Hamburgs Baseballschlägerjahre
Am 21. Dezember jährt sich der Mord an Ramazan Avcı in Hamburg. Die Gewalttat steht auch für die zugespitzten Auseinandersetzungen um Migration und Rassismus in der Bundesrepublik während der 1980er Jahre. Rassistische Straßengewalt war brutaler Ausdruck dieser Entwicklung.
Am 21. Dezember 1985 wartete der Arbeiter Ramazan Avcı mit seinem Bruder und einem Freund an einer Bushaltestelle bei der S‑Bahnstation Landwehr in Hamburg. Es war Avcıs 26. Geburtstag und die drei waren auf dem Nachhauseweg. Als einige junge rechte Skinheads, die sich vor dem Eingang einer nahegelegenen Kneipe aufhielten, auf die türkischen Männer aufmerksam wurden, beschlossen sie spontan, die Wartenden anzugreifen. Die erste Attacke konnten Avcı und seine Begleiter noch mit Reizgas abwehren, doch die laut Presseberichten 30-köpfige Skinheadgruppe kehrte kurz darauf bewaffnet zurück. Während seine Begleiter sich in einen Linienbus retten konnten, rannte Avcı in Panik auf die Fahrbahn, wo ihn ein Autofahrer anfuhr. Den am Boden Liegenden traktierten die Angreifer mit Knüppeln. Er starb drei Tage später auf einer Hamburger Intensivstation an den Folgen eines Schädelbruchs.
Die Täter waren Mitglieder der berüchtigten »Lohbrügge Army«. Diese Skinheadgruppierung, benannt nach einem Hamburger Stadtteil, gehörte der Hooliganszene um den HSV an. Für viele Beobachter:innen war sofort klar, dass es sich um eine rassistische Gewalttat handelte. Der Vorfall war nicht der erste rechte Mord in Hamburg und Umgebung. Im August 1980 hatten neonazistische Terrorist:innen bei einem Brandanschlag in der Halskestraße zwei Geflüchtete aus Vietnam getötet. In Norderstedt, einem Vorort Hamburgs, hatte am 19. Juni 1982 ein rassistischer Mob den 26-jährigen Tevfik Gürel angegriffen und tödlich verletzt. Wiederum rechte Skinheads hatten am 24. Juli 1985 in Hamburg-Langenhorn den jungen Bauarbeiter Mehmet Kaymakçı auf brutale Weise erschlagen.
Indes folgte erst auf den Mord an Ramazan Avcı im Dezember 1985 eine aufbrausende öffentliche Reaktion. Intensive Presseberichterstattung, Bürgerschaftsdebatten und eine Demonstration anlässlich des Todes Avcıs deuten darauf hin, dass die Auseinandersetzungen um Migration und Rassismus eine neue Qualität erlangt hatten. Tatsächlich brodelte es in Hamburg und der Bundesrepublik der 1980er Jahre um diese Themen, während rassistische Gewalttaten zunahmen. Im weiteren Verlauf des Jahrzehnts spitzte sich dieser widersprüchliche Diskurs zu, zumal die Zugewanderten mit ihren Stimmen gesellschaftlich mehr und mehr empordrängten und ihre Rechte einforderten.
Die doppelte Transformation der Bundesrepublik
Seit der ersten Hälfte der 1970er machten die westlichen Länder eine krisenhafte Wandlung durch, die den Beginn der neoliberalen Epoche markierte. Mit der Abwicklung weiter Teile der Industrie galten die Arbeitskräfte, die die Bundesregierung seit den 1950ern und 1960ern vor allem aus der Türkei, Griechenland und Italien angeworben hatte, als wirtschaftlich überflüssig. Für große Teile der Öffentlichkeit schienen sie außerdem zunehmend die vermeintliche ethnische Homogenität Deutschlands zu stören. »Überfremdung« war das rassistische Schlagwort der Stunde. Die Regierungen Helmut Schmidts und Helmut Kohls versuchten daher, die »Gastarbeiter:innen« mit Geldprämien zur Rückkehr in ihre Herkunftsländer zu bewegen. Diese Rückführungspolitik verkehrte Kohls Parole »Deutschland ist kein Einwanderungsland« jedoch in ihr Gegenteil. Vor die Wahl gestellt, machten die meisten Arbeitsmigrant:innen die Bundesrepublik zu ihrem dauerhaften Zuhause und holten ihre Familien nach. Hinzu kam eine wachsende Zahl von Asylsuchenden. Allein 1985 waren es 100.000 Anträge, auch wenn Bonn eine immer restriktivere Asylpolitik betrieb.
