Die deutsche Phase direkter Kolonialherrschaft war im europäischen Vergleich kurz, dafür nicht minder gewalttätig. Ihre Spuren hat sie insbesondere in Hamburg, einem zentralen Ort des deutschen Kolonialismus, hinterlassen – sie sind bis heute sichtbar. Diese Fotoreihe führt ins Zentrum der Stadt. Erstaunlich ist vor allem der Kontrast zwischen den bisweilen an den Gebäuden angebrachten »Blauen Tafeln« des Denkmalschutzamtes und der hier erzählten Geschichte.
In Hamburg steht seit 1906 das weltweit größte Bismarck-Denkmal. Dass es von der Stadt nun teuer saniert wurde, hat eine Debatte um die Umgestaltung des Denkmals und Hamburgs Umgang mit seiner Kolonialgeschichte ausgelöst.
Ein erster Vorschlag zur Umgestaltung: Tafel vor der Baustelle des Bismarckdenkmals. Foto: privat (Januar 2021).
Das Bismarck-Denkmal im Hamburger Elbpark ist in Schieflage geraten. Zunächst einmal ganz materiell: Erbaut zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter anderem von Hamburger Kolonialkaufleuten unter Beifall völkischer Verbände, wurden die Gewölbe unterhalb des Denkmals im Zweiten Weltkrieg mit mehreren tausend Tonnen Beton verstärkt und zu einem Luftschutzbunker umfunktioniert. Der Beton war für die Statik zu viel. Risse entstanden, Wasser drang ein, die Statue neigte sich und galt bisweilen als einsturzgefährdet. Der Zugang zum Bunker, den allerlei nationalsozialistische Wandmalerei ziert, etwa ein Sonnenrad mit Hakenkreuz und ein markiger Spruch über die »germanische Rasse«, wurde in den fünziger Jahren für die Öffentlichkeit gesperrt. In den sechziger Jahren erfolgte der Denkmalschutz und bewahrte die Statue vor einem angedachten Abriss. In den folgenden Jahren blickte das weltweit größte Denkmal seiner Art – mal mehr, mal weniger beachtet von alten und neuen Nazis; mal mehr, mal weniger kritisiert – gen Westen über den Hamburger Hafen. Zu Beginn des vergangenen Jahrzehnts kam erneut Bewegung in die Sache: Unter anderem Johannes Kahrs, Burschenschafter und ehemaliger SPD-Bundestagsabgeordneter, setzte sich für eine Sanierung der Statue ein. Seit 2020 wird das Denkmal für fast neun Millionen Euro saniert. Zunächst wurde die Bismarckstatue rund zwei Monate lang vom Schmutz und Dreck, der sich in den letzten Jahrzehnten abgelagert hatte, gereinigt. Nach der nun erfolgenden baulichen Instandsetzung soll unter anderem der Bunker unter dem Denkmal wieder für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und »über die Geschichte und Bedeutung des Denkmals informiert« werden, so ein Aushang an der Baustelle.
Bis hierhin liest sich dies geradezu als Allegorie deutscher Geschichte und des deutschen Umgangs mit selbiger. Das Ansehen Bismarcks und des Kaiserreichs hat Risse bekommen, da war mal was mit Nazis; in der frühen Bundesrepublik folgte dann notdürftiges Abdichten, Verdrängen und Verschließen, später ein wenig Kritik und schließlich: Öffnen, Ausstellen, Auseinandersetzen. Aber letzteres auch nur mit den NS-Hinterlassenschaften im Keller, während oben darüber das Kaiserreich gekärchert wird: Kultursponsoring im »Niederdruck-Partikelstrahlverfahren« made in Germany – und bereits erprobt am Kaiser-Wilhelm-Denkmal in Porta Westfalica. Reinigungsrituale, die sich einreihen lassen in den neuerlichen Hype um die ›heile Welt‹ des Wilhelminismus, den damit verbundenen Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses und das im Jahr 2021 begangene 150jährige Jubiläum des Kaiserreichs.
