»Die Gewalt muss endlich gesellschaftlich benannt und moralisch verurteilt werden«
Allein 2023 gab es in Hamburg mindestens elf Feminizide. Offizielle Statistiken über diese Morde an Frauen oder weiblich gelesenen Personen gibt es allerdings nicht. Für eine öffentliche Reaktion sorgt das Anti-Feminizid-Netzwerk Hamburg, das für jede dieser Gewalttaten eine Kundgebung abhält und eine eigene Zählung vornimmt. Untiefen sprach mit Viola vom Netzwerk über ihre Ziele, die Zusammenarbeit mit staatlichen und linken Akteur:innen sowie die theoretischen Bezüge des Netzwerks.
Untiefen: Warum braucht Hamburg ein Anti-Feminizid-Netzwerk?
Viola: Es braucht das Netzwerk, weil es Tötungen von Frauen und weiblich gelesenen Personen gibt und weil das Problem von staatlicher Seite zu wenig angegangen wird. Man muss es einfach stärker benennen. Man muss es sichtbarer machen. Die gegenwärtigen Gesetze reichen nicht aus und auch nicht die Schutzstrukturen durch Frauenhäuser, weil es zu wenig Plätze gibt, aber natürlich schätzen wir deren Arbeit sehr. Wir hatten vor Kurzem eine Soli-Aktion am Campus der Universität Hamburg und selbst dort kam oft die Frage: »Was? Das gibt es in Deutschland?!« Das spricht schon für sich. Deshalb braucht es das Netzwerk: Um das Problem zu benennen, es braucht einen Namen.
Untiefen: Wie ist das Netzwerk entstanden? Also, wie seid ihr zu dem Thema gekommen?
Viola: Es ist vor einem Jahr entstanden, im Oktober 2022, als offenes Netzwerk aus einem Zusammenschluss von verschiedenen feministischen Gruppen und Einzelpersonen. Einen besonderen Anlass zur Gründung gab es nicht. Es war eher ein Gespräch zwischen verschiedenen sehr aktiven Feministinnen, die gesagt haben: »Es reicht.« Jeden dritten Tag geschieht ein Feminizid in Deutschland, das ist Anlass genug. Mit dem Thema befasst sich sonst niemand, auch andere feministische Gruppen nicht dezidiert, was traurig ist.
Untiefen: Ihr habt einen sogenannten »Widerstandsplatz gegen Feminizide« am Alma-Wartenberg-Platz in Ottensen ausgerufen. Wie hat sich das entwickelt und warum habt ihr euch genau für diesen Platz entschieden?
Viola: Den Widerstandplatz haben wir kurz nach unserer Gründung im November 2022 ausgerufen. Mit der Auswahl dieses Ortes möchten wir sowohl die internationalistische Ausrichtung deutlich machen, die einige von uns haben, als auch an eine lokale feministische Tradition anschließen. Alma Wartenberg wurde in der Zeit des Kaiserreichs in Ottensen (Holstein) geboren. Sie war SPD-Politikerin und vor allem Feministin, die sich besonders im Bereich Mutterschutz, Empfängnisverhütung und für sexuelle Aufklärung eingesetzt hat.
Aber: Im Netzwerk wird der Platz durchaus ambivalent gesehen, nicht alle haben einen starken Bezug dazu. Für manche im Netzwerk könnte es auch ein anderer Ort sein. Wichtig ist einfach, dass wir Raum einnehmen und das Thema Feminizide sichtbar machen. Wir würden da auch gerne noch mehr machen.
Untiefen: Du sprichst an, dass es euch auch darum geht, Raum einzunehmen und Aufmerksamkeit für das Thema zu erzeugen. Seht ihr, dass ihr damit einen Effekt auf die Stadt und auf die Öffentlichkeit habt?
Viola: Die Stadt und die Öffentlichkeit sind zwei unterschiedliche Bereiche. Insgesamt aber schon. Wir hatten gerade einen Strategietag und haben dort reflektiert, was alles bisher passiert ist. Dafür, dass wir ein Netzwerk sind, in dem so viele unterschiedliche Gruppen und Einzelpersonen zusammensitzen, ist es schon enorm, wieviel Öffentlichkeit und Aufmerksamkeit wir bisher herstellen konnten. Wir bekommen viele Interviewanfragen und zu unseren Kundgebungen kommen immer mehr Leute.
