Das Bibliotheksgebäude, in dem der Kunsthistoriker Aby Warburg (1866–1929) die letzten Jahre seines Lebens forschte, steht immer noch in Hamburg. Sein Bestand – ca. 60.000 Bände und Warburgs Aufzeichnungen – konnte 1933 nach London gerettet werden. Eine Ausstellung bringt Warburgs unvollendetes Hauptwerk, den Bilderatlas Mnemosyne, nun zurück.
Wanderstrassen der Kultur. Foto: Wootton / fluid, Courtesy The Warburg Institute
In der Heilwigstraße 116 befindet sich in einem ansonsten unauffälligen Villenviertel Hamburgs an einem Zufluss zur Alster gelegen ein Backsteinbau, über dessen Eingang der Schriftzug »Mnemosyne« prangt. Darüber stehen an der backsteinernen Außenfassade die drei Buchstaben K, B und W, als Kürzel für Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg.
Ihr Bauherr Aby Warburg, der Privatgelehrte und Spross der bis heute bestehenden lokalen Bankiersdynastie, ließ das Gebäude 1926 erbauen, um in ihr seine wachsende Bibliothek unterzubringen. Mit dem Neubau schuf Warburg eine für die damalige Zeit neuartige Institution, deren Innovationsgehalt sich sowohl in der infrastrukturellen Gestaltung als auch in der wissenschaftlichen Ausrichtung niederschlug – Kunstgeschichte sollte hier als Kulturgeschichte, mithin als breit angelegte Kulturwissenschaft betrieben werden.
Betritt man das Gebäude, sieht man, dass in den Sturz der Tür zum Bibliothekssaal ein Wort in griechischen Lettern eingemeißelt ist: »ΜΝΕΜΟΣΥΝΗ«. Dieser Begriff verweist auf Warburgs viel beachtetes und zugleich unzugänglichstes Werk, das er an diesem Ort mit seinen Mitarbeiter:innen – Gertrud Bing und Fritz Saxl – schuf: den Bilderatlas Mnemosyne. Den Begriff der Mnemosyne übernahm Warburg aus der evolutionsbiologischen Forschung zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Dort bestanden bereits Ansätze, etwa durch Richard Semon, zur Übertragung auf die Kulturgeschichte: Mneme, die griechische Muse der Erinnerung, wurde zur Namensgeberin für die Annahme eines erhaltenden Prinzips erworbener Eigenschaften im Bereich der Kultur. Warburg knüpfte an diese Annahmen an, die er mitsamt dem Begriff in seine kunstgeschichtliche Arbeit übertrug. In seiner Forschungsarbeit weitete er damit das Verständnis einer hergebrachten Kunstgeschichte aus und überführte sie in eine breitangelegte Kulturwissenschaft.
Präsentation der Bilderreihe »Urworte leidenschaftlicher Gebärdensprache« im Lesesaal der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Foto: Courtesy The Warburg Institute
Mnemosyne bezeichnet nun das Erinnern als gesamten Prozess. Mit den Mitteln der Ikonographie versuchte Warburg, ein geographisches sowie thematisches Wandern von Formen, Mustern und Stilen durch die Geschichte in Abhängigkeit zu den jeweilig herrschenden gesellschaftlichen Zuständen nachzuzeichnen. Hierzu entwickelte er mit seinen Mitarbeiter:innen den Bilderatlas Mnemosyne: Auf insgesamt 63 Tafeln wurden von Warburg und seinen Mitarbeiter:innen auf schwarzem Grund fotografische Reproduktionen arrangiert. Dabei handelt es sich um Kunstwerke aus dem Nahen Osten, der europäischen Antike und der Renaissance neben zeitgenössischen Zeitungsausschnitten sowie Werbeanzeigen. Die Tafeln des Bilderatlas stellen das zentrale Hilfsmittel innerhalb des durch Warburg entwickelten experimentellen Verfahrens zur Vergegenwärtigung der kulturgeschichtlichen Entwicklung dar. Anhand der fotografischen Reproduktionen lässt sich die Überlieferung nachvollziehen – es lassen sich Prozesse des Erinnerns anhand der Wanderung durch die Kulturgeschichte sowohl visuell darstellen als auch nachvollziehen. Zeitgenössisch ausgedrückt, richteten sich Warburgs Forschungen auf die Entwicklung einer medientheoretischen Genealogie von Bildmotiven.
In den Dienst der Erkundung des Erinnerungsprozesses stellte Warburg seine in Hamburg-Eppendorf gelegene kulturwissenschaftliche Bibliothek. Nach Warburgs Tod im Herbst 1929 von seinen Mitarbeiter:innen weitergeführt, wurden die Bestände auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach London verschifft. Dabei konnte auch das Material zu Warburgs letztem großem Projekt, dem Bilderatlas, gerettet werden. Zur Erhaltung des Bibliotheksbestands entstand in London das bis heute, auch gegen kostensparende Eingliederungsversuche der University of London, weiterhin bestehende Warburg Institute.