Bismarck und die koloniale Amnesie der Deutschen – noch mehr Verdrängtes kehrt wieder
Nun ist das Bismarck-Denkmal nicht nur materiell in Schieflage geraten: Im Zuge der von den USA ausgehenden, sich weltweit formierenden Black-Lives-Matter-Protesten im Jahr 2020 und den mit ihnen einhergehenden Denkmalstürzen – prominentester Fall: die Statue des Sklavenhändlers Edward Colston im Bristoler Hafenbecken – gerieten auch der Hamburger Bismarck und seine Sanierung in den Blick der Bewegung. Initiativen wie Decolonize Bismarck riefen im Sommer 2020 zu einer Demonstration zu Füßen des Eisernen Kanzlers auf. Die postkoloniale Kritik am Denkmal, seiner Sanierung und weit über dieses hinaus zielt unter anderem auf die koloniale Amnesie in der deutschen Mehrheitsgesellschaft, die weißen Narrative in Schulbüchern, die Nichtbeteiligung von BIPoCs an der Debatte und im konkreten Bezug auf Bismarck: seine Verstrickung in den europäischen Kolonialismus. Nicht zuletzt war Bismarck treibende Kraft der sogenannten Kongo-Konferenz 1884/1885 und damit der Aufteilung des afrikanischen Kontinents unter europäischen Kolonialmächten. Neben den lange Zeit im Kellergewölbe verschlossenen Hinterlassenschaften nationalsozialistischer Herrschaft wurden auch die kolonialen Verstrickungen Deutschlands in die Tiefen des kollektiven Unbewussten verdrängt. Sie sollen nun aufgearbeitet werden.
Decolonize Hamburg! Graffito an der Bismarck-Baustelle Foto: privat (Januar 2021)
Diese Kritik und die damit einhergehenden Forderungen, die indes schon in der Debatte um das Berliner Stadtschloss und anderswo zu hören waren, sind mit Nachdruck zu unterstreichen und zu unterstützen. Und es ist das Verdienst dieser Kritik, dass die aberwitzig teure Sanierung des Denkmals überhaupt dermaßen in Verruf geraten ist. Fraglich ist nur der bisweilen in den Forderungen anmutende Anspruch auf Alleinvertretung einer postkolonialen Perspektive. Das Bismarck-Denkmal, so ist es einem Arbeitspapier der Initiative Decolonize Bismarck zu entnehmen, sei »auch ein Kolonialdenkmal« und entsprechend sollten an der Debatte um Neu- oder Umgestaltung des Denkmals die »Nachkommen der Kolonisierten, die diasporischen BIPoC-Communities ebenso maßgeblich beteiligt werden wie die Opferverbände aus den ehemaligen Kolonien und die zivilgesellschaftlichen Initiativen«. Jenes auch im zitierten Papier scheint im Hinblick auf die angeführte Begründung bald hinfällig: Das Denkmal erinnere nicht an Bismarck als Reichsgründer, sondern sei »als Dank der hiesigen Kaufmannselite für die Gründung von Kolonien« zu verstehen, es sei damals nicht um Patriotismus, sondern um Wirtschaftsförderung gegangen. »Erst mit einer solchen globalhistorisch verorteten Analyse lässt sich die Bedeutung des Monuments verstehen, debattieren und ein weiterer angemessener Umgang mit ihm begründen.«
Nicht in Stein gemeißelt, oder: Für eine emanzipatorische Geschichtspolitik
Worin liegt das Problem? Es ist zunächst einmal diese in einer ansonsten dekonstruktivistisch informierten Perspektive aufscheinende Eigentlichkeit. So als hätte ein Denkmal eine ihm eigentümliche, in Stein gemeißelte Bedeutung. Könnte ein Denkmal, und das hier betrachtete im Besonderen, nicht vielmehr als ein gleitender Signifikant begriffen werden, dessen Bedeutung immer prekär und instabil ist? Würde dies nicht erklären, warum es einerseits so attraktiv für alte und neue Nazis war und ist und warum andererseits der Umgang mit der Statue bisweilen von derartiger Unbekümmertheit gekennzeichnet ist? Bismarck und das ihm zu Ehre gebaute Denkmal waren eben immer auch Projektionsflächen für verschiedenste reaktionäre und nationalistische Sehnsüchte. Diese Rezeptionsgeschichte ist nicht ohne Weiteres vom Denkmal zu trennen und sollte auch Gegenstand der Kritik bilden. Denn mit dem Hinweis auf die ›eigentliche Bedeutung‹ des Denkmals verschiebt sich zudem die Diskussion hin zu der Frage nach dessen vermeintlich fixierbarem Signifikat und damit zur trügerischen Faktizität historischer Debatten, in denen tatsächlich aber normative Geschichtsbilder verhandelt werden. War Bismarck nun ein Rassist oder hält »die Identifizierung des Kolonialpolitikers Bismarck als Rassist einer genaueren Prüfung nicht stand«? Letzteres schreibt der Historiker und Geschäftsführer der Otto-von-Bismarck-Stiftung Ulrich Lappenküper für die Konrad Adenauer Stiftung und fügt hinzu, dass es bei den Denkmälern auch weniger um den Kolonialpolitiker gehe, »denn um den Reichskanzler, der Deutschland Einheit und Freiheit gebracht hatte«.