Was die Stadt betrifft: Wir sind zunehmend zu städtischen Beteiligungsrunden eingeladen. Das sind Räume, in denen auch autonome Frauenhäuser, Frauenberatungsstellen und andere Gruppierungen von städtischer, behördlicher Seite mit drinsitzen. Da werden wir dann zum Beispiel eingeladen, um uns vorzustellen. Wir haben etwa am »Runden Tisch Gewalt« teilgenommen und sind beim »Arbeitskreis Gewalt« eingeladen. Es interessiert sich natürlich keine Partei außer Die Linke dafür. Das muss man ehrlich sagen. Mit Cansu Özdemir (Die Linke-Fraktionsvorsitzende in der Hamburgischen Bürgerschaft, Anm. Untiefen) gewinnt man tatsächlich viel. Sie macht sehr viel möglich. Wenn über sie nicht regelmäßig kleine Anfragen zum Sachstand von Feminiziden gestellt werden würde, sähe die Datenlage noch sehr viel schlechter aus.
Deutlich sichtbar ist auch, dass die Presse nun versucht, anders über das Thema zu schreiben. Wir veröffentlichen nach jedem Fall eine Pressemitteilung. Die bürgerliche Presse, wie das Abendblatt und die MoPo, achten schon verstärkt auf sensiblere Sprache und haben mittlerweile den Begriff Feminizid oder Femizid übernommen. Wir müssen nicht mehr darauf hinweisen, dass es eben ein Feminizid ist und sie es so benennen sollen. Trotzdem beobachten wir weiterhin sehr unsensbile und vor allem uninformierte Berichterstattung. Das betrifft einerseits Feminizide im Alter, aber auch generell weniger prominente Formen von Feminiziden, wie z.B. Feminizide die von Rechtsextremen, Kindern oder Enkeln begangen werden. Da insbesondere bei Rechtsextremen immer misogyne Motivlagen zu beobachten sind, müssen auch diese Morde klar als Feminizid eingeordnet werden.
Wenn man eine Bewegung aufbaut, läuft es oft erstmal sehr schleppend. Jetzt haben wir aber das Gefühl, dass richtig viel zurückkommt. Uns war es immer wichtig, mit den Kundgebungen nach Femiziden für eine öffentliche Reaktion zu sorgen. Daran halten sich viele fest, von uns und von außen. Deswegen ist es wichtig, dass wir damit weitermachen. Das hat uns glaube ich auch dahin gebracht, wo wir jetzt sind. Selbst wenn es immer sehr anstrengend ist, mental und organisatorisch.
»Wir müssen die Gewalt dort thematisieren, wo sie passiert«
Untiefen: Wie du es beschreibst, kommt ihr mittlerweile von dem Punkt weg, hauptsächlich Aufmerksamkeit zu generieren und auf Begriffe hin zu weisen. Gibt es langfristige Ziele, die ihr darüber hinaus verfolgt oder die als nächstes anstehen?
Viola: Als Netzwerk aus vielen unterschiedlichen Gruppen haben wir durchaus Schwierigkeiten, uns auf einheitliche Ziele festzulegen. Was wir gemeinsam fordern, beziehungsweise verfolgen, ist ein gewaltfreies Leben für alle Menschen. Zudem wollen wir ein umfassenderes Verständnis und begleitende Forschung von Feminiziden und eine Dokumentation der Fälle. Eine weitere Sache, die uns sehr wichtig ist und für die wir uns einsetzen, ist die Präventionsarbeit. Das beinhaltet auch Bildungsarbeit, die wir mittlerweile vermehrt machen. Ebenso Veranstaltungen außerhalb linker Räume.
