Chronik antisemitischer Vorfälle in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023
Seit dem Massaker der Hamas am 07. Oktober 2023 gibt es auch in Hamburg eine Welle antisemitischer Vorfälle. Wir haben gemeinsam mit dem Bildungsverein Bagrut e.V. eine Chronik über das vergangene Jahr erstellt, um das Ausmaß und die Formen des Antisemitismus sichtbar zu machen.

Am 7.10.2023 verübte die islamistische Terrororganisation Hamas auf israelischem Boden ein genozidales, antisemitisches und misogynes Massaker. Die grausame und wahllose Ermordung von 1.200 Menschen, die Vergewaltigung zahlreicher Frauen und die Entführung von 250 Personen bedeuteten eine Zäsur selbst in der an gewaltvollen Ereignissen kaum armen Geschichte des Judenhasses. Die libanesische, vom Iran gesteuerte Miliz Hisbollah startete am 8.10.2023 in Solidarität mit der Hamas eine neue Angriffswelle gegen Israels Norden; die Houthi-Milizen im Jemen schlossen sich mit ähnlichen Angriffsversuchen an. Die militärische Reaktion der israelischen Streitkräfte dauert bis heute an. Die Kämpfe haben im Gazastreifen bereits viele Tausend zivile Opfer gefordert und große Teile der dortigen Infrastruktur zerstört.
Weltweit, und auch in Hamburg, formierte sich nach einer nur kurzen Schockstarre eine Welle antisemitischer und israelfeindlicher Gewalt in Wort und Tat – auf Wänden, auf den Straßen, in den Hörsälen, in den digitalen Medien. Die Gewalt richtet sich gegen (vermeintliche) Jüdinnen und Juden, gegen (vermeintlich) jüdische und israelische Einrichtungen, gegen mit Israel solidarische oder auch lediglich antisemitismuskritische Demonstrierende, Aktivist:innen oder Künstler:innen, Kulturzentren, Clubs oder Bars und viele weitere.
Die Folgen für jüdisches Leben in Hamburg
Welche Folgen dieses gewalttätige Klima für Jüdinnen und Juden in Hamburg hat, berichtete uns eindrücklich Rebecca Vaneeva. Sie ist derzeit Präsidentin des Verbands jüdischer Studierender Nord. Die Zunahme antisemitischer Anfeindungen führt ihr zu Folge unter den Mitgliedern ihres Verbandes zu einem Rückzug in die Anonymität. Jüdische Identität wird versteckt. Im öffentlichen Auftreten zensieren Jüdinnen und Juden sich zunehmend selbst, um keine Angriffsfläche zu bieten: »Besonders an den Hochschulen war die ständige Präsenz israelfeindlicher und antisemitischer Proteste schwer erträglich«, so Vaneeva.
Besonders an den Hochschulen war die ständige Präsenz israelfeindlicher und antisemitischer Proteste schwer erträglich
Gegenüber dem Zeitraum vor dem 07. Oktober hat sich in ihrer Wahrnehmung die Lage »auf jeden Fall verschlimmert«. Vaneeva kritisiert gegenüber Untiefen: »Jüdische Studierende und unser Verband erfahren zwar vereinzelt Solidarität, aber es gibt keine aktive Gegenbewegung gegen Antisemitismus.« Woran fehlt es aus ihrer Sicht konkret? »Es bräuchte Safe Spaces, Anlaufstellen, die konsequente Moderation von Online-Inhalten und auch strafrechtliche Konsequenzen für Terror-Propaganda. Würde das ähnliche engagiert verfolgt wie etwa die rassistischen Gesänge in dem berüchtigten ›Sylt-Video‹, wäre schon viel gewonnen«. Die Hochschulen machen es sich ihrer Meinung nach etwa bei antisemitischen und israelfeindlichen Verstaltungen zu bequem. Terror-relativierende Seminare und Vorträge, die unter dem Deckmantel von Hochschulgruppen nahezu anonym organisiert werden können, werden fast immer toleriert, selbst wenn einschlägige Aktivist:innen beteiligt sind.
Es gibt einen verbreiteten Selbstbetrug über die Komplexität des Phänomens Antisemitismus.
