»Wanderstraßen der Kultur«

Wootton / fluid, Courtesy The Warburg Institute

»Wanderstraßen der Kultur«

Das Biblio­theks­ge­bäude, in dem der Kunst­his­to­ri­ker Aby War­burg (1866–1929) die letz­ten Jahre sei­nes Lebens forschte, steht immer noch in Ham­burg. Sein Bestand – ca. 60.000 Bände und War­burgs Auf­zeich­nun­gen – konnte 1933 nach Lon­don geret­tet wer­den. Eine Aus­stel­lung bringt War­burgs unvoll­ende­tes Haupt­werk, den Bil­der­at­las Mne­mo­syne, nun zurück.

Wan­der­stras­sen der Kul­tur. Foto: Woot­ton / fluid, Cour­tesy The War­burg Institute

In der Heil­wig­straße 116 befin­det sich in einem ansons­ten unauf­fäl­li­gen Vil­len­vier­tel Ham­burgs an einem Zufluss zur Als­ter gele­gen ein Back­stein­bau, über des­sen Ein­gang der Schrift­zug »Mne­mo­syne« prangt. Dar­über ste­hen an der back­stei­ner­nen Außen­fas­sade die drei Buch­sta­ben K, B und W, als Kür­zel für Kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Biblio­thek Warburg. 

Ihr Bau­herr Aby War­burg, der Pri­vat­ge­lehrte und Spross der bis heute bestehen­den loka­len Ban­kiers­dy­nas­tie, ließ das Gebäude 1926 erbauen, um in ihr seine wach­sende Biblio­thek unter­zu­brin­gen. Mit dem Neu­bau schuf War­burg eine für die dama­lige Zeit neu­ar­tige Insti­tu­tion, deren Inno­va­ti­ons­ge­halt sich sowohl in der infra­struk­tu­rel­len Gestal­tung als auch in der wis­sen­schaft­li­chen Aus­rich­tung nie­der­schlug – Kunst­ge­schichte sollte hier als Kul­tur­ge­schichte, mit­hin als breit ange­legte Kul­tur­wis­sen­schaft betrie­ben werden.

Das Warburg-Haus mit sei­ner auf­wen­dig gestal­te­ten Backstein-Fassade. Foto: © Ajep­bah / Wiki­me­dia Com­mons / Lizenz: CC-BY-SA‑3.0 DE

Der Bilderatlas Mnemosyne

Betritt man das Gebäude, sieht man, dass in den Sturz der Tür zum Biblio­theks­saal ein Wort in grie­chi­schen Let­tern ein­ge­mei­ßelt ist: »ΜΝΕΜΟΣΥΝΗ«. Die­ser Begriff ver­weist auf War­burgs viel beach­te­tes und zugleich unzu­gäng­lichs­tes Werk, das er an die­sem Ort mit sei­nen Mitarbeiter:innen – Ger­trud Bing und Fritz Saxl – schuf: den Bil­der­at­las Mne­mo­syne. Den Begriff der Mne­mo­syne über­nahm War­burg aus der evo­lu­ti­ons­bio­lo­gi­schen For­schung zu Anfang des 20. Jahr­hun­derts. Dort bestan­den bereits Ansätze, etwa durch Richard Semon, zur Über­tra­gung auf die Kul­tur­ge­schichte: Mneme, die grie­chi­sche Muse der Erin­ne­rung, wurde zur Namens­ge­be­rin für die Annahme eines erhal­ten­den Prin­zips erwor­be­ner Eigen­schaf­ten im Bereich der Kul­tur. War­burg knüpfte an diese Annah­men an, die er mit­samt dem Begriff in seine kunst­ge­schicht­li­che Arbeit über­trug. In sei­ner For­schungs­ar­beit wei­tete er damit das Ver­ständ­nis einer her­ge­brach­ten Kunst­ge­schichte aus und über­führte sie in eine breit­an­ge­legte Kulturwissenschaft.

Prä­sen­ta­tion der Bil­der­reihe »Urworte lei­den­schaft­li­cher Gebär­den­spra­che« im Lese­saal der Kul­tur­wis­sen­schaft­li­chen Biblio­thek War­burg. Foto: Cour­tesy The War­burg Institute

Mne­mo­syne bezeich­net nun das Erin­nern als gesam­ten Pro­zess. Mit den Mit­teln der Iko­no­gra­phie ver­suchte War­burg, ein geo­gra­phi­sches sowie the­ma­ti­sches Wan­dern von For­men, Mus­tern und Sti­len durch die Geschichte in Abhän­gig­keit zu den jewei­lig herr­schen­den gesell­schaft­li­chen Zustän­den nach­zu­zeich­nen. Hierzu ent­wi­ckelte er mit sei­nen Mitarbeiter:innen den Bil­der­at­las Mne­mo­syne: Auf ins­ge­samt 63 Tafeln wur­den von War­burg und sei­nen Mitarbeiter:innen auf schwar­zem Grund foto­gra­fi­sche Repro­duk­tio­nen arran­giert. Dabei han­delt es sich um Kunst­werke aus dem Nahen Osten, der euro­päi­schen Antike und der Renais­sance neben zeit­ge­nös­si­schen Zei­tungs­aus­schnit­ten sowie Wer­be­an­zei­gen. Die Tafeln des Bil­der­at­las stel­len das zen­trale Hilfs­mit­tel inner­halb des durch War­burg ent­wi­ckel­ten expe­ri­men­tel­len Ver­fah­rens zur Ver­ge­gen­wär­ti­gung der kul­tur­ge­schicht­li­chen Ent­wick­lung dar. Anhand der foto­gra­fi­schen Repro­duk­tio­nen lässt sich die Über­lie­fe­rung nach­voll­zie­hen – es las­sen sich Pro­zesse des Erin­nerns anhand der Wan­de­rung durch die Kul­tur­ge­schichte sowohl visu­ell dar­stel­len als auch nach­voll­zie­hen. Zeit­ge­nös­sisch aus­ge­drückt, rich­te­ten sich War­burgs For­schun­gen auf die Ent­wick­lung einer medi­en­theo­re­ti­schen Genea­lo­gie von Bildmotiven.

In den Dienst der Erkun­dung des Erin­ne­rungs­pro­zes­ses stellte War­burg seine in Hamburg-Eppendorf gele­gene kul­tur­wis­sen­schaft­li­che Biblio­thek. Nach War­burgs Tod im Herbst 1929 von sei­nen Mitarbeiter:innen wei­ter­ge­führt, wur­den die Bestände auf der Flucht vor den Natio­nal­so­zia­lis­ten nach Lon­don ver­schifft. Dabei konnte auch das Mate­rial zu War­burgs letz­tem gro­ßem Pro­jekt, dem Bil­der­at­las, geret­tet wer­den. Zur Erhal­tung des Biblio­theks­be­stands ent­stand in Lon­don das bis heute, auch gegen kos­ten­spa­rende Ein­glie­de­rungs­ver­su­che der Uni­ver­sity of Lon­don, wei­ter­hin bestehende War­burg Insti­tute.