Im Jahr 1986 lebten in Westdeutschland 4,5 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Sie sollten die deutsche Gesellschaft nachhaltig prägen, blieben als »Ausländer:innen« jedoch vorerst Bürger:innen zweiter Klasse. Die Rassismuswelle dieser Jahre ist also vor dem Hintergrund einer Phase der doppelten Transformation zu sehen. Erstens begann sich die Bundesrepublik zu einer neoliberalen Dienstleistungsgesellschaft zu wandeln, was starke sozioökonomische Friktionen verursachte. Von der hohen Arbeitslosigkeit waren vor allem die »Gastarbeiter:innen« betroffen. Zweitens bildete sich das Land zunehmend als pluralistische und liberale, aber widersprüchliche Einwanderungsgesellschaft heraus, die das traditionelle nationale Selbstverständnis herausforderte.
Die Baseballschlägerjahre begannen vor 1990
Die Migrationsabwehr der Bonner Regierungen konnte sich der rassistischen Zustimmung breiter Bevölkerungsteile sicher sein. Diese Konjunktur drückte sich besonders scharf in einer vielseitigen rechten Mobilisierung aus, die auch die Hansestadt erfasste. Dazu zählten die erwähnten Gewalttaten, aber auch das Auftreten verschiedener Organisationen. Im Jahr 1982 gründete sich aus dem Umfeld der NPD eine »Hamburger Liste Ausländerstopp«, die bei den Bürgerschaftswahlen antrat und ähnlichen Parteien in anderen Bundesländern als Vorbild diente. Die seit 1979 existierende rechtsextreme »Freiheitliche Deutsche Arbeiterpartei« (FAP) wurde 1983 vom bekannten Hamburger Neonazi Michael Kühnen und den Anhängern seiner »Aktionsfront Nationaler Sozialisten« (ANS) unterwandert. Die ANS, die die Behörden im gleichen Jahr verboten hatten, rekrutierte ihre Mitglieder wiederum in der hamburgischen Skinheadszene, der auch die Mörder Ramazan Avcıs angehörten.
Avcı, Kaymakçı und Gürel waren nicht die einzigen Opfer solcher Gewalttäter. In verschiedenen Hamburger Vierteln waren Jugendgangs aktiv, doch die Hooliganszene um den HSV ragte als stramm rechts und besonders gefährlich heraus. Eine Sonderausstellung des HSV-Museums dokumentierte 2022 eine lange Chronik rechter Übergriffe und Gewaltexzesse, für die diese männerbündischen Fangruppierungen verantwortlich waren. Die Morde an Avcı und Kaymakçı sowie die Tötung des Bremer Fußballfans Adrian Maleika bildeten traurige Höhepunkte.
Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Chronik nur einen Bruchteil der Taten dokumentiert. Sowohl Flugblätter antifaschistischer Gruppen als auch Berichte etablierter Medien aus den 1980er Jahren vermitteln ein Bild alltäglicher Gefahr für Menschen, die als »Ausländer:innen« identifiziert wurden. »Skinheads schlugen wieder zwei Ausländer nieder« titelte das Hamburger Abendblatt am 2. Januar 1986 und am 13. Januar: »Skinheads überfielen Türken in der S‑Bahn.« Im Archiv des Spiegels sind vergleichbare Berichte einsehbar. In den Vorjahren sah die Situation nicht anders aus. In einem »Bericht über (neo)faschistische und antifaschistische Aktivitäten in Hamburg« aus der Feder einer Antifagruppe hieß es 1984: »Hamburg-Bergedorf 20.5.: 50 Skins prügeln sich mit Türken am Bhf. Ein Türke wird mit einem Holzknüppel schwer verletzt.« Eine ähnliche Antifa-Recherche von 1983 berichtet: »29.11. Das ›Broadway‹ zeigt den Film ›Under Fire‹. Die ›Savage Army‹ lief auf, beschimpfte Ausländer und Linke und verprügelte eine chilenische Frau.«[1] Vor wenigen Jahren wurde der Begriff »Baseballschlägerjahre« geprägt, um die Hochphase rechter Straßengewalt im Deutschland der 1990er zu beschreiben. Dieser Ausdruck ist auch für Hamburg im Jahrzehnt vor der Wende angemessen.
