Kühne+Nagel: Logistiker des NS-Staats
Kühne + Nagel ist eines der größten Logistikunternehmen der Welt. Die entscheidende Grundlage dafür schuf die Beteiligung des Unternehmens an NS-Verbrechen – und seine ›Arisierung‹ im Jahr 1933. Während in Bremen nun ein Mahnmal entsteht, gibt es in Hamburg bislang keine Praxis des Erinnerns.
Bremen erhält einen neuen Gedenkort: ein Mahnmal zur Erinnerung an die systematische Ausplünderung der europäischen Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus – und an die maßgebliche Beteiligung von Bremer Logistikunternehmen an diesem Verbrechen. Initiiert wurde das Mahnmal vom ehemaligen taz-Redakteur und heutigen Geschäftsführer der Heinrich-Böll-Stiftung Bremen, Henning Bleyl. Als 2015 auf dem Bremer Marktplatz mit viel Pomp das 125-jährige Bestehen des Logistikunternehmens Kühne + Nagel (K+N) gefeiert wurde, begann er, zur NS-Geschichte des Unternehmens zu recherchieren und zu publizieren.1Alle seit 2015 von Bleyl und anderen Autor:innen in der taz erschienenen Beiträge sind in einem umfassenden Dossier versammelt, das einen hervorragenden Überblick über die Causa Kühne + Nagel verschafft.
Bleyl und seine Mitstreiter:innen forderten ein Mahnmal für die Verbrechen, an denen K+N beteiligt war, und erzwangen so eine Auseinandersetzung der Politik und der Öffentlichkeit mit dem lange Zeit beschwiegenen Thema. Nun, sieben Jahre später, gegen viele Widerstände und nach langwierigen Auseinandersetzungen vor allem um den Standort, materialisieren sich diese Bemühungen: An den Weser-Arkaden in Sichtweite der 2020 neu errichteten Deutschland-Zentrale von K+N soll in Kürze mit dem Bau des Mahnmals nach einem Entwurf von Evin Oettingshausen begonnen werden. Spätestens 2023 soll das Mahnmal eingeweiht werden.
Willige Vollstrecker und Profiteure der ›Arisierung‹
Dort, wo jetzt der Neubau steht, befand sich seit 1909 die Zentrale des 1890 in Bremen gegründeten Unternehmens Kühne + Nagel. Innerhalb kurzer Zeit war das Unternehmen zu einem bedeutenden Transport- und Logistikkonzern aufgestiegen und hatte Niederlassungen in zahlreichen deutschen Städten gegründet, darunter auch in Hamburg. 1932 starb der Firmengründer August Kühne; seine beiden Söhne Alfred und Werner übernahmen das Geschäft. Unter ihrer Leitung war das Unternehmen dann an NS-Verbrechen beteiligt, insbesondere an ›Arisierungen‹. Die von den Nazis so bezeichneten Verbrechen umfassten nicht nur die Verdrängung von Jüdinnen und Juden aus ihren Unternehmen, Berufen und Wohnungen, sondern auch den systematischen Raub jüdischen Eigentums in ganz Europa.
K+N war an diesem Raub insbesondere in Frankreich, Belgien und den Niederlanden in beträchtlichem Ausmaß beteiligt. Das Unternehmen transportierte im Rahmen der sogenannten ›M‑Aktion‹ der ›Dienststelle Westen‹ Raubgut (vor allem Möbel) aus den Wohnungen deportierter oder geflohener Jüdinnen und Juden nach Deutschland. In diesem wahrscheinlich größten Raubzug der jüngeren Geschichte wurden zwischen 1942 bis 1944 etwa 70.000 Wohnungen geplündert, davon wohl etwa die Hälfte mit Hilfe von K+N. In Deutschland wurden die Möbel günstig an ›Volksgenossen‹ weiterverkauft oder versteigert. »Zwischen 1941 und 1945 verging in Hamburg kaum ein Tag, an dem nicht Besitz von Juden öffentlich versteigert wurde«, schrieben Linde Apel und Frank Bajohr 2004.
So profitierten unzählige ›ganz normale Deutsche‹ von den systematischen Plünderungen, die ihnen günstig Hausrat verschafften. Ganz besonders profitierten aber der NS-Staat, der mit den Erlösen zur Finanzierung von Krieg und Judenvernichtung beitrug, und das Unternehmen K+N, das für seine Dienstleistungen gut bezahlt wurde. K+N verdiente somit unmittelbar an der Entrechtung, Verfolgung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden.2Auch an der erzwungenen Flucht selbst verdiente K+N als Transportdienstleister für das Hab und Gut der Ausreisenden. Davon zeugt u.a. ein Plakat von 1935 im Bestand des Deutschen Historischen Museums.
