Ein Ohr für die Forschung
Für nur ein Wochenende im März war in Hamburg eine Ausstellung des Künstlers Gerrit Frohne-Brinkmann zu sehen. Seine Installationen waren der Vacanti-Maus gewidmet. Hätte man diesem skurrilen Hybridwesen nur besser gelauscht: Während nur wenige Meter entfernt die Impfgegner:innen marschierten, ließ sich von den Mäusen etwas von falscher Wissenschaftsfeindschaft erfahren.
1997 veröffentlichte eine Forschungsgruppe aus Massachusetts um den Mediziner Joseph P. Vacanti die Ergebnisse ihrer mehrjährigen Forschung. Dem Team war es gelungen, auf dem Rücken von Mäusen Knorpelgewebe in Form einer menschlichen Ohrmuschel zu züchten. Das war eine wissenschaftliche, vor allem aber auch eine öffentliche Sensation: Denn die Earmouse, auch unter dem Namen Vacanti-Maus bekannt (es war wohl eine ganze Schar solcher Mäuse vonnöten, deshalb hat die Maus keinen Eigennamen wie das Klonschaf Dolly), bot einen bizarren, ja verstörenden Anblick.
Unheimlich und verstörend war diese Maus, weil da ein normal großes menschliches Ohr auf dem Rücken einer kleinen, nackten, rotäugigen Maus ›wuchs‹. Dieses Gewächs, über dem sich die dünne Mausehaut spannte, konnte nicht hören, war aber unverkennbar eine hochartifiziell geformte menschliche Ohrmuschel. Die Maus fungierte als Bioreaktor für dieses nichthörende Ohr – ein lebendes Medium, das ein ›Ersatzteil‹ bis zu seiner Entnahme spazieren trägt. Die Entnahme des gezüchteten Knorpelgewebes ließe sich zwar auch ohne eine Tötung des Mediums durchführen, doch ging es der Vacanti-Maus wie allen anderen Labormäusen auch: Sie wurde verbraucht bzw. »geopfert«, wie es in einem Paper der Forschungsgruppe hieß.[1]
Die Earmice und das an ihnen erstmals erfolgreich angewandte Verfahren bevölkern seitdem das kollektive Imaginäre auf der ganzen Welt. So ließ etwa Stelarc, ein zypriotisch-australischer Künstler, ab 2006 über zehn Jahre lang, von einigen Operationen begleitet, ein linkes menschliches Ohr auf seinem Arm wachsen. Stelarcs Absicht war es, das Ohr mit dem Internet zu verbinden und es so weltweit ›senden‹ zu lassen, was es an dem Ort ›hört‹, an dem sich sein Medium – der Künstler Stelarc – aufhält. Auch dieses knorpelige künstliche Ohr konnte natürlich nicht eigenständig hören, aber es war mit einem technischen Aufnahmegerät ausgestattet. Das Ohr darum herum war ›nur‹ Kunst.
Ohrmäuse aus Keramik
25 Jahre nachdem die Vacanti-Maus zur weltweiten Sensation wurde, widmete der Hamburger Künstler Gerrit Frohne-Brinkmann ihr nun eine Ausstellung im Projektraum ABC. Benannt nach der gleichnamigen Straße in der Neustadt, ist der Ort ABC – wie so viele Projekträume – eine Zwischenraumnutzung. Das Gebäude, ein Commerzbank-Investment-Piece aus den Neunzigern, passt zeitlich gut zur Vacanti-Maus. Am 12. und 13. März tummelte sich dort eine große Familie keramischer Mäuse auf dem Fußboden. Sie sind haarlos und rosa wie die nackten Vacanti-Mäuse. Und wie die Vacanti-Mäuse tragen sie alle ein menschliches Ohr auf dem Körper. Es scheint sie nicht zu stören.
Drei der Mäuse sitzen in übergroßen Muscheln, keramischen Fantasien von Meeresschneckengehäusen, an der Wand. Von dort tönt ein weißes Rauschen. Es sind jedoch nicht die Muscheln, die hier rauschen, sondern die Mäuse, besser wohl: die menschlichen Ohrmuscheln auf ihren Rücken. Die Mäuse sind verkabelt, so dass sie entgegen ihrer üblichen Aufgabe – und in entgegengesetzter Richtung zum ›Ohr‹ auf Stelarcs Arm – Schall senden. Sie empfangen nichts. Mit derlei Gangart- und Richtungswechseln ist bei Ausstellungen des 1990 geborenen Frohne-Brinkmann, der an der HFBK studierte, stets zu rechnen.