Wiederentdeckung des Bildmaterials
Zu Lebzeiten Warburgs nicht mehr abgeschlossen und danach mit dem Bestand der KBW von seinen Mitarbeiter:innen ins Londoner Exil verschifft, hatten die Originalabbildungen vom Herbst 1929 in ihrer Mehrzahl überlebt. Für die Nachwelt kaum nachvollziehbar, lagerten die einzelnen Abbildungen im Bildarchiv des Warburg Institute. Die Wiederentdeckung des Bildmaterials und die Ergebnisse der Rekonstruktionsarbeiten sind derzeit in einer Ausstellung in der Außenstelle der Deichtorhallen in der Sammlung Falckenberg in Harburg zu besichtigen. Erstmalig kann damit in Hamburg der geneigten Öffentlichkeit der Bilderatlas vollständig rekonstruiert präsentiert werden, was nicht allein sensationell ist, sondern den mehrfachen Besuch lohnt. Besucher:innen können anhand der einzelnen Tafeln des Atlas das Wandern der Bilder eigenständig nachverfolgen.
Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 39, rekonstruiert von Roberto Ohrt und Axel Heil 2020. Foto: Wootton / fluid; Courtesy The Warburg Institute
Kuratiert wurde die Ausstellung von Axel Heil und Roberto Ohrt sowie dem Warburg Institute in Zusammenarbeit mit dem Berliner Haus der Kulturen der Welt. Die Ausstellung ist noch bis zum 31. Oktober 2021 in der Sammlung Falckenberg in Harburg zu besichtigen. Weitere Informationen unter gibt es hier.
Wer es bis dahin nicht schafft, dennoch aber einmal mehr von dem Hamburger Kulturwissenschaftler und seinem Schaffen erfahren möchte, dem sei die nachfolgende Ausgabe der Deutschlandfunk Sendung Lange Nacht über den Kulturwissenschaftler Aby Warburg anempfohlen.
Fred Stiller
Der Autor lebt und lohnarbeitet in Hamburg. Er hält die Stadt und ihre Bewohner:innen im Gegensatz zu ihrer Größe für intellektuell und (sub-)kulturell mit anderen Provinzstädten vergleichbar. Dennoch schätzt er die nährenden Brotkrumen, durch welche sich die Stadt vor anderen ihrer Größe und Konstitution auszeichnet.
Im Zentrum Hamburgs übt sich eine neue Ausstellung der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung in Legendenbildung. Kann sie den Macher und Machtpolitiker Schmidt zu guter Letzt doch noch als »Superdemokraten« präsentieren? Und wie geht sie mit Schmidts Zeit als Offizier der Wehrmacht um? Unser Autor hat ihr einen kritischen Besuch abgestattet.
Der Eingang zur Ausstellung in der Hamburger Innenstadt: Welcome to Helmut! Foto: privat
Mit pandemiebedingt siebenmonatiger Verspätung wurde am 19. Juni 2021 die Dauerausstellung zu Ehren des fünften Bundeskanzlers der Bundesrepublik Deutschland in den Räumen der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung nahe dem Hamburger Rathaus eröffnet. Mit der Ausstellung, die über mehrere Jahre hier zu sehen sein soll, schreitet die vom Spiegel-Autor und Historiker Klaus Wiegrefe bereits im Zuge der Gründung der Stiftung befürchtete »Schmidtisierung der Republik« nun also weiter voran. Auch deshalb, weil die Ausstellung an ihrer eigenen Begriffslosigkeit scheitert: Unter dem Titel »Schmidt! Demokratie leben« will sie den ehemaligen Bundeskanzler als »Superdemokraten« inszenieren, hat allerdings selbst keinen Begriff von Demokratie. Hätte die Stiftung sich tatsächlich mit dem Demokratieverständnis Schmidts auseinandergesetzt, würde sie wohl kaum noch von ihm als »Vordenker« sprechen können. Von einer kritischen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Person ist diese Ausstellung so weit entfernt, wie es Helmut Schmidt von einem Dasein als Intellektueller war.
In nur einem Raum mit einer Größe von circa 200 Quadratmetern werden Leben und Wirken Schmidts dargestellt. Weiterhin wirft die Ausstellung einzelne Schlaglichter auf Themen, die nach Ansicht der Stiftung innerhalb der westdeutschen Gesellschaft während der Kanzlerschaft Schmidts (1974–1982) an Relevanz gewannen. Ein ambitioniertes Vorhaben! Denn viel Platz ist das nicht für die Geschichte des 20. Jahrhunderts und Schmidts Rolle darin: Eine nuancierte und detaillierte Verhandlung der Themen wurde so von vornherein ausgeschlossen. Gegliedert ist die Ausstellung in drei chronologisch angeordnete Bereiche – das Leben vor der Kanzlerschaft, die Kanzlerschaft und die Zeit danach. Diese Bereiche heben sich visuell nicht voneinander ab, sondern werden jeweils durch Texttafeln eingeleitet. Die Unterkategorien, wie etwa Kindheit und Jugend, die RAF oder Protest gegen die Atomkraft, werden wiederum durch Großfotografien – darauf jeweils Zitate Schmidts – und sogenannte Thementische gegliedert. Die insgesamt acht Jahre Kanzlerschaft nehmen dabei fast die Hälfte des Raumes ein und bilden den inhaltlichen Schwerpunkt der Ausstellung.
