»Arisieren« und Ausbeuten
Hamburger Handelsfirmen beteiligten sich während des Zweiten Weltkriegs intensiv an der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft im östlichen Europa. Die Geschichte dieser Zusammenarbeit spielt in der lokalen Erinnerungskultur praktisch keine Rolle. Unser Autor leuchtet die Hintergründe des sogenannten »Osteinsatzes« der Hamburger Wirtschaft aus.
In Hamburg hat der Gemeinplatz, demnach Geld die Welt regiere, eine städtebauliche Entsprechung: An das imposante Hamburger Rathaus schließt ein weiteres repräsentatives Bauwerk unmittelbar an: Die Börse, Sitz der Hamburger Handelskammer, ist durch einen gemeinsamen »Ehrenhof« mit den Räumen der Hamburgischen Bürgerschaft verbunden. Dass Architektur den Zusammenhang von politischer Herrschaft und wirtschaftlicher Macht derart versinnbildlicht, scheint indes eine hanseatische Besonderheit zu sein: In Bremen residiert die Handelskammer im »Haus Schütting« – mit Blick auf das Rathausgebäude.
Wie diese Baulichkeiten erahnen lassen, bildeten die hansestädtischen Kaufmannschaften bis weit ins 20. Jahrhundert hinein die unangefochtenen gesellschaftlichen Eliten ihre Städte. Dass insbesondere Hamburg dabei ein koloniales Erbe mit sich schleppt, gewinnt langsam an erinnerungskultureller Bedeutung. So beteiligte sich eine ganze Reihe von Hamburger Kaufleuten maßgeblich am Erwerb deutscher Kolonien in Afrika. Weniger bekannt ist, dass die hiesige Kaufmannschaft – selbsterklärte »ehrbare Kaufleute« – tief in nationalsozialistische Verbrechenskomplexe involviert waren. Dabei geht es nicht nur um die Teilhabe Hamburger Unternehmer an der Verdrängung und Enteignung jüdischer Gewerbetreibender, der sogenannten »Arisierung« . Zahlreiche historische Quellen (und nach wie vor nur wenige Forschungsarbeiten1Götz Aly, Susanne Heim, Vordenker der »Vernichtung«. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, überarbeitete Neuauflage, Frankfurt am Main 2013 (zuerst Hamburg 1991), 216−221;
Frank Bajohr, »Arisierung« in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945, Hamburg 1997, 325−331;
Karl Heinz Roth, Ökonomie und politische Macht. Die »Firma Hamburg« 1930–1945, in: Ebbinghaus, Angelika/Linne, Karsten (Hg.), Kein abgeschlossenes Kapitel. Hamburg im »Dritten Reich«, Hamburg 1997, 15−176;
Karsten Linne, Deutsche Afrikafirmen im »Osteinsatz«, in: 1999 16 (2001), H. 1, 49–90.) zeigen zudem, dass hansestädtische Firmen während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Polen und den besetzten Teilen der Sowjetunion aktiv waren.
Wieso betätigten sich hansestädtische Unternehmen im besetzten Polen?
Als die Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfiel, erklärten Frankreich und Großbritannien Deutschland den Krieg. Die Briten errichteten sofort eine Seeblockade gegen das Deutsche Reich, die die Wirtschaft Hamburgs und Bremens von ihren überseeischen Betätigungsfeldern abschnitt. Die Handelskammern und ihre Mitgliedsfirmen suchten nun händeringend nach alternativen Geschäftsmöglichkeiten innerhalb Europas. Die Hamburger Kaufmannschaft hatte bereits in den Vorjahren ein dichtes Lobbynetzwerk in die Institutionen des NS-Staats eingeflochten und kooperierte eng mit dem hamburgischen NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann und dessen Apparat. Die Hamburger Außenhandelskaufleute litten nämlich seit 1933 unter der NS-Rüstungspolitik, die der Industrie zwar nutzte, den Außenhandel aber massiv einschränkte. Auf der Suche nach Kompensation banden sich die Kaufmannseliten an den nationalsozialistischen Herrschaftsapparat. Dieser eröffnete den Kaufleuten wiederum die Perspektive, an der »Arisierung« sowie der territorialen Expansionspolitik NS-Deutschlands auf profitable Weise teilzuhaben. So hatten die Hamburger NSDAP-Führung und die Handelskammer nach dem »Anschluss« Österreichs 1938 darauf hingearbeitet, dass hamburgische Handelsfirmen und Speditionen von der »Arisierung« in der Handelsmetropole Wien profitierten.