Die Engführung des Denkmals auf die historische Figur Bismarck und seine Rolle als Kolonialpolitiker eröffnet erst den Raum für Kritik von konservativer sowie rechter Seite und ermöglicht die Bewertung Bismarcks als »ambivalente historische Figur«, wie Lappenküper schreibt, der im selben Atemzug vor Cancel Culture warnt – schließlich müsse der Reichskanzler auch aus seiner Zeit heraus bewertet werden. Nun ist es vor dem Hintergrund von einer Kanzlerkultur der sogenannten Sozialistengesetze und der Verfolgung von Sozialist:innen und Kommunist:innen verwunderlich, gerade mit Bismarck gegen eine vermeintliche Cancel Culture zu argumentieren. Verwiesen werden müsste auch auf die antipolnische Politik Bismarcks: etwa die ab 1885 in die Wege geleitete Ausweisung von über 30.000 Menschen nichtdeutscher Staatsangehörigkeit, was zumeist Polen und Juden betraf; oder die 1886 erfolgte Begründung der sogenannten Ansiedlungskommission, die bisweilen als erste ethnisch motivierte bevölkerungspolitische Maßnahme innerhalb Europas gilt. Indes werden diese nach Osten gerichteten Politiken in jüngerer Zeit auch als Ausdruck eines kontinentalen, mit dem überseeischen verwobenen Kolonialismus verstanden. Von all dem will indes die Hamburger AfD nichts wissen und setzt sich mit einem pathetischen Video dafür ein, ein Bild Bismarcks als »Kanzler der Einheit« zu installieren.
Für ein Verständnis von Geschichtspolitik als normatives Narrativ
Aber geht es nun um Bismarck als historischen Akteur und darum, wie er denn nun eigentlich war und warum er handelte, wie er handelte? Und geht es darum, zu fragen, wer das Denkmal eigentlich aufstellte und wofür? Ginge es nicht vielmehr darum, sich zur Normativität geschichtspolitischer Debatten zu bekennen und diese aktiv zu gestalten? Darunter kann verstanden werden, nicht zu versuchen, die ›eigentliche‹ Rolle Bismarcks zu fixieren, ihn nicht ›aus seiner Zeit heraus‹ verstehen zu wollen, aber eben auch nicht die vermeintlich eigentliche Bedeutung des Denkmals in den Vordergrund zu rücken.