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Basisarbeit, was natürlich mit Bildungsarbeit einhergeht. Wir wollen da auch eine noch stärkere Vernetzung in die Stadtteile hinein. Wir tun das schon im Rahmen des »StoP«-Projekts (Stadtteile ohne Partnergewalt, Anmerkung Untiefen) Es geht uns auch darum Verbindungen zu wichtigen Multiplikator:innen in den Stadtteilen herzustellen. Wir haben als Netzwerk ein ernsthaftes Interesse daran, außerhalb unserer linken Blase aktiv zu sein. Denn es hilft nicht, wenn wir nur innerhalb unseres eigenen Kreises sprechen, dazu haben wir keine Lust mehr. Wir müssen die Gewalt dort thematisieren, wo sie passiert, sowohl innerhalb der Szene als auch darüber hinaus. Das bedeutet für uns, sich stark zu vernetzen, um ein breites gesellschaftliches Anti-Feminizid-Netzwerk aufzubauen.
Ein für uns wichtiges Ziel ist es, der Tat einen Namen zu geben. Es gibt zwar bei uns auch andere Ansätze und unterschiedliche Strafbedürfnisse. Manche fordern Gesetzesverschärfungen, für andere spielt die strafrechtliche Bewertung nicht so eine große Rolle. Aber die Gewalt, die passiert, muss endlich gesellschaftlich benannt und moralisch verurteilt werden.
Es gibt natürlich auch liberale Forderungen, die wir unterstützen, wie den Ausbau von Frauenhäusern. Wenn man aber weiß, wie massiv problematisch die aktuelle Wohnungspolitik ist, bringt diese Forderung nicht so viel. Die Frauen sollen schließlich nicht in Frauenhäusern bleiben, sondern wieder ihr sicheres Umfeld haben. Von daher braucht es pragmatische Lösungen. Es gibt aber auch den Wunsch nach anderen Schutzstrukturen, die mehr auf Selbstorganisierung setzen. Ein Beispiel dafür ist das »StoP«-Projekt, indem es darum geht, sich im Stadtteil gemeinsam zu organisieren und Hilfsstrukturen für Betroffene aufzubauen. Bei Selbstorganisierung geht es nicht um eine rechte Bürgerwehr oder so etwas, sondern zum Beispiel darum, dass wenn eine Frau bedroht ist, sie eine Nummer anruft und dann direkt drei Leute ansprechbar sind, die unterstützen. Alle müssen Verantwortung übernehmen und wir müssen anfangen Verantwortungsübernahme anders zu denken. Das ist eben nicht nur die Aufgabe des Staates ist, sondern von uns allen. Wir wollen dahin, dass es eine gesamtgesellschaftliche Reaktion gibt und Proteste auf die Straße getragen werden, wenn wieder eine Frau oder weiblich gelesene Person ermordet wird. Wir verfolgen mit unserer Arbeit einen kulturellen gesellschaftlichen Wandel, der patriarchale Machtstrukturen ernsthaft aufbricht und zerstört.
Untiefen: Es gibt also Forderungen an die staatliche Politik und an die Gesellschaft insgesamt?
Viola: Ja, genau. Die Istanbul-Konvention ist in Deutschland noch nicht richtig umgesetzt. Das ist eine Forderung, die häufig aus dem Gewaltschutz kommt, von den Beratungsstellen und den Frauenhäusern. Das ist auch für uns wichtig. Darüber hinaus braucht es eine bundesweite Zählung der Frauen*, die von ihren Partnern getötet wurden, weil es eben ein politisches Problem ist. In Hamburg macht das derzeit die Partei Die Linke. Deutschlandweit machen es vor allem verschiedene lose Gruppen. Für uns ist es mühselig, immer wieder die Medienberichte zu überprüfen: Ist wieder etwas passiert, gab es wieder einen Fall? Wir machen die Zählungen ja selbst. Das kostet sehr viele Ressourcen und es ist gar nicht immer so leicht, zu sagen, was ein Feminizid ist.
»Ein Femizid ist immer nur die Spitze des Eisbergs«
Untiefen: Daran anknüpfend: Wie definiert ihr und zählt ihr Feminizide? Wo liegen da die Schwierigkeiten?
Viola: Wir haben meistens nur die Presseberichte und keine Akteneinsicht oder ähnliches. Es gibt Fälle, die sind sehr eindeutig: Ex-Partner tötet Frau im Streit, Mann erschießt seine Frau. Da gehen wir einfach davon aus, dass es das politische Motiv gab. Also, dass sie getötet wurde, weil sie eine Frau ist. Diesen Strukturen, die dazu führen, liegt das Patriarchat zugrunde.
