Gedenken an Ramazan Avcı

Gedenken an Ramazan Avcı

40 Jahre nach dem Mord an Rama­zan Avcı wird sei­ner in Ham­burg auf viel­fäl­tige Weise gedacht. Das beweist, dass sich erin­ne­rungs­po­li­tisch seit­her eini­ges getan hat – ins­be­son­dere dank migran­ti­scher Selbst­or­ga­ni­sie­rung und poli­ti­scher Initia­ti­ven. Ein Gast­bei­trag von Gas­ton Kirsche. 

Klare Ansage: So in etwa sol­len die Ban­ner auf dem neu gestal­te­ten Ramazan-Avcı-Platz aus­se­hen. Foto: © Antje Sauer. 

Vor 40 Jah­ren, am 21. Dezem­ber 1985, wurde Rama­zan Avcı an der S‑Bahnstation Land­wehr von meh­re­ren Nazi-Skinheads gejagt und fast tot­ge­schla­gen – mit­ten am Tag und auf offe­ner Straße. Drei Tage spä­ter erlag er sei­nen Ver­let­zun­gen. Die Unruhe und der Pro­test unter den Göç­men, den Ein­ge­wan­der­ten und – nach dem Mili­tär­putsch 1980 – aus der Tür­kei Geflüch­te­ten, war danach so groß, dass auch der Ham­bur­ger Senat den Mord nicht mehr als »Ein­zel­fall« klein­re­den konnte (mehr dazu in unse­rem Arti­kel »Ham­burgs Base­ball­schlä­ger­jahre«).

Proteste als Zäsur

Die auf Avcıs Tod fol­gen­den Pro­teste mach­ten ihn zu einer Zäsur: »Der Mord an Rama­zan mar­kiert in der Geschichte der Migra­tion einen Wen­de­punkt, jeden­falls für tür­kei­stäm­mige Men­schen«, so Gür­sel Yıl­dırım von der 2010 gegrün­de­ten Initia­tive zum Geden­ken an Rama­zan Avcı gegen­über dem Autor: »Am 11. Januar 1986 reagier­ten 15.000 Men­schen mit einer Groß­de­mons­tra­tion gegen soge­nannte Aus­län­der­feind­lich­keit und Ras­sis­mus.« Zur bis dahin größ­ten anti­ras­sis­ti­schen Demons­tra­tion in der Geschichte der BRD hat­ten zahl­rei­che auf die Tür­kei ori­en­tierte Ver­eine aus unter­schied­li­chen poli­ti­schen Krei­sen auf­ge­ru­fen, außerdm Sport- und Kul­tur­ver­eine bis hin zu Moscheen. Dem schlos­sen sich die »Grün-Alternative Liste« (GAL) und die gesamte außer­par­la­men­ta­ri­sche Linke an. 

Auch die Gewerk­schaf­ten rie­fen zu der Demons­tra­tion am 11. Januar 1986 auf, erin­nert Tanja Chawla im Gespräch mit dem Autor: »Das Bünd­nis Tür­ki­scher Ein­wan­de­rer wurde damals im DGB-Haus gegrün­det, heute ste­hen wir als Gewerk­schaft immer noch aktiv and der Seite der Opfer von ras­sis­ti­scher Gewalt und ihrer Ange­hö­ri­gen.« In den Ein­zel­ge­werk­schaf­ten waren bereits viele arbei­tende Migrant:innen orga­ni­siert, als die offi­zi­elle Poli­tik gegen­über den »Gast­ar­bei­tern« noch davon aus­ging, dass sie nur für eine begrenzte Zeit und ohne Mit­spra­che ein Auf­ent­halts­recht hät­ten. »Als Gewerk­schaft haben wir gelernt, dass Kon­flikte um Arbeit immer auch von der Debatte um Migra­tion und damit ein­her­ge­hend von Ras­sis­mus mit­ge­prägt wer­den«, betont Chawla: »Wir tra­gen hier eine Ver­ant­wor­tung im gesell­schaft­li­chen Dis­kurs. Und dabei ist für uns klar: Klare Kante gegen rechts und Ras­sis­mus und für eine plu­rale Gesell­schaft der Vielen.«