Es geht um die Installation eines Narrativs, eines notwendigerweise normativen, idealiter emanzipatorischen und auf Gegenwart wie Zukunft gerichteten Geschichtsbildes. Einerseits müsste genau darin die koloniale Amnesie der Deutschen und das Verdrängen kolonialer Gräueltaten sichtbar werden – dem stimmt allerdings auch Lappenküper zu (der blinde Fleck »in der deutschen Erinnerungskultur [muss] beseitigt werden«, bekennt er). Andererseits ginge es wohl auch darum, Sand in das Getriebe der deutschen Wiedergutmachungsmaschine zu streuen und etwa die Rezeption des Denkmals zwischen Weimarer Republik, Nationalsozialismus und Bundesrepublik zu kritisieren. Das (neue) Bismarck-Denkmal sollte keine Wohlfühloase deutscher Aufarbeitungsweltmeister:innen werden, sondern zu dem werden, was es immer schon war: ein Ort der Schlechtigkeit. Gerade als solcher kann aber das Denkmal in seiner Negation für vieles stehen, was emanzipatorische Politik verspricht. Ob das Denkmal dann am Ende abgerissen wird und etwas anderes an seiner Stelle entsteht, oder ob es in einer anderen Form gebrochen wird, ist dabei zunächst zweitrangig.
Johannes Radczinski, Mai 2021
Der Autor studiert Kulturwissenschaften in Lüneburg, lebt aber in Hamburg. Dort radelt er fast täglich am Bismarck-Denkmal vorbei und hofft (nicht nur deshalb!) auf dessen baldige Umgestaltung.
Die Elbphilharmonie ist nicht nur schnell zum Symbol für Hamburg geworden, zum Tourismusmagneten und zur Vorlage für Heimatkitsch. Sie ist auch der vorläufig krönende Abschluss einer Stadtentwicklung nach polit-ökonomischen Erfordernissen. Eine Entwicklung, in der die Herrschaft des Menschen über die Natur eine wesentliche Rolle spielt.
Anlässlich der Eröffnung der Elbphilharmonie Anfang 2017 stellte der belgische Künstler Peter Buggenhout eine 15 Meter hohe Skulptur mit dem Titel Babel Variationen in den Hamburger Deichtorhallen aus. Dieser Beitrag zur Ausstellung Elbphilharmonie Revisited, bestand aus großen Polyester- und Stahlteilen, die anmuteten, als habe der Künstler Sperrmüll gewagt in die Höhe gestapelt: ein fragiler Riese, der den Eindruck erweckte, jederzeit in sich zusammenzubrechen. Die raumgreifende Skulptur kontrastierte die glitzernde Ästhetik des soeben fertiggestellten, massiven Konzerthauses an der Elbe. Mit dem Titel Babel Variationen spielt Buggenhout auf die alttestamentarische Erzählung vom Turmbau zu Babel (Gen 11,1–9) an und bezieht sie auf die Hamburger Elbphilharmonie.
Romantisch verklärt statt bestraft
Im 21. Jahrhundert scheint die Erzählung vom Turmbau zu Babel obsolet: Die Kirchen in Deutschland sind wie leergefegt und Gottesfurcht taugt nicht mehr als Mittel der Politik. Auch für den Namensgeber des derzeit höchsten Gebäudes der Erde und gleichzeitige Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate, Scheich Chalifa bin Zayid Al Nahyan blieb eine göttliche Strafe bisher aus. Dem menschlichen Sprachwirrwar kann heute bequem per Handyapp begegnet werden. Weshalb also ein Konzerthaus am Fuße der Elbe zu einem neuen Turmbau zu Babel erklären?
