders Geheimnis. Vielleicht die Kindheit in Rahlstedt? Ähnlich dünn ist der Versuch, Scholz als „Feministen“ dazustellen. Er hätte sich schon immer für Gleichberechtigung eingesetzt, etwa in der Auswahl seiner Senator:innen und Minister:innen, und sei allergisch, wenn in Interviews die Berufstätigkeit seiner Frau in Frage gestellt wird. Fair enough – aber das ist genau die Art Staatsfeminismus, mit dem man heute wirklich nirgendswo mehr Widerspruch hervorruft.
Jetzt setzt’s aber Respekt: Olaf Scholz im Wahlkampf 2021. Foto: Michael Lucan CC BY-SA 3.0
Schieritz’ Buch ordnet anders als Haiders Machwerk Scholz auch politisch ein. Dass er schon unter Gerhard Schröder als Generalsekretär an der Neoliberalisierung der SPD mitgearbeitet hat und die Agenda 2010 fleißig verteidigte, wird hier zumindest nicht verschwiegen. Ebenso, dass Scholz damals den Begriff „demokratischen Sozialismus“ aus dem Parteiprogramm der SPD streichen lassen wollte.
Aber für Schieritz begründet das keinen Vorwurf, sondern für ihn zeigt es, wie „geerdet“ Scholz heute im Vergleich zu seiner linksradikalen Zeit in den 1970ern ist. Vor allem der Anwaltsberuf habe ihn zu einem „Mann der Mitte“ gemacht. Auch der von Scholz verantwortete Brechmitteleinsatz, der 2001 Achidi John das Leben kostete, kann diesem Bild nichts anhaben. Schieritz verhandelt den Skandal unter ferner liefen, bei Haider taucht er erst gar nicht auf. Scholz ist für Schieritz „den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen“, denn er ist kein Ideologe, sondern „je nach den Umständen ausgerichtet“. Er ist ein Verhandler, „will alle Meinungen hören“, umgibt sich mit „Leuten die etwas bewegen wollen“.
Sogar ein bisschen weniger Neoliberalismus will er neuerdings. Denn statt Leistungsgerechtigkeit wie in der Sozialdemokratie des Dritten Weges à la Blair und Schröder stellt Scholz die „Beitragsgerechtigkeit“ in den Mittelpunkt. Der Sermon vom „Respekt“ ist wohl allen noch aus dem letzten Bundestagswahlkampf im Ohr. „Respekt“ soll für notwendige Lohnhierarchien entschädigen. „Respekt“ soll es für Erwerbsarbeit jeder Art geben, egal ob hoch- oder niedrig qualifiziert. Das aber hat natürlich nur wenig mit Gerechtigkeit zu tun. Denn „Respekt“, man ahnt es, ist, was von der Sozialdemokratie übrigbleibt, wenn sie nicht umverteilen will. Mit Scholz soll der neoliberale Wahnsinn des Bestehenden humanisiert werden. Wie eng begrenzt diese rhetorischen Zugeständnisse sind, zeigt schon jetzt, wie wenig wir uns davon versprechen dürfen. Wer Scholz’ Weg in Hamburg verfolgt hat, weiß, dass er Ansprüche auf mehr als „Respekt“ auch abzuwehren weiß: die Law&Order-Rhetorik im Wahlkampf gegen Schill, die Brechmitteleinsätze, sein Einsatz gegen die Rekommunalisierung der Energienetze und für Olympia, die Gefahrengebiete, seine absurde Verleugnung polizeilicher Gewalt beim G20-Treffen und jüngst sein beunruhigend schlechtes Gedächtnis bezüglich Korruption mit der Warburg-Bank zeigen, wozu ein ideologisch flexibler Parteisoldat wie Scholz fähig ist. Scholz ist kein wirklicher Bösewicht, autoritäre Ressentiments und persönliche Bereicherung sind ihm sicher fremd. Aber er ist eben ein typischer Sozialdemokrat des neoliberalen Zeitalters. James Jackson hat das im Jacobin Magazin schön zusammengefasst: Scholz verbindet höhere Mindestlöhne mit kapitalfreundlicher Klimapolitik, Law & Order-Maßnahmen mit dem Kampf gegen Rechtspopulismus. Er steht für „Stabilität statt Vision, Management statt Transformation, und wahrt die Interessen der Mächtigen – während er gerade genug reformiert, um den Kohle-getriebenen Koloss deutsche Industrie am Laufen zu halten.“ Auf Bundesebene setzt Scholz somit fort, was seine Politik als Erster Bürgermeister Hamburgs auszeichnete – und was ihn populär machte. Und wer weiß, vielleicht räumt die ZEIT ihm nach der nächsten Bundestagswahl ja Helmut Schmidts altes Büro frei.
Für nur ein Wochenende im März war in Hamburg eine Ausstellung des Künstlers Gerrit Frohne-Brinkmann zu sehen. Seine Installationen waren der Vacanti-Maus gewidmet. Hätte man diesem skurrilen Hybridwesen nur besser gelauscht: Während nur wenige Meter entfernt die Impfgegner:innen marschierten, ließ sich von den Mäusen etwas von falscher Wissenschaftsfeindschaft erfahren.
Detail aus Gerrit Frohne-Brinkmanns Ausstellung »Earmouse«, März 2022. Foto: Heinrich Holtgreve
1997 veröffentlichte eine Forschungsgruppe aus Massachusetts um den Mediziner Joseph P. Vacanti die Ergebnisse ihrer mehrjährigen Forschung. Dem Team war es gelungen, auf dem Rücken von Mäusen Knorpelgewebe in Form einer menschlichen Ohrmuschel zu züchten. Das war eine wissenschaftliche, vor allem aber auch eine öffentliche Sensation: Denn die Earmouse, auch unter dem Namen Vacanti-Maus bekannt (es war wohl eine ganze Schar solcher Mäuse vonnöten, deshalb hat die Maus keinen Eigennamen wie das Klonschaf Dolly), bot einen bizarren, ja verstörenden Anblick.
Unheimlich und verstörend war diese Maus, weil da ein normal großes menschliches Ohr auf dem Rücken einer kleinen, nackten, rotäugigen Maus ›wuchs‹. Dieses Gewächs, über dem sich die dünne Mausehaut spannte, konnte nicht hören, war aber unverkennbar eine hochartifiziell geformte menschliche Ohrmuschel. Die Maus fungierte als Bioreaktor für dieses nichthörende Ohr – ein lebendes Medium, das ein ›Ersatzteil‹ bis zu seiner Entnahme spazieren trägt. Die Entnahme des gezüchteten Knorpelgewebes ließe sich zwar auch ohne eine Tötung des Mediums durchführen, doch ging es der Vacanti-Maus wie allen anderen Labormäusen auch: Sie wurde verbraucht bzw. »geopfert«, wie es in einem Paper der Forschungsgruppe hieß.[1]
Die Earmice und das an ihnen erstmals erfolgreich angewandte Verfahren bevölkern seitdem das kollektive Imaginäre auf der ganzen Welt. So ließ etwa Stelarc, ein zypriotisch-australischer Künstler, ab 2006 über zehn Jahre lang, von einigen Operationen begleitet, ein linkes menschliches Ohr auf seinem Arm wachsen. Stelarcs Absicht war es, das Ohr mit dem Internet zu verbinden und es so weltweit ›senden‹ zu lassen, was es an dem Ort ›hört‹, an dem sich sein Medium – der Künstler Stelarc – aufhält. Auch dieses knorpelige künstliche Ohr konnte natürlich nicht eigenständig hören, aber es war mit einem technischen Aufnahmegerät ausgestattet. Das Ohr darum herum war ›nur‹ Kunst.
Der Künstler Stelarc 2011 mit seinem künstlichen ›dritten Ohr‹. Foto: AltSylt Lizenz: CC BY-SA 2.0
Ohrmäuse aus Keramik
25 Jahre nachdem die Vacanti-Maus zur weltweiten Sensation wurde, widmete der Hamburger Künstler Gerrit Frohne-Brinkmann ihr nun eine Ausstellung im Projektraum ABC. Benannt nach der gleichnamigen Straße in der Neustadt, ist der Ort ABC – wie so viele Projekträume – eine Zwischenraumnutzung. Das Gebäude, ein Commerzbank-Investment-Piece aus den Neunzigern, passt zeitlich gut zur Vacanti-Maus. Am 12. und 13. März tummelte sich dort eine große Familie keramischer Mäuse auf dem Fußboden. Sie sind haarlos und rosa wie die nackten Vacanti-Mäuse. Und wie die Vacanti-Mäuse tragen sie alle ein menschliches Ohr auf dem Körper. Es scheint sie nicht zu stören.
