Das hanseatische Gesicht des Bestehenden
Zwei neue Bücher über Olaf Scholz schreiben ihm hanseatische Tugenden zu und empfehlen ihn als Verwalter des neoliberalen Status Quo. Was wirklich über Scholz zu sagen wäre, fällt in dieser staatsjournalistischen Imagepflege unter den Tisch.
In der repräsentativen bürgerlichen Demokratie erfüllen politische Eliten immer auch eine symbolische Funktion. Sie sollen den Staat beziehungsweise „das Volk“ repräsentieren, den Bürger:innen ein Bild ihres Gemeinwesens verkörpern. Im Gegensatz zum königlichen Körper, der im Ancien Régime qua Geburt und göttlicher Auserwähltheit unfraglich die Einheit des Staates symbolisierte, müssen die wechselnden demokratischen Repräsentant:innen sich dem anpassen, was die Bevölkerung sich wünscht und was sie zu akzeptieren bereit ist. Sie müssen, zumal in der hochgradig medialisierten Demokratie der Gegenwart, ihr Image herstellen als Projektionsfläche für staatstragende Tugenden.
Angesichts der zunehmenden Personalisierung von Parteipolitik ist solche Imagepflege ein nicht zu vernachlässigender Bestandteil der Herstellung von politischer Hegemonie, also der Zustimmung der Beherrschten zu ihrer Beherrschung. Journalisten staatsnaher Medien versuchen von dieser Notwendigkeit zu profitieren und übernehmen dabei unaufgefordert diese Imagepflege, indem sie die vermeintlich bedeutsame „Persönlichkeit“ führender Politiker:innen in den Fokus rücken und ihre positiven Qualitäten beschreiben bzw. eben erfinden.
Eben so ist es im Fall Olaf Scholz. Zwar eignet Scholz sich denkbar schlecht für Imagepflege, verkörpert er doch der allgemeinen Wahrnehmung nach vor allem Langeweile. Aber das hindert Journalist:innen nicht, die es ja gewohnt sind, aus wenig Material viel leicht verdaulichen Text zu machen. Und nun, da er Kanzler ist, lässt sich so etwas auch verkaufen.
Beispiele dieser Art von kostenloser PR sind die beiden bisher über Olaf Scholz erschienenen Bücher: „Olaf Scholz: Der Weg zur Macht. Das Porträt“ (Klartext, Dezember 2021) vom Chefredakteur des Hamburger Abendblatts, Lars Haider, und „Olaf Scholz – Wer ist unser Kanzler?“ (S. Fischer, Februar 2022) von Mark Schieritz, wirtschaftspolitischer Korrespondent im Haupststadt-Büro der ZEIT.
Natürlich können auch Haider und Schieritz zu Scholz nichts wirklich Interessantes berichten. Beide Bücher sind bürgerliche bundesdeutsche Hofberichterstattung ohne jede Gesellschaftskritik. Neben Langeweile können sie höchstens schaudern lassen, etwa, wenn Haider anbiedernd erzählt, wie oft er Scholz schon in Hintergrundgesprächen oder zu Interviews getroffen habe. Kurz: Sie gehören zu denen, die selbst in 7 langen Leben keinen Platz auf der Leseliste verdient hätten. Aber es ist interessant, welche Qualitäten sie Scholz im Sinne der genannten staatstragenden Imagepflege anzudichten versuchen.