Die Eroberung Polens nahm hanseatischen Unternehmern also ihr traditionelles Arbeitsfeld, eröffnete jedoch gleichzeitig neue Felder, die Ausgleich zu versprechen schienen. In den zentralpolnischen Gebieten, die die Deutschen als »Generalgouvernement« (GG) unterwarfen, ergab sich im Frühjahr 1940 eine wirtschaftliche Kooperation mit dem NS-Besatzungsapparat. Und zwar beschloss die Regierung des GG in Krakau, hansestädtische Handelsfirmen für eine Tätigkeit im besetzten Gebiet heranzuziehen. Um die polnische Wirtschaft für deutsche Zwecke zu mobilisieren, sollten die Kaufleute ein neues Handelssystem aufbauen. Der bisherige polnische Handel galt den Nationalsozialisten nämlich als »verjudet«, denn er wurde bislang weitgehend von jüdischen Kaufleuten getragen. Diese wollten die Besatzer nun verdrängen.
Forciert durch das hanseatische Lobbynetzwerk und die Handelskammern eröffnete 1940 einige deutsche Handelsfirmen Filialen im GG, die meisten stammten aus Hamburg und Bremen. Als das Gebiet nach dem Angriff auf die Sowjetunion 1941 vergrößert wurde, sollten weitere folgen. Anhand von Archivquellen lassen sich insgesamt 51 hamburgische Unternehmen benennen, die in diesem Teil Polens tätig wurden. Elf weitere Firmen stammten aus Bremen. Die Mehrheit von ihnen arbeitete unter strengen behördlichen Vorgaben als sogenannte Kreisgroßhandelsfirmen, die in den einzelnen Landkreisen des GG Niederlassungen eröffneten, die die NS-Behörden mit Monopolen ausstatteten. Viele der Firmen war bis 1939 in Kolonien tätig gewesen. Es befanden sich darunter renommierte Überseehäuser mit langer Tradition, zum Beispiel C. Woermann, G. L. Gaiser oder Arnold Otto Meyer.
Judenverfolgung und Ausbeutung: Der »Osteinsatz« hanseatischer Kaufleute
Die Kreisgroßhandelsfirmen hatten dabei eine Doppelaufgabe. Die erste Aufgabe bestand darin, mit ihrem so bezeichneten »Osteinsatz« die wirtschaftliche Existenzvernichtung der jüdischen Bevölkerung zu unterstützen, die die NS-Besatzer schnellstmöglich durchführen wollten. Die Expropriation der Jüd:innen hatte anfangs zu schweren Störungen der Wirtschaft geführt, da mit ihr der Handel zusammengebrochen war. Indem die Hamburger und Bremer die ökonomische Rolle der jüdischen Gewerbetreibenden übernahmen, konnten unerwünschte Begleiterscheinungen der »Arisierung« gemindert werden. Die Hansestädter profitierten somit von der Judenverfolgung, indem sie an deren wirtschaftliche Stelle traten und deren Warenbestände teilweise übereignet bekamen.