Keramische Formen, die stark unterschnittig sind, also negativ, konkav nach innen gewölbt, lassen sich nur mit großem Geschick modellieren. Das menschliche Ohr ist eine maximal komplizierte Form, sei es als Skulptur oder als gezüchtetes Ersatzohr (Ohren werden, weil sie so kompliziert zu modellieren sind, mittlerweile tatsächlich wie bei Stelarc an unauffälliger Stelle am Körper der Patient:innen nachwachsen gelassen, nachdem sie zuvor im Labor initial angezüchtet wurden).
Genauso wie das nachgezüchtete gehörlose Ohr ist auch die Form einer Meeresschnecke nur mühevoll zu modellieren, eben wegen ihrer Unterschnittigkeiten. Als keramischer Hohlkörper erzeugt die Form dann aber zweifellos auch ohne Verkabelung und künstliche Schallquelle das bekannte ›Meeresrauschen‹, das man hört, wenn man ein Meeresschneckengehäuse oder eine Muschel an sein Ohr legt. Dieses Rauschen ist allerdings weder die eingefangene Aufnahme eines Südseeurlaubs noch das akustisch verstärkte Fließgeräusch des eigenen Bluts, wie häufig angenommen wird. Vielmehr entsteht es, weil die Muschel die Umgebungsgeräusche aufnimmt, verstärkt und als undifferenziertes Rauschen wieder nach draußen sendet (also wieder in umgekehrter Richtung zur menschlichen Ohrmuschel, die den Schall aufnimmt und ihn, wenn sie denn hören kann, über das Trommelfell nach innen ans Gehirn weitergibt).
Die Maus als Schnittstelle zwischen Mensch und Natur
Die keramischen Ohrmäuse, die in den Meeresschnecken sitzen und das weiße Rauschen versenden, sind über ihre sehr langen Schwänze an die Kabelage hinter der Fußleiste angeschlossen. Auch die anderen Mäuse haben einen Kabel-Schwanz, bei ihnen ist er allerdings in normaler Mäuselänge abgeschnitten. Damit erinnern die Mäuse an eine der wohl wichtigsten Schnittstellen zwischen Mensch und Maschine seit der Erfindung des Personal Computer: die Computermaus. Zu Earmouse-Zeiten hatte sich die heute auf beinahe jedem Schreibtisch zu findende Funktechnologie noch nicht durchgesetzt. Die meiste Zeit seit ihrer Erfindung in den 1960er Jahren hatten alle Mäuse einen ›Kabelschwanz‹, und so haben schon die Erfinder:innen der »X‑Y-Positionsanzeige für ein Anzeigesystem« (so die Bezeichnung der Patentanmeldung 1963) sie »Maus« getauft. Wäre sie damals bereits durch eine Funkverbindung ohne Schwanz ausgekommen, hätte man sie vermutlich Hamster genannt.
Während die Computermaus als Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine dient, bewegen sich medizinische Forschungen mit Labortieren an einer Schnittstelle zwischen Mensch und Tier. Seit Jahrzehnten forscht die Transplantationsmedizin an den Möglichkeiten, wie Tiere zu Bioreaktoren für funktionierende Organe werden können, also wie sie mehr sein können als Träger tauber Ohren aus Knorpelzellen. So tragen inzwischen spezielle, genetisch manipulierte Schweine transplantierbare Herzen spazieren – mit dem im Vergleich zur Ohrmaus entscheidenden Unterschied, dass dieses Herz zuerst für das Schwein arbeitet und nicht irgendwo auf seinem Rücken als Extraposten wächst.