In Hamburg hatten wir in den letzten Monaten allerdings ein paar schwierige Fälle. Da ging es etwa um die Tötung von älteren Frauen, also der Großmutter durch den Enkel. Danach hat man allerdings einen Abschiedsbrief von der Frau gefunden, dass sie sich tatsächlich umbringen wollte, weil sie so krank war. Bisher haben wir so agiert, dass wir, wenn es ein verwandtschaftliches Verhältnis beziehungsweise irgendein Verhältnis gab, das politische Motiv und den Feminizid als gegeben angenommen haben. Wir mussten uns aber auch schonmal korrigieren. Manchmal wissen wir schlicht gar nichts, wie zum Beispiel bei der vor einigen Wochen in der Elbe gefundenen Frauenleiche. Was wir aber auf jeden Fall sagen können ist, dass Feminizide oft auch im Kontext von psychischen Krisen, der aktuellen Pflegekrise und in Verbindung mit zusätzlichen Diskriminierungen vorkommen. Auch hier braucht es eine Sensibilität für die Verschränkung verschiedener Machtbeziehungen.
Wir haben auf jeden Fall aus dem einen Jahr gelernt, dass wir genauer hinschauen müssen. Zwar sind die allermeisten Fälle klassisch: Die Tat kurz nach der Trennung; in Familienverhältnissen geht es meist um junge Frauen und die Täter sind Väter, Brüder, Söhne oder Enkel. Wir haben für uns aber festgestellt, dass es genaue Marker oder Kriterien braucht. Wir müssen gucken, ob es irgendein Beziehungs- oder Machtverhältnis gab. Wir müssen herausfinden, ob es Abschiedsbriefe oder ähnliches gab. Es ist aber nicht einfach, das Patriarchat in Kriterien aufzuteilen. Man muss den Einzelfall genau anschauen. Wir haben zuletzt viel über unser zukünftiges Vorgehen gesprochen. Wenn wir zum Beispiel nur wissen, dass eine Frau getötet wurde und es uns nicht ganz klar erscheint, ob es ein Feminizid ist, dann warten wir erstmal, bis uns eindeutigere Daten vorliegen. Diese Arbeit ist aufwendig und erfordert manchmal sogar Aktenzugang, den wir zurzeit nicht haben.
Wir haben bisher nur über die vollendeten Femizide gesprochen. In Deutschland heißt es von offizieller Seite immer »jeden dritten Tag wird eine Frau getötet«. Bei uns im Netzwerk arbeiten viele in Schutzeinrichtungen und sehen es in der Praxis: Es geschieht häufiger und wird mehrmals pro Tag versucht! Wir sollten deshalb, auch als Gesellschaft, aufhören, uns immer so auf diese Zahl zu beziehen, sondern versuchen, eine andere Zählbasis zu finden. Die Erfahrungen von Frauenhäusern, Beratungsstellen und anderer Schutzeinrichtungen müssen dafür die Grundlage sein. Die haben die Erfahrung und kennen die Gewaltdynamiken. Ein Femizid ist immer nur die Spitze des Eisbergs. Diese Erzählung von »jedem dritten Tag« wird dem nicht gerecht. Es ist keine einstellige Zahl, sondern es sind sehr viel mehr Fälle und Versuche. Das macht einfach wütend.
Untiefen: In anderen Städten in Deutschland gibt es weitere Gruppen, die diese Zählungen durchführen. Seid ihr da vernetzt?
Viola: Unser Ziel ist es, eine ernstzunehmende soziale Bewegung zu sein. Dazu gehört auch, sich bundesweit zu vernetzen. Wir sind Teil eines Netzwerks, das Deutschland, Österreich und die Schweiz umfasst. Wir tauschen uns da auch zu der Arbeit und unseren Kriterien aus. Unsere Informationen halten wir in einer Statistik fest. Das geben wir an die überregionale Vernetzung weiter und wollen dazu auch Veröffentlichungen machen, damit alle damit arbeiten können.