100 Jahre Deutschland – 100 Jahre Helmut Schmidt
Bevor nun ein Blick in die Ausstellungsräume geworfen wird, ist es wichtig, den Titel – »Demokratie leben« – zu kontextualisieren. Denn dieser gibt nicht nur die Marschrichtung der Ausstellung vor. Er sagt uns, wie wir uns an Schmidt erinnern sollen. Neben dem Hinweis auf sein langes Leben, immerhin wurde er 96 Jahre alt, lautet die Botschaft: Helmut Schmidt war ein aufrechter Demokrat, der von der parlamentarischen Demokratie nicht nur überzeugt war, sondern diese wirklich »gelebt« habe. Die Ausstellung erinnert an und ehrt also auf eine emotionale Weise einen »Superdemokraten«. Warum die Ausstellung diesem Titel zwangsläufig nicht gerecht werden kann, hängt mit dem hier normativ verwendeten, nicht näher definierten Demokratiebegriff zusammen, der neben der Person das bestimmende Thema dieser Ausstellung zu sein scheint.
Wer war also Helmut Schmidt? Den jüngeren Menschen in der Bundesrepublik ist er wohl als kettenrauchender Welterklärer in Erinnerung. Schmidt hatte für alles eine Antwort und saß vornehmlich alleine in Talkshows, damit es bloß keinen Widerspruch gab. Den Hamburger:innen mag er noch als »Herr der Flut« in Erinnerung sein. Ein Mythos, an dem viele Medien und Schmidt selbst bis zu seinem Tod gearbeitet haben: Das Bild des »Machers«, der »Krisenmanager«, der nicht lange schnackt, sondern einfach das Richtige macht – und dem dabei auch mal das Grundgesetz egal ist. Dieses Bild des »Machers« ist wohl das beständigste Erbe des 2015 Verstorbenen. Doch sei dies, so möchte die Ausstellung zeigen, zu kurz gegriffen. Denn natürlich war er viel mehr: Ein Europäer, Pragmatiker und Realpolitiker, der für sein »oft weitsichtiges Handeln im Kontext großer internationaler Herausforderungen« bekannt sei, wie es im Einführungstext heißt – Krisenmanager, aber weltweit.
Die Wehrmacht und der Schlussstrich
Die Großfotografien sind das alles bestimmende visuelle Element der Ausstellung. Dies lässt eine Perspektive auf Helmut Schmidt zu, die sicher nicht im Sinne der Ausstellungsmacher:innen war. So fällt – noch bevor der eigentliche Ausstellungsraum betreten werden kann – ein Foto Schmidts ins Auge, das ihn im Jahr 1940 in der Uniform der deutschen Luftwaffe als Leutnant der Reserve zeigt. Schmidt war Offizier, wurde im Laufe des Krieges Oberleutnant. An der Ostfront eingesetzt, war er unter anderem an der Belagerung von Leningrad und womöglich auch an Kriegsverbrechen beteiligt. Nachweisen konnte man ihm das nie, doch seine Selbstverteidigung, die bis zu der Behauptung reichte, er sei sogar ein Gegner der Nazis gewesen, war schon immer unglaubwürdig. Selbstredend habe er auch von der Shoah keinerlei Kenntnis gehabt – dabei reiste er als Ausbilder in »Kriegsschulen« quer durch das Deutsche Reich und die im Krieg besetzten Gebiete. Wenige Meter hinter dieser Fotografie findet sich eine weitere, diesmal von seiner Vereidigung zum Bundeskanzler 1974. Von der Wehrmacht ins Kanzleramt: eine (west-)deutsche Karriere. Eine erfolgsbiografische Illusion für die Schmidt wohl nur Willen – und Zigaretten – brauchte.
Der erste Thementisch zum Wehrmachts-Foto hat es in sich. Er soll das Bild kontextualisieren, kann aber obige Erfolgsgeschichte kaum mehr einfangen. Auf die eklatanten Erinnerungslücken Schmidts weist das bereitgestellte Material zwar hin, aber es steht neben seiner Erzählung, als ob es zwei legitime Sichtweisen wären, die sich gegenseitig die Balance halten. Darüber hinaus wird der Begriff der »Pflicht« stark gemacht. Schließlich sei es soldatische Pflicht gewesen, die Stadt Leningrad zu belagern. Ein fast schon amüsanter Euphemismus für Mitläufertum, wenn es denn nicht so ernst wäre. Ein auf dem Thementisch gezeigter Film fasst dann die ganze Absurdität zusammen: Als Schmidt 1977 als erster Kanzler überhaupt nach Auschwitz zu einer Gedenkfeier anreiste, sprach er nicht über die Opfer der Shoah. Deutsche seien die ersten Opfer gewesen! Und überhaupt hätten die Deutschen 32 Jahre nach Kriegsende damit auch nichts mehr zu schaffen. Heute wäre es undenkbar, so etwas zu sagen – damals war es das auch. Nach dem Warschauer »Kniefall« von Willy Brandt sieben Jahre zuvor waren solche Worte aber offensichtlich Balsam auf die geschundene Seele der (West-)Deutschen.