Drei der Mäuse sitzen in übergroßen Muscheln, keramischen Fantasien von Meeresschneckengehäusen, an der Wand. Von dort tönt ein weißes Rauschen. Es sind jedoch nicht die Muscheln, die hier rauschen, sondern die Mäuse, besser wohl: die menschlichen Ohrmuscheln auf ihren Rücken. Die Mäuse sind verkabelt, so dass sie entgegen ihrer üblichen Aufgabe – und in entgegengesetzter Richtung zum ›Ohr‹ auf Stelarcs Arm – Schall senden. Sie empfangen nichts. Mit derlei Gangart- und Richtungswechseln ist bei Ausstellungen des 1990 geborenen Frohne-Brinkmann, der an der HFBK studierte, stets zu rechnen.
Keramische Formen, die stark unterschnittig sind, also negativ, konkav nach innen gewölbt, lassen sich nur mit großem Geschick modellieren. Das menschliche Ohr ist eine maximal komplizierte Form, sei es als Skulptur oder als gezüchtetes Ersatzohr (Ohren werden, weil sie so kompliziert zu modellieren sind, mittlerweile tatsächlich wie bei Stelarc an unauffälliger Stelle am Körper der Patient:innen nachwachsen gelassen, nachdem sie zuvor im Labor initial angezüchtet wurden).
Genauso wie das nachgezüchtete gehörlose Ohr ist auch die Form einer Meeresschnecke nur mühevoll zu modellieren, eben wegen ihrer Unterschnittigkeiten. Als keramischer Hohlkörper erzeugt die Form dann aber zweifellos auch ohne Verkabelung und künstliche Schallquelle das bekannte ›Meeresrauschen‹, das man hört, wenn man ein Meeresschneckengehäuse oder eine Muschel an sein Ohr legt. Dieses Rauschen ist allerdings weder die eingefangene Aufnahme eines Südseeurlaubs noch das akustisch verstärkte Fließgeräusch des eigenen Bluts, wie häufig angenommen wird. Vielmehr entsteht es, weil die Muschel die Umgebungsgeräusche aufnimmt, verstärkt und als undifferenziertes Rauschen wieder nach draußen sendet (also wieder in umgekehrter Richtung zur menschlichen Ohrmuschel, die den Schall aufnimmt und ihn, wenn sie denn hören kann, über das Trommelfell nach innen ans Gehirn weitergibt).
Die Maus als Schnittstelle zwischen Mensch und Natur
Die keramischen Ohrmäuse, die in den Meeresschnecken sitzen und das weiße Rauschen versenden, sind über ihre sehr langen Schwänze an die Kabelage hinter der Fußleiste angeschlossen. Auch die anderen Mäuse haben einen Kabel-Schwanz, bei ihnen ist er allerdings in normaler Mäuselänge abgeschnitten. Damit erinnern die Mäuse an eine der wohl wichtigsten Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine seit der Erfindung des Personal Computer: die Computermaus. Zu Earmouse-Zeiten hatte sich die heute auf beinahe jedem Schreibtisch zu findende Funktechnologie noch nicht durchgesetzt. Die meiste Zeit seit ihrer Erfindung in den 1960er Jahren hatten alle Mäuse einen ›Kabelschwanz‹, und so haben schon die Erfinder:innen der »X‑Y-Positionsanzeige für ein Anzeigesystem« (so die Bezeichnung der Patentanmeldung 1963) sie »Maus« getauft. Wäre sie damals bereits durch eine Funkverbindung ohne Schwanz ausgekommen, hätte man sie vermutlich Hamster genannt.
Während die Computermaus als Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine dient, bewegen sich medizinische Forschungen mit Labortieren an einer Schnittstelle zwischen Mensch und Tier. Seit Jahrzehnten forscht die Transplantationsmedizin an den Möglichkeiten, wie Tiere zu Bioreaktoren für funktionierende Organe werden können, also wie sie mehr sein können als Träger tauber Ohren aus Knorpelzellen. So tragen inzwischen spezielle, genetisch manipulierte Schweine transplantierbare Herzen spazieren – mit dem im Vergleich zur Ohrmaus entscheidenden Unterschied, dass dieses Herz zuerst für das Schwein arbeitet und nicht irgendwo auf seinem Rücken als Extraposten wächst.
Die mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit verfolgte Transplantation eines Schweineherzens in einen menschlichen Patienten am 7. Januar 2022 schien zuerst geglückt zu sein. Zwei Monate nach dem Eingriff jedoch starb der Mann, der das Implantat erhalten hatte. Vorerst ist das Experiment also gescheitert. Dennoch werfen derartige Xenotransplantationen für die Forschenden und für die Patient:innen schon jetzt die irrsten Fragen auf. Nicht zuletzt: Was bedeutet es, den Tod eines Säugetiers zu billigen, um selbst weiterleben zu können? Anders als bei Menschen, die einen Organspendeausweis besitzen, sich im Fall ihres Todes also bereiterklären Organe abzugeben, werden diese Schweine dezidiert als Organspender gezüchtet. Die an menschlichen Zwecken ausgerichtete Schweinezüchtung ist dabei kein Skandal, sie dient seit Jahrhunderten der Kotelett- und Wurstproduktion. Bemerkenswert ist aber der Transfer lebendiger Organe vom Tier zum Menschen – nicht als Nahrung, sondern als funktionale Inkorporation eines lebenswichtigen Organs. In Vorbereitung der Xenotransplantation vom Januar 2022 wurden etliche Gespräche mit religiösen Oberhäuptern diverser Konfessionen geführt. Sie alle stellten das gerettete Menschenleben über das Tierwohl.
Aufklärungsfeindschaft gestern und heute
Die Earmouse des Jahres 1997 brachte viele erbitterte Wissenschaftsgegner:innen auf den Plan, die »Gottes Schöpfung« in Gefahr sahen. Eine große Anzeige des Turning Point Project, eines Zusammenschlusses von mehr als 60 NGOs, warnte mit einem Foto der Earmouse vor (roter) Gentechnik und titelte: »Who plays God in the 21st Century?« Sie suggerierte fälschlicherweise, dass die abgebildete Maus genetisch modifiziert sei, und setzte ganz auf den schockierenden Effekt ihres Frankenstein-haften Aussehens. In einem menschlichen Ohr auf dem Rücken einer Maus meinte man den Inbegriff der zombification, der monströsen Selbstüberschätzung der Medizin erkennen zu können. Auch ohne großformatige Anzeigen verbreitete sich das Bild der Earmouse daher wahnsinnig schnell – dank ihrer verkabelten Verwandten, der Computermaus. Internetnutzer:innen verschickten das Bild massenhaft und häufig gänzlich dekontextualisiert per E‑Mail.
Eine verzerrte Spiegelung durch die Jahrzehnte zeigt uns eben diese Menschen heute als sogenannte »Impfgegner:innen«. Ihnen erscheint das (weiße) Rauschen des Internets als Rauschen ihres Bluts, ihres eigenen, heiligen, gesunden Körpers. Diese Überzeugung versenden sie, mit einer mittlerweile kabellosen Computermaus im WWW herumklickend, gerne nach außen – nur noch selten via E‑Mail, umso öfter aber in den Echokammern von Telegram-Gruppen und Youtube-Kanälen. Sie tun das im Glauben, es sei ihr eigener Gedanke, der da tönt, dabei sind sie nur eine die Außengeräusche verstärkende Hohlform – leere Muscheln (oder einfach Hohlköpfe).
