Vom Antisemitismus übertönt
Zamzam Ibrahim durfte auf Kampnagel sprechen. Während draußen eine propalästinensische Demo antizionistische Parolen brüllte, eröffnete sie das Klima-Festival online per Zoom – und setzte mit ihrer Mischung aus Esoterik und raunender ›Systemkritik‹ den Ton fürs Wochenende. Jüdische und antisemitismuskritische Stimmen wurden von diesem ›vielstimmigen‹ Chor übertönt.
»Ich sollte nicht hier sein.« Diesen Satz äußerte Dor Aloni in einem so persönlichen wie politischen Statement, das er seiner Performance Atlantis am Donnerstagabend im Saal K4 auf Kampnagel voranstellte und in dem er seiner Kritik an der Einladung Zamzam Ibrahims deutlichen Ausdruck verlieh. Alonis Satz lässt sich auf zwei Arten verstehen: als Feststellung, dass er als jüdisch-israelischer Theatermacher auf einem Klimafestival, das von einer antisemitischen Rednerin eröffnet wurde, fehl am Platze ist; und als Hadern mit seiner Entscheidung, nun auf Kampnagel aufzutreten, obwohl Zamzam Ibrahim nicht ausgeladen wurde.
Denn seit Aloni Anfang der Woche erfahren hatte, wessen Keynote-Vortrag den Klimaschwerpunkt »How Low Can We Go?« eröffnen solle, in dessen Rahmen auch er auftreten würde, konnte er nicht mehr ruhig schlafen. Auch davon sprach er in seinem Statement. Für ihn, dessen Familie in Israel lebt und der durch den antisemitischen Terror der Hamas vom 7. Oktober auch Kolleg:innen verloren hat, war der Gedanke unerträglich, einen (Diskurs-)Raum mit einer Aktivistin zu teilen, die den Terror der Huthi im Jemen und der Hamas in Israel als ›Widerstand‹ verklärt. Am Dienstag hatte er daher bei der Kampnagel-Leitung interveniert und deutlich gemacht, dass für ihn hier eine rote Linie überschritten ist: Entweder Ibrahim wird ausgeladen, oder er sagt seine Auftritte ab.
Kampnagel befand sich dadurch in einer misslichen Lage: Dass ein jüdischer Künstler sich aus Protest gegen die Tolerierung antisemitischer Positionen und aus Sorge um sein Wohlbefinden zurückzieht, wäre für ein – laut Selbstdarstellung »diskriminierungssensibles« – deutsches Theater gelinde gesagt problematisch. Aber eine antiisraelische Aktivistin auszuladen, zumal eine, die Schwarz und muslimisch ist, hätte Kampnagel wohl ebenso geschadet, insbesondere in der internationalen ›freien Szene‹, in der Terrorapologie weithin als ›Israelkritik‹ zu gelten scheint und jede Kritik daran als ›Silencing‹ und ›Cancel Culture‹ beklagt wird.
Um wessen Sicherheit geht es?
Man kann sich vorstellen, wie der »empathische Dialog« (Kampnagel-Leitbild) aussah, in dem Aloni unter Druck gesetzt wurde, Kampnagel doch nicht in diese Lage zu bringen. Und tatsächlich ließ er sich auf einen Alternativvorschlag ein: Am Mittwoch verkündete Kampnagel, dass man Zamzam Ibrahim nicht auslade, dass sie aber nur online, per Zoom-Zuschaltung, sprechen werde. Dies als Kompromiss oder salomonische Lösung zu bezeichnen, wäre jedoch völlig verfehlt. Denn erstens bot man Ibrahim so weiterhin eine Bühne (und sogar eine größere als zuvor); und zweitens wurde in der am Mittwochabend veröffentlichten Erklärung der Antisemitismus konsequent entnannt, während Ibrahim zum Opfer einer rassistischen Kampagne stilisiert wurde.
