Welcome to Helmut
Im Zentrum Hamburgs übt sich eine neue Ausstellung der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung in Legendenbildung. Kann sie den Macher und Machtpolitiker Schmidt zu guter Letzt doch noch als »Superdemokraten« präsentieren? Und wie geht sie mit Schmidts Zeit als Offizier der Wehrmacht um? Unser Autor hat ihr einen kritischen Besuch abgestattet.
Mit pandemiebedingt siebenmonatiger Verspätung wurde am 19. Juni 2021 die Dauerausstellung zu Ehren des fünften Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland in den Räumen der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung nahe dem Hamburger Rathaus eröffnet. Mit der Ausstellung, die über mehrere Jahre hier zu sehen sein soll, schreitet die vom Spiegel-Autor und Historiker Klaus Wiegrefe bereits im Zuge der Gründung der Stiftung befürchtete »Schmidtisierung der Republik« nun also weiter voran. Auch deshalb, weil die Ausstellung an ihrer eigenen Begriffslosigkeit scheitert: Unter dem Titel »Schmidt! Demokratie leben« will sie den ehemaligen Bundeskanzler als »Superdemokraten« inszenieren, hat allerdings selbst keinen Begriff von Demokratie. Hätte die Stiftung sich tatsächlich mit dem Demokratieverständnis Schmidts auseinandergesetzt, würde sie wohl kaum noch von ihm als »Vordenker« sprechen können. Von einer kritischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Person ist diese Ausstellung so weit entfernt, wie es Helmut Schmidt von einem Dasein als Intellektueller war.
In nur einem Raum mit einer Größe von circa 200 Quadratmetern werden Leben und Wirken Schmidts dargestellt. Weiterhin wirft die Ausstellung einzelne Schlaglichter auf Themen, die nach Ansicht der Stiftung innerhalb der westdeutschen Gesellschaft während der Kanzlerschaft Schmidts (1974–1982) an Relevanz gewannen. Ein ambitioniertes Vorhaben! Denn viel Platz ist das nicht für die Geschichte des 20. Jahrhunderts und Schmidts Rolle darin: Eine nuancierte und detaillierte Verhandlung der Themen wurde so von vornherein ausgeschlossen. Gegliedert ist die Ausstellung in drei chronologisch angeordnete Bereiche – das Leben vor der Kanzlerschaft, die Kanzlerschaft und die Zeit danach. Diese Bereiche heben sich visuell nicht voneinander ab, sondern werden jeweils durch Texttafeln eingeleitet. Die Unterkategorien, wie etwa Kindheit und Jugend, die RAF oder Protest gegen die Atomkraft, werden wiederum durch Großfotografien – darauf jeweils Zitate Schmidts – und sogenannte Thementische gegliedert. Die insgesamt acht Jahre Kanzlerschaft nehmen dabei fast die Hälfte des Raumes ein und bilden den inhaltlichen Schwerpunkt der Ausstellung.
100 Jahre Deutschland – 100 Jahre Helmut Schmidt
Bevor nun ein Blick in die Ausstellungsräume geworfen wird, ist es wichtig, den Titel – »Demokratie leben« – zu kontextualisieren. Denn dieser gibt nicht nur die Marschrichtung der Ausstellung vor. Er sagt uns, wie wir uns an Schmidt erinnern sollen. Neben dem Hinweis auf sein langes Leben, immerhin wurde er 96 Jahre alt, lautet die Botschaft: Helmut Schmidt war ein aufrechter Demokrat, der von der parlamentarischen Demokratie nicht nur überzeugt war, sondern diese wirklich »gelebt« habe. Die Ausstellung erinnert an und ehrt also auf eine emotionale Weise einen »Superdemokraten«. Warum die Ausstellung diesem Titel zwangsläufig nicht gerecht werden kann, hängt mit dem hier normativ verwendeten, nicht näher definierten Demokratiebegriff zusammen, der neben der Person das bestimmende Thema dieser Ausstellung zu sein scheint.
Wer war also Helmut Schmidt? Den jüngeren Menschen in der Bundesrepublik ist er wohl als kettenrauchender Welterklärer in Erinnerung. Schmidt hatte für alles eine Antwort und saß vornehmlich alleine in Talkshows, damit es bloß keinen Widerspruch gab. Den Hamburger:innen mag er noch als »Herr der Flut« in Erinnerung sein. Ein Mythos, an dem viele Medien und Schmidt selbst bis zu seinem Tod gearbeitet haben: Das Bild des »Machers«, der »Krisenmanager«, der nicht lange schnackt, sondern einfach das Richtige macht – und dem dabei auch mal das Grundgesetz egal ist. Dieses Bild des »Machers« ist wohl das beständigste Erbe des 2015 Verstorbenen. Doch sei dies, so möchte die Ausstellung zeigen, zu kurz gegriffen. Denn natürlich war er viel mehr: Ein Europäer, Pragmatiker und Realpolitiker, der für sein »oft weitsichtiges Handeln im Kontext großer internationaler Herausforderungen« bekannt sei, wie es im Einführungstext heißt – Krisenmanager, aber weltweit.