Wiederentdeckung des Bildmaterials

Zu Leb­zei­ten War­burgs nicht mehr abge­schlos­sen und danach mit dem Bestand der KBW von sei­nen Mitarbeiter:innen ins Lon­do­ner Exil ver­schifft, hat­ten die Ori­gi­nal­ab­bil­dun­gen vom Herbst 1929 in ihrer Mehr­zahl über­lebt. Für die Nach­welt kaum nach­voll­zieh­bar, lager­ten die ein­zel­nen Abbil­dun­gen im Bild­ar­chiv des War­burg Insti­tute. Die Wie­der­ent­de­ckung des Bild­ma­te­ri­als und die Ergeb­nisse der Rekon­struk­ti­ons­ar­bei­ten sind der­zeit in einer Aus­stel­lung in der Außen­stelle der Deich­tor­hal­len in der Samm­lung Falcken­berg in Har­burg zu besich­ti­gen. Erst­ma­lig kann damit in Ham­burg der geneig­ten Öffent­lich­keit der Bil­der­at­las voll­stän­dig rekon­stru­iert prä­sen­tiert wer­den, was nicht allein sen­sa­tio­nell ist, son­dern den mehr­fa­chen Besuch lohnt. Besucher:innen kön­nen anhand der ein­zel­nen Tafeln des Atlas das Wan­dern der Bil­der eigen­stän­dig nachverfolgen.

Bil­der­at­las Mne­mo­syne, Tafel 39, rekon­stru­iert von Roberto Ohrt und Axel Heil 2020. Foto: Woot­ton / fluid; Cour­tesy The War­burg Institute

Kura­tiert wurde die Aus­stel­lung von Axel Heil und Roberto Ohrt sowie dem War­burg Insti­tute in Zusam­men­ar­beit mit dem Ber­li­ner Haus der Kul­tu­ren der Welt. Die Aus­stel­lung ist noch bis zum 31. Okto­ber 2021 in der Samm­lung Falcken­berg in Har­burg zu besich­ti­gen. Wei­tere Infor­ma­tio­nen unter gibt es hier.

Wer es bis dahin nicht schafft, den­noch aber ein­mal mehr von dem Ham­bur­ger Kul­tur­wis­sen­schaft­ler und sei­nem Schaf­fen erfah­ren möchte, dem sei die nach­fol­gende Aus­gabe der Deutsch­land­funk Sen­dung Lange Nacht über den Kul­tur­wis­sen­schaft­ler Aby War­burg anempfohlen.

Fred Stil­ler

Der Autor lebt und lohn­ar­bei­tet in Ham­burg. Er hält die Stadt und ihre Bewohner:innen im Gegen­satz zu ihrer Größe für intel­lek­tu­ell und (sub-)kulturell mit ande­ren Pro­vinz­städ­ten ver­gleich­bar. Den­noch schätzt er die näh­ren­den Brot­kru­men, durch wel­che sich die Stadt vor ande­ren ihrer Größe und Kon­sti­tu­tion auszeichnet.

Welcome to Helmut

Welcome to Helmut

Im Zen­trum Ham­burgs übt sich eine neue Aus­stel­lung der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung in Legen­den­bil­dung. Kann sie den Macher und Macht­po­li­ti­ker Schmidt zu guter Letzt doch noch als »Super­de­mo­kra­ten« prä­sen­tie­ren? Und wie geht sie mit Schmidts Zeit als Offi­zier der Wehr­macht um? Unser Autor hat ihr einen kri­ti­schen Besuch abgestattet. 

Der Ein­gang zur Aus­stel­lung in der Ham­bur­ger Innen­stadt: Wel­come to Hel­mut! Foto: privat

Mit pan­de­mie­be­dingt sie­ben­mo­na­ti­ger Ver­spä­tung wurde am 19. Juni 2021 die Dau­er­aus­stel­lung zu Ehren des fünf­ten Bun­des­kanz­lers der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land in den Räu­men der Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung nahe dem Ham­bur­ger Rat­haus eröff­net. Mit der Aus­stel­lung, die über meh­rere Jahre hier zu sehen sein soll, schrei­tet die vom Spiegel-Autor und His­to­ri­ker Klaus Wieg­refe bereits im Zuge der Grün­dung der Stif­tung befürch­tete »Schmid­ti­sie­rung der Repu­blik« nun also wei­ter voran. Auch des­halb, weil die Aus­stel­lung an ihrer eige­nen Begriffs­lo­sig­keit schei­tert: Unter dem Titel »Schmidt! Demo­kra­tie leben« will sie den ehe­ma­li­gen Bun­des­kanz­ler als »Super­de­mo­kra­ten« insze­nie­ren, hat aller­dings selbst kei­nen Begriff von Demo­kra­tie. Hätte die Stif­tung sich tat­säch­lich mit dem Demo­kra­tie­ver­ständ­nis Schmidts aus­ein­an­der­ge­setzt, würde sie wohl kaum noch von ihm als »Vor­den­ker« spre­chen kön­nen. Von einer kri­ti­schen wis­sen­schaft­li­chen Aus­ein­an­der­set­zung mit der Per­son ist diese Aus­stel­lung so weit ent­fernt, wie es Hel­mut Schmidt von einem Dasein als Intel­lek­tu­el­ler war.

In nur einem Raum mit einer Größe von circa 200 Qua­drat­me­tern wer­den Leben und Wir­ken Schmidts dar­ge­stellt. Wei­ter­hin wirft die Aus­stel­lung ein­zelne Schlag­lich­ter auf The­men, die nach Ansicht der Stif­tung inner­halb der west­deut­schen Gesell­schaft wäh­rend der Kanz­ler­schaft Schmidts (1974–1982) an Rele­vanz gewan­nen. Ein ambi­tio­nier­tes Vor­ha­ben! Denn viel Platz ist das nicht für die Geschichte des 20. Jahr­hun­derts und Schmidts Rolle darin: Eine nuan­cierte und detail­lierte Ver­hand­lung der The­men wurde so von vorn­her­ein aus­ge­schlos­sen. Geglie­dert ist die Aus­stel­lung in drei chro­no­lo­gisch ange­ord­nete Berei­che – das Leben vor der Kanz­ler­schaft, die Kanz­ler­schaft und die Zeit danach. Diese Berei­che heben sich visu­ell nicht von­ein­an­der ab, son­dern wer­den jeweils durch Text­ta­feln ein­ge­lei­tet. Die Unter­ka­te­go­rien, wie etwa Kind­heit und Jugend, die RAF oder Pro­test gegen die Atom­kraft, wer­den wie­derum durch Groß­fo­to­gra­fien – dar­auf jeweils Zitate Schmidts – und soge­nannte The­men­ti­sche geglie­dert. Die ins­ge­samt acht Jahre Kanz­ler­schaft neh­men dabei fast die Hälfte des Rau­mes ein und bil­den den inhalt­li­chen Schwer­punkt der Ausstellung.