Zu den »Antisemitismusvorwürfen« gegen Ibrahim äußert Kampnagel sich in der Erklärung mit einer Distanzierung, die sich schwächer nicht formulieren ließe: »In der Tat sind von der Speakerin Äußerungen bekannt geworden, die auch wir so nicht teilen können.« Nicht ›antisemitische Äußerungen‹ oder wenigstens ›Äußerungen, die wir nicht teilen‹, sondern: ›Äußerungen, die wir so nicht teilen können.‹ Was mag das heißen – so nicht, aber in anderer Form schon? Kampnagel wollte dazu auf Nachfrage nichts antworten.1Wenn Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard gegenüber Untiefen lediglich allgemein proklamiert: »Wir distanzieren uns in aller Deutlichkeit von antisemitischen und israelfeindlichen Haltungen«, muss sie sich die Frage gefallen lassen: Wo war diese Deutlichkeit im konkreten Falle Zamzam Ibrahims?
Als verantwortlich für die Verlegung ins Internet präsentiert die Erklärung nicht Ibrahims Antisemitismus, sondern zum einen das mangelnde Vertrauen »Einzelner« in die Versicherung Kampnagels, »dass es im Rahmen des Klimaschwerpunktes zu keiner antisemitischen Äußerung kommen wird«, und zum anderen die mediale Verbreitung der Kritik und die dadurch laut werdenden »Aufrufe zum Verhindern der Keynote«. Beklagt wird schließlich noch, die Berichterstattung habe »rassistische und islamfeindliche Narrative« hervorgerufen. Auch wenn vage von der »Sicherheit aller Anwesenden« geschrieben wird, ist der Tenor deutlich: Weil Ibrahim von einem aufgeheizten Mob bedroht werde, könne sie zu ihrem eigenen Schutz nur online sprechen.
Es ist eine klassische Form des relativierenden Umgangs mit Antisemitismus: Als Problem gilt nicht der Antisemitismus selbst, sondern der Umstand, dass er benannt und kritisiert wird – und dass Konsequenzen aus dieser Kritik gefordert werden.2Auch in Ihren Eröffnungsworten nannte Amelie Deuflhard die Debatte als Grund für die Verlegung ins Internet: »The controversy around the keynote made us decide to place it online.« Als Problem gilt nicht der Antisemitismus, sondern der ›Antisemitismusvorwurf‹, gelten also Menschen, die es für falsch halten, eine Antisemitin unwidersprochen öffentlich reden zu lassen. Und weil es nun einmal oft die Betroffenen selbst sind, die gegen Antisemitismus einstehen, heißt das: Als Problem gelten Jüdinnen und Juden. Vom Kampnagel-Statement zum am Donnerstag in antiisraelischen Kreisen zirkulierenden Aufruf, die »Hetze« gegen Ibrahim zu stoppen, ist es nur ein kleiner Schritt. Man nennt das Täter-Opfer-Umkehrung.
Nicht gar so offene Debattenräume
Symptomatisch war hierfür das Bild, das sich am Donnerstagabend vor Kampnagel bot. Etwa dreißig Kritiker:innen des Antisemitismus – darunter Mitglieder des Jungen Forums der DIG Hamburg und der jüdischen Gemeinde sowie Exiliraner:innen – versammelten sich dort gegen halb sechs, um gegen die Einladung Ibrahims zu protestieren. Zahlenmäßig überlegen war jedoch eine spontan angemeldete antiisraelische Gegenkundgebung, die von der Polizei in Sicht- und Hörweite vorgelassen wurde.
Dank Lautsprecheranlage übertönten deren Sprechchöre zudem diejenigen der Kundgebung gegen Antisemitismus. Und im Gegensatz zum Anti-Antisemitismus konnte der Israelhass auf ein großes Repertoire griffiger Slogans zurückgreifen – neben dem notorischen »From the river to the sea« gehörte dazu am Donnerstag etwa »Alle zusammen gegen Zionismus«. Die antisemitismuskritischen Demonstrant:innen wurden als ›Verteidiger eines Genozids‹ verleumdet.