Die Impfung wird von diesen Menschen abgelehnt, weil sie in die einzelnen Körper eindringt. In dieser Hinsicht gleicht die Impfgegnerschaft der Ablehnung von Xenotransplantationen oder eben der Transplantation eines auf dem Rücken einer Maus gezüchteten Ohrs. Dabei lässt sich beobachten, dass der Widerstand gegen derartige Operationen nicht aus ethischen Überlegungen, aus Sorge um das Tierwohl erwächst, sondern aus Angst um die Integrität des eigenen Körpers; im Fall der Impfungen obendrein abgemischt mit Sorgen um Selbstbestimmung, Misstrauen gegenüber Behörden und der Sehnsucht nach einer soliden Volks‑, also Infektionsgemeinschaft, die, so die Wunschvorstellung, als Herde insgesamt immun werden möge. Wir halten uns da lieber an die Mäuse: Sie sind zwar durchaus gesellig, aber Herdentiere sind sie nicht – ob mit oder ohne Ohr auf dem Rücken.
Nora Sdun, April 2022
Die Autorin gründete vor 18 Jahren zusammen mit Gustav Mechlenburg den Textem Verlag. Im Dezember 2016 erschien dort der Band All in, der eine Auswahl performativer Arbeiten Gerrit Frohne-Brinkmanns dokumentiert.
[1] In Nowosibirsk wurde 2013 ein Denkmal enthüllt, das den Labormäusen und ‑ratten, diesen so unsichtbaren wie unermüdlichen Streiter:innen für Aufklärung und wissenschaftlichen Fortschritt, gewidmet ist.
Der Hamburger Dom ist beliebtes Ausflugsziel für kurzzeitiges Vergnügen. Der Spaß hat jedoch seinen Preis, und den zahlen nicht zuletzt Saisonarbeiter:innen aus dem Ausland. Die Lokalpresse verbreitet hingegen das Glücksversprechen des größten Volksfestes im Norden. Gäbe es nicht bessere Verwendungsmöglichkeiten für eine Freifläche mitten in der Stadt?
Was hinter den glitzernden Fassaden des Hamburger Doms liegt, bleibt zumeist im Dunkeln. Foto: privat
Im Frühjahr und Sommer des Jahres 2021 – wie auch bereits im Jahr zuvor – wurde das Heiligengeistfeld zum tatsächlichen Herz von St. Pauli. Waren die Kneipen und Clubs noch pandemiebedingt geschlossen, so fanden sich des Nachts feierwütige Hamburger:innen mit Flaschenbier und Soundsystem auf dem Platz ein – zumindest solange der Stadtstaat nicht seine Muskeln spielen ließ und Wasserwerfer schickte. Tagsüber drohte das nicht und so war das Feld häufig schon mittags Freifläche für spielende Kinder, Skater:innen und Sonnenbadende. Im Juli begannen dann die ersten Schausteller:innen den Platz mit ihren Fahrgeschäften für sich zu reklamieren. Aus der für viele unkommerziell nutzbaren Freifläche wurde die Gated Community einiger weniger, die den öffentlichen Raum kapitalisierten. »Juhu«, freute sich die BILD, »Freitag startet endlich wieder der Dom!«
Der jenseits pandemischer Lagen dreimal jährlich stattfindende Riesenrummel verspreche, so der Artikel weiter, »Sommer, Sonne und viel Spaß«. Für alle, die diese Dreifaltigkeit der Vergnügungskultur schon zuvor auf dem Feld genossen hatten, waren die anrückenden Schausteller:innen jedoch weniger Grund zur Freude. Zwischen den nach und nach zusammengehämmerten Karussells fanden sich immer wieder die vormaligen Nutzer:innen des Heiligengeistfeldes ein – bis der Platz Ende Juli endgültig umzäunt und der Zugang streng kontrolliert wurde. Für viele bot sich so in diesen Juliwochen, quasi als kleiner Ausgleich für die genommene Fläche, die Möglichkeit ethnografischer Studien über das Schausteller:innenleben.
Nicht nur in Sommernächten begehrt – eine Freifläche mitten in der Stadt. Während des Coronasommers 2021 zog das Heiligengeistfeld gar so viele Menschen an, dass die Polizei regelmäßig die Party unterbrach. Fotos: privat
Amusement und Ausbeutung
Den neugierigen Blicken offenbarte sich jedoch nicht jener weit verbreitete Mythos des Familienbetriebs im Wohnwagen. Oder wie es nach wie vor im Volksmund und in der Presseberichterstattung heißt: des »fahrenden Volkes« (dessen Romantisierung gerade in diesem Land mit seiner Geschichte einige Fragen aufwirft). Der real existierende Kapitalismus, dessen Fassade auf dem Hamburger Dom nicht nur metaphorisch glitzert, zeigte hinter den Karussellkulissen seine nur allzu gern verschwiegenen Widersprüche. Um es einmal zuzuspitzen: Das Ticket für den Eintritt ins Schausteller:innenleben ist offenbar ein Mercedes-SUV; Modellreihe irgendetwas mit »G«. Den hohen Anschaffungspreis dieser Statussymbole erwirtschaften auch jene Saisonarbeiter:innen, deren Rumänisch bei Sommerhitze von den halbfertigen Achterbahnen über den Platz schallte. Schätzungsweise 90 Prozent der Hilfsarbeiter:innen, die auf deutschen Jahrmärkten und Volksfesten als »billige Arbeitskräfte« schuften, kommen aus Rumänien.
Der „Shaker“ – rumänische Hilfsarbeiter:innen und Mercedes SUV. Foto: privat
»Jede Menge Spaß auf St. Pauli«, wie es zum nun auslaufenden Winterdom auf der offiziellen Seite der Stadt Hamburg heißt, beruht eben auch auf der Ausbeutung importierter Arbeitskraft aus Niedriglohnländern. Das ist an sich wenig verwunderlich. Auch Amusement muss unter kapitalistischen Verhältnissen produziert werden. Was beim Hamburger Dom auffällt: Gesprochen wird über diese Verhältnisse höchst ungern.
Mindestlöhne…
Denn wer die Beobachtungen zu teuren Autos und Saisonarbeiter:innen – sie sind in der Tat nur Beobachtungen – belegen will, der findet nicht viel. In der hiesigen Presse und seitens der Stadt wird der Dom zumeist bejubelt und seine glitzernde Fassade, der Schein im wahrsten Sinne des Wortes, als Wahrheit eingekauft. Zur Frage nach der Unterkunft der Saisonarbeiter:innen findet sich indes ein mittlerweile fast 20 Jahre alter Artikel. Der hat es allerdings in sich. Das Hamburger Arbeitsamt war nach der Beschwerde eines rumänischen Arbeiters aktiv geworden. Der Arbeiter hatte weniger Lohn als vereinbart erhalten – musste dafür jedoch mehr Arbeitszeit ableisten (105 Stunden) als vertraglich vereinbart (40 Stunden).
Das Amt rückte zur Großkontrolle aus: Dabei konnten zwar nur wenige der erwarteten Verstöße festgestellt werden, doch sei eine ganz andere Sache schockierend gewesen. Die Unterkünfte der Arbeiter erinnerten die Kontrolleur:innen an die »Haltung von Tieren«. Die mit dieser Tatsache konfrontierten Schausteller:innen nahmen zur Sache keine Stellung. Empört war man jedoch, dass das Arbeitsamt kurz vor der Eröffnung des Volksfestes offenbar ihren Ruf ruinieren wolle. Und wieviel verdienen Saisonarbeiter:innen nun? Wenn sie Glück haben, wird ihnen offenbar der Mindestlohn ausgezahlt – einem Sprecher des Zolls zufolge gibt es hier nur wenige Verstöße.
Viel mehr findet sich dann allerdings auch nicht über die Arbeitsverhältnisse auf dem Hamburger Dom. Aber auch ein Nichtbefund ist ein Befund – die Saisonarbeiter:innen bleiben unsichtbar. Dies steht erstens im Gegensatz zu jenen Lebewesen, die Tierhaltung im Wortsinne erleiden: Für die Dom-Ponys, die dort auf engstem Raum trist ihre kleinen Kreise ziehen, konnten viele ihr Herz erwärmen – sie schafften es etwa ins Wahlprogramm der Grünen (S. 133/143) für die Bürgerschaftswahl 2020. Das Pony-Karussell sorge »für Unbehagen bei den Besucher*innen«, heißt es dort, man wolle die Tierhaltung bei Volksfestens abschaffen. Zweitens steht die Unsichtbarkeit der Arbeiter:innen im krassen Gegensatz zur Medienpräsenz ihrer Vorgesetzten. Gerade in Zeiten der Pandemie, der Branche ging es ja in der Tat nicht gut, erfuhren die Schausteller:innen viel Aufmerksamkeit. Das dabei in Dauerschleife gespielte Lamento existenzieller Nöte erinnert bisweilen an die Pressearbeit deutscher Polizeigewerkschaften. Wie schlecht es um die Branche tatsächlich bestellt ist, ist dabei schwer zu sagen. Konkrete Zahlen werden nicht genannt.