Es irritiert insbesondere an dieser Stelle, dass die Stiftung Schmidts eigenes Narrativ reproduziert und als legitime Haltung darstellt. Dieser Eindruck verstärkt sich durch ein ebenfalls an diesem Tisch gezeigtes Gespräch, das zur ersten »Wehrmachtsausstellung« im Jahr 1995 im Zeit-Magazin abgedruckt wurde. So wollte Schmidt sich diese Ausstellung gar nicht erst ansehen: wiederholt betont er, nichts von den Verbrechen der Wehrmacht an der Ostfront gewusst zu haben, was er bei einer Wiederauflage des Gespräches noch einmal unterstrich. Natürlich erwartet nun niemand in dieser Ausstellung eine fundamentale Kritik an der Person Schmidts oder eine Analyse seiner nicht haltbaren Verteidigungsstrategie. Mit Begriffen wie Vernunft oder Nüchternheit, die Schmidt sich selbst attestierte und die ihm bisweilen attestiert werden (siehe die einschlägigen Biografien), hat das allerdings wenig zu tun. Denn man könnte doch meinen, dass der kantische Vernunftbegriff die Fähigkeit zur (Selbst-)Reflexion einschließt.
Kitsch statt Kritik: Im Museumsshop kehrt man lieber bei Loki und Helmut ein als vor der eigenen Tür. Foto: privat
Der »Herr der Flut« und die wilden 70er
Es folgt – nach der plötzlichen Läuterung zum Sozialdemokraten 1945 – ein etwas längerer Abschnitt in Schmidts Leben (1945–1969): Schmidt war ab Dezember 1961 Senator der Polizeibehörde (ab Juni 1962 Innensenator) und nahm vor allem eine prominente Rolle in der Nacht der Hamburger Sturmflut vom 17. auf den 18. Februar 1962 ein. Immerhin wird in der Ausstellung nicht mit dem beliebten Zitat gearbeitet, dass dem Demokraten so gar nicht zusagen würde (das mit dem Grundgesetz). Gebrochen wird der »Macher«-Mythos allerdings auch nicht, denn das Thema bleibt eine Randnotiz. Diese Marginalisierung ist befremdlich: Ranken sich doch allerlei Geschichten um dieses Ereignis.
Der Rest der Ausstellung folgt dem bekannten Muster. Eine Großfotografie zeigt Schmidt und ein Zitat. Auf dem jeweiligen Thementisch wird die Perspektive etwas geweitet, aber nie zu weit: Die Ausstellung wird durchzogen von einer kontinuierlichen Dichotomie zwischen der Position und Argumentation Schmidts und dem Rest der Welt. Gebrochen wird diese personenzentrierte visuelle Erzählung nur im Bereich der Kanzlerschaft Schmidts. Die hier gezeigten Fotografien zeigen Themen der 1970er und 1980er Jahre: Ein bisschen Wirtschaftskrise, RAF, Anti-Atom- und Friedensbewegung. Auf den Tischen bleibt jedoch die Herangehensweise: Eine historische Einordnung findet nicht statt, die Position Schmidts wird hingegen als vernunftgeleitet dargestellt. Im Umkehrschluss sind es die Gegenpositionen häufig nicht. So wird etwa am Thementisch »Deutscher Herbst« erst auf einer unteren Film-Ebene von Hans-Jochen Vogel (1974–1981 Justizminister im Kabinett Schmidt) zugegeben, dass der Staat eigentlich nie wirklich in Gefahr war. Dabei legitimierte dieses Bedrohungsszenario allerlei Politiken und eine Aufrüstung des Polizeiapparats, die in der Bundesrepublik bis dato beispiellos war. Während die Rollenverteilung beim RAF-Terrorismus wenig Spielraum lässt, verhält es sich bei den in den 1970er Jahren aufkommenden Neuen Sozialen Bewegungen schon anders. Denn hier zeigt sich, welchen Demokratiebegriff Schmidt pflegte. So konnte er zwar die Anti-AKW-Demonstrationen in Brokdorf nicht verhindern, rief aber dazu auf, nicht auf die Straße zu gehen. Auch drohte Schmidt als Kanzler mehrfach mit Rücktritt, sollte seinem Willen – Atomkraftwerke zu bauen – nicht nachgekommen werden. In Schmidts Verständnis von Demokratie war für die Sozialen Bewegungen kein Platz. Zulässige, also von ihm anerkannte Stimmen, gab es nur im Parlament und in seiner Partei. Doch auch letztere und Schmidt entfremdeten sich im Laufe seiner Kanzlerschaft zunehmend. Ein Spannungsverhältnis, dass bis zu seinem Tod nicht mehr aufgelöst wurde. Dass die Partei in der Ausstellung kaum stattfindet, scheint folgerichtig: Schmidt als überparteilicher Lenker, Denker und Welterklärer. Eine weitere Inszenierung Schmidts, die hier unhinterfragt weitergetragen wird.
Demokratie und Kritik
Nachdem auf dem letzten Kanzlertisch noch eben die Themen Europa, DDR und die restliche Welt eher wackelig abgehandelt werden, beginnt der letzte Bereich, also seine Zeit als Publizist und Mit-Herausgeber der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit. Es ist jene Lebensphase, in der Schmidt an seiner eigenen Legende arbeitete, wie der Historiker Axel Schildt 2017 feststellte. Mit diesen Aktivitäten schuf Schmidt ein Bild von sich, dem diese Ausstellung weitestgehend folgt.