Die mit großer öffentlicher Aufmerksamkeit verfolgte Transplantation eines Schweineherzens in einen menschlichen Patienten am 7. Januar 2022 schien zuerst geglückt zu sein. Zwei Monate nach dem Eingriff jedoch starb der Mann, der das Implantat erhalten hatte. Vorerst ist das Experiment also gescheitert. Dennoch werfen derartige Xenotransplantationen für die Forschenden und für die Patient:innen schon jetzt die irrsten Fragen auf. Nicht zuletzt: Was bedeutet es, den Tod eines Säugetiers zu billigen, um selbst weiterleben zu können? Anders als bei Menschen, die einen Organspendeausweis besitzen, sich im Fall ihres Todes also bereiterklären Organe abzugeben, werden diese Schweine dezidiert als Organspender gezüchtet. Die an menschlichen Zwecken ausgerichtete Schweinezüchtung ist dabei kein Skandal, sie dient seit Jahrhunderten der Kotelett- und Wurstproduktion. Bemerkenswert ist aber der Transfer lebendiger Organe vom Tier zum Menschen – nicht als Nahrung, sondern als funktionale Inkorporation eines lebenswichtigen Organs. In Vorbereitung der Xenotransplantation vom Januar 2022 wurden etliche Gespräche mit religiösen Oberhäuptern diverser Konfessionen geführt. Sie alle stellten das gerettete Menschenleben über das Tierwohl.
Aufklärungsfeindschaft gestern und heute
Die Earmouse des Jahres 1997 brachte viele erbitterte Wissenschaftsgegner:innen auf den Plan, die »Gottes Schöpfung« in Gefahr sahen. Eine große Anzeige des Turning Point Project, eines Zusammenschlusses von mehr als 60 NGOs, warnte mit einem Foto der Earmouse vor (roter) Gentechnik und titelte: »Who plays God in the 21st Century?« Sie suggerierte fälschlicherweise, dass die abgebildete Maus genetisch modifiziert sei, und setzte ganz auf den schockierenden Effekt ihres Frankenstein-haften Aussehens. In einem menschlichen Ohr auf dem Rücken einer Maus meinte man den Inbegriff der zombification, der monströsen Selbstüberschätzung der Medizin erkennen zu können. Auch ohne großformatige Anzeigen verbreitete sich das Bild der Earmouse daher wahnsinnig schnell – dank ihrer verkabelten Verwandten, der Computermaus. Internetnutzer:innen verschickten das Bild massenhaft und häufig gänzlich dekontextualisiert per E‑Mail.
Eine verzerrte Spiegelung durch die Jahrzehnte zeigt uns eben diese Menschen heute als sogenannte »Impfgegner:innen«. Ihnen erscheint das (weiße) Rauschen des Internets als Rauschen ihres Bluts, ihres eigenen, heiligen, gesunden Körpers. Diese Überzeugung versenden sie, mit einer mittlerweile kabellosen Computermaus im WWW herumklickend, gerne nach außen – nur noch selten via E‑Mail, umso öfter aber in den Echokammern von Telegram-Gruppen und Youtube-Kanälen. Sie tun das im Glauben, es sei ihr eigener Gedanke, der da tönt, dabei sind sie nur eine die Außengeräusche verstärkende Hohlform – leere Muscheln (oder einfach Hohlköpfe).
Die Impfung wird von diesen Menschen abgelehnt, weil sie in die einzelnen Körper eindringt. In dieser Hinsicht gleicht die Impfgegnerschaft der Ablehnung von Xenotransplantationen oder eben der Transplantation eines auf dem Rücken einer Maus gezüchteten Ohrs. Dabei lässt sich beobachten, dass der Widerstand gegen derartige Operationen nicht aus ethischen Überlegungen, aus Sorge um das Tierwohl erwächst, sondern aus Angst um die Integrität des eigenen Körpers; im Fall der Impfungen obendrein abgemischt mit Sorgen um Selbstbestimmung, Misstrauen gegenüber Behörden und der Sehnsucht nach einer soliden Volks‑, also Infektionsgemeinschaft, die, so die Wunschvorstellung, als Herde insgesamt immun werden möge. Wir halten uns da lieber an die Mäuse: Sie sind zwar durchaus gesellig, aber Herdentiere sind sie nicht – ob mit oder ohne Ohr auf dem Rücken.
Nora Sdun, April 2022
Die Autorin gründete vor 18 Jahren zusammen mit Gustav Mechlenburg den Textem Verlag. Im Dezember 2016 erschien dort der Band All in, der eine Auswahl performativer Arbeiten Gerrit Frohne-Brinkmanns dokumentiert.
[1] In Nowosibirsk wurde 2013 ein Denkmal enthüllt, das den Labormäusen und ‑ratten, diesen so unsichtbaren wie unermüdlichen Streiter:innen für Aufklärung und wissenschaftlichen Fortschritt, gewidmet ist.