100 Jahre Deutschland – 100 Jahre Helmut Schmidt

Bevor nun ein Blick in die Aus­stel­lungs­räume gewor­fen wird, ist es wich­tig, den Titel – »Demo­kra­tie leben« – zu kon­tex­tua­li­sie­ren. Denn die­ser gibt nicht nur die Marsch­rich­tung der Aus­stel­lung vor. Er sagt uns, wie wir uns an Schmidt erin­nern sol­len. Neben dem Hin­weis auf sein lan­ges Leben, immer­hin wurde er 96 Jahre alt, lau­tet die Bot­schaft: Hel­mut Schmidt war ein auf­rech­ter Demo­krat, der von der par­la­men­ta­ri­schen Demo­kra­tie nicht nur über­zeugt war, son­dern diese wirk­lich »gelebt« habe. Die Aus­stel­lung erin­nert an und ehrt also auf eine emo­tio­nale Weise einen »Super­de­mo­kra­ten«. Warum die Aus­stel­lung die­sem Titel zwangs­läu­fig nicht gerecht wer­den kann, hängt mit dem hier nor­ma­tiv ver­wen­de­ten, nicht näher defi­nier­ten Demo­kra­tie­be­griff zusam­men, der neben der Per­son das bestim­mende Thema die­ser Aus­stel­lung zu sein scheint.

Wer war also Hel­mut Schmidt? Den jün­ge­ren Men­schen in der Bun­des­re­pu­blik ist er wohl als ket­ten­rau­chen­der Welt­erklä­rer in Erin­ne­rung. Schmidt hatte für alles eine Ant­wort und saß vor­nehm­lich alleine in Talk­shows, damit es bloß kei­nen Wider­spruch gab. Den Hamburger:innen mag er noch als »Herr der Flut« in Erin­ne­rung sein. Ein Mythos, an dem viele Medien und Schmidt selbst bis zu sei­nem Tod gear­bei­tet haben: Das Bild des »Machers«, der »Kri­sen­ma­na­ger«, der nicht lange schnackt, son­dern ein­fach das Rich­tige macht – und dem dabei auch mal das Grund­ge­setz egal ist. Die­ses Bild des »Machers« ist wohl das bestän­digste Erbe des 2015 Ver­stor­be­nen. Doch sei dies, so möchte die Aus­stel­lung zei­gen, zu kurz gegrif­fen. Denn natür­lich war er viel mehr: Ein Euro­päer, Prag­ma­ti­ker und Real­po­li­ti­ker, der für sein »oft weit­sich­ti­ges Han­deln im Kon­text gro­ßer inter­na­tio­na­ler Her­aus­for­de­run­gen« bekannt sei, wie es im Ein­füh­rungs­text heißt – Kri­sen­ma­na­ger, aber weltweit.

Die Wehrmacht und der Schlussstrich

Die Groß­fo­to­gra­fien sind das alles bestim­mende visu­elle Ele­ment der Aus­stel­lung. Dies lässt eine Per­spek­tive auf Hel­mut Schmidt zu, die sicher nicht im Sinne der Ausstellungsmacher:innen war. So fällt – noch bevor der eigent­li­che Aus­stel­lungs­raum betre­ten wer­den kann – ein Foto Schmidts ins Auge, das ihn im Jahr 1940 in der Uni­form der deut­schen Luft­waffe als Leut­nant der Reserve zeigt. Schmidt war Offi­zier, wurde im Laufe des Krie­ges Ober­leut­nant. An der Ost­front ein­ge­setzt, war er unter ande­rem an der Bela­ge­rung von Lenin­grad und womög­lich auch an Kriegs­ver­bre­chen betei­ligt. Nach­wei­sen konnte man ihm das nie, doch seine Selbst­ver­tei­di­gung, die bis zu der Behaup­tung reichte, er sei sogar ein Geg­ner der Nazis gewe­sen, war schon immer unglaub­wür­dig. Selbst­re­dend habe er auch von der Shoah kei­ner­lei Kennt­nis gehabt – dabei reiste er als Aus­bil­der in »Kriegs­schu­len« quer durch das Deut­sche Reich und die im Krieg besetz­ten Gebiete. Wenige Meter hin­ter die­ser Foto­gra­fie fin­det sich eine wei­tere, dies­mal von sei­ner Ver­ei­di­gung zum Bun­des­kanz­ler 1974. Von der Wehr­macht ins Kanz­ler­amt: eine (west-)deutsche Kar­riere. Eine erfolgs­bio­gra­fi­sche Illu­sion für die Schmidt wohl nur Wil­len – und Ziga­ret­ten – brauchte.

Der erste The­men­tisch zum Wehrmachts-Foto hat es in sich. Er soll das Bild kon­tex­tua­li­sie­ren, kann aber obige Erfolgs­ge­schichte kaum mehr ein­fan­gen. Auf die ekla­tan­ten Erin­ne­rungs­lü­cken Schmidts weist das bereit­ge­stellte Mate­rial zwar hin, aber es steht neben sei­ner Erzäh­lung, als ob es zwei legi­time Sicht­wei­sen wären, die sich gegen­sei­tig die Balance hal­ten. Dar­über hin­aus wird der Begriff der »Pflicht« stark gemacht. Schließ­lich sei es sol­da­ti­sche Pflicht gewe­sen, die Stadt Lenin­grad zu bela­gern. Ein fast schon amü­san­ter Euphe­mis­mus für Mit­läu­fer­tum, wenn es denn nicht so ernst wäre. Ein auf dem The­men­tisch gezeig­ter Film fasst dann die ganze Absur­di­tät zusam­men: Als Schmidt 1977 als ers­ter Kanz­ler über­haupt nach Ausch­witz zu einer Gedenk­feier anreiste, sprach er nicht über die Opfer der Shoah. Deut­sche seien die ers­ten Opfer gewe­sen! Und über­haupt hät­ten die Deut­schen 32 Jahre nach Kriegs­ende damit auch nichts mehr zu schaf­fen. Heute wäre es undenk­bar, so etwas zu sagen – damals war es das auch. Nach dem War­schauer »Knie­fall« von Willy Brandt sie­ben Jahre zuvor waren sol­che Worte aber offen­sicht­lich Bal­sam auf die geschun­dene Seele der (West-)Deutschen.