Entsprechend wird sich in diesem Abschnitt auch nicht mit den rassistischen und kulturalistischen Positionen Schmidts auseinandergesetzt. Dabei sind diese Positionen nicht seiner späten Senilität geschuldet – sprach er doch bereit 1992 von einer »Überschwemmung« und »Entartung« der deutschen Gesellschaft –, sondern lassen einen roten Faden in Schmidts Politikverständnis erkennen. Würde dieser genauer untersucht, so würde sich zeigen, dass sein Weltbild nicht viel mit Nüchternheit oder Vernunft zu tun hat, ja vielmehr offenbart sich eine regelrechte Intellektuellenfeindlichkeit. Die Möglichkeit, auch diese Seiten Schmidts zu zeigen und zu diskutieren, wurde hier nicht genutzt. So kann die Ausstellung einer historisch-kritischen Einordnung der Person nicht gerecht werden, eine nüchterne Perspektive auf den fünften Bundeskanzler fehlt. Schmidts Politikverständnis blieb ein elitäres und exklusives. Die Ausstellung folgt weitestgehend dem Bild Schmidts, das dieser selbst installiert hat: ein überparteilicher Superdemokrat und Lotse (Bismarck lässt grüßen!), der die Bundesrepublik durch schwere Fahrwasser steuerte und eigentlich auch immer recht behielt – mit dieser Dauerausstellung nun auch über seinen Tod hinaus.
Lars Engelhardt, August 2021
Der Autor ist studierter Literaturwissenschaftler und als derzeit prekär Beschäftigter – unter anderem Uber-Fahrer in Teilzeit – schon länger enttäuscht von den leeren Versprechen der (Hamburger) Sozialdemokratie. Die Stadt Hamburg, so meint er, verdient Ausstellungen wie diese.
Die Elbphilharmonie ist nicht nur schnell zum Symbol für Hamburg geworden, zum Tourismusmagneten und zur Vorlage für Heimatkitsch. Sie ist auch der vorläufig krönende Abschluss einer Stadtentwicklung nach polit-ökonomischen Erfordernissen. Eine Entwicklung, in der die Herrschaft des Menschen über die Natur eine wesentliche Rolle spielt.
Anlässlich der Eröffnung der Elbphilharmonie Anfang 2017 stellte der belgische Künstler Peter Buggenhout eine 15 Meter hohe Skulptur mit dem Titel Babel Variationen in den Hamburger Deichtorhallen aus. Dieser Beitrag zur Ausstellung Elbphilharmonie Revisited, bestand aus großen Polyester- und Stahlteilen, die anmuteten, als habe der Künstler Sperrmüll gewagt in die Höhe gestapelt: ein fragiler Riese, der den Eindruck erweckte, jederzeit in sich zusammenzubrechen. Die raumgreifende Skulptur kontrastierte die glitzernde Ästhetik des soeben fertiggestellten, massiven Konzerthauses an der Elbe. Mit dem Titel Babel Variationen spielt Buggenhout auf die alttestamentarische Erzählung vom Turmbau zu Babel (Gen 11,1–9) an und bezieht sie auf die Hamburger Elbphilharmonie.
Romantisch verklärt statt bestraft
Im 21. Jahrhundert scheint die Erzählung vom Turmbau zu Babel obsolet: Die Kirchen in Deutschland sind wie leergefegt und Gottesfurcht taugt nicht mehr als Mittel der Politik. Auch für den Namensgeber des derzeit höchsten Gebäudes der Erde und gleichzeitige Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate, Scheich Chalifa bin Zayid Al Nahyan blieb eine göttliche Strafe bisher aus. Dem menschlichen Sprachwirrwar kann heute bequem per Handyapp begegnet werden. Weshalb also ein Konzerthaus am Fuße der Elbe zu einem neuen Turmbau zu Babel erklären?
In der Selbstbeschreibung der Elbphilharmonie heißt es wenig bescheiden, dass »dem traditionellen Backsteinsockel neues Leben« eingehaucht und dass »das Konzerthaus als funkelnde Krone oben drauf« gesetzt worden sei. Ein Affront, nicht gegen Gott, so doch aber gegen eine dem Menschen wie übermächtig gegenüberstehende Natur. In der architektonischen Entwicklung der Handels- und Hafenstadt spiegelt sich vielmehr das Verhältnis der Menschen zur Natur wider. Dass es sich dabei um ein durchweg polit-ökonomisches Herrschaftsverhältnis handelt, kann Epoche für Epoche nachgezeichnet werden:
In der Elbphilharmonie wird diese Entwicklung gewissermaßen an mehreren Jahresringen sichtbar. Der untere Teil des Konzerthauses besteht aus der backsteinernen Außenmauer des 1875 errichteten Kaispeicher A, der seinerzeit auch Kaiserspeicher genannt wurde. Mit Hilfe von Kränen konnten die Waren im damaligen Haupthafen Hamburgs direkt vom Schiff in das Speichergebäude gehievt werden. Das neugotische Speichergebäude wurde im 2. Weltkrieg zerstört und in den sechziger Jahren in schlichter Form wieder aufgebaut. Mit der globalen Umstellung des Seehandels von Stückgut auf den Containerfrachtverkehr fand der Schiffshandel zunehmend im rasant wachsenden Containerhafen statt, der der Stadt südwestlich vorgelagert wurde. In der Folge wurde der Lagerbetrieb im Kaispeicher in den neunziger Jahren vollständig eingestellt. Der trapezförmige Grundriss des ersten Kaispeichers blieb erhalten und die schlichte Kaimauer bildet den Sockel des von den Hamburger:innen mittlerweile Elphi genannten Baus. Im Ensemble mit der angrenzenden denkmalgeschützten Speicherstadt ist das Große Grasbrook genannte Gebiet, auf dem nun Elbphilharmonie und Hafencity stehen, eine romantisierende Reminiszenz an die Geschichte der Hansestadt Hamburg, die sich seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Tor zur Welt beschreibt und deren expansiver Seehandel eine große, reiche Oberschicht entstehen ließ.