Wie der Historiker Johannes Beermann-Schön betont, waren die deutschen Logistikunternehmen, unter denen K+N sich während des NS eine Quasi-Monopolstellung erkämpfte, dabei nicht bloße Handlanger, sondern willige Vollstrecker. Ihr Vorgehen sorgte für eine Verschärfung und Beschleunigung der Entrechtung und der Ausplünderung Deportierter, urteilte er in einem 2020 erschienenen Beitrag.3Vgl. Johannes Beermann-Schön: Taking Advantage: German Freight Forwarders and Property Theft, 1933–1945, in: Christoph Kreutzmüller, Jonathan R. Zatlin (Hg.): Dispossession. Plundering German Jewry, 1933–1953, Ann Arbor/Michigan 2020, 127–147, 142. Ein solches Engagement wurde vom NS-Staat nicht nur gut bezahlt, sondern auch symbolisch honoriert: K+N erhielt 1937 und von 1939 bis zum Kriegsende ein »Gaudiplom« als »Nationalsozialistischer Musterbetrieb«.
Entrechtet, enteignet, ermordet:
Adolf und Käthe Maass
Dass Alfred und Werner Kühne deutlich mehr waren als opportunistische Profiteure, zeigt nicht nur ihre Kollaboration mit dem NS-Staat im Rahmen der ›M‑Aktion‹. Ihr Vater, der Unternehmensgründer August Kühne, hatte 1902 seinen vormaligen Lehrling Adolf Maass mit dem Aufbau einer Hamburger Niederlassung betraut und ihn aufgrund seines großen Erfolgs bei dieser Aufgabe schon 1910 zum Teilhaber des Unternehmens gemacht. Ab 1928 hielt Maass 45 Prozent der Anteile am Hamburger Zweig von K+N. Nach August Kühnes Tod und der Übernahme des Geschäfts durch seine Söhne war für den jüdischen Teilhaber aber kein Platz mehr bei K+N. Im April 1933 wurde er von den Kühne-Brüdern mittels eines Knebelvertrags aus dem Unternehmen gedrängt. Wenige Tage nach dieser ›Arisierung‹, am 1. Mai 1933, traten Alfred und Werner Kühne in die NSDAP ein.
Der vormalige Teilhaber Maass blieb in Deutschland und wurde Gesellschafter eines Importunternehmens. Doch die sich verschärfende antisemitische Gesetzgebung drängte ihn auch hier aus dem Unternehmen und raubte ihm zudem einen beträchtlichen Teil seines Vermögens. Nachdem Maass im Gefolge der Pogromnacht vom 9. November 1938 für mehrere Wochen im KZ Sachsenhausen interniert worden war, planten er und seine Frau Käthe die Emigration. Doch der Beginn des Kriegs vereitelte diese Pläne. 1942 wurden Adolf und Käthe Maass nach Theresienstadt deportiert. Von dort wurden sie 1944 nach Auschwitz verbracht, wo sie vermutlich Anfang 1945 ermordet wurden. In der Blumenstraße in Hamburg-Winterhude, in der die beiden wohnten, bis sie ihr Haus 1941 weit unter Wert verkaufen mussten, erinnern seit 2006 zwei Stolpersteine an sie. In der Hamburger Öffentlichkeit sind ihre Namen jedoch weitgehend vergessen.
Der ›wundersame‹ Wiederaufstieg von
Kühne + Nagel
Alles andere als vergessen ist hingegen der Name Kühne: Dass er gerade in Hamburg so präsent ist, verdankt sich vor allem dem öffentlichen Auftreten des Multimilliardärs und heutigen K+N‑Eigentümers Klaus-Michael Kühne, dem Sohn und Alleinerben Alfred Kühnes. Kühne, geboren 1937 in Hamburg, ist der Zeitschrift Forbes zufolge die zweitreichste Einzelperson in Deutschland und verfügt über ein Vermögen von geschätzten 32 Milliarden Dollar.
K+N, an dem Kühne die Mehrheit der Anteile hält, ist einer der zehn umsatzstärksten Logistikkonzerne der Welt. Über die Kühne Holding AG hält Kühne außerdem große Anteile an Transportunternehmen wie Lufthansa und Hapag-Lloyd sowie an Immobilienprojekten wie dem in Hamburg im Bau befindlichen Elbtower. Als Sponsor der Elbphilharmonie, der Staatsoper und des Harbourfront Literaturfestivals, als langjähriger Großinvestor des HSV und als Gründer der privaten Kühne Logistics University (KLU) hat er immensen Einfluss auf die Hamburger Politik und Gesellschaft. Seit 2010 verleiht außerdem der von Kühne gestiftete und, gewohnt unbescheiden, nach ihm selbst benannte Literaturpreis für das beste deutschsprachige Romandebüt seinem Namen Glanz.