Drinnen, in der Installation »Cruise Tentare«, eröffnete Amelie Deuflhard währenddessen kurz angebunden den Klima-Schwerpunkt vor ca. vierzig etwas desorientierten Gästen. Die eigentlich für 18:15 Uhr angekündigte Keynote von Zamzam Ibrahim war wenige Minuten vor dem geplanten Beginn auf 19:45 Uhr verlegt worden. Der Hintergrund dieser Verschiebung ist brisant: Die Kampnagel-Leitung wollte dem Radiosender NDR 90,3 untersagen, O‑Töne aus Ibrahims Keynote-Vortrag für die Berichterstattung zu nutzen. Die Kulturredaktion von NDR 90,3 wandte sich in der Sache an ihr Justiziariat, das ein derartiges Verbot als unzulässig erachtete. Auch das daraufhin kontaktierte Justiziariat von Kampnagel folgte dieser Einschätzung. Kampnagel entschied sich vor diesem Hintergrund gegen eine Live-Übertragung und stellte – anderthalb Stunden später als eigentlich geplant – eine Aufzeichnung des Gesprächs online.3Das Video ist nun auch wieder aus dem Internet verschwunden – samt vieler kritischer Kommentare. Ein erstaunliches Verhalten für ein Haus, das stets die Notwendigkeit offener Debatten betont.
Auf Nachfrage erläutert Amelie Deuflhard, Ibrahim habe zunächst nur einer einmaligen Veröffentlichung ihrer Rede zugestimmt, nicht aber einer Aufzeichnung; erst nach erneuter Rücksprache habe Ibrahim die Zustimmung, O‑Töne zu verwenden, erteilt. »Zu keiner Zeit wurde die freie Presseberichterstattung über die Rede Zamzam Ibrahims beschränkt oder sollte beschränkt werden.« Doch wie sonst soll man es bezeichnen, wenn einem Radiojournalisten untersagt werden soll, O‑Töne aus einem öffentlichen Vortrag für seine Berichterstattung zu verwenden?
Climate Justice lies with God?
Ibrahims Keynote-Vortrag war dann eine Mischung aus religiös-esoterischem Pathos und raunender ›Systemkritik‹. Zur Klimagerechtigkeit hatte sie nur Gemeinplätze zu bieten. Stattdessen war ihre Rede voll von Anspielungen auf das Thema, über das zu sprechen ihr ›verboten‹ worden war: »I wouldn’t be me without talking about the pain and suffering that is happening this very second«, proklamierte sie, und sprach sodann von »Genoziden«, die wir alle live auf unseren Bildschirmen verfolgen könnten. Zu diesem raunenden Sprechen in Anspielungen passte auch ihr Outfit – ein weißer Pullover mit einem Print der Jerusalemer al-Aqsa-Moschee, der gerade deutlich genug zu sehen war, um die Botschaft erkennen zu lassen, und gerade unauffällig genug, um sich keinen Bruch der Abmachung vorwerfen lassen zu können.
In politischer Hinsicht offenbarte Ibrahim ein mit religiösem Pathos aufgeladenes Schwarz-Weiß-Denken – Gerechtigkeit vs. Unterdrückung, Gut vs. Böse, Globaler Süden vs. Globaler Norden, ›wir‹ gegen ›die‹. Eine Anerkennung von Widersprüchen suchte man vergeblich: »You are either part of the problem or part of the solution. There is no other side to this coin.« Dieses dichotome Denken verband sich mit einer raunenden Verdammung ›des Systems‹, das jede Kritik mundtot zu machen und jeden Widerstand im Keim zu ersticken versuche.4»You see, when you stand on the side of justice, the systems of oppression that we seek to break down will try to deplatform you, but no sensations headlines or lies can ever win against you.« Gegen eine politisch-ökonomische Ordnung, die auf white supremacy, Rassismus, Ausbeutung und Gier beruhe und »profit over people« stelle, brachte Ibrahim die Vorstellung einer »green economy« in Anschlag, die den Bedürfnissen der Menschen und unseres Planeten diene.5Wörtlich heißt es in der Rede: »See, the fight against climate change is a fight against all systems that fuel the climate crisis: white supremacy, racism, economic exploitation, greed – I could be here all day.« Und weiter: »We need a green economy, financial systems that exist to serve the needs of people and our planet.« Diese von Gier befreite »green economy« klingt auffällig ähnlich wie das Programm des »Islamic Banking«, das als ein mit der Scharia konformes Finanzwesen etwa im Iran propagiert wird.
