Kein Schlussstrich
Das Logistikunternehmen Kühne+Nagel hat sich im NS erheblich an jüdischem Eigentum bereichert. Vor zwei Jahren löste Kritik daran auf dem Harbourfront Literaturfestival einen kleinen Eklat aus. Das Festival fällt dieses Jahr nun aus. Multimilliardär Kühne hingegen scheint keinen Schaden davongetragen zu haben. Doch das letzte Wort ist noch nicht gesprochen: In Bremen gibt es seit einem Jahr ein Mahnmal; und neue Recherchen eines renommierten Journalisten könnten die Debatte noch einmal anfachen.
Vor zwei Jahren, Ende August 2022, kam es auf dem Harbourfront Literaturfestival zum Eklat: Die Untiefen-Redaktion hatte einige Wochen zuvor in einer E‑Mail die acht für den nach Klaus-Michael Kühne benannten Debütpreis des Festivals nominierten Schriftsteller:innen über die NS-Geschichte von Kühne+Nagel sowie ihre Verleugnung durch den Familienerben und Unternehmensinhaber Kühne informiert. Einer von ihnen, der für sein Debüt Draußen feiern die Leute nominierte Sven Pfizenmaier, zog daraufhin seine Teilnahme zurück.
Das Festival versuchte noch, Pfizenmaiers Rückzug und seine Gründe unter dem Radar der Öffentlichkeit zu halten, doch es gelang nicht: Die Medien berichteten darüber, Pfizenmaiers Kollegin Franziska Gänsler zog ihre Teilnahme ebenfalls zurück, das Festival und die Kühne-Stiftung, die nicht nur das Preisgeld stiftete, sondern auch als Hauptsponsor fungierte, gerieten stark unter Druck. Dieser öffentliche Druck war es, der dann dazu führte, dass binnen weniger Tage nicht nur der Kühne-Preis umbenannt wurde, sondern auch die Kühne-Stiftung sich aus dem Sponsoring zurückzog. Die Jury des Preises sprach Pfizenmaier und Gänsler in ihrer Stellungnahme zur Preisvergabe dann ausdrücklich ihren Respekt und ihre Unterstützung aus (eine ausführliche Chronik der Ereignisse findet sich hier).
Aufruhr im Hamburger Literaturbetrieb
Der Ausstieg Kühnes als Sponsor des Harbourfront Festivals war wohl schon zuvor geplant gewesen. Doch ein nachhaltiger Ersatz für den jahrelangen Hauptsponsor scheint sich nicht gefunden zu haben: Dieses Jahr fällt das Festival erstmals seit seiner Gründung vor 15 Jahren aus. Es wird zwar sicher nicht nur an dem Eklat von vor zwei Jahren liegen, dass sich das Festival nun »organisatorisch, personell und finanziell neu aufzustellen« versucht, wie in einer Pressemitteilung vom Februar dieses Jahres verkündet wurde. Aber ganz ohne Zusammenhang wird es nicht sein, denn mit der Kühne-Stiftung zog sich der zentrale Geldgeber zurück, ohne den das Festival gar nicht hätte ins Leben gerufen werden können – trotz jährlich 100.000 Euro fester Förderung von der Kulturbehörde.
In den Medien und im Hamburger Literaturbetrieb wurde die Nachricht vom Ausfall des Festivals mit Sorge aufgenommen. Schließlich reichte die Ausstrahlung des Harbourfront weit über Hamburg hinaus. Und es hat, wie Literaturhauschef Rainer Moritz es gegenüber dem NDR im Betriebsjargon ausdrückte, in Hamburg ›den literarischen Markt unglaublich belebt‹. Auch die Kulturbehörde wirkte, als sei sie von der Nachricht überrascht worden. Sie kündigte zwar an, sich um Ersatz zu kümmern, doch suchte offenbar nicht selbst das Gespräch mit den Akteur:innen des Hamburger Literaturbetriebs.