Bei Haider sind Scholz‘ hanseatische Qualitäten, ins Politische gewendet, im Kern eine Affirmation des gegenwärtigen neoliberalen Regimes. Was die Bürger:innen in Scholz sehen sollen, ist „Kompetenz“, „Nüchternheit“ und „Erfahrung“ – also Politik unter dem Diktat des tristen Realismus, streng an den Sachzwängen orientiert, ohne verderbliche Utopie, Visionen (Helmut Schmidt ist für Scholz nicht ohne Grund ein „Gigant“) oder auch nur ein erkennbares Programm. Sicher, hier darf es auch mal Zugeständnisse geben – aber was nötig und möglich ist und was nicht, das entscheidet das Kapital. Er habe „das Geld zusammengehalten“ und in Hamburg „gut und solide“ regiert. Natürlich ist er ein „Machtmensch“ – denn anders geht es schließlich in den Kommandohöhen des Staates nicht. Haider stellt sich die Beziehung zu den Wähler:innen so vor: Sie bestellen „Führungsleistung“ und Scholz liefert sie.
Solch markige Management-Macherrhetorik soll beruhigen, suggeriert sie doch, dass der_die Einzelne noch etwas ausrichten kann. Dabei vernebelt sie natürlich, dass das politökonomische Wohl oder Verderben in kapitalistischen Staaten kaum von einzelnen Politiker:innen abhängt, selbst von Kanzlern nicht. Bei Scholz wird nun diese Personalisierung der Politik auf einen Kanzler gepresst, der sie mangels nennenswerter Persönlichkeit beinahe schon ad absurdum führt. Wer das schlucken kann, hofft wohl kaum noch, dass irgendwer den Irrsinn dieser Gesellschaft doch noch richten könnte. Haider offenbart genau den capitalist realism, den Mark Fisher beschrieb: Es ist nichts Anderes vorstellbar als ein ewiges „weiter so“, also ist es doch besser, jemandem die Sache zu überlassen, der genau das und auch nicht mehr will.
Die Person Scholz beschreibt Haider als „frei von Empathie“ und „ohne jedes Charisma“. Das ist nicht negativ gemeint, sondern soll wohl Sachkenntnis und Kompetenz noch einmal unterstreichen: Scholz hat keine Gefühle, er hat Ahnung. Über sein Leben gibt Scholz wenig preis, aber was man wissen kann, lässt ahnen: Er ist genauso langweilig und durchschnittlich, wie er erscheint. Geboren in Osnabrück in eine Mittelschichtsfamilie, politische Sozialisierung bei den Jusos, Jurastudium, Selbstständigkeit als Anwalt für Arbeitsrecht, SPD-Parteikarriere.
Haiders Scholz „arbeitet hart“, ist „ehrgeizig“, man kann ihm vertrauen, denn „er kann was“. Er ist hart im Nehmen – aber auch hart zu sich selbst. Er studiert tagelang Akten, ohne zu ermüden. Er ist von sich überzeugt, aber auch zu Recht. Er hat zwar kein Charisma, aber denkt analytisch und ist ein „Arbeitstier“. Er ist höflich und nicht arrogant.
Schließlich auch noch ein Schuss Sozialdemokratie: Er ist ein „Aufsteiger, der an soziale Gerechtigkeit glaubt“, ja, ein „Außenseiter“. Haider widmet gar sein Buch „allen Außenseitern“. Was einen sozialdemokratischen Juristen mit jahrzehntelanger erfolgreicher Politkarriere zum Außenseiter macht, bleibt freilich Haiders Geheimnis. Vielleicht die Kindheit in Rahlstedt? Ähnlich dünn ist der Versuch, Scholz als „Feministen“ dazustellen. Er hätte sich schon immer für Gleichberechtigung eingesetzt, etwa in der Auswahl seiner Senator:innen und Minister:innen, und sei allergisch, wenn in Interviews die Berufstätigkeit seiner Frau in Frage gestellt wird. Fair enough – aber das ist genau die Art Staatsfeminismus, mit dem man heute wirklich nirgendswo mehr Widerspruch hervorruft.
Schieritz’ Buch ordnet anders als Haiders Machwerk Scholz auch politisch ein. Dass er schon unter Gerhard Schröder als Generalsekretär an der Neoliberalisierung der SPD mitgearbeitet hat und die Agenda 2010 fleißig verteidigte, wird hier zumindest nicht verschwiegen. Ebenso, dass Scholz damals den Begriff „demokratischen Sozialismus“ aus dem Parteiprogramm der SPD streichen lassen wollte.