Mögen diese Ausführungen auch nicht explizit antisemitisch gewesen sein – ihre Nähe zu dem, was der Künstler Leon Kahane in einem Interview mit dem Ausdruck ›Antisemitismus als Kulturtechnik‹ bezeichnet, ist evident: »Antisemiten positionierten sich immer gegen das Establishment und gesellschaftliche Zwänge und für etwas vermeintlich Fortschrittliches. Der Antisemitismus als Kulturtechnik ist der Versuch, Widersprüche aufzulösen – zur Not mit Gewalt. Die eigenen Konflikte und das eigene Böse werden externalisiert und auf Jüdinnen und Juden oder den jüdischen Staat Israel projiziert.«
Es fragt sich zudem, was genau Ibrahims Rede zum Problem der Klimagerechtigkeit beizutragen hatte. Wenn es in der Erklärung von Kampnagel heißt, »Ibrahims Perspektive bleibt für den Diskursschwerpunkt des Festivals ein wichtiger Bestandteil«, bleibt offen, worin genau diese ›Perspektive‹ liegt. Mit ihrem Denken in Dichotomien und ihrer religiös-esoterisch verbrämten Systemkritik gab Ibrahim aber zumindest einen Vorgeschmack darauf, was im Rest des Diskursprogramms passierte – etwa die Beschwörung eines Olivenbaums als Zeuge oder das »öko-intime« Streicheln von Aloe-Vera-Pflanzen. Wenn das die von Kampnagel versprochenen neuen »Strategien im Klimadiskurs« sind, ist wenig Grund zur Hoffnung.
Antisemit:innen mit Grund zum Jubeln
Draußen vor Kampnagel hatte sich die antisemitismuskritische Kundgebung derweil aufgelöst, die Gegenkundgebung blieb jedoch noch eine Weile vor Ort, um in ausgelassener Stimmung bei lauter Musik zu tanzen und ihren Sieg zu feiern. Man feiere, »dass Kampnagel nicht vor den Zionisten eingeknickt ist«, erklärte eine Demonstrantin. Und bevor die Lautsprecheranlage abgebaut wurde, rief der Versammlungsleiter zum Abschluss noch einmal ins Mikro: »Danke, Kampnagel!«
»Danke, Kampnagel!« ist auch der Tenor der propalästinensischen Kommentare in den sozialen Medien. Die Verlegung von Zamzam Ibrahims Vortrag ins Internet wird hier keineswegs als ›Einknicken‹ verstanden.6Daher ist auch der Bericht im Hamburger Abendblatt irreführend, der behauptet, die propalästinensische Demo habe gegen die Verlegung von Ibrahims Vortrag ins Internet demonstriert, und die Situation also so darstellt, als werde Kampnagel von zwei Seiten gleichermaßen angegriffen. Richtig ist: Diejenigen, die für Zamzam Ibrahim demonstrierten, sahen sich mit Kampnagel auf derselben Seite – und das zu Recht. Davon zeugen vor allem viele Kommentare zur Erklärung von Kampnagel auf Instagram.7Ein Statement der im Workshopprogramm von »How Low Can You Go« auftretenden Künstlerin Niya B brint diese Sicht auf den Punkt: »[…] they [Kampnagel] are refusing to cancel speakers who are falsely branded as antisemitic. In the current climate, this is a bold public statement for a German cultural institution.« Und auch Ibrahim selbst präsentierte sich nach ihrem Auftritt als Siegerin. In ihrer Instagram-Story zeigt sie sich mit Siegerlächeln, Victoryzeichen und dem nun in Gänze sichtbaren al-Aqsa-Moschee-Pullover, den sie auch schon bei der Keynote trug. Ergänzt ist dieses Bild um die Worte: »Just Germanys most hated climate activist reporting in let you all know, I’m doing great and also to remind ya’ll… Ain’t Climate Justice without a FREE PALESTINE«.