Den Umgang mit den verschiedenen Formen von Antisemitismus bezeichnet Rebecca Vaneeva insgesamt als »selektiv«, denn: »Es gibt einen verbreiteten Selbstbetrug über die Komplexität des Phänomens Antisemitismus. Rechtsextremer Antisemitismus wird zum Glück weitgehend verurteilt. Es handelt sich aber auch um ein muslimisches und ein linkes Phänomen. Unsere Mitglieder berichten uns, dass sogar die Mehrzahl der Anfeindungen, die sie erleben, aus muslimischen und linken Milieus kommen«.
Wie ist die Datenlage in Hamburg?
Dieser »selektive Umgang« wird in Hamburg auch dadurch gestützt, dass es, anders als in anderen Bundesländern, keine öffentliche Dokumentation antisemitischer Vorfälle gibt. Abseits der v.a. durch Kleine Anfragen in der Hamburgischen Bürgerschaft[1] veröffentlichten Daten der Polizei, die auf zur Anzeige gebrachten Delikten von Hasskriminalität basieren, existiert offenbar keine systematische Sammlung. Gegenüber dem Vorjahreszeitraum haben sich laut diesen Daten die Fälle antisemitischer Hasskriminalität im 4. Quartal 2023 verfünffacht. Bundesweite Zahlen des Bundeskriminalamts zur „politisch motivierten Kriminalität“ (PMK) und des Bundesverbands Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) weisen in dieselbe Richtung.
Das zivilgesellschaftliche Monitoring betreibt in Hamburg die 2021 gegründete, öffentlich geförderte digitale Hinweis- und Meldestelle memo. Sie veröffentliche allerdings bislang die Fallzahlen für rechte, rassistisch und antisemitisch motivierte Angriffe nur zusammengefasst. In einem im Sommer 2024 vorgelegten Bericht veröffentlichte die Trägerin der Meldestelle, die Beratungsstelle empower, für 2023 genauere Zahlen und berichtete 282 dort bekannt gewordene Fälle von Antisemitismus in Hamburg. Nach dem 7. Oktober verzeichnete man auch hier einen starken Anstieg.
Aber: Alle verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass es ein großes Dunkelfeld gibt. In einer ebenfalls im Sommer 2024 veröffentlichten Studie der Akademien der Polizei Hamburg und Niedersachsen gaben 77 % der befragten Hamburger Jüdinnen und Juden an, innerhalb des vergangenen Jahres Antisemitismus erfahren zu haben. Die Studie schätzt den Anteil unbekannter Fälle auf 80 %. Und: die Daten verraten nichts über die konkreten Fälle. Wer sind die Täter, wer die Geschädigten? Welche Ideologien stehen jeweils dahinter?
Eine öffentliche Chronik für das Jahr nach 07/10
Aufgrund dieser offenen Fragen haben wir uns entschlossen, selbst eine Chronik antisemitischer Vorfälle in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023 anzulegen. Damit wollen wir einen Eindruck vom Ausmaß und den verschiedenen Formen des Antisemitismus in Hamburg vermitteln. Und Entgleisungen in Erinnerung halten, die meist allzu schnell in Vergessenheit geraten. Wir haben dazu aus verschiedenen Quellen eine Liste von derzeit 187 antisemitischen Vorfällen für den Zeitraum 7.10.2023 bis 7.10.2024 zusammengestellt. Darunter sind Presseberichte, online dokumentierte Vorfälle, persönliche Berichte aus der jüdischen Community und von anderen Betroffenen sowie die genannten, durch die Anfragen in der Bürgerschaft veröffentlichten Quartalszahlen zu Hasskriminalität. Diese Momentaufnahme für das Jahr nach dem 7. Oktober kann und will aber natürlich nicht eine systematische Erhebung und ein entsprechendes institutionalisiertes Monitoring ersetzen. Das bleibt notwendig.
Was wir erfasst haben – und was nicht
Bekanntlich ist die Frage, was als antisemitisch einzuordnen ist, durchaus umstritten. Wir haben uns an der Arbeitsdefinition Antisemitismus der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) von 2019 sowie der Systematik des Bundesverbands RIAS orientiert. Diese unterscheidet „verletzendes Verhalten“, „Bedrohung“, „Angriff“, „(extreme) Gewalt“, „(gezielte) Sachbeschädigung“ und „Massenzuschriften“. Das bedeutet, die Fälle reichen potenziell von einschlägigen Äußerungen oder antisemitisch motivierten Veranstaltungen bis hin zu körperlicher Gewalt.
