Wie bürgerlich ist »Querdenken«?
In den letzten Wochen des Jahres 2021 erhielt der Hamburger »Querdenken«-Ableger Auftrieb und organisierte zeitweise die größten Proteste der Bundesrepublik. Lokalpresse und manch antifaschistische Gruppe sprechen der Bewegung ab, bürgerlich zu sein – womöglich sollten Kritik und Gegenprotest jedoch genau das fokussieren.

Die stetig steigende Zahl der Teilnehmer:innen bei den sogenannten Querdenken-Demonstrationen im vorweihnachtlichen Hamburg hat bei der Lokalpresse Verunsicherung ausgelöst. Samstag für Samstag formierte sich ein immer größer werdender Protestzug. Am 18. Dezember waren es dann laut Polizei 11.500 Menschen, die dem Aufruf zum »Marsch durch Hamburg« unter dem Motto »Frei sein« folgten. Das Abendblatt berichtete und zitierte eine »Einschätzung der Behörden«, derzufolge der Protest einen »insgesamt ›bürgerlichen‹ Charakter« habe. »Tatsächlich«, wie es mit einigem Erstaunen im Artikel weiter hieß, sahen die Protestierenden auch wirklich so aus. Für die Hamburger Morgenpost passte die schmerzhafte Erkenntnis, dass »ausgerechnet Hamburg, die Stadt des nüchternen Pragmatismus, jetzt zur Hauptstadt der deutschen Corona-Proteste« geworden sei, »kein Stück ins Bild«. Während das Abendblatt hinter die Fassade blickte und meinte, dass die Parolen alles »andere als bürgerlich« seien, ließ die Mopo einen Hirnforscher zu Wort kommen. So als sei die auf die Straße getragene Irrationalität nicht Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern tief in die Natur des Menschen eingeschrieben.
Verunsichert ist offensichtlich auch die linksradikale Szene der Hansestadt: Der Gegenprotest fällt bislang nicht nur überraschend klein aus, sondern hat scheinbar auch nur die gegen tatsächliche Naziaufmärsche erprobten Aktionsformen und Parolen parat.
In der Tat ist es verunsichernd, was dort Samstag für Samstag in einem immer größer werdenden Umzug durch die Straßen der Hamburger Innenstadt zieht. Eine merkwürdige Melange aus Karneval und Esoterikmesse, aus Neonazis und Hippies, Evangelikalen und Kleinunternehmer:innen. Die noch größere Merkwürdigkeit besteht jedoch darin, dass der Protest gerade auch das ist, was er nach Ansicht der Hamburger Lokalpresse und Teilen der antifaschistischen Gruppierungen nicht sein soll: bürgerlich. Der Soziologe Oliver Nachtwey hat mit Kolleg:innen im Jahr 2020 eine Studie zu den Coronaprotesten in Deutschland und der Schweiz veröffentlicht. Demnach ordneten sich die Teilnehmer:innen zu einem Großteil der Mittelschicht zu, sind berufstätig und weisen überdurchschnittlich hohe Bildungsabschlüsse auf. Einem Beobachter des Hamburger Querdenker:innenmilieus zufolge, den die Redaktion Untiefen befragte, lassen sich diese Ergebnisse recht gut auf die hiesigen Proteste übertragen. Wer selbst einmal am Rand besagter Protestumzüge gestanden hat, wird das bestätigen können. So waren Untiefen-Redaktionsmitglieder, die seit mehr als einem Jahr die Coronaproteste beobachten (und gegen sie demonstrieren), überrascht, dass die Selbstbezeichnung des Protestes als »bunt« nicht nur eine Worthülse war.

Es sind also durchaus Teile der viel beschworenen Mitte der Gesellschaft, die sich hier im »Widerstand« wähnen – als »rote Linie« gegen die »Corona-Diktatur«. Der Kritik und dem Gegenprotest ist somit offenbar wenig geholfen, wenn die Proteste ohne Weiteres als rechtsextremes Phänomen verstanden werden. Skurril wurde es etwa am 18. Dezember, als nicht nur wieder einmal Querdenker:innen den antifaschistischen Gegendemonstrant:innen ihr »Nazis raus!« zurückgaben, sondern vom Lautsprecherwagen dröhnte, dass die Antifa durch ihren Vergleich die NS-Verbrechen relativiere. Die Querdenker:innen grundsätzlich als »Nazis« oder »Faschos« anzusprechen trifft weder sie selber noch die Sache.
Die Bezeichnung »bürgerlich« hingegen verharmlost die Proteste nicht zwangsläufig. Richtig verstanden weist sie auf ihren Kern hin: autoritäre Ideologien, die in der deutschen Gesellschaft weit verbreitet sind. Entgegen der politischen Idealisierung der »Mitte« als Stabilitätsanker der Demokratie ist es angezeigt, immer wieder den »Rechtsextremismus der Mitte« (Oliver Decker) zu benennen, der sich anlässlich der staatlichen Corona-Politik nun neu formiert. Dass die allermeisten Teilnehmer:innen nicht rechtsextrem organisiert sind und das wohl auch nicht mit sich vereinbaren könnten, hindert sie nicht daran, ominöse Weltregierungen, Pharmalobbys oder bestimmte Milliardäre kryptoantisemitisch für die Pandemie, Bevölkerungskontrolle und gar gezielten Massenmord verantwortlich zu machen. Der Mobilisierung hilft es vielmehr, dass für die Hamburger Querdenker:innen nicht anstößige rassistische oder nationalistische Thesen zentral sind.