Kampnagel ›verlernresistent‹
Für all jene, die gegen Antisemitismus einstehen, endete die Debatte um Ibrahims Auftritt so in einer Niederlage. Und hegte man die Hoffnung, dass man zumindest auf Kampnagel etwas aus den Vorfällen gelernt (oder eher, wie es im Jargon heißt, verlernt) habe, wurde man ebenfalls enttäuscht. Gegenüber Untiefen sagte Amelie Deuflhard zwar: »Den Prozess rund um den Schwerpunkt zur Klimagerechtigkeit werden wir gründlich aufarbeiten. Dabei nehmen wir die geäußerte Kritik ernst und setzen uns damit auseinander, was der Vorgang für jüdisches und antisemitismuskritisches Publikum hervorgerufen hat.« Bisher deutet aber nichts darauf hin, dass man sich auf diese Ankündigung verlassen könnte.
Eher das Gegenteil ist der Fall: Deuflhard zeigte sich nach der Keynote in ihrer Entscheidung bestärkt. Ibrahims Vortrag bezeichnete sie gegenüber NDR 90,3 als »ausgewogene, gemäßigte und kämpferische Rede für alle«. Und auf die Frage, ›ob es das wert war‹, antwortete sie: »Es war’s vielleicht wert dafür, dass es keine gute Idee ist, dass wir unterschiedliche Stimmen von schwarzen Aktivistinnen, von muslimischen Aktivistinnen verstummen lassen. Wir müssen ohne solche harten Anwürfe diskutieren können«. Mit den »harten Anwürfen« ist fraglos die vornehmlich von Jüdinnen und Juden geäußerte Benennung von Ibrahims Positionen als antisemitisch gemeint. Die Botschaft ist also deutlich: Kampnagel will den ›vielstimmigen Diskurs‹ gerne ohne antisemitismuskritische jüdische Stimmen führen.
Diese Erkenntnis ist bitter enttäuschend. In Enttäuschung aber steckt zumindest immer auch die aufklärerische Dimension einer Desillusionierung. Die Vorgänge um den Auftritt Zamzam Ibrahims waren gut geeignet, Illusionen zu verlieren – allen voran die Illusion, dass man Kampnagel im Kampf gegen Antisemitismus zu den Verbündeten zählen könne.
Anti-Antisemitismus bleibt Handarbeit
Enttäuscht in diesem Sinne sind auch einige Kampnagel-Künstler:innen. Dor Aloni fand in einem Interview mit Zeit Online am Dienstag klare Worte: »Für mich ist das eine politische Frage, ich finde, die Relativierung des Holocaust und die Rechtfertigung des Hamas-Massaker keine Position, die man mit anderen konträren Positionen diskutieren kann. Kampnagel hat den Anspruch, sichere Räume für bedrohte und marginalisierte Gruppen zu bieten. Ich habe den Eindruck, dass das für Juden so nicht gilt.«
Und der Performancekünstler Tucké Royale kommentierte auf Instagram, das Verhalten Kampnagels zeige die gefährliche Tendenz, dass in Sachen Antisemitismus aufs Bauchgefühl gehört wird statt auf die Antisemitismusforschung und auf Jüdinnen und Juden: »Ein absoluter Irrtum zu denken, dass sich Antisemitismuskritik und Antirassismus ausschließen.« Ansonsten aber wurde Ibrahims Antisemitismus von Künstler:innen aus dem Kampnagel-Umfeld geleugnet oder legitimiert – oder es herrschte Schweigen. Das zeigt: Sich hier offen gegen Antisemitismus und Israelhass zu stellen, macht schnell einsam.
In ihrer Eröffnungsrede am Donnerstag sagte Amelie Deuflhard: »Ich bin mir sicher, dass uns diese Kontroverse auch in den nächsten Wochen und Monaten beschäftigen wird.« Damit das keine leeren Worte bleiben, gilt es, diesen Satz als Aufforderung zu verstehen. Hätte es keine kritische Öffentlichkeit gegeben, wäre der Antisemitismus Zamzam Ibrahims nicht einmal Thema geworden; ohne eine weiterhin kritische Öffentlichkeit wird die Debatte auch keine Konsequenzen haben.
Lukas Betzler
Der Autor hat vor einer Woche eine ausführliche Recherche zum Antisemitismus Zamzam Ibrahims veröffentlicht.
- 1Wenn Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard gegenüber Untiefen lediglich allgemein proklamiert: »Wir distanzieren uns in aller Deutlichkeit von antisemitischen und israelfeindlichen Haltungen«, muss sie sich die Frage gefallen lassen: Wo war diese Deutlichkeit im konkreten Falle Zamzam Ibrahims?