Der Kampf gegen die erste Natur
Die Entwicklung Hamburgs zur Metropole der Seeschifffahrt war keineswegs vorgezeichnet, betrachtet man die geographische Lage und die natürlichen Ausgangsbedingungen der Region Hamburg: Die Stadt lag, salopp gesagt, im Matsch tief im Binnenland zwischen Nord- und Ostsee. Die Stadtgeschichte ist geprägt von dieser und weiteren für Landwirtschaft und Handel ungünstigen Umweltbedingungen, die bis heute massive Eingriffe durch den Menschen nach sich ziehen.
Die Elbregion bestand ursprünglich aus fruchtbaren, aber dauerhaft nassen Böden, die für eine Bewirtschaftung nicht geeignet waren. Die vorneuzeitlichen Siedler:innen der Elblandschaft mussten sich gegen die Kräfte der Natur wehren: Im flachen, sandigen Flussbett der vielfach verzweigten Elbe, mit ihren Zuflüssen Alster und Bille, kämpften sie gegen hohe Grundwasserspiegel, täglich wechselnde Pegelstände und drohende Sturmfluten. Sie wirkten auf die Natur ein, blieben ihr aber lange Zeit weitestgehend ausgeliefert. Um die Region sicherer besiedeln und bewirtschaften zu können, entwickelten sie technische Hilfsmittel, zur Steuerung der Wassermassen: Im 12. Jahrhundert installierten Siedler:innen eine Unzahl von Entwässerungsgräben und ‑mühlen, legten künstliche Erdhügel an, auf denen sie ihre Höfe errichteten, und bauten Deiche, die sie vor den Fluten schützen sollten. Die heutigen Kanäle, ja sogar die Elbinseln und Flüsse wurden in Folge der massiven Umgestaltung durch den Menschen geschaffen – sie sind das Resultat jahrhundertelanger Umstrukturierungen. Zahllose Bauten wurden als Wehre zum Schutz vor dem Wasser der Elbe errichtet, und zwar solcherart, dass sich zugleich ein ökonomischer Nutzen aus der Nähe zum Wasser ziehen ließ. Damit wurde der Grundstein für das Wachstum der Hamburger Wirtschaft gelegt.
Wo ein Wille, da ein Wasserweg
Die Entwicklung Hamburgs zur Welthandelsstadt ist das Ergebnis eines Willensaktes basierend auf einer ökonomischen Entscheidung. Die Wasserstraße Elbe führt zwar in die Nordsee, dies jedoch erst nach vielen Flusskilometern. Gleichzeitig liegt Hamburg in räumlicher Nähe zur Ostsee. Nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Binnenlage konnte die Stadt im 13. Jahrhundert zum entscheidenden Bindeglied zwischen Nord- und Ostsee aufsteigen, indem die Elbe in Richtung Nordsee stetig ausgebaut und in Richtung Ostsee eine sichere Straßenverbindung geschaffen wurde. Die Hanse sicherte sich hierzu Wegerechte und das Recht, Handelsschiffe und Waren auf direktem Weg und zollfrei bis nach Hamburg zu transportieren – auch durch die Anwendung von Waffengewalt und rechtswidrigen Mitteln.
In dem Wirkgefüge zwischen Ackerbau, Handel und Militär wurde Natur als warenförmige Ressource bestmöglich genutzt und als Wirtschaftsgrundlage optimiert: Dies bezeugen z.B. die Veröffentlichungen des Hamburger Wasserbaudirektors Reinhart Woltman aus dem Jahr 1802. Er schreibt darin: »Insofern schiffbare Kanäle Kunstwerke hydraulischer Architektur sind, müssen ihre Dimensionen, und die Größen ihrer verschiedenen Theile, in gewisser Proportion zueinander stehen, bei welcher diese Kanäle die größte Zweckmäßigkeit, Dauerhaftigkeit und Nutzen erreichen.«1Woltmann, Reinhard (1802): Beyträge zur Baukunst schiffbarer Kanäle. Mit 6 Kupfertafeln. Göttingen, S.165 [online]
Der Kanal gerät in der Vorstellung Woltmans zu einem Leistungsträger, dessen messbare Parameter es im ökonomischen Sinne bestmöglich zu nutzen gilt. Die Doppeldeutigkeit des Begriffs ‘Kunstwerke’ ist bezeichnend: Es weist nicht nur auf die Künstlichkeit der Kanäle hin, sondern unterstreicht gleichzeitig die kreative und schöpferische Tätigkeit des Wasserbauers. Der Begriff ist Ausdruck eines Bestrebens, die Kräfte der Natur erkennen und beherrschen zu wollen. So wie die technokratische Umformung der Natur die Handelsstadt florieren ließ, so formte der vermehrte Handel die Architektur. Im weitläufigen Hafenbereich wurde die Nähe zum Wasser bewusst gesucht: Bauwerke für Handel und Gewerbe waren eng verzahnt mit einem dicht verästelten Kanalsystem. Den Anforderungen angepasst, wurden sie z.B. durch Pfahlgründungen, damit Mauern direkt im Wasser errichtet werden konnten. Andere Bauwerke wiederum sind eigens zur Beherrschung der Naturkräfte entstanden, etwa Schleusen und Hochwasser-Schutzanlagen.