Die Zählung ist aber nur ein Ziel. Im besten Fall möchten wir Gewalt verhindern. Aus der überregionalen Vernetzung sind schon praktische Dinge entstanden, etwa das Toolkit »Was tun gegen Feminizid?!« oder gemeinsam eingeworbene Gelder.
Untiefen: Du hast vorhin die Zusammenarbeit mit staatlichen und bürgerlichen Organisationen erwähnt, wie gestaltet sich die?
Das fängt gerade erst an. Erstmal geht es meistens darum, dass wir unsere Arbeit vorstellen, wie etwa beim Runden Tisch zum Thema Gewalt. Bei der Partei die Linke geht es um Vernetzung und Informationen. Zum Arbeitskreis Gewalt wurden wir eingeladen, er fand allerdings noch nicht statt, weshalb wir dazu noch nichts sagen können.
»Wir können keine weiteren 50 Jahre warten«
Untiefen: Seht ihr auch eine Gefahr in der Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen? Zum einen in Hinblick darauf, dass man eingehegt wird in den staatlichen Prozess des Gewaltschutzes, wie es der Frauenhausbewegung teilweise schon passiert ist, die nun durchaus finanziell abhängig ist vom Staat. Zum anderen, dass man zum Aushängeschild der Politik werden kann, ohne dass der Staat selbst etwas unternimmt oder die Verhältnisse sich ändern?
Viola: Klar, diese Gefahr gibt es. Wir haben in unserem Netzwerk aber sehr viele kritische Personen und im Gegensatz zu Frauenhäusern sind wir vor allem Aktivistinnen. Wir können dementsprechend andere Dinge tun und sagen. Das ist ein großer Vorteil und etwas, das ich an der Arbeit im Netzwerk schätze. Natürlich geht es oft Hand in Hand: Wir sind auch auf die Zusammenarbeit mit Frauenhäusern angewiesen, aber gleichzeitig schätze ich, dass wir uns ganz anders positionieren können. Wir haben uns auch gegründet, um zu zeigen, dass dieses Thema mehr angegangen werden muss. Das es mehr braucht, als bisher getan wird. Zum einen muss da explizit der Staat in den Blick genommen werden, zum anderen geht es da um gesellschaftliche Selbstorganisierung. Das sind beides Ebenen, die wir versuchen zu vereinen.
Staatliche Kooperationen sind bei uns noch nicht sonderlich ausgeprägt. An dem Punkt, dass die Gefahr der Instrumentalisierung besteht, sind wir glaube ich noch gar nicht. Aber vielleicht sollte man das immer im Hinterkopf behalten. Wir haben uns schon die Frage gestellt, wieweit unsere Arbeit gehen kann. Bei uns im Netzwerk sind Leute aus verschiedenen, auch staatlich finanzierten Organisationen, die sind aber bei uns auch als Einzelpersonen aktiv. Und wir kritisieren dann durchaus genau deren Geldgeber. Unsere Kritik richtet sich nicht immer, aber häufig an den Staat. Wenn wir richtig ungemütlich werden, dann könnte das schwierig werden, aber so weit ist es noch nicht. Unser Fokus auf Selbstorganisation soll gerade in dem Vakuum wirken, wo der Staat versagt Schutz zu gewährleisten. Wir können keine weiteren fünfzig Jahre warten, bis der Staat das Thema ernst nimmt und Geld zur Verfügung stellt. Die Bude brennt jetzt und heute!
Untiefen: Wie gestaltet sich eure Zusammenarbeit mit anderen Akteur:innen aus der linken Szene?
Viola: Als Netzwerk vieler Gruppen sind wir uns nicht immer in allem einig. Aber wir sind uns einig in unserer Definition des Patriarchats und dass es allem zugrunde liegt. Das Angenehme an unserer Arbeit ist, dass wir sehr fokussiert am konkreten Thema »Feminizide« und Gewalt an Frauen arbeiten. Andere Inhalte lassen wir aus, weil klar ist, dass wir da unterschiedliche Einstellungen haben. Das ist in der linken Szene natürlich manchmal schwierig, weil zu bestimmten Themen Stellungnahmen eingefordert werden, selbst wenn das nichts mit unserem inhaltlichen Schwerpunkt zu tun hat. Wenn wir ernsthaft an unserem Thema arbeiten wollen und die Probleme vor Ort anschauen und angehen möchten, dann brauchen wir jede Einzelne. Da ist es oft nicht zielführend, sich an einzelnen Themen so zu zerreißen und wir müssen da intern einen Umgang finden, wozu wir uns äußern und was wir auslassen.