- 2Auch in Ihren Eröffnungsworten nannte Amelie Deuflhard die Debatte als Grund für die Verlegung ins Internet: »The controversy around the keynote made us decide to place it online.«
- 3Das Video ist nun auch wieder aus dem Internet verschwunden – samt vieler kritischer Kommentare.
- 4»You see, when you stand on the side of justice, the systems of oppression that we seek to break down will try to deplatform you, but no sensations headlines or lies can ever win against you.«
- 5Wörtlich heißt es in der Rede: »See, the fight against climate change is a fight against all systems that fuel the climate crisis: white supremacy, racism, economic exploitation, greed – I could be here all day.« Und weiter: »We need a green economy, financial systems that exist to serve the needs of people and our planet.« Diese von Gier befreite »green economy« klingt auffällig ähnlich wie das Programm des »Islamic Banking«, das als ein mit der Scharia konformes Finanzwesen etwa im Iran propagiert wird.
- 6Daher ist auch der Bericht im Hamburger Abendblatt irreführend, der behauptet, die propalästinensische Demo habe gegen die Verlegung von Ibrahims Vortrag ins Internet demonstriert, und die Situation also so darstellt, als werde Kampnagel von zwei Seiten gleichermaßen angegriffen. Richtig ist: Diejenigen, die für Zamzam Ibrahim demonstrierten, sahen sich mit Kampnagel auf derselben Seite – und das zu Recht.
- 7Ein Statement der im Workshopprogramm von »How Low Can You Go« auftretenden Künstlerin Niya B brint diese Sicht auf den Punkt: »[…] they [Kampnagel] are refusing to cancel speakers who are falsely branded as antisemitic. In the current climate, this is a bold public statement for a German cultural institution.«
Warum wir für heute Abend (Diskussionsveranstaltung am 27.1.2024 / Kampnagel zu Perspektiven der Klimagerechtigkeitsbewegung) absagen: Eine kurze Stellungnahme
Daniel Manwire (Anti-Atom-Büro Hamburg)
Wer spricht denn da?
Seit mehr als drei Jahrzehnten versuchen wir als Anti-Atom-Büro Hamburg
die Folgen des Uranabbaus im globalen Süden in der bundesdeutschen
Debatte um eine Energieversorgung sichtbar zu machen
(https://www.dont-nuke-the-climate.org/). Als Anti-Atom-Gruppe in
Hamburg nicht zuletzt durch das Dokumentieren von Urantransporten durch
den Hamburger Hafen. Die darin steckende Kolonialität versuchen wir
seit Jahren unter anderem im Gespräch mit Aktivist:innen aus Brasilien,
Tansania oder dem Niger auch hier in Deutschland aufzuzeigen. Im August
2023 z.B. bei einer Diskussionsveranstaltung auf dem System Change Camp
in Hannover, zusammen mit Laura Chaparro von der Gruppe Aktion Guajira
zur Kolonialität des Kohleabbaus in Kolumbien und des Uranabbaus in
Niger (https://www.youtube.com/watch?v=oNvwqhC_esE).
Spätestens seit der Mobilisierung zum G7 in Heiligendamm 2007 und dem
Klima- und AntiRa-Camp in Hamburg 2008 haben wir versucht, uns jenseits
der Energiepolitik auch in die sich entwickelnde
Klimagerechtigkeitsbewegung einzubringen. Mit Begeisterung waren wir
immer wieder Teil der verschiedenen Aktionen und Kampagnen gegen den
Braunkohleabbau im Rheinischen Revier.
Vor diesem Hintergrund haben wir uns sehr über die Anfrage von
Kampnagel zu einer Teilnahme am heutigen Podium und die Aussicht auf
eine angeregte Debatte mit deutlich anderen Bewegungsperspektiven
innerhalb der Klimagerechtigkeitsbewegung gefreut.