Doch wie kam Kühne zu derartigem Vermögen, Einfluss und Ansehen? Um dieser Frage nachzugehen, muss man die Nachkriegsgeschichte der BRD in den Blick nehmen. Klaus-Michael Kühnes Vater Alfred Kühne galt nach dem Zweiten Weltkrieg zunächst als belastet, wurde dann allerdings unter fragwürdigen Bedingungen entnazifiziert. Grund dafür war offenbar, dass sein weitverzweigtes Unternehmen als Tarnfirma eine Rolle bei der Etablierung des BND spielen sollte. Durch diese Entlastung konnte Alfred Kühne an seine Tätigkeit als Logistikunternehmer während des Nationalsozialismus nahezu nahtlos anknüpfen. Durch die NS-Geschäfte hatte Kühne nicht nur ein beträchtliches Vermögen erwirtschaftet, sondern war auch europaweit vernetzt. Diesen Wettbewerbsvorteil konnte das Unternehmen sich zunutze machen, und so wuchs es rasant.
Anders als es der etwa von der FAZ bis heute fortgeschriebene Mythos will, bildeten nicht »Fleiß, Fortune und eisenharte Disziplin« der Kühnes die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg von K+N, sondern zuallererst der durch die Beteiligung an den NS-Verbrechen erworbene Akkumulationsvorsprung. »Das Unternehmen verdankt seinem Engagement in der NS-Zeit wesentliche, bis heute relevante Entwicklungsimpulse«, resümiert Henning Bleyl. Der Wiederaufstieg von K+N ist genauso wenig ›wundersam‹ wie das bundesrepublikanische ›Wirtschaftswunder‹, dessen Grundlagen ebenfalls in einer im Krieg u.a. durch Zwangsarbeit und ›Arisierung‹ expandierten und nur zu geringen Teilen zerstörten Industrie lagen. Angesichts dieser Parallele ist es auch nicht verwunderlich, dass Alfred Kühne in der Bundesrepublik hohe gesellschaftliche Anerkennung zuteil wurde: Er erhielt das Bremische Hanseatenkreuz, wurde 1955 zum Honorarkonsul der Republik Chile in Bremen ernannt und erhielt 1960 das Große Bundesverdienstkreuz für seine »Verdienste um den Wiederaufbau«.
Sein Sohn Klaus-Michael Kühne übernahm vom Vater im Alter von 29 Jahren die Führung des Unternehmens. Unter seiner Leitung entwickelte sich K+N zu einem der weltweit größten Logistikunternehmen der Welt – im Bereich Seefracht ist es heute sogar Weltmarktführer.4In den letzten Jahren profitierte K+N zudem von den staatlichen Aufträgen für den Impfstofftransport sowie von den durch die Lieferkettenprobleme hervorgerufenen enormen Preissteigerungen für Frachttransporte. K+N gehört damit zu den größten Krisengewinnlern der letzten Jahre.
Und wie sein Vater erhält auch Klaus-Michael Kühne für diese Erfolge staatliche Ehrungen – insbesondere in seinen beiden ›Heimatstädten‹ Bremen und Hamburg: Im Rahmen der bereits erwähnten 125-Jahr-Feiern im Jahr 2015 machten die damaligen Ersten Bürgermeister der beiden Hansestädte, Jens Böhrnsen und Olaf Scholz, dem Unternehmen und seinem Patriarchen die Aufwartung. Die Stadt Hamburg hat Kühne eine Ehrenprofessur verliehen und ihm ihr Goldenes Buch vorgelegt. Die BILD berichtete 2017 gar von Bestrebungen, Kühne zum Hamburger Ehrenbürger zu machen. Alfred und Klaus-Michael Kühne verlegten den Firmensitz 1969 zwar in die Schweiz, um den unter der sozialliberalen Regierung erlassenen Mitbestimmungsgesetzen zu entgehen, doch Bremen und Hamburg sind als Deutschland- bzw. Europazentrale des Konzerns nach wie vor von großer Bedeutung.