In der Selbstbeschreibung der Elbphilharmonie heißt es wenig bescheiden, dass »dem traditionellen Backsteinsockel neues Leben« eingehaucht und dass »das Konzerthaus als funkelnde Krone oben drauf« gesetzt worden sei. Ein Affront, nicht gegen Gott, so doch aber gegen eine dem Menschen wie übermächtig gegenüberstehende Natur. In der architektonischen Entwicklung der Handels- und Hafenstadt spiegelt sich vielmehr das Verhältnis der Menschen zur Natur wider. Dass es sich dabei um ein durchweg polit-ökonomisches Herrschaftsverhältnis handelt, kann Epoche für Epoche nachgezeichnet werden:
In der Elbphilharmonie wird diese Entwicklung gewissermaßen an mehreren Jahresringen sichtbar. Der untere Teil des Konzerthauses besteht aus der backsteinernen Außenmauer des 1875 errichteten Kaispeicher A, der seinerzeit auch Kaiserspeicher genannt wurde. Mit Hilfe von Kränen konnten die Waren im damaligen Haupthafen Hamburgs direkt vom Schiff in das Speichergebäude gehievt werden. Das neugotische Speichergebäude wurde im 2. Weltkrieg zerstört und in den sechziger Jahren in schlichter Form wieder aufgebaut. Mit der globalen Umstellung des Seehandels von Stückgut auf den Containerfrachtverkehr fand der Schiffshandel zunehmend im rasant wachsenden Containerhafen statt, der der Stadt südwestlich vorgelagert wurde. In der Folge wurde der Lagerbetrieb im Kaispeicher in den neunziger Jahren vollständig eingestellt. Der trapezförmige Grundriss des ersten Kaispeichers blieb erhalten und die schlichte Kaimauer bildet den Sockel des von den Hamburger:innen mittlerweile Elphi genannten Baus. Im Ensemble mit der angrenzenden denkmalgeschützten Speicherstadt ist das Große Grasbrook genannte Gebiet, auf dem nun Elbphilharmonie und Hafencity stehen, eine romantisierende Reminiszenz an die Geschichte der Hansestadt Hamburg, die sich seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts als Tor zur Welt beschreibt und deren expansiver Seehandel eine große, reiche Oberschicht entstehen ließ.
Der Kampf gegen die erste Natur
Die Entwicklung Hamburgs zur Metropole der Seeschifffahrt war keineswegs vorgezeichnet, betrachtet man die geographische Lage und die natürlichen Ausgangsbedingungen der Region Hamburg: Die Stadt lag, salopp gesagt, im Matsch tief im Binnenland zwischen Nord- und Ostsee. Die Stadtgeschichte ist geprägt von dieser und weiteren für Landwirtschaft und Handel ungünstigen Umweltbedingungen, die bis heute massive Eingriffe durch den Menschen nach sich ziehen.
Die Elbregion bestand ursprünglich aus fruchtbaren, aber dauerhaft nassen Böden, die für eine Bewirtschaftung nicht geeignet waren. Die vorneuzeitlichen Siedler:innen der Elblandschaft mussten sich gegen die Kräfte der Natur wehren: Im flachen, sandigen Flussbett der vielfach verzweigten Elbe, mit ihren Zuflüssen Alster und Bille, kämpften sie gegen hohe Grundwasserspiegel, täglich wechselnde Pegelstände und drohende Sturmfluten. Sie wirkten auf die Natur ein, blieben ihr aber lange Zeit weitestgehend ausgeliefert. Um die Region sicherer besiedeln und bewirtschaften zu können, entwickelten sie technische Hilfsmittel, zur Steuerung der Wassermassen: Im 12. Jahrhundert installierten Siedler:innen eine Unzahl von Entwässerungsgräben und ‑mühlen, legten künstliche Erdhügel an, auf denen sie ihre Höfe errichteten, und bauten Deiche, die sie vor den Fluten schützen sollten. Die heutigen Kanäle, ja sogar die Elbinseln und Flüsse wurden in Folge der massiven Umgestaltung durch den Menschen geschaffen – sie sind das Resultat jahrhundertelanger Umstrukturierungen. Zahllose Bauten wurden als Wehre zum Schutz vor dem Wasser der Elbe errichtet, und zwar solcherart, dass sich zugleich ein ökonomischer Nutzen aus der Nähe zum Wasser ziehen ließ. Damit wurde der Grundstein für das Wachstum der Hamburger Wirtschaft gelegt.
Wo ein Wille, da ein Wasserweg
Die Entwicklung Hamburgs zur Welthandelsstadt ist das Ergebnis eines Willensaktes basierend auf einer ökonomischen Entscheidung. Die Wasserstraße Elbe führt zwar in die Nordsee, dies jedoch erst nach vielen Flusskilometern. Gleichzeitig liegt Hamburg in räumlicher Nähe zur Ostsee. Nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Binnenlage konnte die Stadt im 13. Jahrhundert zum entscheidenden Bindeglied zwischen Nord- und Ostsee aufsteigen, indem die Elbe in Richtung Nordsee stetig ausgebaut und in Richtung Ostsee eine sichere Straßenverbindung geschaffen wurde. Die Hanse sicherte sich hierzu Wegerechte und das Recht, Handelsschiffe und Waren auf direktem Weg und zollfrei bis nach Hamburg zu transportieren – auch durch die Anwendung von Waffengewalt und rechtswidrigen Mitteln.