Gerade aus bewegungslinker Perspektive gäbe es einigen Anlass, sich
z.B. mit der Letzten Generation zu streiten. Auch eine Debatte darüber,
was emanzipatorische Politik mit Blick auf koloniale Machtverhältnisse
sein kann und sollte, wäre angebracht. Unser Anliegen für den heutigen
Abend wäre also genau das: einen solidarischen Streit zu führen –
wir glauben, dass das nötig ist, und hoffen, diese Debatte an anderem
Ort führen zu können.
Aber …
Wir wollen diese Auseinandersetzungen mit allen führen, die sich – wie
wir – für eine andere Welt, für eine emanzipatorische Perspektive
einsetzen und wollen dafür Voraussetzungen schaffen, die es möglichst
vielen ermöglichen, sich an der Debatte zu beteiligen. Dafür ist es
notwendig, proaktiv entlang der verschiedenen gesellschaftlichen
Machtverhältnisse Barrieren zu beseitigen oder zumindest abzumildern.
Kampnagel ist dafür häufig ein guter Ort mit viel Expertise, z.B. in
Bezug auf körperliche Einschränkungen.
In Bezug auf Antisemitismus sind diese Bemühungen bei diesem Kongress
jedoch gescheitert. Jüdische Personen sahen sich gezwungen, durch eine
Kundgebung darauf aufmerksam zu machen, dass durch eine Referent:in ein
Antisemitismus vertreten wird, den sie nicht bereit sind zu tolerieren.
Wir haben das gehört, und wir nehmen das ernst.
In einem intersektionalen Diskurs darf ein Mitdenken von Antisemitismus
nicht fehlen. Nicht immer ist Antisemitismus die primär betrachtete
Achse von Intersektionen, aber es sollte darauf geachtet werden, das
jüdische Positionen zumindest gehört werden könnten. Das ist aus
unserer Sicht angesichts der Keynote von Zamzam Ibrahim auf dem
gegenwärtigen Kongress nicht mehr gegeben.
Nicht hier und nicht heute…
Wir haben uns die Entscheidung für diesen Abend abzusagen nicht leicht
gemacht und mehrere Stunden Debatte in diese Entscheidung gesteckt. Es
geht uns nicht um einen Eklat, nicht um einen Rückzug auf den »moral
highground« und wir sind durchaus robuste Debatten gewohnt. Auch ist uns
klar, dass der Antisemitismus nicht verschwindet, wenn wir nicht mit auf
dem Podium sitzen, aber wir halten eine angemessene Diskussion an dieser
Stelle für unmöglich.
Wir hoffen, dass wir sie an anderem Ort und zu anderer Zeit ebenso wie
die im Programm angekündigte Debatte führen können und stehen dafür
gerne zur Verfügung. Dann hoffentlich auch wirklich vorbereitet und
ohne einen gesetzten Ausschluss jüdischer Positionen.
Wir möchten auch weiterhin mit und bei Kampnagel Politik machen. Dafür
brauchen wir von Kampnagel eine Auseinandersetzung mit der Situation die
jetzt entstanden ist, und stehen auch dafür zur Verfügung.
Einen Dank an alle, die Recherchearbeit zu dieser Situation geleistet
haben, unter anderem auch an Stefan Hensel und sein Team.
Einen Dank an alle betroffenen Personen, die den Mut zu einer Kundgebung
gefunden haben.
27.1.2024 Anti-Atom-Büro Hamburg
aabbuero@nadir.org
P.S.
Perspektive Befreiung
Bewegungen, die sich gegen Kolonialismus richten, sind nicht pauschal
emanzipatorisch, und selbst ehemals emanzipatorische Bewegungen wie die
Sandinisten können sich anti-emanzipatorisch entwickeln. Das iranische
Regime und die antisemitisch motivierten Täter des Massakers vom 7.
Oktober mögen „antiimperialistische“ oder gar antikoloniale Reden
vor sich her tragen, ihren Begriff von Befreiung weisen wir jedoch
zurück – für uns stehen sie nicht zuletzt für patriarchale Gewalt
und eliminatorischen Antisemitismus.
Zurückzuweisen sind aber ebenso rassistische bzw. anti-muslimisch
motivierte Gewaltandrohungen gegen Zamzam Ibrahim.