… und Millionenumsätze
Was verdienen also Schausteller:innen? Genau beziffern lässt sich dies nicht. Aber: Der Umsatz auf Volksfestplätzen, so eine Studie des Deutschen Schaustellerbundes aus dem Jahr 2018, lag bei 4,75 Milliarden Euro. Wenn nun, wie es besagter Studie zu entnehmen ist, der Winterdom rund zwei und der Sommerdom rund zweieinhalb Millionen Besucher:innen anzog – wohlgemerkt: vor Corona – und diese im Schnitt 25 Euro ausgaben, so lag der Umsatz der Fahrgeschäfte und Buden des Doms zwischen 50 und 62,5 Millionen Euro. Was davon tatsächlich als Gewinn bei den Betrieben hängenbleibt, ist ebenfalls unklar. Der ethnografische Blick und der sich ihm zeigende Fuhrpark der Schausteller:innen – die Mercedes-SUVs – lassen jedoch vermuten, dass es zum Leben reicht.
Derzeit neigt sich der Winterdom dem Ende zu. Folgt man der Hamburger Morgenpost, dann war diese Ausgabe des Volksfestes die »wichtigste aller Zeiten«. Denn »selbst im Krieg« hätten die Schausteller:innen mehr verdient als während der Corona-Lockdowns. Es geht also – mal wieder – um die Existenz. Während Mopo und Co. ihre Leser:innen dazu aufrufen, mit ihrem solidarischen Besuch das Bestehen des Doms zu sichern, hätte so manche:r Anwohner:in womöglich nichts dagegen, wenn es der letzte Dom wäre. Die dann ganzjährig freie Fläche (von Events wie dem »Schlagermove« einmal abgesehen, der doch bitte noch dringender der Pandemie zum Opfer fallen soll) haben die Hamburger:innen ja schon für sich zu nutzen gelernt.
Johannes Radczinski, Dezember 2021
Der ethnografische Blick auf das Leben von Schausteller:innen offenbarte sich dem Autor, der das Heiligengeistfeld im Sommer 2021 fast täglich nutzte, eher unfreiwillig. Zuletzt schrieb er auf Untiefen über das nur einen Steinwurf vom Dom entfernte Bismarckdenkmal.
Die Szene Hamburg ist in dieser Stadt eine Institution. Seit bald 50 Jahren erscheint das Stadtmagazin monatlich. Es verstand sich nie als Teil einer Gegenöffentlichkeit, lieferte aber dennoch mitunter kritischen Journalismus. Heute, eine Insolvenz und mehrere Eigentümerwechsel später, ist es kaum mehr als ein Anzeigenblatt. Wir haben uns das November-Heft angeschaut.
Dickie war noch ein Kind, als er die Szene »quasi im Alleingang erfunden« hat. Foto: Youtube-Screenshot
Aus dem seit 2013 in einigen Hamburger Programmkinos laufenden Werbespot zum vierzigsten Jubiläum der Szene Hamburg wissen wir: Die Idee für diese Zeitschrift hatte Dickie Schubert, Betreiber des Internetcafés Surf n’ Schlurf im Schanzenviertel und einer der Gründer der Band Fraktus. Dickie hatte sich auf »so ’nem kleinen Schmierzettel« seine genialen Einfälle notiert: »verschiedene Rubriken wie zum Beispiel, was ich gut finde – Mode, Musik, Essen und so«. Dann aber entwendeten »die Leute von der Szene« den Zettel – und bauten auf ihm das Konzept ihres Stadtmagazins auf. So jedenfalls geht der von Rocko Schamoni und Regisseur Christian Hornung (»Manche hatten Krokodile«) präsentierte Mythos.
Tatsächlich wurde die Szene Hamburg 1973 von Klaus Heidorn gegründet, der zuvor als Texter in einer Werbeagentur gearbeitet hatte. Ziel war ein Kultur- und Veranstaltungsblatt, das den bis dahin vernachlässigten Bereich zwischen etabliertem Kulturbetrieb und linker Subkultur abdeckt. Er wolle »alle Unternehmungslustigen zwischen 14 und 40, in Anzug und Jeans« erreichen, wird Heidorn 1974 vom Spiegel zitiert. Damit unterscheidet sich die Szene Hamburg von den allermeisten anderen Stadtmagazinen in der BRD, die sich häufig auch als »Stattzeitungen« bezeichneten. Denn egal ob Tip und Zitty in Berlin, der Pflasterstrand in Frankfurt oder die Stadtrevue in Köln, all diese Magazine gründeten sich in den siebziger Jahren als Organe der Gegenöffentlichkeit. Sie verstanden sich – jedenfalls in ihren Anfangszeiten – als nicht-kommerzielle Freiräume für kritischen Journalismus und alternative Kultur und waren unter anderem für ihre wilden Kleinanzeigen-Seiten bekannt.1Eine Sammlung der kuriosesten Kleinanzeigen aus diesen und anderen Magazinen findet sich in Franz-Maria Sonner (Hg.): Werktätiger sucht üppige Partnerin. Die Szene der 70er Jahre in Kleinanzeigen, Antje Kunstmann Verlag: München 2005.
Die Szene Hamburg hingegen verhehlte nie, dass sie vor allem ein lukratives Segment des Anzeigenmarkts erschließen wollte. Das schloss journalistische Qualität nicht unbedingt aus: Heidorn bezeichnete die Zeitschrift gerne als »den Spiegel unter den Stadtmagazinen«. In einer Forschungsarbeit von 1994 wurde der Szene attestiert, sie gehöre »zu den intellektuellsten und geistreichsten Stadtmagazinen Deutschlands«.2 Christian Seidenabel: Der Wandel von Stadtzeitungen. ›Was widersteht, darf überleben nur, indem es sich eingliedert‹. Roderer: Regensburg 1994, S. 58. René Martens, zeitweilig Redaktionsleiter der Szene schrieb 2015 in der taz: »Was die Szene schrieb, hatte Gewicht im (Sub-)Kulturbetrieb, und das Blatt stand für eine politische Haltung, die sich abhob von der der etablierten Medien in der Stadt.« Und Christoph Twickel, von 2000 bis 2003 Chefredakteur der Szene, meinte: »Die Szene Hamburg war für viele, die sich nicht nur für Mainstreamkultur interessierten, überlebenswichtig.«
Überleben durch Anpassung
Zu diesem Zeitpunkt, im März 2015, stand die Szene Hamburg allerdings kurz vorm Aus, nachdem sie bereits lange von Krise zu Krise gehangelt war: Im Jahr 2000 hatte der laut Twickel »dauerbetrunkene« Heidorn, kurz vor dem Konkurs stehend, die Zeitschrift verkauft und sich das Leben genommen. 2004 wurde bekannt, dass die Szene systematisch die Auflagezahlen geschönt hatte, und sie wurde an eine Consulting-Firma verkauft. 2015 kam dann die zuvor mehrfach soeben noch verhinderte Insolvenz. Die Szene war damit aber noch nicht Geschichte: Die Vermarktungsgesellschaft VKM sicherte sich die Namensrechte und konnte die Szene auf diese Weise »vor dem scheinbar sicheren Tod […] retten«, wie es auf der Unternehmenshomepage heißt. Inzwischen verzeichnet das Stadtmagazin eine vergleichsweise stabile Auflagenzahl in Höhe von ca. 15.000 verkauften Exemplaren, darüber hinaus gibt es ein gutes Dutzend Sonderhefte, vom »Uni-Extra« bis zum »Summer Guide«.