Es irri­tiert ins­be­son­dere an die­ser Stelle, dass die Stif­tung Schmidts eige­nes Nar­ra­tiv repro­du­ziert und als legi­time Hal­tung dar­stellt. Die­ser Ein­druck ver­stärkt sich durch ein eben­falls an die­sem Tisch gezeig­tes Gespräch, das zur ers­ten »Wehr­machts­aus­stel­lung« im Jahr 1995 im Zeit-Maga­zin abge­druckt wurde. So wollte Schmidt sich diese Aus­stel­lung gar nicht erst anse­hen: wie­der­holt betont er, nichts von den Ver­bre­chen der Wehr­macht an der Ost­front gewusst zu haben, was er bei einer Wie­der­auf­lage des Gesprä­ches noch ein­mal unter­strich. Natür­lich erwar­tet nun nie­mand in die­ser Aus­stel­lung eine fun­da­men­tale Kri­tik an der Per­son Schmidts oder eine Ana­lyse sei­ner nicht halt­ba­ren Ver­tei­di­gungs­stra­te­gie. Mit Begrif­fen wie Ver­nunft oder Nüch­tern­heit, die Schmidt sich selbst attes­tierte und die ihm bis­wei­len attes­tiert wer­den (siehe die ein­schlä­gi­gen Bio­gra­fien), hat das aller­dings wenig zu tun. Denn man könnte doch mei­nen, dass der kan­ti­sche Ver­nunft­be­griff die Fähig­keit zur (Selbst-)Reflexion einschließt.

Kitsch statt Kri­tik: Im Muse­ums­shop kehrt man lie­ber bei Loki und Hel­mut ein als vor der eige­nen Tür. Foto: pri­vat

Der »Herr der Flut« und die wilden 70er

Es folgt – nach der plötz­li­chen Läu­te­rung zum Sozi­al­de­mo­kra­ten 1945 – ein etwas län­ge­rer Abschnitt in Schmidts Leben (1945–1969): Schmidt war ab Dezem­ber 1961 Sena­tor der Poli­zei­be­hörde (ab Juni 1962 Innen­se­na­tor) und nahm vor allem eine pro­mi­nente Rolle in der Nacht der Ham­bur­ger Sturm­flut vom 17. auf den 18. Februar 1962 ein. Immer­hin wird in der Aus­stel­lung nicht mit dem belieb­ten Zitat gear­bei­tet, dass dem Demo­kra­ten so gar nicht zusa­gen würde (das mit dem Grund­ge­setz). Gebro­chen wird der »Macher«-Mythos aller­dings auch nicht, denn das Thema bleibt eine Rand­no­tiz. Diese Mar­gi­na­li­sie­rung ist befremd­lich: Ran­ken sich doch aller­lei Geschich­ten um die­ses Ereignis.

Der Rest der Aus­stel­lung folgt dem bekann­ten Mus­ter. Eine Groß­fo­to­gra­fie zeigt Schmidt und ein Zitat. Auf dem jewei­li­gen The­men­tisch wird die Per­spek­tive etwas gewei­tet, aber nie zu weit: Die Aus­stel­lung wird durch­zo­gen von einer kon­ti­nu­ier­li­chen Dicho­to­mie zwi­schen der Posi­tion und Argu­men­ta­tion Schmidts und dem Rest der Welt. Gebro­chen wird diese per­so­nen­zen­trierte visu­elle Erzäh­lung nur im Bereich der Kanz­ler­schaft Schmidts. Die hier gezeig­ten Foto­gra­fien zei­gen The­men der 1970er und 1980er Jahre: Ein biss­chen Wirt­schafts­krise, RAF, Anti-Atom- und Frie­dens­be­we­gung. Auf den Tischen bleibt jedoch die Her­an­ge­hens­weise: Eine his­to­ri­sche Ein­ord­nung fin­det nicht statt, die Posi­tion Schmidts wird hin­ge­gen als ver­nunft­ge­lei­tet dar­ge­stellt. Im Umkehr­schluss sind es die Gegen­po­si­tio­nen häu­fig nicht. So wird etwa am The­men­tisch »Deut­scher Herbst« erst auf einer unte­ren Film-Ebene von Hans-Jochen Vogel (1974–1981 Jus­tiz­mi­nis­ter im Kabi­nett Schmidt) zuge­ge­ben, dass der Staat eigent­lich nie wirk­lich in Gefahr war. Dabei legi­ti­mierte die­ses Bedro­hungs­sze­na­rio aller­lei Poli­ti­ken und eine Auf­rüs­tung des Poli­zei­ap­pa­rats, die in der Bun­des­re­pu­blik bis dato bei­spiel­los war. Wäh­rend die Rol­len­ver­tei­lung beim RAF-Terrorismus wenig Spiel­raum lässt, ver­hält es sich bei den in den 1970er Jah­ren auf­kom­men­den Neuen Sozia­len Bewe­gun­gen schon anders. Denn hier zeigt sich, wel­chen Demo­kra­tie­be­griff Schmidt pflegte. So konnte er zwar die Anti-AKW-Demonstrationen in Brok­dorf nicht ver­hin­dern, rief aber dazu auf, nicht auf die Straße zu gehen. Auch drohte Schmidt als Kanz­ler mehr­fach mit Rück­tritt, sollte sei­nem Wil­len – Atom­kraft­werke zu bauen – nicht nach­ge­kom­men wer­den. In Schmidts Ver­ständ­nis von Demo­kra­tie war für die Sozia­len Bewe­gun­gen kein Platz. Zuläs­sige, also von ihm aner­kannte Stim­men, gab es nur im Par­la­ment und in sei­ner Par­tei. Doch auch letz­tere und Schmidt ent­frem­de­ten sich im Laufe sei­ner Kanz­ler­schaft zuneh­mend. Ein Span­nungs­ver­hält­nis, dass bis zu sei­nem Tod nicht mehr auf­ge­löst wurde. Dass die Par­tei in der Aus­stel­lung kaum statt­fin­det, scheint fol­ge­rich­tig: Schmidt als über­par­tei­li­cher Len­ker, Den­ker und Welt­erklä­rer. Eine wei­tere Insze­nie­rung Schmidts, die hier unhin­ter­fragt wei­ter­ge­tra­gen wird.

Demokratie und Kritik

Nach­dem auf dem letz­ten Kanz­ler­tisch noch eben die The­men Europa, DDR und die rest­li­che Welt eher wacke­lig abge­han­delt wer­den, beginnt der letzte Bereich, also seine Zeit als Publi­zist und Mit-Herausgeber der Ham­bur­ger Wochen­zei­tung Die Zeit. Es ist jene Lebens­phase, in der Schmidt an sei­ner eige­nen Legende arbei­tete, wie der His­to­ri­ker Axel Schildt 2017 fest­stellte. Mit die­sen Akti­vi­tä­ten schuf Schmidt ein Bild von sich, dem diese Aus­stel­lung wei­test­ge­hend folgt.