Die Wehrmacht und der Schlussstrich
Die Großfotografien sind das alles bestimmende visuelle Element der Ausstellung. Dies lässt eine Perspektive auf Helmut Schmidt zu, die sicher nicht im Sinne der Ausstellungsmacher:innen war. So fällt – noch bevor der eigentliche Ausstellungsraum betreten werden kann – ein Foto Schmidts ins Auge, das ihn im Jahr 1940 in der Uniform der deutschen Luftwaffe als Leutnant der Reserve zeigt. Schmidt war Offizier, wurde im Laufe des Krieges Oberleutnant. An der Ostfront eingesetzt, war er unter anderem an der Belagerung von Leningrad und womöglich auch an Kriegsverbrechen beteiligt. Nachweisen konnte man ihm das nie, doch seine Selbstverteidigung, die bis zu der Behauptung reichte, er sei sogar ein Gegner der Nazis gewesen, war schon immer unglaubwürdig. Selbstredend habe er auch von der Shoah keinerlei Kenntnis gehabt – dabei reiste er als Ausbilder in »Kriegsschulen« quer durch das Deutsche Reich und die im Krieg besetzten Gebiete. Wenige Meter hinter dieser Fotografie findet sich eine weitere, diesmal von seiner Vereidigung zum Bundeskanzler 1974. Von der Wehrmacht ins Kanzleramt: eine (west-)deutsche Karriere. Eine erfolgsbiografische Illusion für die Schmidt wohl nur Willen – und Zigaretten – brauchte.
Der erste Thementisch zum Wehrmachts-Foto hat es in sich. Er soll das Bild kontextualisieren, kann aber obige Erfolgsgeschichte kaum mehr einfangen. Auf die eklatanten Erinnerungslücken Schmidts weist das bereitgestellte Material zwar hin, aber es steht neben seiner Erzählung, als ob es zwei legitime Sichtweisen wären, die sich gegenseitig die Balance halten. Darüber hinaus wird der Begriff der »Pflicht« stark gemacht. Schließlich sei es soldatische Pflicht gewesen, die Stadt Leningrad zu belagern. Ein fast schon amüsanter Euphemismus für Mitläufertum, wenn es denn nicht so ernst wäre. Ein auf dem Thementisch gezeigter Film fasst dann die ganze Absurdität zusammen: Als Schmidt 1977 als erster Kanzler überhaupt nach Auschwitz zu einer Gedenkfeier anreiste, sprach er nicht über die Opfer der Shoah. Deutsche seien die ersten Opfer gewesen! Und überhaupt hätten die Deutschen 32 Jahre nach Kriegsende damit auch nichts mehr zu schaffen. Heute wäre es undenkbar, so etwas zu sagen – damals war es das auch. Nach dem Warschauer »Kniefall« von Willy Brandt sieben Jahre zuvor waren solche Worte aber offensichtlich Balsam auf die geschundene Seele der (West-)Deutschen.
Es irritiert insbesondere an dieser Stelle, dass die Stiftung Schmidts eigenes Narrativ reproduziert und als legitime Haltung darstellt. Dieser Eindruck verstärkt sich durch ein ebenfalls an diesem Tisch gezeigtes Gespräch, das zur ersten »Wehrmachtsausstellung« im Jahr 1995 im Zeit-Magazin abgedruckt wurde. So wollte Schmidt sich diese Ausstellung gar nicht erst ansehen: wiederholt betont er, nichts von den Verbrechen der Wehrmacht an der Ostfront gewusst zu haben, was er bei einer Wiederauflage des Gespräches noch einmal unterstrich. Natürlich erwartet nun niemand in dieser Ausstellung eine fundamentale Kritik an der Person Schmidts oder eine Analyse seiner nicht haltbaren Verteidigungsstrategie. Mit Begriffen wie Vernunft oder Nüchternheit, die Schmidt sich selbst attestierte und die ihm bisweilen attestiert werden (siehe die einschlägigen Biografien), hat das allerdings wenig zu tun. Denn man könnte doch meinen, dass der kantische Vernunftbegriff die Fähigkeit zur (Selbst-)Reflexion einschließt.
Der »Herr der Flut« und die wilden 70er
Es folgt – nach der plötzlichen Läuterung zum Sozialdemokraten 1945 – ein etwas längerer Abschnitt in Schmidts Leben (1945–1969): Schmidt war ab Dezember 1961 Senator der Polizeibehörde (ab Juni 1962 Innensenator) und nahm vor allem eine prominente Rolle in der Nacht der Hamburger Sturmflut vom 17. auf den 18. Februar 1962 ein. Immerhin wird in der Ausstellung nicht mit dem beliebten Zitat gearbeitet, dass dem Demokraten so gar nicht zusagen würde (das mit dem Grundgesetz). Gebrochen wird der »Macher«-Mythos allerdings auch nicht, denn das Thema bleibt eine Randnotiz. Diese Marginalisierung ist befremdlich: Ranken sich doch allerlei Geschichten um dieses Ereignis.