Bei einigen Vorfällen, die wir recherchieren konnten, ist nicht ohne Weiteres zu klären, ob sie nach der verwendeten Systematik antisemitisch genannt werden können.[2] Meist deshalb, weil über den Kontext und/ oder den konkreten Ablauf wenig bekannt ist. Wir haben daher nur Fälle aufgenommen, bei denen der antisemitische Gehalt bzw. eine entsprechende Intention deutlich erkennbar ist. Um unserer Verfahren transparent zu machen, haben wir in Anhang 1 (unter der Tabelle) drei Beispiele für Fälle, deren Kategorisierung wir intensiver diskutiert haben, zusammengestellt und unsere Entscheidung kurz skizziert.
Nicht aufgenommen haben wir etwa einige Fälle von – gleichwohl eindeutigem – Israelhass. Das meint die Dämonisierung Israels, z.B. als »Apartheidstaat« oder als »kolonial«, die durchaus in der Praxis meist antisemitisch, d.h. judenfeindlich gemeint sein kann bzw. die praktisch oft eine solche Wirkung hat. Ähnlich sind wir mit einigen offensichtlich falschen Darstellungen des 7. Oktobers (etwa als bloße Verteidigung, als Widerstand o.Ä.) umgegangen. Unser Hauptaugenmerk lag darauf, eine möglichst konsistente Liste zu erzeugen.
Das bedeutet auch: nicht nur gab es mit Sicherheit in Hamburg seit dem 7. Oktober 2023 mehr Fälle der Art, wie wir sie zusammengetragen haben. Sondern Antisemitismus bedient sich im gegenwärtigen kulturellen Klima noch weiterer Sujets und Techniken. Dass sie nicht immer eindeutig als antisemitisch erkennbar sind, ist dabei durchaus beabsichtigt – und Teil des Problems im Umgang mit dem Antisemitismus. Er ist nach Auschwitz in der BRD – noch – mit einem öffentlichen Tabu belegt und wird eher indirekt geäußert. Die Kommunikation auf Umwegen, in Codes, Schlagworten und auf Einverständnis zielenden Andeutungen dient dazu, dieses Tabu zu umgehen. Kaum jemand bezeichnet sich selbst als Antisemiten. Im Gegenteil wird der Hinweis auf antisemitische Gehalte und Wirkungen in der Praxis allzu oft als „Antisemitismusvorwurf“ abgewehrt.[3]
Schlussfolgerungen
Unsere Liste bestätigt die politische Einschätzung Rebecca Vaneevas: bei den von uns recherchierten Fällen handelt es sich, soweit erkennbar, vielfach um selbsterklärt „pro-palästinensisch“, also nationalistisch und/oder antiimperialistisch gerechtfertigte Taten. Der rechtsextreme Antisemitismus mit positivem Bezug auf den Nationalsozialismus oder als Relativierung des Holocausts sowie ein Alltagsantisemitismus aus der „Mitte der Gesellschaft“ (z.B. Juden seien „ganz anders als wir“) spielen allerdings nach wie vor eine nicht zu unterschätzende Rolle.
In der untenstehenden Tabelle haben wir nicht alle 187 Fälle aufgenommen, sondern nur exemplarische, die die verschiedenen Formen des Antisemitismus und ihre Gewichtung in Hamburg möglichst gut illustrieren. Der vollständige Datensatz kann auf Anfrage zugänglich gemacht werden.
Unsere Sammlung für das Jahr nach dem 7. Oktober 2023 kann aus den genannten Gründen keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder Repräsentativität erheben. Die allermeisten Vorfälle werden nie gemeldet oder öffentlich bekannt. Daher möchten wir Sie herzlich bitten: Bringen Sie entsprechende Fälle ggf. zur Anzeige und melden Sie sie in jedem Fall einer Meldestelle wie dem Bundesverband RIAS. Falls Sie von weiteren Vorfällen im zurückliegenden Jahr in Hamburg wissen, berichten Sie uns bitte davon. Wir werden die Chronik dann aktualisieren.