Die Initiativen für ›Ersatzfestivals‹ kamen stattdessen von privatwirtschaftlichen Akteur:innen. Gleich zwei Festivals wollen nun die Lücke füllen, die das Harbourfront dieses Jahr lässt: Die Blankeneser Buchhandlung Wassermann richtet in der ersten Septemberhälfte mit der Herbstlese Blankenese ein eigenes Literaturfestival aus. Sogar einen Debütpreis gibt es. Das Geld für die großen Namen und den Preis kommt vor allem vom Blankeneser Besitzbürgertum: Die Lange-Rode-Stiftung, deren Geld ursprünglich vor allem aus der Kronkorken-Produktion stammt, ist der Hauptsponsor. Das zweite ›Ersatzfestival‹ ist umstritten. Das Unternehmen hinter der lit.COLOGNE hat mit ELB.lit einen Hamburger Ableger gestartet, der wie das Harbourfront vor allem auf Events und große Namen setzt. Aber nicht das in weiten Teilen ambitionslose Programm, sondern nur der Umstand, dass die 100.000 Euro Förderung von der Kulturbehörde nun nicht an ein Hamburger, sondern an ein Kölner Unternehmen gehen, sorgte hier für Empörung.
Rückblickend auf den Eklat
Besser als der Hamburger Literaturbetrieb scheinen die beiden aus Protest gegen Kühne zurückgetretenen Autor:innen den Eklat vor zwei Jahren überstanden zu haben. Beide haben inzwischen ihren zweiten Roman veröffentlicht. Franziska Gänslers Wie Inseln im Licht erschien im Frühjahr, Sven Pfizenmaiers Schwätzer ist gerade erschienen und feiert am 4. September in Berlin Buchpremiere.
Wie blickt er auf die Geschichte zurück? Gegenüber Untiefen sagte Pfizenmaier, er würde die Entscheidung heute genauso wieder treffen. Es sei zwar ein Kampf gegen Windmühlen, aber trotzdem: »Wo es Literatur betrifft, fühlt es sich auch ein bisschen persönlich an, und ich bin froh, die Gelegenheit genutzt zu haben, ein Zeichen zu setzen.«
Die Befürchtung, dass die Entscheidung negative Auswirkungen auf sein Standing im Literaturbetrieb gehabt hätte, scheint sich nicht bewahrheitet zu haben, sagt Pfizenmaier: »Man prognostizierte mir teilweise, mich mit der Entscheidung bei Preisjurys womöglich unbeliebt zu machen, ich kann das nicht bisher nicht bestätigen. Ich habe viel Zuspruch und Unterstützung von allen möglichen Seiten bekommen.«
Die Kritik an Kühnes verweigerter Aufarbeitung seiner Familien- und Unternehmensgeschichte, an seinem art washing und an dem Schweigen der Öffentlichkeit dazu scheint jedoch schnell verpufft zu sein. Die vom damals ebenfalls nominierten Schriftsteller Domenico Müllensiefen geäußerte Forderung, dem Rückzug der öffentlichen Kulturförderung Einhalt zu gebieten, und sein Beharren darauf, dass nicht Kühne allein das Problem sei, sondern dass »deutscher Reichtum in vielen, wenn nicht sogar in den meisten Fällen auf dem Rücken der Opfer der NS-Zeit entstanden« sei, fanden kaum Widerhall.
Kühnes Milliarden: ungefährdet
Strukturell hat sich tatsächlich nichts verändert. Während die Buchbranche mehr denn je auf finanzielle Förderung – öffentlich oder privat – angewiesen ist,1Die Krise der Buchbranche hat sich verschärft, auch in Hamburg, wo zuletzt die Edition Nautilus einen Hilferuf abgesetzt und eine strukturelle Verlagsförderung gefordert hat, ähnlich wie es sie schon für Programmkinos und Theater gibt. sieht die Lage bei den Superreichen gewohnt rosig aus. So ist auch Klaus-Michael Kühne in den letzten zwei Jahren vor allem reicher geworden. Auf dem Bloomberg Billionaires Index wird sein geschätztes Vermögen aktuell mit knapp 45 Mrd. US-Dollar angegeben, womit er nun erstmals als reichster Deutscher firmiert. Und wie eh und je hält er sich mit ›Vorschlägen‹ und Statements in der (Medien-)Öffentlichkeit: Wieder und wieder wirbt er für seine Pläne eines neuen Opernhauses, er ist als Anteilseigner beim Elbtower eingestiegen (und ist dabei, so die Selbstdarstellung, »dem Charme von Benko erlegen«), er hat sich über den geplanten Teilverkauf der HHLA an den Hapag-Lloyd-Konkurrenten MSC geärgert und das DB-Konkurrenzunternehmen Flix übernommen.