Führender Kopf dieser Maßnahmen war der Hamburger Ökonom und Wirtschaftsfunktionär Walter Emmerich, der eng mit der Handelskammer sowie der Hamburger NSDAP verbunden war und seit Juni 1940 die Wirtschaftsabteilung der Krakauer Besatzungsregierung leitete. Er konzipierte die Enteignung der jüdischen Gewerbetreibenden als »rassische Neuordnung« der polnischen Wirtschaft. In dieser sollten die hanseatischen Großhändler eine Oberschicht bilden, die über eine nicht-jüdische polnische Mittelschicht herrschte. Als Unterschicht blieben christliche polnische Arbeiter und Bauern, denn die jüdische Bevölkerung sollte vollständig verschwinden. In der Tat übergab die NS-Administration die Positionen im Einzelhandel, die durch die Enteignung der Juden frei wurden, an nicht-jüdische Polen, die damit ebenfalls von der antisemitischen Politik profitierten. Die einheimischen Kleinkaufleute waren dabei den hanseatischen Großhandelsfirmen untergeordnet. Emmerich und insbesondere die Kaufleute mit Erfahrungen in Afrika betrachteten das besetzte Polen und seine Bevölkerung dabei durch eine koloniale Brille. So schrieb etwa der Inhaber einer Firma, die bis 1939 in afrikanischen Territorien tätig gewesen war, in einem Tätigkeitsbericht von 1944, den das Bremer Staatsarchiv verwahrt: »Einen Begriff vom Wert der Zeit hat der polnische Bauer und Kleinhändler – auch der Arbeiter – nicht, und die ganze Primitivität des Handels, der Umgebung und der Menschen erinnerte uns manchmal stark an Afrika.«
Der zweite Teil jener Doppelaufgabe der Firmen, die ihre Betriebe teilweise mit kolonialwirtschaftlichen »Faktoreien« verglichen, bestand darin, die NS-Besatzer bei der Ausbeutung der polnischen Landwirtschaft zu unterstützen. Die Krakauer Administration zwang die polnische Landbevölkerung mit brutaler Gewalt, ihre Feldfrüchte und ihr Vieh an den deutschen Wirtschaftsapparat zu verkaufen – zu niedrigen, behördlich festgelegten Preisen. Die Landwirte schlugen ihre Produkte jedoch lieber auf dem für sie viel rentableren Schwarzmarkt los, der für die hungernde Bevölkerung überlebenswichtig war. Um diesen illegalen Handel zu unterbinden, schufen die Besatzer zusätzliche positive Ablieferungsanreize in Form sogenannter »Prämienwaren«. Bäuer:innen, die ihre Produkte ablieferten, erhielten Bezugsscheine mit denen sie die »Prämien« erwerben konnten, die die hansestädtischen Kreisgroßhandelsfirmen in den Handel einspeisten. Das waren hauptsächlich Textilien und andere industriell hergestellte Konsumprodukte. Mit dem Vertrieb der »Prämien« übernahmen diese Firmen eine tragende Rolle im NS-Ausbeutungsapparat. Das Prämiensystem entwickelte für die Besatzungswirtschaft zentrale Bedeutung. Um die Deutschen zu sättigen, hungerte die NS-Führung skrupellos die Menschen in den besetzten Gebieten aus. Der Landwirtschaft im GG pressten die Besatzer Jahr für Jahr immer größere Getreidemengen ab, allein 1943/44 waren es 1,5 Millionen Tonnen. Die Hamburger und Bremer Kaufleute, die die für dieses System von Peitsche und Zuckerbrot benötigten »Prämien« verkauften, steigerten zugleich ihre Umsätze und Profite.