Der Kampf gegen die innere Natur
Auch heute noch meint man sich in Hamburg der Natur erwehren zu müssen: gegen die äußere, den Menschen bedrohende, ebenso wie gegen die innere. Beide gehören jedoch zusammen und haben ihre Einheit im Menschen. Was sich an der inneren nicht beherrschen lässt, wird auf die äußere projiziert und mit den Mitteln der instrumentellen Vernunft und dem fortschreitendem technischen Entwicklungsstand immer effizienter den polit-ökonomischen Prämissen unterworfen. Die teilweise Autonomie des Menschen von der äußeren Natur führte bisher nicht zu einer Neugestaltung des Verhältnisses, sondern zu einer Fortschreibung unter ideologischen Vorzeichen.2Hierzu ausführlich, siehe: Dirk Lehmann, Die Verdinglichung der Natur. Über das Verhältnis von Vernunft und die Unmöglichkeit der Naturbeherrschung, in: Phase 2, 33 (Herbst 2009), online: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/die-verdinglichung-der-natur-255/?druck=1
Weil die Hafenstadt wachsen muss, so die Ideologie, müssen sich die Hamburger:innen gegen die Wassermassen stellen. Die Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert wurde der zufolge im frühen 17. Jahrhundert erweitert und durch eine massive sternförmige Festungsanlage ersetzt, durch die der Personen- wie Warenverkehr kontrolliert werden konnte. Der Hafen wurde mehrfach ausgebaut und dann in Richtung Containerterminal verlagert. Das Flussbett der Elbe wird seit dem 19. Jahrhundert fortwährend vertieft. All das musste geschehen, um den immer größer werdenden Schiffen gerecht zu werden – um wettbewerbsfähig zu bleiben. Nach dem großen Elbhochwasser von 1962 wurden die Deiche wiederholt erhöht. Mit diesen Deicherhöhungen »konnte eine hohe Sicherheit zum Schutz der Bevölkerung und der Sachwerte erreicht werden« schreibt der Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG) im Rahmen seiner Neuermittlung von 2012 des »Sturmflutbemessungswasserstandes«. Bevölkerung und Sachwerte fallen in dieser Beschreibung in eins – sind gleichermaßen Ressource. Der LSBG prognostiziert:
»Aufgrund des Klimawandels ist jedoch ein weiteres Ansteigen der Wasserstände absehbar. Daher müssen die Anstrengungen für den Küstenschutz weiter fortgesetzt werden, um drohenden Gefahren zu begegnen.«
Der Klimawandel wird als Grund benannt, dafür, dass Deiche erhöht, die Elbe vertieft und die Dove-Elbe als Ausweichfläche für den Tidenhub erschlossen werden müssen. In einer Studie der Internationalen Bauausstellung von 2009 mit dem bezeichnenden Titel Klimafolgenmanagement hingegen, wird kein Hehl daraus gemacht, dass die Ursachen nebst (menschengemachtem) Klimawandel in lokalen polit-ökonomischen Entscheidungen zu verorten sind:
Es sind »die Vertiefung von Elbe und Hafenbecken sowie die starre Sicherung der Ufer, [die] zur Folge [haben], dass die Wasserschicht auf einen engen Fließraum begrenzt bleibt und sich nicht in die Fläche, sondern nur in die Höhe ausdehnen kann. Tidenhub und Sedimentation werden auf diese Weise verstärkt, folglich nimmt auch der Aufwand für die Ausbaggerung zu.«
Die Folgen des Klimawandels könnten gemäß der Studie nur dann ausgeglichen werden, wenn die dynamische Schaffung von weiterem Schwemmland – wie die zurzeit diskutierte Anbindung der Dove-Elbe an das Tidengewässer –, eine technologische Regulierung der Wasserströme und der Bau immer massiverer Hochwasserschutzanlagen forciert würden. All diese Maßnahmen sind eine Reaktion auf steigende Pegelstände. Sie stellen nicht in Frage, weshalb die Elbe und Hafenbecken vertieft und weshalb Ufer starr gesichert werden müssen. Der Schutz vor der Naturgewalt Wasser erweist sich als gutes Argument bei der Expansion von Stadt und Hafen. Nicht die Produktionsweise des Menschen, sondern die ihm äußere Natur erscheint als jener Wirkungsbereich, den es technisch zu beherrschen gilt – qua Klimafolgenmanagement.