Wäh­rend in den Gewerk­schaf­ten aktive migran­ti­sche Mit­glie­der sich bereits in den acht­zi­ger Jah­ren gegen Ras­sis­mus enga­gier­ten, ver­sag­ten hier außer der GAL alle Par­teien in der Ham­bur­gi­schen Bür­ger­schaft: »Die eta­blier­ten Par­teien igno­rier­ten die Demo und zuvor lange Zeit auch die Ham­bur­ger Zustände«, betont Gür­sel Yıl­dırım. Sechs Monate zuvor war bereits Meh­met Kay­makçı von Nazis­kins ermor­det wor­den. Im All­tag erleb­ten Migrant:innen eine dras­ti­sche Zunahme rech­ter Gewalt. Aber, so Yıl­dırım, »tür­kisch­stäm­mige Jugend­li­che dreh­ten den Spieß um, besuch­ten Treff­punkte von Nazis und grün­de­ten Selbstverteidigung-Komitees.« Aus den Pro­tes­ten ent­stand außer­dem das Bünd­nis Tür­ki­scher Ein­wan­de­rer, da sich 2004 in Tür­ki­sche Gemeinde Ham­burg und Umge­bung e.V. (TGH) umbe­nannte. Seit 2010 ver­an­stal­tet die Geden­kinitia­tive jedes Jahr am 21. Dezem­ber eine Kund­ge­bung am Tat­ort, der seit 2012 nach Rama­zan Avcı benannt wurde. 

Mit­glie­der der Ramazan-Avcı-Initiative, dar­un­ter Avcıs Witwe, nach der Umbe­nen­nung des Plat­zes. Foto: © Kemal Dogan.

Hamburgs Baseballschlägerjahre

Ver­gan­gene Woche ver­an­stal­te­ten die Bür­ger­schafts­frak­tion der Lin­ken und die Rosa-Luxemburg-Stiftung Ham­burg in Koope­ra­tion mit der Initia­tive zum Geden­ken an Rama­zan Avcı eine Ver­an­stal­tung im Rat­haus. Neben Ünal Zeran von der Geden­kinitia­tive saßen auf dem Podium Felix Krebs und Flo­rian Schu­bert, die Autoren des die­ses Jahr im VSA-Verlag erschie­ne­nen Buchs Ham­burgs ›Base­ball­schlä­ger­jahre‹ über rechte und ras­sis­ti­sche Gewalt in den acht­zi­ger Jah­ren. Drei Kapi­tel des Buchs wid­men sich dem Mord an Rama­zan Avcı und den Reak­tio­nen dar­auf. Im Gespräch mit dem Autor erin­nert Felix Krebs daran, mit wel­cher Begrün­dung sich die damals in Ham­burg allein regie­rende SPD einer Teil­nahme an der Gedenk­demo am 11. Januar 1986 ver­wei­gerte. Der Spre­cher der Lan­des­ge­schäfts­stelle der allein­re­gie­ren­den SPD habe zum beab­sich­tig­ten Fern­blei­ben erklärt: »In die­ser Stadt pas­siert ja jeden Tag viel.« 

»Damit sind wir bei denen, für die der Mord keine Zäsur war: der Poli­zei, der Staats­an­walt­schaft, dem Gericht und den Par­teien SPD, CDU und FDP«, kri­ti­siert Krebs. Für sie sei der Mord nur ein Tot­schlag gewe­sen, also nicht ras­sis­tisch oder poli­tisch moti­viert, son­dern eher ein Pro­blem jugend­li­cher Gewalt­kri­mi­na­li­tät: »Dem­entspre­chend wurde der Staats­schutz auch nicht zu den Ermitt­lun­gen hin­zu­ge­zo­gen, der neo­na­zis­ti­sche Cha­rak­ter der Skin­heads wurde geleug­net. Statt mit einer poli­ti­schen Stra­te­gie gegen Ras­sis­mus und Neo­na­zis ant­wor­tete die regie­rende SPD mit Ver­leug­nung, mit der For­de­rung nach einem här­te­ren Migra­ti­ons­re­gime und mit einem Fan­pro­jekt für Skins.« Die­ses Pro­jekt würde nach heu­ti­gen Stan­dards wohl als »akzep­tie­rende Sozi­al­ar­beit« gel­ten. »Man wollte die Gewalt von der Straße bekom­men, ohne den Ras­sis­mus zu the­ma­ti­sie­ren«, so Krebs: »Das hat­ten dann auch die Neo­na­zis und Skin­heads verstanden.«

Der Pro­zess gegen die Mör­der von Rama­zan Avcı endete mit mil­den Ver­ur­tei­lun­gen wegen Tot­schlags: Ralph Lach, der mit einem Axt­stiel auf den Kopf des am bereits am Boden lie­gen­den Opfers ein­schlug, wurde zu zehn Jah­ren Haft ver­ur­teilt, Uwe Podein zu sechs Jah­ren Jugend­haft, Vol­ker Kumm­row und René Wulff zu je drei Jah­ren und sechs Mona­ten und Nor­bert Batsch­kus zu einem Jahr Jugend­haft. »Obwohl es sich bei den Tätern um bereits mehr­fach auf­ge­fal­lene Skin­heads mit Ver­bin­dun­gen zu Nazi­szene han­delte, schloss Ham­burgs Poli­zei­prä­si­dent Die­ter Hee­ring (SPD) vor­ei­lig einen poli­tisch moti­vier­ten Hin­ter­grund aus und gab damit die Rich­tung vor«, so Gür­sel Yıl­dırım: »Die Täter seien nicht fest orga­ni­siert, eine poli­ti­sche Ziel­set­zung sei erkenn­bar nicht vor­han­den. Dabei musste er als Sicher­heits­chef Ham­burgs gewusst haben, dass die Täter aus dem Umfeld der FAP stam­men und zudem einer der Täter, René Wulff, der Bru­der von Nazi­größe Tho­mas Wulff war.«