In der feministischen Bewegung insgesamt stehen wir vor dem Problem, dass wir viele vereinzelte Gruppen sind, die dann nicht oft oder gar nicht zusammenarbeiten. Durch unsere Vernetzung wollen wir diese Vereinzelung und Spaltung überwinden und uns trotz der Unterschiede zusammentun. Das übergeordnete gemeinsame Ziel ist es, alle Formen patriarchaler Gewalt zu beenden. Denn von dieser sind wir alle, wenn auch auf unterschiedliche Weise, betroffen.
Leider gilt das das Thema »Feminizide« scheinbar als »uncool«. Warum kriegen wir es denn nicht hin, bei Gewalt an Frauen groß und präsent zu sein? Vielleicht liegt es daran, dass das Thema nicht so ansprechend ist – und natürlich auch schwer. Es ist immerhin nicht angenehm, die ganze Zeit über den Tod zu reden.
Untiefen: Ihr bezeichnet euch selbst als Anti-Feminizid-Netzwerk, es gibt auch den Begriff Femizid: Wo liegt da der Unterschied?
Viola: Die Frage wird uns immer wieder gestellt. Erstmal ist es wichtig, dass man überhaupt einen Begriff hat. Bei uns im Netzwerk kommt es daher, weil wir stark internationalistisch orientiert sind. Das »ni« als Zusatz stammt aus der lateinamerikanischen Bewegung. Damit soll die staatliche Verantwortung noch mehr hervorgehoben werden, weil es dort noch ganz andere Strukturen gibt als bei uns. Patriarchale Gewalt gibt es überall, aber in vielen Ländern Lateinamerikas ist der Staat aktiv daran beteiligt. Hier in Deutschland ist der Staat auch an der Gewalt beteiligt, aber eher passiv.
»Die wichtige Frage ist: Wie können wir Sicherheit schaffen?«
Untiefen: Gibt es noch andere gemeinsame theoretische Bezüge und Perspektiven, die ihr in eurer Arbeit nutzt?
Viola: Gar nicht so viele. Wir sind uns einig darin, wie wir das Patriarchat definieren und wie es die Welt strukturiert und beziehen uns dazu oft auf bell hooks. Das Patriarchat ist für uns ein gesellschaftliches System, dass auf der Vormachtstellung des Mannes basiert und der Vorstellung, dass Männer von Natur aus dominant und den Schwachen überlegen sind und diese dominieren können. Frauen gelten nach dieser Logik als schwach und die männliche Dominanz wird ihnen gegenüber unter anderem durch Gewalt aufrechterhalten. Diese Machtstruktur des Patriarchats ermöglicht es erst, dass Feminizide passieren. Das Patriarchat formt alle Menschen und wird gleichzeitig durch sie getragen und stabilisiert. Geschlecht ist in diesem System maßgeblich für Gewalterfahrungen und wie stark man ihnen ausgesetzt ist. Gleichzeitig ist patriarchale Unterdrückung immer mit anderen strukturierenden Machtdimensionen wie Rassismus verschränkt. Wenn wir so denken, kommen wir natürlich manchmal an den Punkt, an dem man sich die Frage stellt: Wenn das Patriarchat allem zu Grunde liegt, ist dann nicht eigentlich jeder Mord an einer Frau ein Feminizid? Deswegen ist es so wichtig, Kategorien für Feminizide zu definieren.
Darüber hinaus haben wir ganz unterschiedliche politische Hintergründe und Orientierungen. Aber wir sind eben sehr praktisch ausgerichtet und führen keine Theoriestreits. Wir fokussieren uns auf das konkrete Problem. Was nicht bedeutet, dass man nicht unterschiedlicher Meinung sein kann.