»Hamburger Kaufleute vom Generalgouvernement bis zum Kaukasus«
Das hansestädtische Engagement in Zentralpolen erwies sich für die beteiligten Deutschen als Erfolg und das GG somit als Versuchslabor für viel weitergehende Aktivitäten im besetzten »Osten«. Nach dem Überfall auf die UdSSR preschten die Hamburger los, um sich an der Ausbeutung dieser Territorien ebenfalls zu beteiligen. Internen Unterlagen der Handelskammer Hamburg zufolge wurden 179 hamburgische Firmen in den besetzen Teilen der Sowjetunion aktiv beziehungsweise waren dafür »vorgemerkt»«. Außerdem arbeiteten demnach 700 Hamburger Kaufleute für die Zentralhandelsgesellschaft Ost, die die sowjetische Landwirtschaft ausbeutete. Der Präses der Handelskammer Joachim de la Camp frohlockte in seiner Silvesteransprache von 1942: »Unternehmerinitiative hat ferner gerade in Hamburg einen Weg gefunden, an den wir vor dem Krieg noch nicht denken konnten. […] Beginnend mit der Westgrenze des Generalgouvernements bis zu den Bergen des Kaukasus, finden Sie zur Erschließung der wirtschaftlichen Möglichkeiten Hamburger Menschen und Hamburger Firmen in großer Zahl.« Zuvor hatte Hans E. B. Kruse, Vizepräses der Kammer, bereits intern festgestellt, es stehe »Hamburg im Osten an führender Stelle«. An zweiter Stelle kamen die zahlreichen Bremer Unternehmen, die in der besetzten UdSSR tätig wurden. Zwar stehen vergleichende Forschungen noch aus, doch allem Anschein nach war das hansestädtische Engagement im besetzten Osteuropa besonders groß.
Die Hamburger Kaufleute begannen, den »Osten« als ihr neues Kolonialgebiet zu betrachten. In den Vorjahren hatten sie noch gehofft, dass Deutschland Kolonien in Afrika zurückerhalte. Doch 1941 hieß es etwa bei der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft, einer hamburgischen Handelsfirma, die nun im GG tätig war: »Momentan gilt die Parole: Die Kolonien liegen im Osten!« Die hanseatischen mental maps, die bislang auf Länder und Territorien jenseits der Ozeane konzentriert gewesen waren, hatten sich gewandelt. In Übersee wollten die Kaufmannschaften nach dem erwarteten Kriegsende erneut tätig werden, doch Osteuropa sollte diese Betätigungsfelder nun wesentlich ergänzen. Der Kolonialstandort Hamburg passte seine Ausrichtung somit an die wirtschaftliche Großwetterlage an, die Hitlers Herrschaft brachte, der nicht von Kolonien in Afrika träumte, sondern von »Lebensraum im Osten«.
An die breite Teilhabe hamburgischer Wirtschaftskreise an der NS-Besatzungsherrschaft erinnert in der Stadt fast nichts. Die meisten der beteiligten Unternehmen, die heute noch existieren, wollen von ihrer problematischen Geschichte nichts wissen. Eine Auftragsstudie der Handelskammer von 2015, die beanspruchte die NS-Geschichte der Institution aufzuarbeiten, stieß wegen ihrer beschönigenden Stoßrichtung auf scharfe öffentliche Kritik. Zwar bemühte sich die Kammer in letzter Zeit stärker um die »Aufarbeitung« ihrer NS-Vergangenheit, etwa indem sie ihrer jüdischen Mitglieder gedachte, die während der NS-Zeit verfolgt wurden. Die Diskussion um die historische Schuld der hansestädtischen Wirtschaftseliten ist jedoch längst nicht abgeschlossen.
Felix Matheis, Oktober 2021.
Der Autor ist Historiker in Hamburg und hat im Rahmen seiner Doktorarbeit intensiv zur Beteiligung Hamburger und Bremer Kaufleute an der Besatzungsherrschaft im Generalgouvernement geforscht.
- 1Götz Aly, Susanne Heim, Vordenker der »Vernichtung«. Auschwitz und die deutschen Pläne für eine neue europäische Ordnung, überarbeitete Neuauflage, Frankfurt am Main 2013 (zuerst Hamburg 1991), 216−221;
Frank Bajohr, »Arisierung« in Hamburg. Die Verdrängung der jüdischen Unternehmer 1933–1945, Hamburg 1997, 325−331;
Karl Heinz Roth, Ökonomie und politische Macht. Die »Firma Hamburg« 1930–1945, in: Ebbinghaus, Angelika/Linne, Karsten (Hg.), Kein abgeschlossenes Kapitel. Hamburg im »Dritten Reich«, Hamburg 1997, 15−176;
Karsten Linne, Deutsche Afrikafirmen im »Osteinsatz«, in: 1999 16 (2001), H. 1, 49–90.
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