Ent­spre­chend wird sich in die­sem Abschnitt auch nicht mit den ras­sis­ti­schen und kul­tu­ra­lis­ti­schen Posi­tio­nen Schmidts aus­ein­an­der­ge­setzt. Dabei sind diese Posi­tio­nen nicht sei­ner spä­ten Seni­li­tät geschul­det – sprach er doch bereit 1992 von einer »Über­schwem­mung« und »Ent­ar­tung« der deut­schen Gesell­schaft –, son­dern las­sen einen roten Faden in Schmidts Poli­tik­ver­ständ­nis erken­nen. Würde die­ser genauer unter­sucht, so würde sich zei­gen, dass sein Welt­bild nicht viel mit Nüch­tern­heit oder Ver­nunft zu tun hat, ja viel­mehr offen­bart sich eine regel­rechte Intel­lek­tu­el­len­feind­lich­keit. Die Mög­lich­keit, auch diese Sei­ten Schmidts zu zei­gen und zu dis­ku­tie­ren, wurde hier nicht genutzt. So kann die Aus­stel­lung einer historisch-kritischen Ein­ord­nung der Per­son nicht gerecht wer­den, eine nüch­terne Per­spek­tive auf den fünf­ten Bun­des­kanz­ler fehlt. Schmidts Poli­tik­ver­ständ­nis blieb ein eli­tä­res und exklu­si­ves. Die Aus­stel­lung folgt wei­test­ge­hend dem Bild Schmidts, das die­ser selbst instal­liert hat: ein über­par­tei­li­cher Super­de­mo­krat und Lotse (Bis­marck lässt grü­ßen!), der die Bun­des­re­pu­blik durch schwere Fahr­was­ser steu­erte und eigent­lich auch immer recht behielt – mit die­ser Dau­er­aus­stel­lung nun auch über sei­nen Tod hinaus.

Lars Engel­hardt, August 2021 

Der Autor ist stu­dier­ter Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler und als der­zeit pre­kär Beschäf­tig­ter – unter ande­rem Uber-Fahrer in Teil­zeit – schon län­ger ent­täuscht von den lee­ren Ver­spre­chen der (Ham­bur­ger) Sozi­al­de­mo­kra­tie. Die Stadt Ham­burg, so meint er, ver­dient Aus­stel­lun­gen wie diese. 

Die große Welle vor Hamburg

BIld: Norika Rehfeld

Die große Welle vor Hamburg

Die Elb­phil­har­mo­nie ist nicht nur schnell zum Sym­bol für Ham­burg gewor­den, zum Tou­ris­mus­ma­gne­ten und zur Vor­lage für Hei­mat­kitsch. Sie ist auch der vor­läu­fig krö­nende Abschluss einer Stadt­ent­wick­lung nach polit-ökonomischen Erfor­der­nis­sen. Eine Ent­wick­lung, in der die Herr­schaft des Men­schen über die Natur eine wesent­li­che Rolle spielt.

Anläss­lich der Eröff­nung der Elb­phil­har­mo­nie Anfang 2017 stellte der bel­gi­sche Künst­ler Peter Bug­gen­hout eine 15 Meter hohe Skulp­tur mit dem Titel Babel Varia­tio­nen in den Ham­bur­ger Deich­tor­hal­len aus. Die­ser Bei­trag zur Aus­stel­lung Elb­phil­har­mo­nie Revi­si­ted, bestand aus gro­ßen Polyester- und Stahl­tei­len, die anmu­te­ten, als habe der Künst­ler Sperr­müll gewagt in die Höhe gesta­pelt: ein fra­gi­ler Riese, der den Ein­druck erweckte, jeder­zeit in sich zusam­men­zu­bre­chen. Die raum­grei­fende Skulp­tur kon­tras­tierte die glit­zernde Ästhe­tik des soeben fer­tig­ge­stell­ten, mas­si­ven Kon­zert­hau­ses an der Elbe. Mit dem Titel Babel Varia­tio­nen spielt Bug­gen­hout auf die alt­tes­ta­men­ta­ri­sche Erzäh­lung vom Turm­bau zu Babel (Gen 11,1–9) an und bezieht sie auf die Ham­bur­ger Elbphilharmonie.

Romantisch verklärt statt bestraft

Im 21. Jahr­hun­dert scheint die Erzäh­lung vom Turm­bau zu Babel obso­let: Die Kir­chen in Deutsch­land sind wie leer­ge­fegt und Got­tes­furcht taugt nicht mehr als Mit­tel der Poli­tik. Auch für den Namens­ge­ber des der­zeit höchs­ten Gebäu­des der Erde und gleich­zei­tige Prä­si­den­ten der Ver­ei­nig­ten Ara­bi­schen Emi­rate, Scheich Cha­lifa bin Zayid Al Nahyan blieb eine gött­li­che Strafe bis­her aus. Dem mensch­li­chen Sprach­wirr­war kann heute bequem per Han­dyapp begeg­net wer­den. Wes­halb also ein Kon­zert­haus am Fuße der Elbe zu einem neuen Turm­bau zu Babel erklären? 

In der Selbst­be­schrei­bung der Elb­phil­har­mo­nie heißt es wenig beschei­den, dass »dem tra­di­tio­nel­len Back­stein­so­ckel neues Leben« ein­ge­haucht und dass »das Kon­zert­haus als fun­kelnde Krone oben drauf« gesetzt wor­den sei. Ein Affront, nicht gegen Gott, so doch aber gegen eine dem Men­schen wie über­mäch­tig gegen­über­ste­hende Natur. In der archi­tek­to­ni­schen Ent­wick­lung der Handels- und Hafen­stadt spie­gelt sich viel­mehr das Ver­hält­nis der Men­schen zur Natur wider. Dass es sich dabei um ein durch­weg polit-ökonomisches Herr­schafts­ver­hält­nis han­delt, kann Epo­che für Epo­che nach­ge­zeich­net werden: 