Den Eklat von vor zwei Jahren scheint er gänzlich unbeschadet überstanden zu haben. Dass Kühne+Nagel 1933 seinen jüdischen Teilhaber Adolf Maass aus dem Unternehmen drängte, um dann während des Zweiten Weltkriegs in vielen besetzten Ländern Europas Niederlassungen zu gründen, sich so ein Quasi-Monopol auf den Abtransport jüdischen Eigentums zu sichern und dadurch massiv von der Verfolgung, Vertreibung und Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden zu profitieren – davon ist kaum noch zu lesen oder zu hören. Im Gegensatz etwa zu der Frage, welchen Trainer Kühne für ›seinen‹ HSV wünschen würde, hat diese Geschichte offenbar keinen Nachrichtenwert. Und für das Privileg eines Exklusivinterviews mit Kühne verzichtet man etwa beim Hamburger Abendblatt sehr bereitwillig auf kritische Fragen. Auch eine kritische Zivilgesellschaft hat sich in Hamburg immer noch nicht formiert. Kühnes Wunsch nach einem Schlussstrich scheint sich hier weitestgehend erfüllt zu haben.
Von Bremen lernen
In Bremen, wo Kühne+Nagel vor 134 Jahren gegründet wurde und wo immer noch die Deutschlandzentrale ihren Sitz hat, ist das anders. Vor allem dem Engagement Henning Bleyls und Evin Oettingshausens ist es zu verdanken, dass das Thema dort, anders als in Hamburg, weiterhin im öffentlichen Bewusstsein gehalten wird. Bleyl und Oettingshausen kämpften jahrelang für ein Mahnmal in Bremen, das an den systematischen Raub und die Enteignung jüdischen Eigentums im Nationalsozialismus und die Beteiligung bremischer Unternehmen, Behörden und Bürgerinnen und Bürger daran erinnert. Vor einem Jahr, am 10. September 2023, wurde das Mahnmal eingeweiht, das nun in Sichtweite des Kühne+Nagel-Gebäudes an die Opfer der ›Arisierungen‹ erinnert.
Zur Einweihung zeigte sich Grigori Pantijelew, Vertreter der jüdischen Gemeinde Bremen, kämpferisch: Das kleine Mahnmal und das protzige Riesengebäude von Kühne+Nagel erinnerten ihn an die Geschichte von David und Goliath, sagte er, – und man wisse ja, wer am Ende gewonnen hat. Bei der Einweihung sprach auch Barbara Maass, eine Enkelin von Adolf und Käthe Maass, die eigens zu diesem Anlass zusammen mit ihrem Mann aus Montréal nach Deutschland gekommen war. Sie hielt in Bremen eine (hier nachzulesende) Rede, in der sie die Aufarbeitung der »skrupellosen Handlungen der Komplizen und Profiteure des Holocausts« – auch und gerade von Kühne+Nagel – forderte, und zwar »hier und jetzt«. Ihr Deutschlandbesuch führte Barbara Maass auch nach Hamburg, wo sie das ehemalige Wohnhaus der Familie Maass in Winterhude besichtigte, in dem ihr Vater Gerhard seine Eltern noch 1938 besucht hatte. Außerdem besuchte sie die Gedenkstätte Hannoverscher Bahnhof – den Ort, an dem im Juli 1942 auch jener Zug abfuhr, der ihre Großeltern nach Theresienstadt deportierte.
Bleyl und Oettingshausen engagieren sich derweil weiter. Sie organisieren erinnerungspolitische Radtouren, betreiben weiter Recherchen und kümmern sich um das Mahnmal. Mit Spachtel und Putzzeug haben sie eigenhändig Aufkleber und Farbe von den Fenstern und Rahmen geschrubbt. Und sie haben dafür gesorgt, dass das Mahnmal nun auch endlich eine Texttafel erhält, die über seine Bedeutung aufklärt. Am 10. September, zum Jahrestag der Eröffnung, wird die neue Tafel in Bremen eingeweiht werden.
Neue Impulse im Kampf um Aufklärung?