Ein gemeinsames Projekt von Untiefen und dem Bildungsverein Bagrut e.V., bearbeitet von Felix Breuning und Florian Hessel.
Anhang – Erläuterungen
Beispiel 1:
In diesem Fall stehen uns keine ausreichenden Informationen für eine Kategorisierung zur Verfügung. Es ist aller Erfahrung nach wahrscheinlich, dass es im Rahmen dieser sog. pro-palästinensischen Kundgebung zu diesem Zeitpunkt zu Israel dämonisierenden, antisemitischen Aussagen kam; das Zeigen eines Bilds des ehemaligen irakischen Diktators Saddam Hussein, der 1991 im Rahmen des zweiten Golfkriegs Raketen auf Israel – das keine Kriegspartei darstellte – abfeuern ließ, kann so interpretiert werden. Kundgebungen stellen ein demokratisches Grundrecht dar. Wir folgen der Systematik der Recherche und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) und ordnen entsprechende Versammlungen nur als antisemitische Versammlungen ein, wenn „in Reden, Parolen, auf mitgeführten Transparenten oder in Aufrufen antisemitische Inhalte festgestellt“ werden. In diesem Fall „wird die gesamte Versammlung als ein antisemitischer Vorfall vom Typ verletztendes Verhalten registriert. Ereignen sich bei oder am Rande einer solchen Versammlung Angriffe oder Bedrohungen, so werden diese jeweils als zusätzliche antisemitische Vorfälle
dokumentiert.“ (RIAS 2024)
Beispiel 2:
Dieser Fall wurde von uns nicht als antisemitisch kategorisiert. Die im Interview mit dem NDR getätigte Aussage kann plausibel als Rechtfertigung antijüdischer Aggression und des Massakers vom 7. Oktober interpretiert werden. Allerdings stehen uns nicht genügend Informationen (insbesondere zum Gesprächsverlauf und ‑kontext) zur Verfügung, die eine seriöse Entscheidung absichern würden. In der ethnozentristischen Wahrnehmung zweier homogener Kollektive („Israel hat…“, „Palästina hat…“) liegt eine Logik absoluter Feindbestimmung, die auch ein Element des Antisemitismus darstellt.
Beispiel 3:
Dieser Fall wurde als antisemitisch eingeordnet. Es handelt sich um eine (gezielte) Sachbeschädigung, d.h. „die Beschädigung oder das Beschmieren jüdischen Eigentums“ (RIAS 2024). Obwohl der Gehalt der Schmierereien selbst nicht antisemitisch ist, werden hier praktisch deutsche Bürger:innen jüdischen Glaubens für ein (vermeintliches) Handeln des israelischen Staats verantwortlich gemacht. Auch dieser Vorfall illustriert exemplarisch, wie Antisemitismus als ein kulturelles Klima von Bedrohung und Ausschluss von Jüd:innen in Deutschland sowie der Rechtfertigung antijüdischer Aggression wirkt.
[1] Stellvertretend für alle engagierten Parlamentarier:innen sei hier die Arbeit von Cansu Özdemir und Deniz Celik (beide Mitglieder der Bürgerschaftsfraktion der Linkspartei) hervorgehoben, die durch ihre regelmäßigen Kleinen Anfragen dabei helfen, die notwendige Transparenz und Öffentlichkeit im Bereich Hasskriminalität herzustellen.
[2] Nach Mitteilung der Pressestelle der Staatsanwaltschaft Hamburg arbeitet die Zentralstelle Staatsschutz mit der Arbeitsdefinition Antisemitismus der IHRA; entsprechende Bewertungen könnten sich allerdings im Laufe von Ermittlungen und Verfahren ändern.
[3] In diesem Zusammenhang weisen wir nochmals auf den an dieser Stelle vor einigen Wochen erschienenen Text „Klima der Judenfeindschaft“ zum Antisemitismus in Hamburg von Florian Hessel hin; die dort skizzierten Überlegungen Begriffe und Analysen formulieren einige der Grundlagen und Grundannahmen des vorliegenden Chronikprojekts aus und geben weitere Literaturhinweise.
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