Mit der Übernahme durch VKM wurde eine Entwicklung zum Abschluss gebracht, die Twickel zufolge schon länger im Gange gewesen war. Auf der organisatorischen Ebene lautete sie: weniger Lohn, weniger feste Mitarbeiter:innen, mehr unbezahlte Praktikant:innen.3Die im Impressum der Ausgabe 11/2021 genannte Praktikantin hat tatsächlich einen beträchtlichen Teil der Beiträge verfasst. Und dass das Schlusslektorat, wie Twickel berichtet, schon vor einiger Zeit gestrichen wurde, macht sich auch bemerkbar: Ein Beitrag zu den Hamburger Weihnachtsmärkten bricht mitten im Satz ab. Die Entwicklung auf der inhaltlichen Ebene wird von Twickel mit einer Anekdote beschrieben: »Nachdem ein Verriss des Musicals König der Löwen erschienen war, stand die klagende Anzeigenverkaufsleiterin vor meinem Schreibtisch: ›Du setzt unsere Arbeitsplätze aufs Spiel!‹ Die Musicalbetreiber hatten nach dem Verriss sämtliche Anzeigen storniert.«4Tatsächlich wurde Christoph Twickel 2003 wohl vor allem wegen seiner unbequemen, nicht zu Kompromissen zugunsten von Anzeigenkund:innen bereiten Haltung als Chefredakteur gefeuert. Darüber berichtete damals unter anderem Tino Hanekamp (Link).
Großspurig und unscharf: Das Novemberheft der SZENE Hamburg. Foto: privat
Ein positives Anzeigenumfeld
Der Verriss eines Musicals der Stage Entertainment GmbH wäre in der Szene heute undenkbar. Das zeigt auch ein Blick in die November-Ausgabe. Zwischen redaktionellen Beiträgen und Anzeigen ist hier keinerlei Widerspruch zu spüren. In der gemeinsam mit dem Hamburger Sportbund (HSB) verantworteten Sport-Beilage etwa inserieren alle Sponsoring-Partner des HSB. Zu den Anzeigenkund:innen gehören natürlich auch die Kultureinrichtungen, die im Heft mit Interviews und Artikeln bedacht werden. Das Mehr! Theater am Großmarkt etwa revanchiert sich für eine aalglatte Besprechung über sein Harry-Potter-Musical (ein »magisches Spektakel«, das »natürlich nicht nur etwas für Harry-Potter-Anhänger, sondern für alle« sei) mit einer ganzseitigen Anzeige auf der Rückseite des Hefts. Und selbst beim Titelthema »Tod« steht das Anzeigengeschäft nicht hintan. Redaktionelle Beiträge zum Bestattungsunternehmen trostwerk und zu den Erinnerungsgärten, einer ökologischen Bestattungsanlage, werden von Anzeigen ebendieser Unternehmen flankiert (aber nicht auf derselben Seite, sonst könnte es ja wieContent-Marketing aussehen). Dass VKM in den Redaktionsräumen der Szene auch »einige Handelskammer-Magazine« produziert, ist ein Sinnbild dafür, wie symbiotisch die Beziehung zwischen der Zeitschrift und ihren Anzeigenkund:innen ist.5Geradezu grotesk wirkt angesichts dieses offenkundigen quid-pro-quo-Prinzips ein bierernstes Plädoyer für die Presse des Redakteurs Marco Arellano Gomes, das im August 2020 in der Szene erschien. »Die Welt droht eine zu werden, in der das Ich mehr zählt als das Wir«, klagt der Autor angesichts von Social Media und Content Marketing, und fordert die Einhaltung der »journalistischen Grundregeln«, zu denen auch gehöre, »Beiträge nicht im Austausch gegen Anzeigenbuchungen [zu] lancieren«. Ob er wohl mal eine Ausgabe der Szene in der Hand gehabt hat?
Anzeige im Novemberheft: „Dein Leben verdient ein happy END…!“ – Und was ist mit der Szene? Foto: privat
Selbstverständlich hat die Szene auch zahlreiche »Kooperationspartner«, u.a. HVV switch, Lotto Hamburg und MINI Hamburg. Die Marke MINI baut hochpreisige Kleinwagen und ist Teil der BMW AG, womit sie natürlich prädestiniert dafür ist, eine im Nachhaltigkeits-Kostüm daherkommende Online-Veranstaltung »über die Zukunft der Stadt« auszurichten. Mit dabei: Tanya Kumst, Geschäftsführerin der Szene Hamburg, und der Gastronom Sebastian Junge. Moment, kennen wir den nicht? Ach ja, der hat den u.a. von MINI Hamburg gesponsorten »Nachhaltigkeitspreis« der Szene gewonnen, wie wir in der Rubrik »Essen+Trinken« erfahren. Er setze sich für eine »wertschätzende Genusskultur« ein, heißt es in der von der Szene angeführten Begründung: »›Alles grün bei uns!‹ ist hier keine leere Worthülse, sondern gelebter Alltag. Beispiele gefällig? Sebastian Junge bezeichnet sich selbst als Aktivist für nachhaltige sowie umweltgerechte Genusskultur und kreiert mit seinem Team handgemachte Gerichte aus regionalen Zutaten, die von Produzenten stammen, mit denen das Restaurant eng und teilweise freundschaftlich verbunden ist.«
Reklamesprache auf der Höhe der Zeit
Man merkt: Hier sind die Worthülsen nicht leer, sondern prall gefüllt mit gut angedicktem Diskursbrei. Denn es finden sich in der Szene nicht nur die üblichen Phrasen vom »schnuckeligen Café« und vom Sterben als dem »letzten Streckenabschnitt des Lebens« oder tautologischer Sprachmüll wie der vom Restaurant, das durch überzeugende Kochkunst überzeugt. Nein, so wie MINI Hamburg ist auch die Szene auf dem aktuellen Stand der Reklamesprache: Alles hier ist ›nachhaltig‹ und ›regional‹, ›divers‹ und ›facettenreich‹. Das ist kein Zufall, kommen doch viele der Beiträger:innen aus Werbung und Marketing und schreiben daher nicht, sondern »texten« oder »erstellen content«.
Einer dieser Texter schreibt beispielsweise eine launige Glosse über den Tod, die witzig sein soll, aber so arm an Witz wie reich an schiefen Metaphern ist (»Da nimmt der eine oder andere die Unsterblichkeit einfach in die eigene Hand, bevor sie kalt ist.«). Am Schluss weiß man zumindest, in welchem Zustand der Autor diesen Stuss geschrieben hat: »Ich sage: Lebe so, dass deine Stammkneipe nach deinem Ableben dichtmachen kann.«
All das heißt nicht, dass das Heft nicht auch manches Interessantes enthält. Ein Beitrag über den Schriftsteller Mesut Bayraktar etwa, dessen Gastarbeitermonologe am 25. November am Schauspielhaus uraufgeführt wurden, ist zwar eine Gefälligkeitsarbeit (der Autor des Beitrags ist wie Bayraktar Teil des Literaturkollektivs nous – konfrontative Literatur), aber eine lesenswerte; Diversität ist in dem Heft, etwa bei der Auswahl der Interviewpartner:innen, mehr als nur eine Phrase; und die Filmkritiken (v.a. diejenigen von Ressortleiter Marco Arellano Gomes) sind trotz ihrer Kürze gehaltvoll und genau.
Auf Affirmation getrimmt
Wollte man das Heft aber auf einen Nenner bringen, wäre es eindeutig: Affirmation. Egal ob es um Gastronomie geht oder um den Tod, nichts möchte hier schlechte Laune machen, für Irritation oder Zweifel sorgen. Wenn einer der vielen als ›Interview‹ bezeichneten Werbebeiträge mit einem kursiv gesetzten »(lacht fröhlich)« endet, ist das für die Stimmung in diesem Heft symptomatisch. Auch die Testimonials von drei Hamburger:innen in der Rubrik »SZENEzeigen« sind weitgehend auf Affirmation getrimmt. »Für mich ist Hamburg die schönste Stadt der Welt«, sagt eingangs etwa die in Rotherbaum aufgewachsene Natascha. Und der Beitrag von John, der sein Geld als Taxifahrer verdient, schließt mit dem Satz: »Manchmal gucke ich aus dem Fenster und sage mir: Du bist im Paradies.«
Um ein gutes Anzeigenumfeld darzustellen (die Inhaberfirma verspricht »maßgeschneidertes Marketing in einem passenden Rahmen«), sendet die Zeitschrift stets eine positive ›Message‹ aus. Damit das gewährleistet ist, muss manchmal etwas herumgewurstelt werden. Etwa wenn die ehemalige FDP-Landesvorsitzende Katja Suding in der Rubrik »Gude Leude« von ihrem schwierigen Quereinstieg in die Politik erzählt und davon, »wie ich dann aber auch Fuß gefasst habe und es gut lief, es mir aber nicht so wirklich gut ging«. Vielleicht, denkt man dann, ist dieser verunglückte Satz nicht nur in sprachlicher Hinsicht charakteristisch für diese Zeitschrift, sondern auch in inhaltlicher: Es läuft gut bei der Szene, sie verkauft Hefte und Anzeigen. Aber misst man sie an ihrem Anspruch, über »gesellschaftliche Themen und stadtpolitische Entwicklungen in Hamburg« zu berichten, also journalistisch zu arbeiten, muss man konstatieren: Es geht ihr nicht so wirklich gut.