Schlag­zeile der Ber­ge­dor­fer Zei­tung, 10.1.1986 (Aus­schnitt).

»Auftrag an unser heutiges Handeln«

Auf der Gedenk­ver­an­stal­tung im Ham­bur­ger Rat­haus kam aus dem Publi­kum die Frage, ob sich seit dem Mord an Rama­zan Avcı etwas geän­dert hätte: »1985 war nur 40 Jahre nach dem Natio­nal­so­zia­lis­mus – so lange, wie der Mord an Rama­zan Avcı jetzt her ist. Viele Ämter waren noch mit alten Nazis besetzt«, so Ünal Zeran: »Es hatte keine wirk­li­che Ent­na­zi­fi­zie­rung statt­ge­fun­den, die alten Nazis hat­ten kein Inter­esse daran, Ras­sis­mus und Neo­na­tio­nal­so­zia­lis­mus zu bekämpfen.«

Heute habe ein Drit­tel der Bevöl­ke­rung eine Migra­ti­ons­ge­schichte in der Fami­lie, was sich auch in Akti­vi­tä­ten der Zivil­ge­sell­schaft zeige: Trotz Rechts­ent­wick­lung seien auch Erfolge erkämpft wor­den, etwa die Bera­tung für Opfer anti­se­mi­ti­scher oder ras­sis­ti­scher Gewalt. Doch klar sei auch, dass die rea­len Zah­len rech­ter Angriffe »viel höher als die des BKA« seien. Die beste Art, Soli­da­ri­tät mit den Ange­hö­ri­gen und Opfern ras­sis­ti­scher und anti­se­mi­ti­scher Gewalt zu üben, seien garan­tier­tes Blei­be­recht und finan­zi­elle Absi­che­rung – als kla­res Signal, dass sie in die Gesell­schaft gehören.

Dass Opfer rech­ter Gewalt im öffent­li­chen Dis­kurs heute viel stär­ker wahr­ge­nom­men wer­den als vor 40 Jah­ren, zeigt sich auch beim HSV. Die Mör­der von Rama­zan Avcı tra­ten damals als HSV-Fans auf. In Zusam­men­ar­beit mit der Initia­tive zum Geden­ken an Rama­zan Avcı orga­ni­sierte das Netz­werk Erin­ne­rungs­ar­beit zusam­men mit dem Ver­ein daher schon 2022 eine Aus­stel­lung zur Kri­tik von rechts­extre­men Fan-Aktivitäten. Im Novem­ber wurde die Aus­stel­lung mit dem Titel »Ins rechte Licht gerückt« noch ein­mal in der Zen­tral­bi­blio­thek am Hüh­ner­pos­ten gezeigt. »Der Mord an Rama­zan Avcı beginnt mehr und mehr Teil der geleb­ten Erin­ne­rungs­kul­tur des HSV zu wer­den«, erklärte das HSV-Presseteam auf Anfrage. Der Mord »steht heute stell­ver­tre­tend für die Ver­säum­nisse von Orga­ni­sa­tio­nen und Insti­tu­tio­nen, wie dem HSV, bei der Wahr­neh­mung ihrer gesell­schafts­po­li­ti­schen Ver­ant­wor­tung, dadurch wirkt er als Auf­trag an unser heu­ti­ges Han­deln«. Unter den HSV-Fans herr­sche heute ein ande­res poli­ti­sches Klima als in den acht­zi­ger Jah­ren: »Heute wer­den ras­sis­ti­sche Gewalt und auch dis­kri­mi­nie­rende Äuße­run­gen vom aller­größ­ten Teil der HSV-Fans abge­lehnt«, so das HSV-Presseteam: »Das heißt nicht, dass es kein Poten­zial dafür mehr gibt; es heißt aber, dass nicht mehr unwi­der­spro­chen Gewalt, sei sie ver­bal oder kör­per­lich, aus­ge­übt wer­den kann, und dass eine deut­li­che Mehr­heit sich klar dage­gen posi­tio­niert.« Ein Zei­chen für ein Umden­ken ist ein Graf­fiti im Volks­park­sta­dion des HSV: »Love Ham­burg, Hate Racism«. 