Migrantische Selbstorganisierung gegen Rassismus
Gegenüber der migrationsfeindlichen Politik sowie dem Straßenterror regte sich jedoch zunehmend Widerstand. Auf Sankt Pauli hatte sich am 26. Mai 1982 die türkische Arbeiterin und Dichterin Semra Ertan aus Protest gegen diesen Rassismus selbst entzündet. Ein weniger tragischer Ausdruck des Aufbegehrens war die Avcı-Demo am 11. Januar 1986, zu der ein breites Bündnis von 23 deutsch-türkischen Organisationen und Gewerkschaften aufgerufen hatte. Je nach Quelle folgten zwischen 10.000 und 15.000 Menschen dem Aufruf, was ebenfalls auf den großen gesellschaftlichen Stellenwert des Vorfalls hinweist. Die zahlreichen türkischsprachigen Transparente und Pappschilder, die die Presse dokumentierte, bewiesen den hohen Anteil türkischer beziehungsweise migrantischer Personen an dem Protest. Dieser wandte sich gegen »Ausländerfeindlichkeit«, wie Rassismus seinerzeit genannt wurde, und forderte die generelle Gleichstellung der Immigrierten.
Migrantische Selbstorganisierung war in der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren aufgekommen und spielte überdies eine wichtige Rolle in industriellen Arbeitskämpfen der neoliberalen Transformationsphase, beispielsweise bei der spektakulären Besetzung der HDW-Werft im Hamburger Hafen 1983. Diese Aneignung politischer Subjektivität erhielt nach dem Mord an Avcı neuen Schwung. Organisator:innen des Protest gründeten nun das »Bündnis Türkischer Einwanderer«, aus dem zehn Jahre später die »Türkische Gemeinde Deutschland« hervorgehen sollte. In der Tat spiegelte sich diese emanzipative Entwicklung auch im Bereich der Jugendgangs. Die »Champs« auf Sankt Pauli waren etwa stark migrantisch geprägt und setzten sich gegen die Übergriffe der Skinheadbanden zur Wehr.
Die Wahrnehmung der Betroffenen geriet nach Avcıs Tod wenigstens vorrübergehend in den Fokus der Medien. Den Zuschauer:innen des Hamburg Journals des Norddeutschen Rundfunks erklärte ein junger türkischer Mann Anfang 1986 zum Beispiel: »Ich hatte so viele Scheiben in der S‑Bahn gesehen und so, wo die da geschrieben haben, ›Scheißtürken, raus aus Deutschland‹. Also ehrlich gesagt, ich trau mich nicht … Ich habe Angst in Deutschland zu leben, denn ich habe Angst, dass wir irgendwann mal aus Deutschland rausgeschmissen werden und dass wir überhaupt keine Rechte haben wie ein Deutscher.«
Widersprüchliche Liberalisierung
Dass Reporter:innen Betroffene zu Wort kommen ließen, hing auch damit zusammen, dass die westdeutsche Gesellschaft zumindest teilweise eine neue Sensibilität gegenüber Rassismus und rechter Gewalt entwickelt hatte. Diese blieb jedoch widersprüchlich. So sammelte die Pressestelle des Hamburger Senats nach der Tat vom 21. Dezember 1985 hunderte einschlägige Presseartikel größtenteils Hamburger Zeitungen, die meisten davon aus dem Jahr 1986. Die Medien berichteten intensiv zum Vorfall, zu »Ausländerfeindlichkeit« generell sowie über Skinheads. Deren Gewalt gegen migrantische Gruppen und linke Punks framte man jedoch häufig als unpolitische Auseinandersetzungen.
Angesichts der intensiven Berichterstattung war es kein Wunder, dass sich auch die Bürgerschaft mit Avcıs Tod befasste. Die Fraktionen der »Grün-Alternativen Liste« (GAL) und der SPD beriefen in der Plenarsitzung am 15. Januar 1986 eine Aktuelle Stunde ein, in der es zu hitzigen Schlagabtäuschen kam. Es entsprach einer unter Linken und Migrant:innen weitverbreiteten Auffassung, wenn die GAL rassistische Übergriffe in direkten Zusammenhang mit der bundesdeutschen Migrationspolitik stellte: »Die Mordabsicht der Skinheads ist gegen die Lebensinteressen der Ausländer in dieser Stadt gerichtet. Das Sondergesetz für Ausländer, die Lagerhaltung von Menschen und die Abschiebepraxis sind es ebenso.« Der Erste Bürgermeister Klaus von Dohnanyi (SPD) deutete die anhaltenden rassistischen Angriffe einige Tage später hingegen als Schlägereien zwischen Jugendlichen um und verharmloste sie auf diese Weise. Die Betreffenden rief er dazu auf, »diese Kette der Gewalt abzureißen. Hamburg will Frieden. Ich weiß wohl: diese Vorfälle sind nicht typisch für das Zusammenleben der Deutschen und Türken in Hamburg. […] Aber eine böse Tat droht die nächste hervorzurufen.«