Verweigerte und sabotierte Aufarbeitung
»Wir sind eine sehr offene Firma. Wir stellen uns dar, wir wollen nichts verstecken«, zitiert der Weserkurier den Bremer Niederlassungsleiter anlässlich der Eröffnung der neuen Deutschlandzentrale im Jahr 2020. Schließlich böten die großen Fenster den Passant:innen einen transparenten Einblick – in die Firmenkantine. Ein anderes Bild bietet der Geschäftssitz von K+N in der Schweiz. Dessen Fassade besteht rundum aus verspiegeltem Glas – und kann damit sinnbildlich für das Verhältnis des Unternehmens zur Aufarbeitung seiner Geschichte stehen. Klaus-Michael Kühne weigert sich nämlich beharrlich, die Geschichte des Unternehmens aufzuarbeiten und von Historiker:innen untersuchen zu lassen.
Erst 2015, als Reaktion auf den durch Recherchen der taz und des Bayerischen Rundfunks erzeugten öffentlichen Druck, äußerte sich das Unternehmen erstmals zu seiner NS-Geschichte: In einer Presseerklärung bekundete K+N sein Bedauern, »seine Tätigkeit zum Teil im Auftrag des Nazi-Regimes ausgeübt« zu haben, attestierte sich selbst aber großzügig mildernde Umstände und rühmte sich, »in dunklen und schwierigen Zeiten seine Existenz behaupte[t]« und »die Kriegswirren unter Aufbietung aller seiner Kräfte überstanden« zu haben. Einen ähnlichen Ton schlägt eine firmeninterne Jubiläumsschrift an, aus der bislang nur einzelne Zitate an die Öffentlichkeit gelangt sind. Über das Ausscheiden Adolf Maass’ im Jahr 1933 heißt es darin etwa: »Herr Maass hat von sich aus in freundschaftlicher Abstimmung mit uns die Konsequenzen getragen, indem er bei uns ausschied.«
Dass diese Aussagen mit der Wirklichkeit wenig gemein haben, ist offensichtlich: Nichts spricht dafür, dass Maass das Unternehmen nach mehr als dreißig Jahren ›freiwillig‹ und ohne Abfindung verlassen habe. Um die Details des Vorgangs in Erfahrung zu bringen, bräuchte es jedoch den Zugang zum Unternehmensarchiv – und der wurde bisher niemandem gewährt. Klaus-Michael Kühne behauptet, dieses Archiv sei im Krieg zerstört worden – dabei konnte Henning Bleyl für die taz nachweisen, dass die Unterlagen aus Bremen und Hamburg wohl rechtzeitig in Sicherheit gebracht worden waren. Das Verzeichnis »Deutsche Wirtschaftsarchive« jedenfalls weist ein Firmenarchiv von K+N in der Stadt Konstanz aus: mit Beständen ab 1902 und der Inhaltsangabe »Urkunden, Akten, Protokolle, Geschäftsberichte, Druckschriften, Fotos etc. Benutzung nur mit Genehmigung der Geschäftsleitung«.
»Milliardär mit eisenharter Disziplin«
Kühne ficht das nicht an. Er bleibt bei seiner unglaubwürdigen Behauptung und geriert sich als Opfer einer Kampagne: Er habe kein Verständnis dafür, dass die NS-Vergangenheit des Unternehmens »immer wieder hochgekocht wird«, sagte er 2019 gegenüber radio bremen. Während andere deutsche Unternehmen zumindest in den letzten Jahren, da die Täter:innen längst unbescholten gestorben sind, Historiker:innen mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte beauftragt haben, verhindert Kühne dies beharrlich. Kein Wunder ist es daher, dass er sich massiv dagegen wehrte, als die Initiative um Henning Bleyl die Forderung erhob, das ›Arisierungs‹-Mahnmal direkt vor der Firmenzentrale aufzustellen. Auch jetzt, wo es ein wenig abseits entsteht, beteiligen sich weder K+N noch ein anderes der in den NS verstrickten Bremer Transportunternehmen an den Kosten des Mahnmals.
Kühne macht keinen Hehl daraus, dass er zur Unternehmens- und Familiengeschichte keinerlei Distanz einnimmt. Häufig betont er die starke Prägung durch seinen Vater; im Firmensitz hängt das Porträt Alfred Kühnes autoritativ über der Tür des Besprechungszimmers.5Christian Rickens: Ganz oben. Wie Deutschlands Millionäre wirklich leben. Köln 2011, S. 177 Dass auch Kühnes Geisteshaltung mehr Kontinuitäten als Brüche mit der seines Vaters aufweist, legt eine Äußerung von ihm im Jahr 2008 nahe. Mit Bezug auf seine Ablehnung einer Übernahme der Reederei Hapag-Lloyd durch ausländische Unternehmen bekundete er damals: »Wir wollen uns möglichst reinrassig deutsch halten.«
Gleichzeitig inszeniert sich Klaus-Michael Kühne als kunstsinniger Mäzen, visionärer Gestalter und sachkundiger Politikberater. In den Medien wird er als »Milliardär mit eisenharter Disziplin« (FAZ) bzw. »Milliardär, der Gedichte schreibt – und nicht aufhören kann zu arbeiten« (SPIEGEL), hofiert. In Interviews und Homestories darf sich Kühne über den ›sehr großen Sozialneid‹ in Deutschland beklagen (NZZ), seine Ablehnung der Übergewinnsteuer bekunden oder seine Pläne für ein neues Opernhauses für Hamburg ausbreiten. Kritische Nachfragen zur NS-Geschichte von K+N bleiben aus.