In der Elb­phil­har­mo­nie wird diese Ent­wick­lung gewis­ser­ma­ßen an meh­re­ren Jah­res­rin­gen sicht­bar. Der untere Teil des Kon­zert­hau­ses besteht aus der back­stei­ner­nen Außen­mauer des 1875 errich­te­ten Kai­spei­cher A, der sei­ner­zeit auch Kai­ser­spei­cher genannt wurde. Mit Hilfe von Krä­nen konn­ten die Waren im dama­li­gen Haupt­ha­fen Ham­burgs direkt vom Schiff in das Spei­cher­ge­bäude gehievt wer­den. Das neu­go­ti­sche Spei­cher­ge­bäude wurde im 2. Welt­krieg zer­stört und in den sech­zi­ger Jah­ren in schlich­ter Form wie­der auf­ge­baut. Mit der glo­ba­len Umstel­lung des See­han­dels von Stück­gut auf den Con­tai­ner­fracht­ver­kehr fand der Schiffs­han­del zuneh­mend im rasant wach­sen­den Con­tai­ner­ha­fen statt, der der Stadt süd­west­lich vor­ge­la­gert wurde. In der Folge wurde der Lager­be­trieb im Kai­spei­cher in den neun­zi­ger Jah­ren voll­stän­dig ein­ge­stellt. Der tra­pez­för­mige Grund­riss des ers­ten Kai­spei­chers blieb erhal­ten und die schlichte Kai­mauer bil­det den Sockel des von den Hamburger:innen mitt­ler­weile Elphi genann­ten Baus. Im Ensem­ble mit der angren­zen­den denk­mal­ge­schütz­ten Spei­cher­stadt ist das Große Gras­brook genannte Gebiet, auf dem nun Elb­phil­har­mo­nie und Hafen­city ste­hen, eine roman­ti­sie­rende Remi­nis­zenz an die Geschichte der Han­se­stadt Ham­burg, die sich seit den zwan­zi­ger Jah­ren des 20. Jahr­hun­derts als Tor zur Welt beschreibt und deren expan­si­ver See­han­del eine große, rei­che Ober­schicht ent­ste­hen ließ.

Der Kampf gegen die erste Natur

Die Ent­wick­lung Ham­burgs zur Metro­pole der See­schiff­fahrt war kei­nes­wegs vor­ge­zeich­net, betrach­tet man die geo­gra­phi­sche Lage und die natür­li­chen Aus­gangs­be­din­gun­gen der Region Ham­burg: Die Stadt lag, salopp gesagt, im Matsch tief im Bin­nen­land zwi­schen Nord- und Ost­see. Die Stadt­ge­schichte ist geprägt von die­ser und wei­te­ren für Land­wirt­schaft und Han­del ungüns­ti­gen Umwelt­be­din­gun­gen, die bis heute mas­sive Ein­griffe durch den Men­schen nach sich ziehen. 

Die Elb­re­gion bestand ursprüng­lich aus frucht­ba­ren, aber dau­er­haft nas­sen Böden, die für eine Bewirt­schaf­tung nicht geeig­net waren. Die vor­neu­zeit­li­chen Siedler:innen der Elb­land­schaft muss­ten sich gegen die Kräfte der Natur weh­ren: Im fla­chen, san­di­gen Fluss­bett der viel­fach ver­zweig­ten Elbe, mit ihren Zuflüs­sen Als­ter und Bille, kämpf­ten sie gegen hohe Grund­was­ser­spie­gel, täg­lich wech­selnde Pegel­stände und dro­hende Sturm­flu­ten. Sie wirk­ten auf die Natur ein, blie­ben ihr aber lange Zeit wei­test­ge­hend aus­ge­lie­fert. Um die Region siche­rer besie­deln und bewirt­schaf­ten zu kön­nen, ent­wi­ckel­ten sie tech­ni­sche Hilfs­mit­tel, zur Steue­rung der Was­ser­mas­sen: Im 12. Jahr­hun­dert instal­lier­ten Siedler:innen eine Unzahl von Ent­wäs­se­rungs­grä­ben und ‑müh­len, leg­ten künst­li­che Erd­hü­gel an, auf denen sie ihre Höfe errich­te­ten, und bau­ten Dei­che, die sie vor den Flu­ten schüt­zen soll­ten. Die heu­ti­gen Kanäle, ja sogar die Elb­in­seln und Flüsse wur­den in Folge der mas­si­ven Umge­stal­tung durch den Men­schen geschaf­fen – sie sind das Resul­tat jahr­hun­der­te­lan­ger Umstruk­tu­rie­run­gen. Zahl­lose Bau­ten wur­den als Wehre zum Schutz vor dem Was­ser der Elbe errich­tet, und zwar sol­cher­art, dass sich zugleich ein öko­no­mi­scher Nut­zen aus der Nähe zum Was­ser zie­hen ließ. Damit wurde der Grund­stein für das Wachs­tum der Ham­bur­ger Wirt­schaft gelegt. 

Wo ein Wille, da ein Wasserweg

Die Ent­wick­lung Ham­burgs zur Welt­han­dels­stadt ist das Ergeb­nis eines Wil­lens­ak­tes basie­rend auf einer öko­no­mi­schen Ent­schei­dung. Die Was­ser­straße Elbe führt zwar in die Nord­see, dies jedoch erst nach vie­len Fluss­ki­lo­me­tern. Gleich­zei­tig liegt Ham­burg in räum­li­cher Nähe zur Ost­see. Nicht trotz, son­dern gerade wegen die­ser Bin­nen­lage konnte die Stadt im 13. Jahr­hun­dert zum ent­schei­den­den Bin­de­glied zwi­schen Nord- und Ost­see auf­stei­gen, indem die Elbe in Rich­tung Nord­see ste­tig aus­ge­baut und in Rich­tung Ost­see eine sichere Stra­ßen­ver­bin­dung geschaf­fen wurde. Die Hanse sicherte sich hierzu Wege­rechte und das Recht, Han­dels­schiffe und Waren auf direk­tem Weg und zoll­frei bis nach Ham­burg zu trans­por­tie­ren – auch durch die Anwen­dung von Waf­fen­ge­walt und rechts­wid­ri­gen Mitteln. 

In dem Wirk­ge­füge zwi­schen Acker­bau, Han­del und Mili­tär wurde Natur als waren­för­mige Res­source best­mög­lich genutzt und als Wirt­schafts­grund­lage opti­miert: Dies bezeu­gen z.B. die Ver­öf­fent­li­chun­gen des Ham­bur­ger Was­ser­bau­di­rek­tors Rein­hart Wolt­man aus dem Jahr 1802. Er schreibt darin: »Inso­fern schiff­bare Kanäle Kunst­werke hydrau­li­scher Archi­tek­tur sind, müs­sen ihre Dimen­sio­nen, und die Grö­ßen ihrer ver­schie­de­nen Theile, in gewis­ser Pro­por­tion zuein­an­der ste­hen, bei wel­cher diese Kanäle die größte Zweck­mä­ßig­keit, Dau­er­haf­tig­keit und Nut­zen errei­chen.«1Wolt­mann, Rein­hard (1802): Bey­träge zur Bau­kunst schiff­ba­rer Kanäle. Mit 6 Kup­fer­ta­feln. Göt­tin­gen, S.165 [online]

