»Wanderstraßen der Kultur«
Das Bibliotheksgebäude, in dem der Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929) die letzten Jahre seines Lebens forschte, steht immer noch in Hamburg. Sein Bestand – ca. 60.000 Bände und Warburgs Aufzeichnungen – konnte 1933 nach London gerettet werden. Eine Ausstellung bringt Warburgs unvollendetes Hauptwerk, den Bilderatlas Mnemosyne, nun zurück.
In der Heilwigstraße 116 befindet sich in einem ansonsten unauffälligen Villenviertel Hamburgs an einem Zufluss zur Alster gelegen ein Backsteinbau, über dessen Eingang der Schriftzug »Mnemosyne« prangt. Darüber stehen an der backsteinernen Außenfassade die drei Buchstaben K, B und W, als Kürzel für Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg.
Ihr Bauherr Aby Warburg, der Privatgelehrte und Spross der bis heute bestehenden lokalen Bankiersdynastie, ließ das Gebäude 1926 erbauen, um in ihr seine wachsende Bibliothek unterzubringen. Mit dem Neubau schuf Warburg eine für die damalige Zeit neuartige Institution, deren Innovationsgehalt sich sowohl in der infrastrukturellen Gestaltung als auch in der wissenschaftlichen Ausrichtung niederschlug – Kunstgeschichte sollte hier als Kulturgeschichte, mithin als breit angelegte Kulturwissenschaft betrieben werden.
Der Bilderatlas Mnemosyne
Betritt man das Gebäude, sieht man, dass in den Sturz der Tür zum Bibliothekssaal ein Wort in griechischen Lettern eingemeißelt ist: »ΜΝΕΜΟΣΥΝΗ«. Dieser Begriff verweist auf Warburgs viel beachtetes und zugleich unzugänglichstes Werk, das er an diesem Ort mit seinen Mitarbeiter:innen – Gertrud Bing und Fritz Saxl – schuf: den Bilderatlas Mnemosyne. Den Begriff der Mnemosyne übernahm Warburg aus der evolutionsbiologischen Forschung zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Dort bestanden bereits Ansätze, etwa durch Richard Semon, zur Übertragung auf die Kulturgeschichte: Mneme, die griechische Muse der Erinnerung, wurde zur Namensgeberin für die Annahme eines erhaltenden Prinzips erworbener Eigenschaften im Bereich der Kultur. Warburg knüpfte an diese Annahmen an, die er mitsamt dem Begriff in seine kunstgeschichtliche Arbeit übertrug. In seiner Forschungsarbeit weitete er damit das Verständnis einer hergebrachten Kunstgeschichte aus und überführte sie in eine breitangelegte Kulturwissenschaft.
Mnemosyne bezeichnet nun das Erinnern als gesamten Prozess. Mit den Mitteln der Ikonographie versuchte Warburg, ein geographisches sowie thematisches Wandern von Formen, Mustern und Stilen durch die Geschichte in Abhängigkeit zu den jeweilig herrschenden gesellschaftlichen Zuständen nachzuzeichnen. Hierzu entwickelte er mit seinen Mitarbeiter:innen den Bilderatlas Mnemosyne: Auf insgesamt 63 Tafeln wurden von Warburg und seinen Mitarbeiter:innen auf schwarzem Grund fotografische Reproduktionen arrangiert. Dabei handelt es sich um Kunstwerke aus dem Nahen Osten, der europäischen Antike und der Renaissance neben zeitgenössischen Zeitungsausschnitten sowie Werbeanzeigen. Die Tafeln des Bilderatlas stellen das zentrale Hilfsmittel innerhalb des durch Warburg entwickelten experimentellen Verfahrens zur Vergegenwärtigung der kulturgeschichtlichen Entwicklung dar. Anhand der fotografischen Reproduktionen lässt sich die Überlieferung nachvollziehen – es lassen sich Prozesse des Erinnerns anhand der Wanderung durch die Kulturgeschichte sowohl visuell darstellen als auch nachvollziehen. Zeitgenössisch ausgedrückt, richteten sich Warburgs Forschungen auf die Entwicklung einer medientheoretischen Genealogie von Bildmotiven.
In den Dienst der Erkundung des Erinnerungsprozesses stellte Warburg seine in Hamburg-Eppendorf gelegene kulturwissenschaftliche Bibliothek. Nach Warburgs Tod im Herbst 1929 von seinen Mitarbeiter:innen weitergeführt, wurden die Bestände auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach London verschifft. Dabei konnte auch das Material zu Warburgs letztem großem Projekt, dem Bilderatlas, gerettet werden. Zur Erhaltung des Bibliotheksbestands entstand in London das bis heute, auch gegen kostensparende Eingliederungsversuche der University of London, weiterhin bestehende Warburg Institute.
Wiederentdeckung des Bildmaterials
Zu Lebzeiten Warburgs nicht mehr abgeschlossen und danach mit dem Bestand der KBW von seinen Mitarbeiter:innen ins Londoner Exil verschifft, hatten die Originalabbildungen vom Herbst 1929 in ihrer Mehrzahl überlebt. Für die Nachwelt kaum nachvollziehbar, lagerten die einzelnen Abbildungen im Bildarchiv des Warburg Institute. Die Wiederentdeckung des Bildmaterials und die Ergebnisse der Rekonstruktionsarbeiten sind derzeit in einer Ausstellung in der Außenstelle der Deichtorhallen in der Sammlung Falckenberg in Harburg zu besichtigen. Erstmalig kann damit in Hamburg der geneigten Öffentlichkeit der Bilderatlas vollständig rekonstruiert präsentiert werden, was nicht allein sensationell ist, sondern den mehrfachen Besuch lohnt. Besucher:innen können anhand der einzelnen Tafeln des Atlas das Wandern der Bilder eigenständig nachverfolgen.
Kuratiert wurde die Ausstellung von Axel Heil und Roberto Ohrt sowie dem Warburg Institute in Zusammenarbeit mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt. Die Ausstellung ist noch bis zum 31. Oktober 2021 in der Sammlung Falckenberg in Harburg zu besichtigen. Weitere Informationen unter gibt es hier.
Wer es bis dahin nicht schafft, dennoch aber einmal mehr von dem Hamburger Kulturwissenschaftler und seinem Schaffen erfahren möchte, dem sei die nachfolgende Ausgabe der Deutschlandfunk Sendung Lange Nacht über den Kulturwissenschaftler Aby Warburg anempfohlen.
Fred Stiller
Der Autor lebt und lohnarbeitet in Hamburg. Er hält die Stadt und ihre Bewohner:innen im Gegensatz zu ihrer Größe für intellektuell und (sub-)kulturell mit anderen Provinzstädten vergleichbar. Dennoch schätzt er die nährenden Brotkrumen, durch welche sich die Stadt vor anderen ihrer Größe und Konstitution auszeichnet.