Begrenzte Solidarität
Der Übergriff auf einen Juden bei einer proisraelischen Mahnwache am 18. September in der Mönckebergstraße bewegte bei der Wiederaufnahme der Mahnwache am vergangenen Samstag nur wenige Hamburger:innen. Warum solidarisieren sich nicht mehr mit dem Opfer? Unser Autor hat sich die Veranstaltung angesehen.
Vor knapp drei Wochen wurde ein 60-jähriger Jude auf einer proisraelischen Mahnwache in der Hamburger Mönckebergstraße von einem Jugendlichen antisemitisch beleidigt und krankenhausreif geschlagen. Am vergangenen Samstag fand die Mahnwache zum ersten Mal seit dem Übergriff wieder statt. Die Veranstalter:innen der christlichen Gruppe Fokus Israel hatten unter dem Motto »Jetzt erst recht« zu einer »Gedenkveranstaltung für alle Opfer antisemitischer Gewalt« aufgerufen.
Statt der sonst wohl 15 bis 20 fanden sich diesmal etwa 60 Teilnehmer:innen ein, um ihre Solidarität mit dem Betroffenen zu zeigen. Der Angegriffene konnte das Krankenhaus zwar unterdessen verlassen, bangt aber laut den Veranstalter:innen nach wie vor um sein Augenlicht und ließ daher sein Grußwort nur verlesen. Darin rief er zur »Verteidigung der liberalen Gesellschaft« auf und beklagte, dass er bis heute mit seiner (!) Kontaktaufnahme weder Bürgermeister Peter Tschentscher noch die zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank zu einer Antwort, geschweige denn einer öffentlichen Stellungnahme bewegen konnte.
Öffentlich eingeladen hatte zur Mahnwache am Samstag neben Fokus Israel einzig die Hamburger Junge Union. Deren Landesvorsitzender Philipp Heißner sprach von »unseren Werten« bzw. »unserer Kultur«, die es zu verteidigen gelte, und betonte, dass darin auch »provokante Meinungen« einbegriffen seien. Damit spielte er offenbar auf den ihm vorangehenden Redner an, Ralf-Andreas Müller, laut eigener Angabe Theologe und tagesschau-Redakteur, Initiator und Kopf der Gruppe Fokus Israel. In seinem Redebeitrag hatte er, motiviert durch eine Art politisches Ur-Christentum, in aggressivem Tonfall einem jüdisch-israelischen Nationalismus das Wort geredet. Er griff weit in die Vergangenheit aus, um zu postulieren, dass es keine authentische Verbindung des Islam zum Gebiet des heutigen Israel gebe und ausschließlich die Juden das Land als »nationales Königreich für sich beansprucht« hätten. Nach dem Sieg der Römer über die Juden 70 n. Chr. sei die Provinz Palästina annähernd 2000 Jahre verelendet und verfallen, ein leeres und »wüstes Land« geworden; erst wieder einwandernde Juden hätten es bewohnbar gemacht. Die Pointe, auch auf Müllers Website zu finden, ist: Die Juden verfügten über eine »entscheidende Verbindung zwischen Gott, Volk und Land« – die Muslime nicht. Palästina, Palästinenser, besetzte Gebiete gebe es alles nicht und sie stellten deshalb auch kein Problem dar. Christen hingegen müssten Israel als »Herzensthema Gottes […] im Fokus haben, lieben und unterstützen«, um Gott zu ehren, heißt es in einem anderen Text auf der Website.
Keine Solidarität für proisraelische Juden?
Diese Geschichtsklitterung ist natürlich unhaltbar. Den modernen israelischen Staat nationalreligiös auf eine Mischung aus christlicher Bibelexegese und völkischem Verwurzelungsmythos begründen zu wollen, geht völlig fehl. Sollte diese Ideologie aber der Grund für die geringe Solidarisierung mit dem Opfer des Übergriffs sein, wäre das dennoch falsch. Wer dem Angegriffenen wegen einer bestimmten Vorstellung von Israel die Solidarität verweigert, verkennt den Charakter des antisemitischen Angriffs: Offensichtlich schlug der Täter einen Juden als Juden, weil dieser selbstbewusst mit der israelischen Fahne Stellung bezog.
Der Angegriffene fragte in seinem verlesenen Grußwort, ob die verhaltene Reaktion der Hamburger Politik und Öffentlichkeit wohl anders ausgefallen wäre, hätte er als weißer Mann den mutmaßlichen Täter, einen Jugendlichen mit Migrationshintergrund, angegriffen. Dieses Umkehrszenario braucht es aber gar nicht, um das geringe Interesse jenseits der Springer-Medien einzuordnen. Der Vergleich mit dem rechten antisemitischen Angriff am 4. Oktober 2020 auf einen jüdischen Studenten vor der Synagoge in der Hohen Weide ist deutlich aufschlussreicher. Vor einem Jahr gab es neben sofortigen Stellungnahmen von Tschentscher, Fegebank, Bundesjustizministerin Christine Lambrecht etc. auch eine Mahnwache des linken Hamburger Bündnisses gegen Rechts, der sich trotz strenger Corona-Maßnahmen damals immerhin etwa 200 Personen anschlossen.
Die Vermutung liegt nahe und wurde von mehreren am Samstag Anwesenden geteilt, dass die Bezugnahme auf Israel hier einen Unterschied macht. Dort ein Jude bei der Religionsausübung, hier ein Jude, der offensiv mit der blau-weißen Fahne für Israel eintritt. Diese explizit proisraelische Positionierung des Angegriffenen ist sicher für viele, zumal viele Linke, ein Ärgernis.
Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus
Dazu kommen die unterschiedlichen Täterprofile: Letztes Jahr war es ein offenbar rechter, deutsch-kasachischer Ex-Bundeswehrangehöriger in Uniform und mit Hakenkreuz-Zettel in der Tasche, der für viele Beobachter:innen Parallelen zum rechtsterroristischen Attentat vom Oktober 2019 in Halle plausibel erscheinen ließ. Dieses Jahr ist der mutmaßliche Täter ein Jugendlicher mit möglicherweise arabisch-muslimischem Hintergrund. (Laut der Schauspielagentur Kokon, die ihn bis zum Übergriff vertreten hat, spricht Aram A. Arabisch. BILD will herausgefunden haben, dass seine Mutter Hisbollah- und Assad-Unterstützerin ist.) Das stellt die deutliche Verurteilung des Übergriffs in der Wahrnehmung wohl auch vieler Linker in ein Spannungsverhältnis zum eigenen antirassistischen Anspruch. Die Sorge, möglicherweise antimuslimischen Rassismus zu bedienen, könnte einer Positionierung im Wege stehen.
Zwar ist erst wenig über den mutmaßlichen Täter bekannt. Warum der mögliche arabisch-muslimische Hintergrund für Hamburger Jüdinnen und Juden aber relevant ist, verdeutlicht Philipp Stricharz, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Hamburg, in einer Stellungnahme zu dem Angriff: »Es gibt eine politisch aufgehetzte, gewalttätige Minderheit unter den Muslimen, häufig junge Leute, die meinen, sie müssten Rache üben für vermeintliches Unrecht im Nahen Osten. […] Natürlich gibt es auch die Gefahr von rechts, aber die größten Sorgen bereitet den Juden in Hamburg die Gefahr, die von dieser Gruppe ausgeht.«
Die Kundgebung am Samstag ließ diesen Eindruck insofern als plausibel erscheinen, als gegenüber klassisch antisemitischen Kommentaren von Passant:innen (»Alles Lüge!« oder »Na, wer steckt denn hier wohl dahinter?«) die antizionistischen Rufe (post-)migrantischer Jugendlicher und Kinder à la »Fuck Israel!« und »Free Palestine!« deutlich dominierten.
Gegen solche Herrschaftsgesten ist es sicher richtig, die projüdische, proisraelische öffentliche Präsenz aufrecht zu erhalten, gegen die die antisemitische Wut sich richtet. In Abwesenheit linker Solidarität übernehmen allerdings vorerst andere diese Rolle: Für den 16. Oktober ruft die Kölner jüdische Aktivistin Malca Goldstein-Wolf auf Facebook zu einem »Solidaritätsschweigemarsch« unter dem Titel »Keinen Fußbreit auch dem islamistischen Antisemitismus« in der Mönckebergstraße auf. Zu den im Aufruf genannten, meist liberal-konservativen Unterstützern zählt auch der Hamburger Anwalt Joachim Steinhöfel, der in den vergangenen Jahren häufiger als Redner und Kommentator für die neurechte Zeitschrift Junge Freiheit in Erscheinung getreten ist.
Felix Jacob
Der Autor war zum ersten Mal auf einer politisch-christlichen Kundgebung und kann auf Wiederholungen gern verzichten.
Guten Tag, Herr Jacob,
ich komme aus persönlichen Gründen erst jetzt dazu, Sie zu kontaktieren. Ich habe das erste Mal an einer öffentlichen Mahnwache teilgenommen, weil es mir ein Anliegen war, mich wegen dieses abscheulichen Angriffs mit dem jüdischen Opfer zu solidarisieren. Von dem polemischen Inhalt und Ton der Ansprache des Herrn Müller war ich irritiert und fürchtete sogleich, dass er damit dem Anliegen jüdischer Bürger an Akzeptanz keinen Dienst erweisen würde.
Wegen der Behauptung des Betroffenen, niemand von der Hamburger Regierung habe sich zu dem Vorfall geäußert oder bei dem Verletzten gemeldet, war ich empört, schrieb an Herrn Tschentscher und erbat eine Stellungnahme. Diese erfolgte prompt von Herrn Stricker, Regierungsdirektor und Büroleiter. Dieser versicherte, die Senatskanzlei habe zunächst vergeblich versucht, die Mutter von Herrn **** (Name bitte nicht ohne Zustimmung öffentlich nennen, Redaktion Untiefen) telefonisch zu erreichen sowie auf eine E‑mail an Herrn **** mit der Bitte um Übermittlung seiner Telefon-Nr. ebenfalls bis dato keine Reaktion erhalten zu haben.
Sollte die Behauptung von Herrn Müller bewusst wahrheitswidrig erfolgt sein, hätte er dem Ansehen der Sache Schaden zugefügt, weil solidarische Bürger zukünftig davon abgehalten würden, weiterhin an von ihm organisierten Mahnwachen teilzunehmen.
Mit freundlichen Grüßen
Christa Hesselkamp-Wiese
Guten Tag Frau Hesselkamp-Wiese,
Danke für Ihren Kommentar. Wie aus dem Artikel hervorgeht denke ich, dass die politischen Inhalte oder der Ton der Mahnwachen kein Grund für die Verweigerung von Solidarität gegen Antisemitismus sein dürfen. Da die Ausrichtung der Mahnwache – zumal vor der Tat – kaum bekannt war und bis heute nicht ist, dürfte es auch nicht daran gescheitert sein.
Zu privaten Kontaktaufnahmen können nur die Beteiligten Aussagen machen. Die berichteten Aussagen im Artikel stammten aus dem verlesenen Statement des Angegriffenen. Damit hatte Herr Müller also zunächst nichts zu tun. Wie dem auch sei: Auffällig und wichtiger finde ich den Mangel an öffentlichen Stellungnahmen.
mit besten Grüßen
FJ
Danke für super Bericht und Recherche!