Der Kanal gerät in der Vor­stel­lung Wolt­mans zu einem Leis­tungs­trä­ger, des­sen mess­bare Para­me­ter es im öko­no­mi­schen Sinne best­mög­lich zu nut­zen gilt. Die Dop­pel­deu­tig­keit des Begriffs ‘Kunst­werke’ ist bezeich­nend: Es weist nicht nur auf die Künst­lich­keit der Kanäle hin, son­dern unter­streicht gleich­zei­tig die krea­tive und schöp­fe­ri­sche Tätig­keit des Was­ser­bau­ers. Der Begriff ist Aus­druck eines Bestre­bens, die Kräfte der Natur erken­nen und beherr­schen zu wol­len. So wie die tech­no­kra­ti­sche Umfor­mung der Natur die Han­dels­stadt flo­rie­ren ließ, so formte der ver­mehrte Han­del die Archi­tek­tur. Im weit­läu­fi­gen Hafen­be­reich wurde die Nähe zum Was­ser bewusst gesucht: Bau­werke für Han­del und Gewerbe waren eng ver­zahnt mit einem dicht ver­äs­tel­ten Kanal­sys­tem. Den Anfor­de­run­gen ange­passt, wur­den sie z.B. durch Pfahl­grün­dun­gen, damit Mau­ern direkt im Was­ser errich­tet wer­den konn­ten. Andere Bau­werke wie­derum sind eigens zur Beherr­schung der Natur­kräfte ent­stan­den, etwa Schleu­sen und Hochwasser-Schutzanlagen.

Der Kampf gegen die innere Natur

Auch heute noch meint man sich in Ham­burg der Natur erweh­ren zu müs­sen: gegen die äußere, den Men­schen bedro­hende, ebenso wie gegen die innere. Beide gehö­ren jedoch zusam­men und haben ihre Ein­heit im Men­schen. Was sich an der inne­ren nicht beherr­schen lässt, wird auf die äußere pro­ji­ziert und mit den Mit­teln der instru­men­tel­len Ver­nunft und dem fort­schrei­ten­dem tech­ni­schen Ent­wick­lungs­stand immer effi­zi­en­ter den polit-ökonomischen Prä­mis­sen unter­wor­fen. Die teil­weise Auto­no­mie des Men­schen von der äuße­ren Natur führte bis­her nicht zu einer Neu­ge­stal­tung des Ver­hält­nis­ses, son­dern zu einer Fort­schrei­bung unter ideo­lo­gi­schen Vor­zei­chen.2Hierzu aus­führ­lich, siehe: Dirk Leh­mann, Die Ver­ding­li­chung der Natur. Über das Ver­hält­nis von Ver­nunft und die Unmög­lich­keit der Natur­be­herr­schung, in: Phase 2, 33 (Herbst 2009), online: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/die-verdinglichung-der-natur-255/?druck=1 

Weil die Hafen­stadt wach­sen muss, so die Ideo­lo­gie, müs­sen sich die Hamburger:innen gegen die Was­ser­mas­sen stel­len. Die Stadt­mauer aus dem 13. Jahr­hun­dert wurde der zufolge im frü­hen 17. Jahr­hun­dert erwei­tert und durch eine mas­sive stern­för­mige Fes­tungs­an­lage ersetzt, durch die der Personen- wie Waren­ver­kehr kon­trol­liert wer­den konnte. Der Hafen wurde mehr­fach aus­ge­baut und dann in Rich­tung Con­tai­ner­ter­mi­nal ver­la­gert. Das Fluss­bett der Elbe wird seit dem 19. Jahr­hun­dert fort­wäh­rend ver­tieft. All das musste gesche­hen, um den immer grö­ßer wer­den­den Schif­fen gerecht zu wer­den – um wett­be­werbs­fä­hig zu blei­ben. Nach dem gro­ßen Elb­hoch­was­ser von 1962 wur­den die Dei­che wie­der­holt erhöht. Mit die­sen Deich­er­hö­hun­gen »konnte eine hohe Sicher­heit zum Schutz der Bevöl­ke­rung und der Sach­werte erreicht wer­den« schreibt der Lan­des­be­trieb Stra­ßen, Brü­cken und Gewäs­ser (LSBG) im Rah­men sei­ner Neu­er­mitt­lung von 2012 des »Sturm­flut­be­mes­sungs­was­ser­stan­des«. Bevöl­ke­rung und Sach­werte fal­len in die­ser Beschrei­bung in eins – sind glei­cher­ma­ßen Res­source. Der LSBG prognostiziert: 

»Auf­grund des Kli­ma­wan­dels ist jedoch ein wei­te­res Anstei­gen der Was­ser­stände abseh­bar. Daher müs­sen die Anstren­gun­gen für den Küs­ten­schutz wei­ter fort­ge­setzt wer­den, um dro­hen­den Gefah­ren zu begegnen.«

Der Kli­ma­wan­del wird als Grund benannt, dafür, dass Dei­che erhöht, die Elbe ver­tieft und die Dove-Elbe als Aus­weich­flä­che für den Tiden­hub erschlos­sen wer­den müs­sen. In einer Stu­die der Inter­na­tio­na­len Bau­aus­stel­lung von 2009 mit dem bezeich­nen­den Titel Kli­ma­fol­gen­ma­nage­ment hin­ge­gen, wird kein Hehl dar­aus gemacht, dass die Ursa­chen nebst (men­schen­ge­mach­tem) Kli­ma­wan­del in loka­len polit-ökonomischen Ent­schei­dun­gen zu ver­or­ten sind: 

Es sind »die Ver­tie­fung von Elbe und Hafen­be­cken sowie die starre Siche­rung der Ufer, [die] zur Folge [haben], dass die Was­ser­schicht auf einen engen Fließ­raum begrenzt bleibt und sich nicht in die Flä­che, son­dern nur in die Höhe aus­deh­nen kann. Tiden­hub und Sedi­men­ta­tion wer­den auf diese Weise ver­stärkt, folg­lich nimmt auch der Auf­wand für die Aus­bag­ge­rung zu.« 

Die Fol­gen des Kli­ma­wan­dels könn­ten gemäß der Stu­die nur dann aus­ge­gli­chen wer­den, wenn die dyna­mi­sche Schaf­fung von wei­te­rem Schwemm­land – wie die zur­zeit dis­ku­tierte Anbin­dung der Dove-Elbe an das Tiden­ge­wäs­ser –, eine tech­no­lo­gi­sche Regu­lie­rung der Was­ser­ströme und der Bau immer mas­si­ve­rer Hoch­was­ser­schutz­an­la­gen for­ciert wür­den. All diese Maß­nah­men sind eine Reak­tion auf stei­gende Pegel­stände. Sie stel­len nicht in Frage, wes­halb die Elbe und Hafen­be­cken ver­tieft und wes­halb Ufer starr gesi­chert wer­den müs­sen. Der Schutz vor der Natur­ge­walt Was­ser erweist sich als gutes Argu­ment bei der Expan­sion von Stadt und Hafen. Nicht die Pro­duk­ti­ons­weise des Men­schen, son­dern die ihm äußere Natur erscheint als jener Wir­kungs­be­reich, den es tech­nisch zu beherr­schen gilt – qua Klimafolgenmanagement. 

Triumph über die Natur?