Aber für Schieritz begründet das keinen Vorwurf, sondern für ihn zeigt es, wie „geerdet“ Scholz heute im Vergleich zu seiner linksradikalen Zeit in den 1970ern ist. Vor allem der Anwaltsberuf habe ihn zu einem „Mann der Mitte“ gemacht. Auch der von Scholz verantwortete Brechmitteleinsatz, der 2001 Achidi John das Leben kostete, kann diesem Bild nichts anhaben. Schieritz verhandelt den Skandal unter ferner liefen, bei Haider taucht er erst gar nicht auf. Scholz ist für Schieritz „den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen“, denn er ist kein Ideologe, sondern „je nach den Umständen ausgerichtet“. Er ist ein Verhandler, „will alle Meinungen hören“, umgibt sich mit „Leuten die etwas bewegen wollen“.
Sogar ein bisschen weniger Neoliberalismus will er neuerdings. Denn statt Leistungsgerechtigkeit wie in der Sozialdemokratie des Dritten Weges à la Blair und Schröder stellt Scholz die „Beitragsgerechtigkeit“ in den Mittelpunkt. Der Sermon vom „Respekt“ ist wohl allen noch aus dem letzten Bundestagswahlkampf im Ohr. „Respekt“ soll für notwendige Lohnhierarchien entschädigen. „Respekt“ soll es für Erwerbsarbeit jeder Art geben, egal ob hoch- oder niedrig qualifiziert. Das aber hat natürlich nur wenig mit Gerechtigkeit zu tun. Denn „Respekt“, man ahnt es, ist, was von der Sozialdemokratie übrigbleibt, wenn sie nicht umverteilen will. Mit Scholz soll der neoliberale Wahnsinn des Bestehenden humanisiert werden. Wie eng begrenzt diese rhetorischen Zugeständnisse sind, zeigt schon jetzt, wie wenig wir uns davon versprechen dürfen. Wer Scholz’ Weg in Hamburg verfolgt hat, weiß, dass er Ansprüche auf mehr als „Respekt“ auch abzuwehren weiß: die Law&Order-Rhetorik im Wahlkampf gegen Schill, die Brechmitteleinsätze, sein Einsatz gegen die Rekommunalisierung der Energienetze und für Olympia, die Gefahrengebiete, seine absurde Verleugnung polizeilicher Gewalt beim G20-Treffen und jüngst sein beunruhigend schlechtes Gedächtnis bezüglich Korruption mit der Warburg-Bank zeigen, wozu ein ideologisch flexibler Parteisoldat wie Scholz fähig ist. Scholz ist kein wirklicher Bösewicht, autoritäre Ressentiments und persönliche Bereicherung sind ihm sicher fremd. Aber er ist eben ein typischer Sozialdemokrat des neoliberalen Zeitalters. James Jackson hat das im Jacobin Magazin schön zusammengefasst: Scholz verbindet höhere Mindestlöhne mit kapitalfreundlicher Klimapolitik, Law & Order-Maßnahmen mit dem Kampf gegen Rechtspopulismus. Er steht für „Stabilität statt Vision, Management statt Transformation, und wahrt die Interessen der Mächtigen – während er gerade genug reformiert, um den Kohle-getriebenen Koloss deutsche Industrie am Laufen zu halten.“ Auf Bundesebene setzt Scholz somit fort, was seine Politik als Erster Bürgermeister Hamburgs auszeichnete – und was ihn populär machte. Und wer weiß, vielleicht räumt die ZEIT ihm nach der nächsten Bundestagswahl ja Helmut Schmidts altes Büro frei.
Felix Jacob
Der Autor schrieb auf Untiefen zuletzt über den Hamburger Aufstand 1921.