Lukas Betzler
Der Autor freut sich trotz allem jedes Mal wieder, wenn er den Szene-Werbespot im Kino sieht.
1
Eine Sammlung der kuriosesten Kleinanzeigen aus diesen und anderen Magazinen findet sich in Franz-Maria Sonner (Hg.): Werktätiger sucht üppige Partnerin. Die Szene der 70er Jahre in Kleinanzeigen, Antje Kunstmann Verlag: München 2005.
2
Christian Seidenabel: Der Wandel von Stadtzeitungen. ›Was widersteht, darf überleben nur, indem es sich eingliedert‹. Roderer: Regensburg 1994, S. 58.
3
Die im Impressum der Ausgabe 11/2021 genannte Praktikantin hat tatsächlich einen beträchtlichen Teil der Beiträge verfasst. Und dass das Schlusslektorat, wie Twickel berichtet, schon vor einiger Zeit gestrichen wurde, macht sich auch bemerkbar: Ein Beitrag zu den Hamburger Weihnachtsmärkten bricht mitten im Satz ab.
4
Tatsächlich wurde Christoph Twickel 2003 wohl vor allem wegen seiner unbequemen, nicht zu Kompromissen zugunsten von Anzeigenkund:innen bereiten Haltung als Chefredakteur gefeuert. Darüber berichtete damals unter anderem Tino Hanekamp (Link).
5
Geradezu grotesk wirkt angesichts dieses offenkundigen quid-pro-quo-Prinzips ein bierernstes Plädoyer für die Presse des Redakteurs Marco Arellano Gomes, das im August 2020 in der Szene erschien. »Die Welt droht eine zu werden, in der das Ich mehr zählt als das Wir«, klagt der Autor angesichts von Social Media und Content Marketing, und fordert die Einhaltung der »journalistischen Grundregeln«, zu denen auch gehöre, »Beiträge nicht im Austausch gegen Anzeigenbuchungen [zu] lancieren«. Ob er wohl mal eine Ausgabe der Szene in der Hand gehabt hat?
Das Bibliotheksgebäude, in dem der Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929) die letzten Jahre seines Lebens forschte, steht immer noch in Hamburg. Sein Bestand – ca. 60.000 Bände und Warburgs Aufzeichnungen – konnte 1933 nach London gerettet werden. Eine Ausstellung bringt Warburgs unvollendetes Hauptwerk, den Bilderatlas Mnemosyne, nun zurück.
Wanderstrassen der Kultur. Foto: Wootton / fluid, Courtesy The Warburg Institute
In der Heilwigstraße 116 befindet sich in einem ansonsten unauffälligen Villenviertel Hamburgs an einem Zufluss zur Alster gelegen ein Backsteinbau, über dessen Eingang der Schriftzug »Mnemosyne« prangt. Darüber stehen an der backsteinernen Außenfassade die drei Buchstaben K, B und W, als Kürzel für Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg.
Ihr Bauherr Aby Warburg, der Privatgelehrte und Spross der bis heute bestehenden lokalen Bankiersdynastie, ließ das Gebäude 1926 erbauen, um in ihr seine wachsende Bibliothek unterzubringen. Mit dem Neubau schuf Warburg eine für die damalige Zeit neuartige Institution, deren Innovationsgehalt sich sowohl in der infrastrukturellen Gestaltung als auch in der wissenschaftlichen Ausrichtung niederschlug – Kunstgeschichte sollte hier als Kulturgeschichte, mithin als breit angelegte Kulturwissenschaft betrieben werden.
Betritt man das Gebäude, sieht man, dass in den Sturz der Tür zum Bibliothekssaal ein Wort in griechischen Lettern eingemeißelt ist: »ΜΝΕΜΟΣΥΝΗ«. Dieser Begriff verweist auf Warburgs viel beachtetes und zugleich unzugänglichstes Werk, das er an diesem Ort mit seinen Mitarbeiter:innen – Gertrud Bing und Fritz Saxl – schuf: den Bilderatlas Mnemosyne. Den Begriff der Mnemosyne übernahm Warburg aus der evolutionsbiologischen Forschung zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Dort bestanden bereits Ansätze, etwa durch Richard Semon, zur Übertragung auf die Kulturgeschichte: Mneme, die griechische Muse der Erinnerung, wurde zur Namensgeberin für die Annahme eines erhaltenden Prinzips erworbener Eigenschaften im Bereich der Kultur. Warburg knüpfte an diese Annahmen an, die er mitsamt dem Begriff in seine kunstgeschichtliche Arbeit übertrug. In seiner Forschungsarbeit weitete er damit das Verständnis einer hergebrachten Kunstgeschichte aus und überführte sie in eine breitangelegte Kulturwissenschaft.
Präsentation der Bilderreihe »Urworte leidenschaftlicher Gebärdensprache« im Lesesaal der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Foto: Courtesy The Warburg Institute
Mnemosyne bezeichnet nun das Erinnern als gesamten Prozess. Mit den Mitteln der Ikonographie versuchte Warburg, ein geographisches sowie thematisches Wandern von Formen, Mustern und Stilen durch die Geschichte in Abhängigkeit zu den jeweilig herrschenden gesellschaftlichen Zuständen nachzuzeichnen. Hierzu entwickelte er mit seinen Mitarbeiter:innen den Bilderatlas Mnemosyne: Auf insgesamt 63 Tafeln wurden von Warburg und seinen Mitarbeiter:innen auf schwarzem Grund fotografische Reproduktionen arrangiert. Dabei handelt es sich um Kunstwerke aus dem Nahen Osten, der europäischen Antike und der Renaissance neben zeitgenössischen Zeitungsausschnitten sowie Werbeanzeigen. Die Tafeln des Bilderatlas stellen das zentrale Hilfsmittel innerhalb des durch Warburg entwickelten experimentellen Verfahrens zur Vergegenwärtigung der kulturgeschichtlichen Entwicklung dar. Anhand der fotografischen Reproduktionen lässt sich die Überlieferung nachvollziehen – es lassen sich Prozesse des Erinnerns anhand der Wanderung durch die Kulturgeschichte sowohl visuell darstellen als auch nachvollziehen. Zeitgenössisch ausgedrückt, richteten sich Warburgs Forschungen auf die Entwicklung einer medientheoretischen Genealogie von Bildmotiven.
In den Dienst der Erkundung des Erinnerungsprozesses stellte Warburg seine in Hamburg-Eppendorf gelegene kulturwissenschaftliche Bibliothek. Nach Warburgs Tod im Herbst 1929 von seinen Mitarbeiter:innen weitergeführt, wurden die Bestände auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach London verschifft. Dabei konnte auch das Material zu Warburgs letztem großem Projekt, dem Bilderatlas, gerettet werden. Zur Erhaltung des Bibliotheksbestands entstand in London das bis heute, auch gegen kostensparende Eingliederungsversuche der University of London, weiterhin bestehende Warburg Institute.
Wiederentdeckung des Bildmaterials
Zu Lebzeiten Warburgs nicht mehr abgeschlossen und danach mit dem Bestand der KBW von seinen Mitarbeiter:innen ins Londoner Exil verschifft, hatten die Originalabbildungen vom Herbst 1929 in ihrer Mehrzahl überlebt. Für die Nachwelt kaum nachvollziehbar, lagerten die einzelnen Abbildungen im Bildarchiv des Warburg Institute. Die Wiederentdeckung des Bildmaterials und die Ergebnisse der Rekonstruktionsarbeiten sind derzeit in einer Ausstellung in der Außenstelle der Deichtorhallen in der Sammlung Falckenberg in Harburg zu besichtigen. Erstmalig kann damit in Hamburg der geneigten Öffentlichkeit der Bilderatlas vollständig rekonstruiert präsentiert werden, was nicht allein sensationell ist, sondern den mehrfachen Besuch lohnt. Besucher:innen können anhand der einzelnen Tafeln des Atlas das Wandern der Bilder eigenständig nachverfolgen.
Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 39, rekonstruiert von Roberto Ohrt und Axel Heil 2020. Foto: Wootton / fluid; Courtesy The Warburg Institute
Kuratiert wurde die Ausstellung von Axel Heil und Roberto Ohrt sowie dem Warburg Institute in Zusammenarbeit mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt. Die Ausstellung ist noch bis zum 31. Oktober 2021 in der Sammlung Falckenberg in Harburg zu besichtigen. Weitere Informationen unter gibt es hier.
Wer es bis dahin nicht schafft, dennoch aber einmal mehr von dem Hamburger Kulturwissenschaftler und seinem Schaffen erfahren möchte, dem sei die nachfolgende Ausgabe der Deutschlandfunk Sendung Lange Nacht über den Kulturwissenschaftler Aby Warburg anempfohlen.
Fred Stiller
Der Autor lebt und lohnarbeitet in Hamburg. Er hält die Stadt und ihre Bewohner:innen im Gegensatz zu ihrer Größe für intellektuell und (sub-)kulturell mit anderen Provinzstädten vergleichbar. Dennoch schätzt er die nährenden Brotkrumen, durch welche sich die Stadt vor anderen ihrer Größe und Konstitution auszeichnet.
Im Zentrum Hamburgs übt sich eine neue Ausstellung der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung in Legendenbildung. Kann sie den Macher und Machtpolitiker Schmidt zu guter Letzt doch noch als »Superdemokraten« präsentieren? Und wie geht sie mit Schmidts Zeit als Offizier der Wehrmacht um? Unser Autor hat ihr einen kritischen Besuch abgestattet.
Der Eingang zur Ausstellung in der Hamburger Innenstadt: Welcome to Helmut! Foto: privat
Mit pandemiebedingt siebenmonatiger Verspätung wurde am 19. Juni 2021 die Dauerausstellung zu Ehren des fünften Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland in den Räumen der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung nahe dem Hamburger Rathaus eröffnet. Mit der Ausstellung, die über mehrere Jahre hier zu sehen sein soll, schreitet die vom Spiegel-Autor und Historiker Klaus Wiegrefe bereits im Zuge der Gründung der Stiftung befürchtete »Schmidtisierung der Republik« nun also weiter voran. Auch deshalb, weil die Ausstellung an ihrer eigenen Begriffslosigkeit scheitert: Unter dem Titel »Schmidt! Demokratie leben« will sie den ehemaligen Bundeskanzler als »Superdemokraten« inszenieren, hat allerdings selbst keinen Begriff von Demokratie. Hätte die Stiftung sich tatsächlich mit dem Demokratieverständnis Schmidts auseinandergesetzt, würde sie wohl kaum noch von ihm als »Vordenker« sprechen können. Von einer kritischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Person ist diese Ausstellung so weit entfernt, wie es Helmut Schmidt von einem Dasein als Intellektueller war.
In nur einem Raum mit einer Größe von circa 200 Quadratmetern werden Leben und Wirken Schmidts dargestellt. Weiterhin wirft die Ausstellung einzelne Schlaglichter auf Themen, die nach Ansicht der Stiftung innerhalb der westdeutschen Gesellschaft während der Kanzlerschaft Schmidts (1974–1982) an Relevanz gewannen. Ein ambitioniertes Vorhaben! Denn viel Platz ist das nicht für die Geschichte des 20. Jahrhunderts und Schmidts Rolle darin: Eine nuancierte und detaillierte Verhandlung der Themen wurde so von vornherein ausgeschlossen. Gegliedert ist die Ausstellung in drei chronologisch angeordnete Bereiche – das Leben vor der Kanzlerschaft, die Kanzlerschaft und die Zeit danach. Diese Bereiche heben sich visuell nicht voneinander ab, sondern werden jeweils durch Texttafeln eingeleitet. Die Unterkategorien, wie etwa Kindheit und Jugend, die RAF oder Protest gegen die Atomkraft, werden wiederum durch Großfotografien – darauf jeweils Zitate Schmidts – und sogenannte Thementische gegliedert. Die insgesamt acht Jahre Kanzlerschaft nehmen dabei fast die Hälfte des Raumes ein und bilden den inhaltlichen Schwerpunkt der Ausstellung.
100 Jahre Deutschland – 100 Jahre Helmut Schmidt
Bevor nun ein Blick in die Ausstellungsräume geworfen wird, ist es wichtig, den Titel – »Demokratie leben« – zu kontextualisieren. Denn dieser gibt nicht nur die Marschrichtung der Ausstellung vor. Er sagt uns, wie wir uns an Schmidt erinnern sollen. Neben dem Hinweis auf sein langes Leben, immerhin wurde er 96 Jahre alt, lautet die Botschaft: Helmut Schmidt war ein aufrechter Demokrat, der von der parlamentarischen Demokratie nicht nur überzeugt war, sondern diese wirklich »gelebt« habe. Die Ausstellung erinnert an und ehrt also auf eine emotionale Weise einen »Superdemokraten«. Warum die Ausstellung diesem Titel zwangsläufig nicht gerecht werden kann, hängt mit dem hier normativ verwendeten, nicht näher definierten Demokratiebegriff zusammen, der neben der Person das bestimmende Thema dieser Ausstellung zu sein scheint.
Wer war also Helmut Schmidt? Den jüngeren Menschen in der Bundesrepublik ist er wohl als kettenrauchender Welterklärer in Erinnerung. Schmidt hatte für alles eine Antwort und saß vornehmlich alleine in Talkshows, damit es bloß keinen Widerspruch gab. Den Hamburger:innen mag er noch als »Herr der Flut« in Erinnerung sein. Ein Mythos, an dem viele Medien und Schmidt selbst bis zu seinem Tod gearbeitet haben: Das Bild des »Machers«, der »Krisenmanager«, der nicht lange schnackt, sondern einfach das Richtige macht – und dem dabei auch mal das Grundgesetz egal ist. Dieses Bild des »Machers« ist wohl das beständigste Erbe des 2015 Verstorbenen. Doch sei dies, so möchte die Ausstellung zeigen, zu kurz gegriffen. Denn natürlich war er viel mehr: Ein Europäer, Pragmatiker und Realpolitiker, der für sein »oft weitsichtiges Handeln im Kontext großer internationaler Herausforderungen« bekannt sei, wie es im Einführungstext heißt – Krisenmanager, aber weltweit.
Die Wehrmacht und der Schlussstrich
Die Großfotografien sind das alles bestimmende visuelle Element der Ausstellung. Dies lässt eine Perspektive auf Helmut Schmidt zu, die sicher nicht im Sinne der Ausstellungsmacher:innen war. So fällt – noch bevor der eigentliche Ausstellungsraum betreten werden kann – ein Foto Schmidts ins Auge, das ihn im Jahr 1940 in der Uniform der deutschen Luftwaffe als Leutnant der Reserve zeigt. Schmidt war Offizier, wurde im Laufe des Krieges Oberleutnant. An der Ostfront eingesetzt, war er unter anderem an der Belagerung von Leningrad und womöglich auch an Kriegsverbrechen beteiligt. Nachweisen konnte man ihm das nie, doch seine Selbstverteidigung, die bis zu der Behauptung reichte, er sei sogar ein Gegner der Nazis gewesen, war schon immer unglaubwürdig. Selbstredend habe er auch von der Shoah keinerlei Kenntnis gehabt – dabei reiste er als Ausbilder in »Kriegsschulen« quer durch das Deutsche Reich und die im Krieg besetzten Gebiete. Wenige Meter hinter dieser Fotografie findet sich eine weitere, diesmal von seiner Vereidigung zum Bundeskanzler 1974. Von der Wehrmacht ins Kanzleramt: eine (west-)deutsche Karriere. Eine erfolgsbiografische Illusion für die Schmidt wohl nur Willen – und Zigaretten – brauchte.