Neue Impulse könnte die öffentliche Auseinandersetzung um den Umgang mit der Geschichte Kühne+Nagels als NS-Profiteur nun aus den USA erhalten. Der niederländische Journalist David de Jong hatte 2022 mit seinem Buch Braunes Erbe über die NS-Verstrickungen der reichsten deutschen Unternehmerdynastien – der Familien Quandt, Flick, von Finck, Porsche-Piëch, Oetker und Reimann – international für Aufsehen gesorgt. Die Familie Kühne fehlte in dieser Zusammenstellung. Nun aber hat er anderthalb Jahre recherchiert, um einen Nachtrag zu Kühne+Nagel zu schreiben. Noch im September wird sein umfangreicher Investigativartikel in der Zeitschrift Vanity Fair erscheinen.
Dass Kühne in seinem Buch nicht auftauchte, hatte einen einfachen Grund: Klaus-Michael Kühne hat zwar ein ›braunes Erbe‹ angetreten, doch er selbst hat keine Erben. Sein Vermögen wird nach seinem Tod einer Stiftung vermacht werden. Der Impuls, nun trotzdem noch über Kühne zu recherchieren und zu schreiben, kam zunächst von außen, berichtet de Jong im Gespräch mit Untiefen: Er sei 2022 nach dem Erscheinen seines Buchs von mehreren Leser:innen – darunter der in England lebenden Großnichte von Adolf und Käthe Maass – angeregt worden, auch noch zur Geschichte der Kühnes zu recherchieren.
Die Recherchen führten im Verlauf der anderthalb Jahre in vier verschiedene Länder, berichtet de Jong. So sprach er in Montréal mit Barbara Maass und sichtete Bestände des Montreal Holocaust Museum; er besuchte in Bremen die Eröffnung des Mahnmals und recherchierte in Hamburg im hiesigen Staatsarchiv. Obwohl Klaus-Michael Kühne den Zugang zum Unternehmensarchiv immer noch versperrt, verspricht de Jongs Artikel brisante neue Erkenntnisse – und zwar nicht nur über das Ausmaß der Beteiligung von Kühne+Nagel an der M‑Aktion, sondern auch über das Ausmaß der Verschleierung und Verdrängung dieser Verbrechen nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht zuletzt durch Klaus-Michael Kühne selbst.
Die deutsche Ausgabe der Vanity Fair wurde vor 15 Jahren eingestellt. De Jongs Artikel wird also zunächst nicht auf Deutsch zu lesen sein. Es steht zu hoffen, dass seine Enthüllungen trotzdem auch hier gebührende Wirkung entfalten werden. Es wäre nicht das erste Mal, dass die Herstellung einer internationalen Öffentlichkeit für den entscheidenden Impuls in einer Debatte um die NS-Aufarbeitung sorgt – erinnert sei hier etwa an die Debatte um die Entschädigung von Zwangsarbeiter:innen Ende der neunziger Jahre. Dass erst auf internationalen Druck hin gehandelt wird, ist bezeichnend für den in Deutschland üblichen Widerwillen, die Vergangenheit ernsthaft aufzuarbeiten. Aber es zeigt auch: Beharrlichkeit lohnt sich; und niemand sitzt so fest auf seinem Thron, dass er nicht ins Wanken gebracht werden kann. Der HSV, von Kühne maßgeblich finanziell unterstützt, galt lange als »unabsteigbar« und dümpelt nun seit sechs Jahren in der zweiten Bundesliga herum. Auch Kühne, der manchmal als unbezwingbar erscheint, wird mit seiner Forderung nach einem Schlussstrich unter die Vergangenheit und seiner Behinderung der Aufarbeitung nicht mehr lange durchkommen.
Lukas Betzler, September 2024
Der Autor ist Mitglieder der Redaktion Untiefen. Er hat hier schon vor zwei Jahren Beiträge zu Kühne+Nagel veröffentlicht und einen auf Youtube nachzuhörenden Vortrag von Henning Bleyl zu dem Thema moderiert. Den neuen Roman von Sven Pfizenmaier hat er gerade mit im Urlaubsgepäck.
- 1Die Krise der Buchbranche hat sich verschärft, auch in Hamburg, wo zuletzt die Edition Nautilus einen Hilferuf abgesetzt und eine strukturelle Verlagsförderung gefordert hat, ähnlich wie es sie schon für Programmkinos und Theater gibt.