Die Etablierung des Gedenkens

Auch der Umgang der Poli­tik mit dem Thema hat sich ver­än­dert. Wenn am 21. Dezem­ber das neu­ge­stal­tete Denk­mal für Rama­zan Avcı zusam­men mit neuen Gedenk­ta­feln ein­ge­weiht wird, geschieht das mit Unter­stüt­zung des Bezirks­amts Hamburg-Nord unter­stützt. Die von Stu­die­ren­den der Ham­bur­ger Hoch­schule für Bil­dende Künste (HfBK) kon­zi­pier­ten Gedenk­ta­feln wur­den von der Ham­bur­ger Kul­tur­be­hörde geför­dert. Zuvor war am 24. März 2025 im Regio­nal­aus­schuss Barmbek-Uhlenhorst-Hohenfelde-Dulsberg der Bezirks­ver­samm­lung Ham­burg Nord die Umset­zung des Ent­wurfs für die Neu­ge­stal­tung beschlos­sen wor­den – frak­ti­ons­über­grei­fend von SPD, CDU, FDP, den Grü­nen, der Lin­ken und VOLT.

»Mit dem aktu­el­len Ent­wurf wird der Ramazan-Avcı-Platz nicht aus­schließ­lich als Ort eines ras­sis­ti­schen Ver­bre­chens, son­dern auch als Raum der akti­ven anti­ras­sis­ti­schen Erin­ne­rungs­ar­beit und des Wider­stan­des der migran­ti­schen Com­mu­ni­ties seit den 1980er Jah­ren ver­stan­den«, erläu­tert Irini von der Arbeits­gruppe Ramazan-Avcı-Platz der HfBK. Zwei Metall­ta­feln mit einer Höhe von 2 Meter und einer Breite von 3 Meter zei­gen Namen und Lebens­da­ten sowie auf Deutsch und Tür­kisch die Aus­sage »Ras­sis­mus Mor­det«. Die Tafeln sind gra­fisch und for­mal an poli­ti­sche Hoch­trans­pa­rente ange­lehnt. Sie sind zur Straße hin aus­ge­rich­tet und behaup­ten sich durch ihre Größe inner­halb der Infor­ma­ti­ons­fülle des Standorts. 

Zusätz­lich wer­den zwei Metall­pfei­ler instal­liert, um wech­selnde Ban­ner anzu­brin­gen. Diese erin­nern an wei­tere Opfer ras­sis­ti­scher Gewalt in Ham­burg wie den vom NSU erschos­se­nen Süley­man Taş­köprü oder den in Poli­zei­ge­wahr­sam zu Tode gekom­me­nen Ach­idi John. Die Ban­ner zei­gen eine struk­tu­relle Kon­ti­nui­tät auf und for­dern einen akti­ven Anti­fa­schis­mus. Im Zen­trum des Plat­zes soll ein Gedenk­stein des Bild­hau­ers Van Ngan Hoang errich­tet wer­den, der nach den Wün­schen von Gülü­stan Ayas-Avcı gestal­tet wird, Rama­zan Avcıs Witwe. Das inte­grierte Motiv der Rose steht sym­bo­lisch für ihre Her­kunft Isparta in der Türkei. 

»Wir ver­ste­hen Erin­ne­rungs­kul­tur als han­delnde Pra­xis, die Leh­ren aus der Geschichte für die Gegen­wart und Zukunft zieht«, so Irini von der Arbeits­gruppe Ramazan-Avcı-Platz: »Das Sicht­bar­ma­chen der Namen und Geschich­ten im öffent­li­chen Raum kann dem Ver­ges­sen ent­ge­gen­wir­ken. Tafeln und Gedenk­steine kön­nen diese Auf­gabe aber nicht stell­ver­tre­tend über­neh­men. ›Kein Ver­ge­ben, Kein Ver­ges­sen‹ ist der Auf­ruf zum Kampf gegen den Rechts­ruck in Poli­tik und Gesell­schaft.« Rama­zan Avcı wird in Ham­burg nicht ver­ges­sen werden.

Gas­ton Kirsche

Eine kür­zere Fas­sung die­ses Bei­trags erschien am 18.12.2025 im nd.


Gedenk­ver­an­stal­tung mit Kund­ge­bung und Denk­mal­ein­wei­hung: Sonn­tag, 21. 12. 2025, 14 Uhr, Ramazan-Avcı-Platz, S‑Bahn Hal­te­stelle Land­wehr. Bitte Blu­men, Ker­zen und Trans­pa­rente mit­brin­gen. Natio­nal­flag­gen sind unerwünscht.

Nach der Kund­ge­bung stellt die benach­barte Beruf­li­che Schule (BS05) im Rah­men einer Koope­ra­tion ihre Räume für einen Emp­fang zur Verfügung.