Zu der erwähnten, in den 1970er Jahren einsetzenden Transformation gehörten schwere Kämpfe der Mehrheitsgesellschaft um ihr wichtiger werdendes Selbstverständnis als liberale Demokratie. So kritisierten linksliberale Stimmen die restriktive und diskriminierende Ausländerpolitik der Bundesregierung massiv. Auch für die radikale Linke wurde Rassismus und Rechtsextremismus zu bestimmenden Themen. Der Diskurs war extrem polarisiert und dominierte die Innenpolitik in der zweiten Hälfte der 1980er. Kaum zufällig fielen in diese Phase erinnerungskulturelle Wegmarken wie der »Historikerstreit« oder die Anerkennung »vergessener Opfer« des Nationalsozialismus. Ein weiterer Gradmesser ist der enorme Erfolg von Günther Walraffs Buch »Ganz unten«, das zwei Monate vor dem Überfall auf Ramazan Avcı erschienen war und die Lage türkischer Arbeitsmigrant:innen skandalisierte. Nach zwei Wochen waren 650.000, nach vier Monaten vier Millionen Exemplare verkauft. Wallraff sprach dann auch bei der Großdemo am 11. Januar 1986 in Hamburg. Weiterhin fiel der Start einer antirassistischen Kampagne des Deutschen Gewerkschaftsbundes unter der Parole »Mach‘ meinen Kumpel nicht an« in den Aufruhr um den Mord an Avcı.
Diese Liberalisierungstendenzen in Gesellschaft und Geschichtspolitik waren keineswegs eindeutig und unumstritten, sondern konkurrierten etwa mit einem erinnerungskulturellen Hype um »Preußen«. Nicht zuletzt stand die progressive Entwicklung dem alltäglichen und dem institutionellen Rassismus gegenüber, der sich auch im Urteil gegen die Mörder Ramazan Avcıs zeigte: Das Landgericht Hamburg verurteilte die Haupttäter im Juli 1986 zwar zu mehrjährigen Gefängnisstrafen wegen Totschlags, weigerte sich jedoch eine rassistisch motivierte Mordabsicht anzuerkennen. Die Folge war ein empörter Tumult im Gerichtssaal.
Trotz der intensiven Auseinandersetzung um den Mord im Frühjahr 1986, scheint diese Geschichte – wie der Terror in der Halskestraße – ebenfalls im Schatten der extrem rechten Mobilisierungen der 1990er zu stehen. In der Tat ist die rassistische Gewalt in Westdeutschland vor 1990 heute generell weitgehend verdrängt worden. In der Regel fokussiert die Geschichte des rechten Terrors in der Bundesrepublik auf die Zeit nach der »Wiedervereinigung« und die neuen Bundesländer, was erinnerungskulturell problematisch ist. So erscheinen rassistische Mobilisierungen zuvörderst als ostdeutsches Phänomen, während die Kontinuität des bundesrepublikanischen Rechtsextremismus hinter der Nebelwand der Epochengrenze verschwindet. Die westdeutsch dominierte Berliner Republik kann unangenehme Aspekte der nationalen Vergangenheit damit als Problem postsozialistischer »Ossis« externalisieren.
Auch deswegen ist eine umfassende Gedenkkultur um die Opfer rechter Gewalt umso wichtiger. Anschub, die Erinnerung an den Mord an Avcı wenigstens lokal wachzurufen, kam »von unten«, aus den Reihen eines migrantischen Zusammenhangs. Nachdem sich 2010 eine Gedenkinitiative gegründet hatte, weihte der Hamburger Senat 2012 auf deren Betreiben einen Gedenkstein ein und benannte den Platz bei der S‑Bahnstation Landwehr nach Ramazan Avcı feierlich um. Jährlich am 21. Dezember hält die Initiative eine Gedenkveranstaltung am Ort des Geschehens, bei der Angehörige von Ramazan Avcı sprechen. Auch an den Mord an Mehmet Kaymakçı erinnert seit Sommer 2021 ein Mahnmal im Kiwittsmoor-Park in Langenhorn, jedoch besuchten nur relativ wenige Menschen die Einweihungszeremonie. Das Gedenken an die Hamburger Baseballschlägerjahre erhält noch nicht die Aufmerksamkeit, die es verdient.
Felix Matheis, Dezember 2022.
Der Autor ist Historiker in Hamburg. Auf Untiefen schrieb er bereits über die Rolle Hamburger Kaufleute im Nationalsozialismus sowie über den rassistischen Terror in der Hamburger Halskestraße im Jahr 1980.
[1] Die Dokumente finden sich im Archiv des Hamburger Infoladens Schwarzmarkt, Signatur A 5.1.1.
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