Wir sind allerdings keine Strafrechtsfeminist:innen. Das ist eine Strömung, die verschärfte, also höhere Strafen für zum Beispiel Gewaltstraftäter gegenüber Frauen fordert. Wir wissen aber aus der Kriminologie, dass Strafen nicht der Abschreckung dienen. Man muss leider sagen, dass es tatsächlich unterschiedliche Strafbedürfnisse gibt, auch bei den Frauen, die Gewalt erfahren haben. Manche möchten, dass der Täter für immer im Gefängnis sitzt, andere möchten nur ihre Ruhe und sicher sein. Die wichtige Frage ist da: Wie können wir Sicherheit schaffen? Uns steht in unserer Gesellschaft dafür zurzeit eigentlich nur das Strafrecht zur Verfügung. Gefängnisse führen allerdings nicht dazu, dass Täter Verantwortung für ihr Handeln übernehmen oder sich selbst reflektieren.
Fest steht: Feminizide müssen als solche benannt werden. Dazu, was danach passieren soll, haben wir als Netzwerk noch keinen gemeinsamen Standpunkt. Es ist aber auch nicht an uns, die perfekten Lösungen zu haben. Wenn es uns gelingt, das konkrete Problem der Feminizide zu reduzieren, zum Beispiel durch Prävention oder durch das Aufbauen von Schutzstrukturen, dann ist schonmal viel erreicht.
Untiefen: Ist es im Patriarchat schon eine Form das System zu destabilisieren, wenn auf diese Gewalt hingewiesen wird?
Viola: Das ist für uns der erste Schritt. Den brauchen wir, um dann weiterzuarbeiten. Weitere Schritte sind Präventionsarbeit und gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Aber man kann nicht alles gleichzeitig angehen. Wir können nicht sagen, wie wir das Patriarchat stürzen können. Aber ein erster Schritt ist es zu mobilisieren, alle darauf hinzuweisen und darüber aufzuklären, dass das Patriarchat der Gewalt zugrunde liegt.
Untiefen: Spielt die Selbstermächtigung gegen die Gewalt auch eine Rolle bei der Organisierung im Netzwerk?
Viola: Die Gruppe ermächtigt schon, aber wir sprechen ja für die Frauen, die nicht mehr da sind, und für die Überlebenden. Aber wenn es nichts Empowerndes hätte, dann würden es viele von uns bestimmt nicht machen. Es kostet schon viel Kraft sich so einem Scheißthema in der eigenen Freizeit zu widmen. Die ganze Zeit über den Tod zu sprechen und für Tote zu sprechen. Wir versuchen auch, so gut es geht Angehörigenarbeit zu machen. Wir richten uns aber noch relativ wenig nach ihnen, weil wir nicht immer Zugang zu den Angehörigen haben oder manche das in dem Moment nicht schaffen und nicht sagen können, was sich die Verstorbene gewünscht hätte. Das respektieren wir, gehen aber natürlich trotzdem raus. Die Kundgebungen sind deshalb noch nicht so sehr auf die jeweiligen Personen ausgerichtet. Es ist gar nicht so leicht, zum einen immer wieder die gleiche politische Forderung zu stellen und gleichzeitig auf den individuellen Fall zu gucken.
»Die Kämpfe in Lateinamerika sind viel radikaler und lauter«
Untiefen: Kannst du kurz etwas zur Rolle des feministischen Kampfs in Lateinamerika für die Anti-Feminizid-Bewegung sagen?
Viola: Die erste große Bewegung gegen Feminizide in Lateinamerika ist in den neunziger Jahren in Ciudad Juárez in Mexiko entstanden, nachdem dort Dutzende, teilweise verstümmelte Frauenleichen gefunden worden sind. Es hat damals keine Strafverfolgung gegeben und die Medien haben Victim Blaming betrieben, anstatt das Problem ernsthaft aufzugreifen. Daraufhin haben sich Frauen zusammengetan. Das waren unter anderem Mütter von Opfern von Feminiziden aber auch Politiker:innen und Feminst:innen. Diese haben dann Proteste organisiert und in diesem Rahmen entstand dann auch die Bewegung Ni Una Más (»Keine mehr«). Eine ganze Zeit später ist 2015 in Argentinien Ni Una Menos (»Keine weniger«) in Reaktion auf dortige Feminizide entstanden. Die Bewegung in Argentinien hatte von Anfang an eine Verbindung zu der in Mexiko. Ni Una Menos wurde in Argentinien zur Massenbewegung und hat sich dann transnational verbreitet. Die lateinamerikanischen Bewegungen gegen den Feminizid haben gemeinsam, dass sie auf historisch gewachsenen Strukturen von feministischen Gruppen und Frauengruppen aufbauen können. Diese Gruppen haben sich teilweise schon in der Zeit der und als Reaktion auf die Diktaturen in den achtziger Jahren in Lateinamerika gebildet.