In dem Wirkgefüge zwischen Ackerbau, Handel und Militär wurde Natur als warenförmige Ressource bestmöglich genutzt und als Wirtschaftsgrundlage optimiert: Dies bezeugen z.B. die Veröffentlichungen des Hamburger Wasserbaudirektors Reinhart Woltman aus dem Jahr 1802. Er schreibt darin: »Insofern schiffbare Kanäle Kunstwerke hydraulischer Architektur sind, müssen ihre Dimensionen, und die Größen ihrer verschiedenen Theile, in gewisser Proportion zueinander stehen, bei welcher diese Kanäle die größte Zweckmäßigkeit, Dauerhaftigkeit und Nutzen erreichen.«1Woltmann, Reinhard (1802): Beyträge zur Baukunst schiffbarer Kanäle. Mit 6 Kupfertafeln. Göttingen, S.165 [online]
Der Kanal gerät in der Vorstellung Woltmans zu einem Leistungsträger, dessen messbare Parameter es im ökonomischen Sinne bestmöglich zu nutzen gilt. Die Doppeldeutigkeit des Begriffs ‘Kunstwerke’ ist bezeichnend: Es weist nicht nur auf die Künstlichkeit der Kanäle hin, sondern unterstreicht gleichzeitig die kreative und schöpferische Tätigkeit des Wasserbauers. Der Begriff ist Ausdruck eines Bestrebens, die Kräfte der Natur erkennen und beherrschen zu wollen. So wie die technokratische Umformung der Natur die Handelsstadt florieren ließ, so formte der vermehrte Handel die Architektur. Im weitläufigen Hafenbereich wurde die Nähe zum Wasser bewusst gesucht: Bauwerke für Handel und Gewerbe waren eng verzahnt mit einem dicht verästelten Kanalsystem. Den Anforderungen angepasst, wurden sie z.B. durch Pfahlgründungen, damit Mauern direkt im Wasser errichtet werden konnten. Andere Bauwerke wiederum sind eigens zur Beherrschung der Naturkräfte entstanden, etwa Schleusen und Hochwasser-Schutzanlagen.
Der Kampf gegen die innere Natur
Auch heute noch meint man sich in Hamburg der Natur erwehren zu müssen: gegen die äußere, den Menschen bedrohende, ebenso wie gegen die innere. Beide gehören jedoch zusammen und haben ihre Einheit im Menschen. Was sich an der inneren nicht beherrschen lässt, wird auf die äußere projiziert und mit den Mitteln der instrumentellen Vernunft und dem fortschreitendem technischen Entwicklungsstand immer effizienter den polit-ökonomischen Prämissen unterworfen. Die teilweise Autonomie des Menschen von der äußeren Natur führte bisher nicht zu einer Neugestaltung des Verhältnisses, sondern zu einer Fortschreibung unter ideologischen Vorzeichen.2Hierzu ausführlich, siehe: Dirk Lehmann, Die Verdinglichung der Natur. Über das Verhältnis von Vernunft und die Unmöglichkeit der Naturbeherrschung, in: Phase 2, 33 (Herbst 2009), online: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/die-verdinglichung-der-natur-255/?druck=1
Weil die Hafenstadt wachsen muss, so die Ideologie, müssen sich die Hamburger:innen gegen die Wassermassen stellen. Die Stadtmauer aus dem 13. Jahrhundert wurde der zufolge im frühen 17. Jahrhundert erweitert und durch eine massive sternförmige Festungsanlage ersetzt, durch die der Personen- wie Warenverkehr kontrolliert werden konnte. Der Hafen wurde mehrfach ausgebaut und dann in Richtung Containerterminal verlagert. Das Flussbett der Elbe wird seit dem 19. Jahrhundert fortwährend vertieft. All das musste geschehen, um den immer größer werdenden Schiffen gerecht zu werden – um wettbewerbsfähig zu bleiben. Nach dem großen Elbhochwasser von 1962 wurden die Deiche wiederholt erhöht. Mit diesen Deicherhöhungen »konnte eine hohe Sicherheit zum Schutz der Bevölkerung und der Sachwerte erreicht werden« schreibt der Landesbetrieb Straßen, Brücken und Gewässer (LSBG) im Rahmen seiner Neuermittlung von 2012 des »Sturmflutbemessungswasserstandes«. Bevölkerung und Sachwerte fallen in dieser Beschreibung in eins – sind gleichermaßen Ressource. Der LSBG prognostiziert:
»Aufgrund des Klimawandels ist jedoch ein weiteres Ansteigen der Wasserstände absehbar. Daher müssen die Anstrengungen für den Küstenschutz weiter fortgesetzt werden, um drohenden Gefahren zu begegnen.«
Der Klimawandel wird als Grund benannt, dafür, dass Deiche erhöht, die Elbe vertieft und die Dove-Elbe als Ausweichfläche für den Tidenhub erschlossen werden müssen. In einer Studie der Internationalen Bauausstellung von 2009 mit dem bezeichnenden Titel Klimafolgenmanagement hingegen, wird kein Hehl daraus gemacht, dass die Ursachen nebst (menschengemachtem) Klimawandel in lokalen polit-ökonomischen Entscheidungen zu verorten sind:
Es sind »die Vertiefung von Elbe und Hafenbecken sowie die starre Sicherung der Ufer, [die] zur Folge [haben], dass die Wasserschicht auf einen engen Fließraum begrenzt bleibt und sich nicht in die Fläche, sondern nur in die Höhe ausdehnen kann. Tidenhub und Sedimentation werden auf diese Weise verstärkt, folglich nimmt auch der Aufwand für die Ausbaggerung zu.«
Die Folgen des Klimawandels könnten gemäß der Studie nur dann ausgeglichen werden, wenn die dynamische Schaffung von weiterem Schwemmland – wie die zurzeit diskutierte Anbindung der Dove-Elbe an das Tidengewässer –, eine technologische Regulierung der Wasserströme und der Bau immer massiverer Hochwasserschutzanlagen forciert würden. All diese Maßnahmen sind eine Reaktion auf steigende Pegelstände. Sie stellen nicht in Frage, weshalb die Elbe und Hafenbecken vertieft und weshalb Ufer starr gesichert werden müssen. Der Schutz vor der Naturgewalt Wasser erweist sich als gutes Argument bei der Expansion von Stadt und Hafen. Nicht die Produktionsweise des Menschen, sondern die ihm äußere Natur erscheint als jener Wirkungsbereich, den es technisch zu beherrschen gilt – qua Klimafolgenmanagement.
Triumph über die Natur?
Die Architektur der Elbphilharmonie bringt das Verhältnis von Herrschern und Beherrschtem mit den Mitteln moderner Baukunst überspitzt zum Ausdruck: Der Mensch schafft die stabilste und größte aller Wellen selbst, nicht weil er es muss, sondern weil er es kann. Vor diesem Hintergrund wird Buggenhouts Skulptur mit Verweis auf die biblische Erzählung vom Turmbau zu Babel nachvollziehbar. Ein technisch hoch komplexes Orchestergebäude bedarf keiner Kaimauer. Es wurde inmitten der Elbe erbaut, der Aussage folgend anything goes. »Denn nun wird ihnen nichts mehr verwehrt werden können von allem was sie sich vorgenommen haben zu tun«. Das klingt größenwahnsinnig, aber immerhin könne nun jede:r Besucher:in ein »bisschen Fürst« sein – schwärmt Christian Marquart in der Architekturzeitschrift Bauwelt. Die gigantischen Baukosten von 866 Millionen Euro rechtfertigt das nicht. Auch die Plaza, die man während der Öffnungszeiten der Elbphilharmonie gegen ein Eintrittsgeld von 2,00 Euro pro Besucher:in betreten darf, lässt sich schwerlich als öffentlich bezeichnen.