Der Rest der Ausstellung folgt dem bekannten Muster. Eine Großfotografie zeigt Schmidt und ein Zitat. Auf dem jeweiligen Thementisch wird die Perspektive etwas geweitet, aber nie zu weit: Die Ausstellung wird durchzogen von einer kontinuierlichen Dichotomie zwischen der Position und Argumentation Schmidts und dem Rest der Welt. Gebrochen wird diese personenzentrierte visuelle Erzählung nur im Bereich der Kanzlerschaft Schmidts. Die hier gezeigten Fotografien zeigen Themen der 1970er und 1980er Jahre: Ein bisschen Wirtschaftskrise, RAF, Anti-Atom- und Friedensbewegung. Auf den Tischen bleibt jedoch die Herangehensweise: Eine historische Einordnung findet nicht statt, die Position Schmidts wird hingegen als vernunftgeleitet dargestellt. Im Umkehrschluss sind es die Gegenpositionen häufig nicht. So wird etwa am Thementisch »Deutscher Herbst« erst auf einer unteren Film-Ebene von Hans-Jochen Vogel (1974–1981 Justizminister im Kabinett Schmidt) zugegeben, dass der Staat eigentlich nie wirklich in Gefahr war. Dabei legitimierte dieses Bedrohungsszenario allerlei Politiken und eine Aufrüstung des Polizeiapparats, die in der Bundesrepublik bis dato beispiellos war. Während die Rollenverteilung beim RAF-Terrorismus wenig Spielraum lässt, verhält es sich bei den in den 1970er Jahren aufkommenden Neuen Sozialen Bewegungen schon anders. Denn hier zeigt sich, welchen Demokratiebegriff Schmidt pflegte. So konnte er zwar die Anti-AKW-Demonstrationen in Brokdorf nicht verhindern, rief aber dazu auf, nicht auf die Straße zu gehen. Auch drohte Schmidt als Kanzler mehrfach mit Rücktritt, sollte seinem Willen – Atomkraftwerke zu bauen – nicht nachgekommen werden. In Schmidts Verständnis von Demokratie war für die Sozialen Bewegungen kein Platz. Zulässige, also von ihm anerkannte Stimmen, gab es nur im Parlament und in seiner Partei. Doch auch letztere und Schmidt entfremdeten sich im Laufe seiner Kanzlerschaft zunehmend. Ein Spannungsverhältnis, dass bis zu seinem Tod nicht mehr aufgelöst wurde. Dass die Partei in der Ausstellung kaum stattfindet, scheint folgerichtig: Schmidt als überparteilicher Lenker, Denker und Welterklärer. Eine weitere Inszenierung Schmidts, die hier unhinterfragt weitergetragen wird.
Demokratie und Kritik
Nachdem auf dem letzten Kanzlertisch noch eben die Themen Europa, DDR und die restliche Welt eher wackelig abgehandelt werden, beginnt der letzte Bereich, also seine Zeit als Publizist und Mit-Herausgeber der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit. Es ist jene Lebensphase, in der Schmidt an seiner eigenen Legende arbeitete, wie der Historiker Axel Schildt 2017 feststellte. Mit diesen Aktivitäten schuf Schmidt ein Bild von sich, dem diese Ausstellung weitestgehend folgt.
Entsprechend wird sich in diesem Abschnitt auch nicht mit den rassistischen und kulturalistischen Positionen Schmidts auseinandergesetzt. Dabei sind diese Positionen nicht seiner späten Senilität geschuldet – sprach er doch bereit 1992 von einer »Überschwemmung« und »Entartung« der deutschen Gesellschaft –, sondern lassen einen roten Faden in Schmidts Politikverständnis erkennen. Würde dieser genauer untersucht, so würde sich zeigen, dass sein Weltbild nicht viel mit Nüchternheit oder Vernunft zu tun hat, ja vielmehr offenbart sich eine regelrechte Intellektuellenfeindlichkeit. Die Möglichkeit, auch diese Seiten Schmidts zu zeigen und zu diskutieren, wurde hier nicht genutzt. So kann die Ausstellung einer historisch-kritischen Einordnung der Person nicht gerecht werden, eine nüchterne Perspektive auf den fünften Bundeskanzler fehlt. Schmidts Politikverständnis blieb ein elitäres und exklusives. Die Ausstellung folgt weitestgehend dem Bild Schmidts, das dieser selbst installiert hat: ein überparteilicher Superdemokrat und Lotse (Bismarck lässt grüßen!), der die Bundesrepublik durch schwere Fahrwasser steuerte und eigentlich auch immer recht behielt – mit dieser Dauerausstellung nun auch über seinen Tod hinaus.
Lars Engelhardt, August 2021
Der Autor ist studierter Literaturwissenschaftler und als derzeit prekär Beschäftigter – unter anderem Uber-Fahrer in Teilzeit – schon länger enttäuscht von den leeren Versprechen der (Hamburger) Sozialdemokratie. Die Stadt Hamburg, so meint er, verdient Ausstellungen wie diese.