Triumph über die Natur?
Die Architektur der Elbphilharmonie bringt das Verhältnis von Herrschern und Beherrschtem mit den Mitteln moderner Baukunst überspitzt zum Ausdruck: Der Mensch schafft die stabilste und größte aller Wellen selbst, nicht weil er es muss, sondern weil er es kann. Vor diesem Hintergrund wird Buggenhouts Skulptur mit Verweis auf die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel nachvollziehbar. Ein technisch hoch komplexes Orchestergebäude bedarf keiner Kaimauer. Es wurde inmitten der Elbe erbaut, der Aussage folgend anything goes. »Denn nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem was sie sich vorgenommen haben zu tun«. Das klingt größenwahnsinnig, aber immerhin könne nun jede:r Besucher:in ein »bisschen Fürst« sein – schwärmt Christian Marquart in der Architekturzeitschrift Bauwelt. Die gigantischen Baukosten von 866 Millionen Euro rechtfertigt das nicht. Auch die Plaza, die man während der Öffnungszeiten der Elbphilharmonie gegen ein Eintrittsgeld von 2,00 Euro pro Besucher:in betreten darf, lässt sich schwerlich als öffentlich bezeichnen.
Marquart sieht in der wellenförmigen Krone ein Bildzitat aus dem berühmten Werk Die große Welle vor Kanagawa des japanischen Holzschneiders Hokusai. Hokusais Werk jedoch erweckt Ehrfurcht angesichts der gewaltigen Natur. Der 110 Meter hohe statische Wellenkamm der Elphi ist hingegen dermaßen gigantisch, dass er die realen Wasserwogen, die die Philharmonie umgeben, ihrer Lächerlichkeit preisgibt. Das Bauwerk zwingt dem es umgebenden Wasser ihren instrumentellen Begriff von Natur und Naturbeherrschung auf. Eine solche Verkehrung ist Ausdruck gesellschaftlicher, und speziell der Hamburger, Verhältnisse. Die Riesenwelle bringt diese, wenn auch unfreiwillig, so doch gelungen zum Ausdruck. Sie macht sich den Begriff des Wassers zu eigen und keinen Hehl daraus, wer hier über die Natur triumphiert. Sie ist eine Kampfansage an die Natur.
Erste Entwürfe der Elbphilharmonie entstanden 2003 mit dem Ziel, ein neues Wahrzeichen für die Stadt zu erschaffen. Zu jener Zeit war Gerhard Schröder Bundeskanzler, Ole von Beust Hamburgs Erster Bürgermeister und in der bundesdeutschen Öffentlichkeit wurde zaghaft begonnen, über den Klimawandel zu diskutieren. Das Bewusstsein darüber, dass es sich um eine ausgewachsene Klimakrise handelt, folgte allmählich. So ersetzte der Guardian z.B. den Begriff climate change durch drastischeres Vokabular.3The Guardian, vom 19.10.2019: »We will use language that recognises the severity of the crisis we’re in. In May 2019, the Guardian updated its style guide to introduce terms that more accurately describe the environmental crises facing the world, using ›climate emergency, crisis or breakdown‹ and ›global heating‹ instead of ›climate change‹ and ›global warming‹. We want to ensure that we are being scientifically precise, while also communicating clearly with readers on the urgency of this issue«. Damit schien sich ein neues Bewusstsein des Verhältnisses von Mensch und Natur zumindest anzudeuten, das die bisherige Naturbeherrschung irgendwann einmal ablösen könnte. Die Elbphilharmonie, das technisch perfekte, hochkulturelle Wahrzeichen der Stadt Hamburg, mit integriertem Parkhaus, Hotel und teuren Eigentumswohnungen wirkt dagegen wie eine Trutzburg der in diesem Beitrag nachgezeichneten Ära. Ihr Baustil kann damit als steingewordene Herrschaftsarchitektur bezeichnet werden, errichtet in einer Zeit, in der eine unbeherrschbare Flut noch nicht vorstellbar schien.
Norika Rehfeld, Mai 2021
Die Autorin ist Sozialwissenschaftlerin, arbeitet aus Überzeugung nicht im Wissenschaftsbetrieb und findet die Kapriolen, die in der Elbphilharmonie zur Optimierung der Akustik geschlagen wurden, tatsächlich super.
1
Woltmann, Reinhard (1802): Beyträge zur Baukunst schiffbarer Kanäle. Mit 6 Kupfertafeln. Göttingen, S.165 [online]
2
Hierzu ausführlich, siehe: Dirk Lehmann, Die Verdinglichung der Natur. Über das Verhältnis von Vernunft und die Unmöglichkeit der Naturbeherrschung, in: Phase 2, 33 (Herbst 2009), online: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/die-verdinglichung-der-natur-255/?druck=1
3
The Guardian, vom 19.10.2019: »We will use language that recognises the severity of the crisis we’re in. In May 2019, the Guardian updated its style guide to introduce terms that more accurately describe the environmental crises facing the world, using ›climate emergency, crisis or breakdown‹ and ›global heating‹ instead of ›climate change‹ and ›global warming‹. We want to ensure that we are being scientifically precise, while also communicating clearly with readers on the urgency of this issue«.