Auch in Hamburg: NS-Verbrechen erinnern!
Kühne ist kein Einzelfall. Zahlreiche Unternehmen in Hamburg und darüber hinaus machten ihr Vermögen im Nationalsozialismus.6Vgl. dazu etwa Frank Bajohrs Studie ›Arisierung‹ in Hamburg und Felix Matheis‹ Beitrag ›Arisieren‹ und Ausbeuten bei Untiefen. Aber Kühne ist ein Extremfall insofern, als er nicht nur dank diesem Vermögen heute einer der reichsten Menschen der Welt ist, sondern zudem jegliche Aufarbeitung der Geschichte verhindert und seinen Namen durch Mäzenatentum und Kultursponsoring weißwäscht.
Das ist nun kein Geheimnis. Vor allem Henning Bleyl recherchierte und publizierte seit 2015 eingehend zu dem Thema; hinzu kommen Recherchen von Historikern wie Wolfgang Dreßen, Götz Aly, Frank Bajohr und Johannes Beermann-Schön. Und auch viele Medien berichteten in den letzten Jahren über die NS-Verstrickungen von K+N – sogar in der Hamburger Morgenpost und im HSV-Fanmagazin Bahrenfelder Anzeiger konnte man schon darüber lesen. In Hamburg hat diese Berichterstattung jedoch offenbar kaum Konsequenzen.
Das muss sich ändern. Die NS-Geschichte der Hamburger Handels- und Transportunternehmen muss in den Blick der erinnerungspolitischen Arbeit geraten. Am Beispiel Kühne offenbart sich ein Skandal, der sich mit dem Selbstbild des ›wiedergutgewordenen‹ Deutschland nicht verträgt und doch konstitutiv für dieses Land ist: Die aktive Beteiligung an NS-Verbrechen zahlt sich für deutsche Unternehmen bis zum heutigen Tag aus. Eine kritische Stadtöffentlichkeit sollte es als ihre Aufgabe begreifen, diesen Skandal ins öffentliche Bewusstsein zu rufen. Und sie sollte derer gedenken, die – wie Adolf und Käthe Maass – diesen Verbrechen zum Opfer fielen. Ein Mahnmal wie in Bremen wäre ein erster Schritt.
Lukas Betzler
Der Autor schrieb für Untiefen bereits über das Holstenareal und das Stadtmagazin SZENE Hamburg. Eine Umfrage in seinem Freundeskreis hat ergeben, dass eine Mehrheit Klaus-Michael Kühne bislang für den Chef des gleichnamigen Hamburger Senf- und Essigherstellers hielt.
- 1Alle seit 2015 von Bleyl und anderen Autor:innen in der taz erschienenen Beiträge sind in einem umfassenden Dossier versammelt, das einen hervorragenden Überblick über die Causa Kühne + Nagel verschafft.
- 2Auch an der erzwungenen Flucht selbst verdiente K+N als Transportdienstleister für das Hab und Gut der Ausreisenden. Davon zeugt u.a. ein Plakat von 1935 im Bestand des Deutschen Historischen Museums.
- 3Vgl. Johannes Beermann-Schön: Taking Advantage: German Freight Forwarders and Property Theft, 1933–1945, in: Christoph Kreutzmüller, Jonathan R. Zatlin (Hg.): Dispossession. Plundering German Jewry, 1933–1953, Ann Arbor/Michigan 2020, 127–147, 142.
- 4In den letzten Jahren profitierte K+N zudem von den staatlichen Aufträgen für den Impfstofftransport sowie von den durch die Lieferkettenprobleme hervorgerufenen enormen Preissteigerungen für Frachttransporte. K+N gehört damit zu den größten Krisengewinnlern der letzten Jahre.
- 5Christian Rickens: Ganz oben. Wie Deutschlands Millionäre wirklich leben. Köln 2011, S. 177
- 6Vgl. dazu etwa Frank Bajohrs Studie ›Arisierung‹ in Hamburg und Felix Matheis‹ Beitrag ›Arisieren‹ und Ausbeuten bei Untiefen.
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