Untiefen: Was kann man von diesen Kämpfen für die Bewegung hier lernen?
Viola: Sie sind viel radikaler und lauter. Es werden auch einfach Dinge getan, zum Beispiel Häuser besetzt, um daraus ein Schutzhaus zu machen oder Antimonumente gegen Feminizide aufgestellt. Die Öffentlichkeit wird gestaltet, ohne das mit den Behörden abzusprechen. Es ist eine Massenbewegung entstanden, die ernsthaft den Status Quo angreift und auch eine »Bedrohung« für den Staat darstellt. Das ist für den deutschsprachigen Raum nur schwer vorstellbar. Sie nehmen auch viel mehr das Leben in den Blick: »Keine weniger«, »Keine mehr«. Das ist eben eine umgekehrte Art zu denken. Es darf keine mehr fehlen, wir brauchen alle, um uns zu schützen.
Was wir als aktuelle Anti-Feminizid-Bewegung in Deutschland von den Freund:innen und Genoss:innen in Lateinamerika lernen können, ist die Form der Mobilisierung und Organisierung und wie sie es geschafft haben, Hundertausende Menschen auf die Straße zu kriegen. Wie sie patriarchale Gewalt zu einem Thema gemacht haben, das gesamtgesellschaftlich relevant geworden ist. Wir müssen schauen, wie sie das gemacht haben, und wie es sich auf unseren Kontext anwenden lässt. Dabei geht es um die Frage, wie wir es als Linke schaffen können, zu anderen zu sprechen und auch zu uns selbst.
Es wird auch immer gerne darauf verwiesen, dass die feministischen Bewegungen in Lateinamerika es in fast allen Ländern geschafft haben, den Straftatbestand »Femizid« einzuführen. Das ist auf jeden Fall auch wichtig, um das Problem auf allen Ebenen sichtbar zu machen und zu benennen, auch auf juristischer Ebene. Das ist allerdings kein Aspekt, auf den sich unsere Kämpfe als Netzwerk konzentrieren.
Untiefen: Was lässt sich nicht von Lateinamerika nach Deutschland übertragen?
Viola: In Deutschland haben wir nicht so starke, historisch gewachsene feministische Strukturen. Eine der wichtigsten Aufgaben, die wir jetzt gerade angehen, ist die Vernetzung und damit auch die Überwindung von mindestens zwei Hindernissen in der feministischen Bewegung. Zum einen ist das der historische Bruch zwischen der Frauenbewegung der siebziger und achtziger Jahre, die auch gegen patriarchale Gewalt gekämpft hat, und den heutigen feministischen Gruppierungen. Zum anderen, wie bereits angesprochen, die Vereinzelung und interne Spaltung der aktuellen feministischen Bewegung in Deutschland.
Ein weiteres Problem in Deutschland ist das Metanarrativ, dass die Gleichheit zwischen den Geschlechtern bereits erreicht sei. Das müssen wir aufbrechen. Außerdem geht die Thematisierung patriarchaler Gewalt in Medien und Politik oft mit einer sogenannten Ethnisierung der Gewalt einher. Das bedeutet, dass Deutschland sich immer als politisch und gesellschaftlich progressiv darstellt und gesellschaftliche Probleme auf spezifische migrantische Gruppen abgewälzt werden. Dies führt zu einer Verlagerung des Problems, was nicht nur falsch ist, sondern auch zu Diskriminierung führt und die Suche nach ernsthaften Lösungsansätzen verhindert.
Interview: Elena Michel
Die Autorin lebt in Hamburg und sieht in der praktischen Ausrichtung der politischen Arbeit ein großes Potential für die feministische Bewegung.