Marquart sieht in der wellenförmigen Krone ein Bildzitat aus dem berühmten Werk Die große Welle vor Kanagawa des japanischen Holzschneiders Hokusai. Hokusais Werk jedoch erweckt Ehrfurcht angesichts der gewaltigen Natur. Der 110 Meter hohe statische Wellenkamm der Elphi ist hingegen dermaßen gigantisch, dass er die realen Wasserwogen, die die Philharmonie umgeben, ihrer Lächerlichkeit preisgibt. Das Bauwerk zwingt dem es umgebenden Wasser ihren instrumentellen Begriff von Natur und Naturbeherrschung auf. Eine solche Verkehrung ist Ausdruck gesellschaftlicher, und speziell der Hamburger, Verhältnisse. Die Riesenwelle bringt diese, wenn auch unfreiwillig, so doch gelungen zum Ausdruck. Sie macht sich den Begriff des Wassers zu eigen und keinen Hehl daraus, wer hier über die Natur triumphiert. Sie ist eine Kampfansage an die Natur.
Erste Entwürfe der Elbphilharmonie entstanden 2003 mit dem Ziel, ein neues Wahrzeichen für die Stadt zu erschaffen. Zu jener Zeit war Gerhard Schröder Bundeskanzler, Ole von Beust Hamburgs Erster Bürgermeister und in der bundesdeutschen Öffentlichkeit wurde zaghaft begonnen, über den Klimawandel zu diskutieren. Das Bewusstsein darüber, dass es sich um eine ausgewachsene Klimakrise handelt, folgte allmählich. So ersetzte der Guardian z.B. den Begriff climate change durch drastischeres Vokabular.3The Guardian, vom 19.10.2019: »We will use language that recognises the severity of the crisis we’re in. In May 2019, the Guardian updated its style guide to introduce terms that more accurately describe the environmental crises facing the world, using ›climate emergency, crisis or breakdown‹ and ›global heating‹ instead of ›climate change‹ and ›global warming‹. We want to ensure that we are being scientifically precise, while also communicating clearly with readers on the urgency of this issue«. Damit schien sich ein neues Bewusstsein des Verhältnisses von Mensch und Natur zumindest anzudeuten, das die bisherige Naturbeherrschung irgendwann einmal ablösen könnte. Die Elbphilharmonie, das technisch perfekte, hochkulturelle Wahrzeichen der Stadt Hamburg, mit integriertem Parkhaus, Hotel und teuren Eigentumswohnungen wirkt dagegen wie eine Trutzburg der in diesem Beitrag nachgezeichneten Ära. Ihr Baustil kann damit als steingewordene Herrschaftsarchitektur bezeichnet werden, errichtet in einer Zeit, in der eine unbeherrschbare Flut noch nicht vorstellbar schien.
Norika Rehfeld, Mai 2021
Die Autorin ist Sozialwissenschaftlerin, arbeitet aus Überzeugung nicht im Wissenschaftsbetrieb und findet die Kapriolen, die in der Elbphilharmonie zur Optimierung der Akustik geschlagen wurden, tatsächlich super.
1
Woltmann, Reinhard (1802): Beyträge zur Baukunst schiffbarer Kanäle. Mit 6 Kupfertafeln. Göttingen, S.165 [online]
2
Hierzu ausführlich, siehe: Dirk Lehmann, Die Verdinglichung der Natur. Über das Verhältnis von Vernunft und die Unmöglichkeit der Naturbeherrschung, in: Phase 2, 33 (Herbst 2009), online: https://phase-zwei.org/hefte/artikel/die-verdinglichung-der-natur-255/?druck=1
3
The Guardian, vom 19.10.2019: »We will use language that recognises the severity of the crisis we’re in. In May 2019, the Guardian updated its style guide to introduce terms that more accurately describe the environmental crises facing the world, using ›climate emergency, crisis or breakdown‹ and ›global heating‹ instead of ›climate change‹ and ›global warming‹. We want to ensure that we are being scientifically precise, while also communicating clearly with readers on the urgency of this issue«.