Vielen Dank für die klare und zugleich differenzierte Stellungnahme! Dass ihr eure Teilnahme am Podium abgesagt habt, ist nicht nur eine bemerkenswerte Geste der Solidarität gegenüber Dor Aloni und allen anderen, die sich gegen den Antisemitismus einsetzen, sondern auch eine wichtige Botschaft an Kampnagel. Denn dort scheint man die ganze Sache überwiegend immer noch als von außen (›die Medien‹, konservative Parteien, der Antisemitismusbeauftragte) gegen das Haus und das, wofür es steht, gerichtete Kampagne wahrzunehmen. /lb
Danke für den gut recherchierten Bericht über die Veranstaltung und die klare kritische Position zum Scheitern der Kampnagel Verantwortlichen eine antirassistische Position ohne antijüdische Parolen zu präsentieren .
Danke für den Kommentar. Erschreckend ist ja vor allem, dass die Verantwortlichen von Kampnagel – spätestens seit der Warnung des Antisemitismusbeauftragten – genau wussten, dass sie sich mit Zamzam Ibrahim juden- und israelfeindliche Positionen ins Haus holen und dies offenbar für zumutbar hielten.
Was passiert hier gerad? Rassismus, Faschismus, Antisemitismus
oder ist schon KI im Einsatz, die letzten Räume für Kunst zu erledigen.
oder hat meine Erinnerung an Kampnagel mir einen Streich gespielt?
»Es war Erde in ihnen und sie gruben«, Paul Celan oder Jean Amery
»aus dem Nichts entsteht nichts, aus dem, was aber vormals gedacht, geschrieben, getan wurde, bauen sich Ereignisse auf.« oder Imre Kertész, die exilierte Sprache. Das Entsetzen hält mich wach.
Wir sind verantwortlich für die Sprache heute, für die Poesie und nicht für die Vertreter mit ihren Vorstellungen von Kultur.
Vielen Dank für den sehr guten Beitrag zu diesem skandalösen Vorgang! Aber es ist schon eine geradezu geniale Idee von Kampnagel, diese Meisterschaft im Niveaulimbo unter der Überschrift »How low can we go?« auszutragen.
Erstmal vielen Dank für diese präzise Darstellung einer komplexen Situation,die sich vor einem noch viel komplexeren historischen, politischen und gegenwärtigen Geschehen abspielt. Das Große im Kleinen. Vor einem solchen Bewusstsein verbietet sich jegliches radikales und fanatisches Handeln und Aufrufen zum Handeln. Jedwedes Kategorisieren in Gut und Böse, in die Guten und die Bösen, führt nur zu mehr Hass und mehr Gewalt auf allen Seiten. Das Große im Kleinen: Kampnagel wäre gut beraten gewesen, sich weder von der einen noch von der anderen Seite in ein Entweder-Oder treiben zu lassen und, da Störungen bekanntlich Vorrang haben, hätte die Klimagerechtigkeits-Veranstaltung eben in Teilen zurücktreten müssen zugunsten eines moderierenden und vor allem differenzierenden Gesprächsforums zur aktuellen Situation in Palästina. Und dabei ginge es dann sehr schnell nicht mehr um Antisemitismus oder Islamfeindlichkeit sondern um Verstehen von und Verständnis für die jeweils anderen Positionen. Das ist bekanntlich immer der erste Schritt zum Frieden machen. Ich mag naiv klingen aber ich bestehe auf diese Form der Naivität!
Vielen Dank für das Engagement und den Artikel.
Neben vielen Inhalten finde ich es gut, auf dass einzugehen was Zamzam Ibrahim als Analyse zur Klimakatastrophe sagt. Ein einfaches Weltbild von Gut und Böse wird den eigentlichen Ursachen nicht gerecht und führt vor der eigentlich Verursachung weg. Die Ursache liegt in dem Umgang mit den natürlichen Ressourcen und dieser Umgang ist im wesentlichen durch wirtschaftliche Überlegungen geprägt. Von da aus wird die Analyse komplexer, aber ein Klimaaktivismus der Antisemitismus bedient ‚dient dem eigenen Narzissmus und gefährdet Juden und Jüdinnen.
Selbstverständlich hätte sie ausgeladen werden müssen und es ist nicht nachvollziehbar warum diese Einladung auch im Nachgang noch verteidigt wird.