Die Archi­tek­tur der Elb­phil­har­mo­nie bringt das Ver­hält­nis von Herr­schern und Beherrsch­tem mit den Mit­teln moder­ner Bau­kunst über­spitzt zum Aus­druck: Der Mensch schafft die sta­bilste und größte aller Wel­len selbst, nicht weil er es muss, son­dern weil er es kann. Vor die­sem Hin­ter­grund wird Bug­gen­houts Skulp­tur mit Ver­weis auf die bibli­sche Erzäh­lung vom Turm­bau zu Babel nach­voll­zieh­bar. Ein tech­nisch hoch kom­ple­xes Orches­ter­ge­bäude bedarf kei­ner Kai­mauer. Es wurde inmit­ten der Elbe erbaut, der Aus­sage fol­gend any­thing goes. »Denn nun wird ihnen nichts mehr ver­wehrt wer­den kön­nen von allem was sie sich vor­ge­nom­men haben zu tun«. Das klingt grö­ßen­wahn­sin­nig, aber immer­hin könne nun jede:r Besucher:in ein »biss­chen Fürst« sein – schwärmt Chris­tian Mar­quart in der Archi­tek­tur­zeit­schrift Bau­welt. Die gigan­ti­schen Bau­kos­ten von 866 Mil­lio­nen Euro recht­fer­tigt das nicht. Auch die Plaza, die man wäh­rend der Öff­nungs­zei­ten der Elb­phil­har­mo­nie gegen ein Ein­tritts­geld von 2,00 Euro pro Besucher:in betre­ten darf, lässt sich schwer­lich als öffent­lich bezeichnen. 

Mar­quart sieht in der wel­len­för­mi­gen Krone ein Bild­zi­tat aus dem berühm­ten Werk Die große Welle vor Kana­gawa des japa­ni­schen Holz­schnei­ders Hoku­sai. Hoku­sais Werk jedoch erweckt Ehr­furcht ange­sichts der gewal­ti­gen Natur. Der 110 Meter hohe sta­ti­sche Wel­len­kamm der Elphi ist hin­ge­gen der­ma­ßen gigan­tisch, dass er die rea­len Was­ser­wo­gen, die die Phil­har­mo­nie umge­ben, ihrer Lächer­lich­keit preis­gibt. Das Bau­werk zwingt dem es umge­ben­den Was­ser ihren instru­men­tel­len Begriff von Natur und Natur­be­herr­schung auf. Eine sol­che Ver­keh­rung ist Aus­druck gesell­schaft­li­cher, und spe­zi­ell der Ham­bur­ger, Ver­hält­nisse. Die Rie­sen­welle bringt diese, wenn auch unfrei­wil­lig, so doch gelun­gen zum Aus­druck. Sie macht sich den Begriff des Was­sers zu eigen und kei­nen Hehl dar­aus, wer hier über die Natur tri­um­phiert. Sie ist eine Kampf­an­sage an die Natur. 

Erste Ent­würfe der Elb­phil­har­mo­nie ent­stan­den 2003 mit dem Ziel, ein neues Wahr­zei­chen für die Stadt zu erschaf­fen. Zu jener Zeit war Ger­hard Schrö­der Bun­des­kanz­ler, Ole von Beust Ham­burgs Ers­ter Bür­ger­meis­ter und in der bun­des­deut­schen Öffent­lich­keit wurde zag­haft begon­nen, über den Klimawan­del zu dis­ku­tie­ren. Das Bewusst­sein dar­über, dass es sich um eine aus­ge­wach­sene Klimakrise han­delt, folgte all­mäh­lich. So ersetzte der Guar­dian z.B. den Begriff cli­mate change durch dras­ti­sche­res Voka­bu­lar.3The Guar­dian, vom 19.10.2019: »We will use lan­guage that reco­g­ni­ses the seve­rity of the cri­sis we’re in. In May 2019, the Guar­dian updated its style guide to intro­duce terms that more accu­ra­tely describe the envi­ron­men­tal cri­ses facing the world, using ›cli­mate emer­gency, cri­sis or break­down‹ and ›glo­bal hea­ting‹ ins­tead of ›cli­mate change‹ and ›glo­bal warm­ing‹. We want to ensure that we are being sci­en­ti­fi­cally pre­cise, while also com­mu­ni­ca­ting cle­arly with rea­ders on the urgency of this issue«. Damit schien sich ein neues Bewusst­sein des Ver­hält­nis­ses von Mensch und Natur zumin­dest anzu­deu­ten, das die bis­he­rige Natur­be­herr­schung irgend­wann ein­mal ablö­sen könnte. Die Elb­phil­har­mo­nie, das tech­nisch per­fekte, hoch­kul­tu­relle Wahr­zei­chen der Stadt Ham­burg, mit inte­grier­tem Park­haus, Hotel und teu­ren Eigen­tums­woh­nun­gen wirkt dage­gen wie eine Trutz­burg der in die­sem Bei­trag nach­ge­zeich­ne­ten Ära. Ihr Bau­stil kann damit als stein­ge­wor­dene Herr­schafts­ar­chi­tek­tur bezeich­net wer­den, errich­tet in einer Zeit, in der eine unbe­herrsch­bare Flut noch nicht vor­stell­bar schien. 

Norika Reh­feld, Mai 2021 

Die Autorin ist Sozi­al­wis­sen­schaft­le­rin, arbei­tet aus Über­zeu­gung nicht im Wis­sen­schafts­be­trieb und fin­det die Kaprio­len, die in der Elb­phil­har­mo­nie zur Opti­mie­rung der Akus­tik geschla­gen wur­den, tat­säch­lich super.

  • 1
    Wolt­mann, Rein­hard (1802): Bey­träge zur Bau­kunst schiff­ba­rer Kanäle. Mit 6 Kup­fer­ta­feln. Göt­tin­gen, S.165 [online]
  • 2
    Hierzu aus­führ­lich, siehe: Dirk Leh­mann, Die Ver­ding­li­chung der Natur. Über das Ver­hält­nis von Ver­nunft und die Unmög­lich­keit der Natur­be­herr­schung, in: Phase 2, 33 (Herbst 2009), online: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/die-verdinglichung-der-natur-255/?druck=1
  • 3
    The Guar­dian, vom 19.10.2019: »We will use lan­guage that reco­g­ni­ses the seve­rity of the cri­sis we’re in. In May 2019, the Guar­dian updated its style guide to intro­duce terms that more accu­ra­tely describe the envi­ron­men­tal cri­ses facing the world, using ›cli­mate emer­gency, cri­sis or break­down‹ and ›glo­bal hea­ting‹ ins­tead of ›cli­mate change‹ and ›glo­bal warm­ing‹. We want to ensure that we are being sci­en­ti­fi­cally pre­cise, while also com­mu­ni­ca­ting cle­arly with rea­ders on the urgency of this issue«.