Der erste Thementisch zum Wehrmachts-Foto hat es in sich. Er soll das Bild kontextualisieren, kann aber obige Erfolgsgeschichte kaum mehr einfangen. Auf die eklatanten Erinnerungslücken Schmidts weist das bereitgestellte Material zwar hin, aber es steht neben seiner Erzählung, als ob es zwei legitime Sichtweisen wären, die sich gegenseitig die Balance halten. Darüber hinaus wird der Begriff der »Pflicht« stark gemacht. Schließlich sei es soldatische Pflicht gewesen, die Stadt Leningrad zu belagern. Ein fast schon amüsanter Euphemismus für Mitläufertum, wenn es denn nicht so ernst wäre. Ein auf dem Thementisch gezeigter Film fasst dann die ganze Absurdität zusammen: Als Schmidt 1977 als erster Kanzler überhaupt nach Auschwitz zu einer Gedenkfeier anreiste, sprach er nicht über die Opfer der Shoah. Deutsche seien die ersten Opfer gewesen! Und überhaupt hätten die Deutschen 32 Jahre nach Kriegsende damit auch nichts mehr zu schaffen. Heute wäre es undenkbar, so etwas zu sagen – damals war es das auch. Nach dem Warschauer »Kniefall« von Willy Brandt sieben Jahre zuvor waren solche Worte aber offensichtlich Balsam auf die geschundene Seele der (West-)Deutschen.
Es irritiert insbesondere an dieser Stelle, dass die Stiftung Schmidts eigenes Narrativ reproduziert und als legitime Haltung darstellt. Dieser Eindruck verstärkt sich durch ein ebenfalls an diesem Tisch gezeigtes Gespräch, das zur ersten »Wehrmachtsausstellung« im Jahr 1995 im Zeit-Magazin abgedruckt wurde. So wollte Schmidt sich diese Ausstellung gar nicht erst ansehen: wiederholt betont er, nichts von den Verbrechen der Wehrmacht an der Ostfront gewusst zu haben, was er bei einer Wiederauflage des Gespräches noch einmal unterstrich. Natürlich erwartet nun niemand in dieser Ausstellung eine fundamentale Kritik an der Person Schmidts oder eine Analyse seiner nicht haltbaren Verteidigungsstrategie. Mit Begriffen wie Vernunft oder Nüchternheit, die Schmidt sich selbst attestierte und die ihm bisweilen attestiert werden (siehe die einschlägigen Biografien), hat das allerdings wenig zu tun. Denn man könnte doch meinen, dass der kantische Vernunftbegriff die Fähigkeit zur (Selbst-)Reflexion einschließt.
Kitsch statt Kritik: Im Museumsshop kehrt man lieber bei Loki und Helmut ein als vor der eigenen Tür. Foto: privat
Der »Herr der Flut« und die wilden 70er
Es folgt – nach der plötzlichen Läuterung zum Sozialdemokraten 1945 – ein etwas längerer Abschnitt in Schmidts Leben (1945–1969): Schmidt war ab Dezember 1961 Senator der Polizeibehörde (ab Juni 1962 Innensenator) und nahm vor allem eine prominente Rolle in der Nacht der Hamburger Sturmflut vom 17. auf den 18. Februar 1962 ein. Immerhin wird in der Ausstellung nicht mit dem beliebten Zitat gearbeitet, dass dem Demokraten so gar nicht zusagen würde (das mit dem Grundgesetz). Gebrochen wird der »Macher«-Mythos allerdings auch nicht, denn das Thema bleibt eine Randnotiz. Diese Marginalisierung ist befremdlich: Ranken sich doch allerlei Geschichten um dieses Ereignis.
Der Rest der Ausstellung folgt dem bekannten Muster. Eine Großfotografie zeigt Schmidt und ein Zitat. Auf dem jeweiligen Thementisch wird die Perspektive etwas geweitet, aber nie zu weit: Die Ausstellung wird durchzogen von einer kontinuierlichen Dichotomie zwischen der Position und Argumentation Schmidts und dem Rest der Welt. Gebrochen wird diese personenzentrierte visuelle Erzählung nur im Bereich der Kanzlerschaft Schmidts. Die hier gezeigten Fotografien zeigen Themen der 1970er und 1980er Jahre: Ein bisschen Wirtschaftskrise, RAF, Anti-Atom- und Friedensbewegung. Auf den Tischen bleibt jedoch die Herangehensweise: Eine historische Einordnung findet nicht statt, die Position Schmidts wird hingegen als vernunftgeleitet dargestellt. Im Umkehrschluss sind es die Gegenpositionen häufig nicht. So wird etwa am Thementisch »Deutscher Herbst« erst auf einer unteren Film-Ebene von Hans-Jochen Vogel (1974–1981 Justizminister im Kabinett Schmidt) zugegeben, dass der Staat eigentlich nie wirklich in Gefahr war. Dabei legitimierte dieses Bedrohungsszenario allerlei Politiken und eine Aufrüstung des Polizeiapparats, die in der Bundesrepublik bis dato beispiellos war. Während die Rollenverteilung beim RAF-Terrorismus wenig Spielraum lässt, verhält es sich bei den in den 1970er Jahren aufkommenden Neuen Sozialen Bewegungen schon anders. Denn hier zeigt sich, welchen Demokratiebegriff Schmidt pflegte. So konnte er zwar die Anti-AKW-Demonstrationen in Brokdorf nicht verhindern, rief aber dazu auf, nicht auf die Straße zu gehen. Auch drohte Schmidt als Kanzler mehrfach mit Rücktritt, sollte seinem Willen – Atomkraftwerke zu bauen – nicht nachgekommen werden. In Schmidts Verständnis von Demokratie war für die Sozialen Bewegungen kein Platz. Zulässige, also von ihm anerkannte Stimmen, gab es nur im Parlament und in seiner Partei. Doch auch letztere und Schmidt entfremdeten sich im Laufe seiner Kanzlerschaft zunehmend. Ein Spannungsverhältnis, dass bis zu seinem Tod nicht mehr aufgelöst wurde. Dass die Partei in der Ausstellung kaum stattfindet, scheint folgerichtig: Schmidt als überparteilicher Lenker, Denker und Welterklärer. Eine weitere Inszenierung Schmidts, die hier unhinterfragt weitergetragen wird.
Demokratie und Kritik
Nachdem auf dem letzten Kanzlertisch noch eben die Themen Europa, DDR und die restliche Welt eher wackelig abgehandelt werden, beginnt der letzte Bereich, also seine Zeit als Publizist und Mit-Herausgeber der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit. Es ist jene Lebensphase, in der Schmidt an seiner eigenen Legende arbeitete, wie der Historiker Axel Schildt 2017 feststellte. Mit diesen Aktivitäten schuf Schmidt ein Bild von sich, dem diese Ausstellung weitestgehend folgt.
Entsprechend wird sich in diesem Abschnitt auch nicht mit den rassistischen und kulturalistischen Positionen Schmidts auseinandergesetzt. Dabei sind diese Positionen nicht seiner späten Senilität geschuldet – sprach er doch bereit 1992 von einer »Überschwemmung« und »Entartung« der deutschen Gesellschaft –, sondern lassen einen roten Faden in Schmidts Politikverständnis erkennen. Würde dieser genauer untersucht, so würde sich zeigen, dass sein Weltbild nicht viel mit Nüchternheit oder Vernunft zu tun hat, ja vielmehr offenbart sich eine regelrechte Intellektuellenfeindlichkeit. Die Möglichkeit, auch diese Seiten Schmidts zu zeigen und zu diskutieren, wurde hier nicht genutzt. So kann die Ausstellung einer historisch-kritischen Einordnung der Person nicht gerecht werden, eine nüchterne Perspektive auf den fünften Bundeskanzler fehlt. Schmidts Politikverständnis blieb ein elitäres und exklusives. Die Ausstellung folgt weitestgehend dem Bild Schmidts, das dieser selbst installiert hat: ein überparteilicher Superdemokrat und Lotse (Bismarck lässt grüßen!), der die Bundesrepublik durch schwere Fahrwasser steuerte und eigentlich auch immer recht behielt – mit dieser Dauerausstellung nun auch über seinen Tod hinaus.
Lars Engelhardt, August 2021
Der Autor ist studierter Literaturwissenschaftler und als derzeit prekär Beschäftigter – unter anderem Uber-Fahrer in Teilzeit – schon länger enttäuscht von den leeren Versprechen der (Hamburger) Sozialdemokratie. Die Stadt Hamburg, so meint er, verdient Ausstellungen wie diese.