Querdenkendemos am 18.12.2021… 
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…und 15.8.2020. Fotos: privat
Stattdessen steht neben Kritik an den Einschränkungen für Ungeimpfte und der sich abzeichnenden Impfpflicht (»Frieden, Freiheit, Selbstbestimmung«) der Schutz von Kindern vor der vermeintlich unsicheren Corona-Impfung im Vordergrund (»Hände weg von unseren Kindern«). Dafür sind laut unserem Beobachter unter anderem Gruppen des verschwörungstheoretischen Netzwerkes »Eltern stehen auf« verantwortlich, die schon 2020 gegen die Maskenpflicht an Schulen mobilisierten, teilweise mit haarsträubenden Gruselgeschichten von Atemnot und Erstickungstod. Kinderschutz ist in der BRD schon lange ein Thema, mit dem autoritäre Strafbedürfnisse mobilisiert werden können (»Todesstrafe für Kinderschänder«; gegen »Frühsexualisierung«). So überrascht es nicht, dass auch bei »Eltern stehen auf« aus diskutablen Bedenken gegenüber den staatlichen Corona-Maßnahmen schnell ein allgemeiner Vorwurf der »Kindesmisshandlung« wird, die auf satanische und pädophile Eliten oder gleich einen »neuen Faschismus« hindeute – gegen dessen Schergen natürlich auch handgreiflicher Widerstand als legitim gilt. Die begleitenden konservativen Vorstellungen von unschuldiger Kindheit, natürlichen Geschlechterrollen, Mutterinstinkten und männlichen Beschützern können weit über das klassische rechte Publikum hinaus mobilisieren, wie Larissa Denk vom Beratungsnetzwerk Hamburg in einer jüngst erschienenen Expertise (S. 26) herausarbeitet.
Die sichtbare Kritik an den staatlichen Corona-Maßnahmen wird so an vielen Stellen mit altbekannten und weit verbreiteten autoritären Ideologien artikuliert. Das ist nicht allein die Folge des linken Versagens, eine überzeugende Kritik der staatlichen Pandemiepolitik zu entwickeln. Vielmehr begünstigt das ideologische Feld selbst die Regression. Den Corona-Protesten gelingt etwas, das emanzipatorischer Organisation grundsätzlich verwehrt ist. Mit ihren Verschwörungsmythen sprechen sie antimoderne und antiaufklärerische Bedürfnisse an und bringen so Menschen zusammen, die objektiv verschiedene Interessen und oft sogar auch konträre politische Ansichten haben. Diese ermutigende Erfahrung, Teil einer wachsenden Bewegung zu sein, öffnet politisch unerfahrene und unorganisierte Kleinbürger:innen für die Mobilisierung durch rechte Strukturen (Telegram-Gruppen, Verschwörungsideologie-Netzwerke, AfD).
Das kann womöglich auch den nur verhaltenen Gegenprotest erklären. Denn dass von den Querdenken-Demonstrationen ähnlich unmittelbare Gefahr wie von Nazi-Aufmärschen ausgeht, glauben wohl nur wenige. Gegen die überraschend heterogenen Milieus, in denen sich das Autoritäre derzeit formiert, sind jedoch noch keine überzeugenden politischen Strategien zur Hand. Dazu kommt die mittlerweile empirische Gewissheit, dass die Querdenker:innen mit ihrer Leugnung der Pandemie und der Gegnerschaft zur Impfung eine absolute Minderheit darstellen und man also mit der Mehrheitsgesellschaft im Rücken demonstriert. Das wird manche dazu führen, gegen den geschlagenen Gegner gar nicht erst loszuziehen – anderen mag die faktische Gemeinsamkeit mit dem Staat unbequem sein.
Teilt man die Einschätzung, dass die Corona-Pandemie nur als Kristallisationspunkt für autoritäre Ideologie fungiert, könnte eine antifaschistische Antwort sein, diese Ideologien und die entsprechenden Netzwerke – von »Eltern stehen auf«, über die »Ärzte für Aufklärung« bis hin zu »QAnon« – stärker in den Blick zu nehmen. Es hieße, die Kritik näher an das beobachtbare Phänomen heranzurücken und den Gegenprotest nicht mit den althergebrachten Parolen und Transparenten zu gestalten. Im gleichen Atemzug müsste diese Kritik den bürgerlichen Stimmen, wie sie in Mopo und Abendblatt zu finden sind, vorführen, dass die Externalisierung des Protests als unbürgerlich, pathologisch oder Ähnliches wiederum ein identitäres Ticket darstellt. Es gibt nicht nur das trügerische Gefühl, auf der richtigen Seite zu stehen, sondern verschleiert darüber hinaus vor allem jene Verhältnisse, die den Protesten zugrunde liegen – die autoritären Sehnsüchte der sogenannten bürgerlichen Mitte.
Redaktion Untiefen, Dezember 2021.

























