»Die Eröffnung hätte nicht stattfinden dürfen«

»Die Eröffnung hätte nicht stattfinden dürfen«

Am 8. April wurde nach mehr­fa­cher Ver­zö­ge­rung die Westfield-Mall in der Hafen­city eröff­net. Weil auf der Groß­bau­stelle sechs Arbei­ter ver­un­glück­ten, rie­fen Gewerkschafter:innen zu Pro­tes­ten auf. Wir spra­chen mit Sam und Niklas von der Sek­tion Bau der FAU Hamburg.

»Keine Party auf Kos­ten der toten Arbei­ter!«: Pro­test gegen die Eröff­nungs­feier des Westfield-Einkaufszentrums. Foto: privat

Es ist das teu­erste Bau­pro­jekt Ham­burgs und das größte inner­städ­ti­sche Ent­wick­lungs­pro­jekt Euro­pas: das Über­see­quar­tier. Der Kern des Quar­tiers, eine gigan­ti­sche Shop­ping­mall des Inves­tors Unibail-Rodamco-Westfield (URW), wurde am ver­gan­ge­nen Diens­tag fei­er­lich eröff­net. Doch auf der Bau­stelle ver­un­glück­ten ins­ge­samt min­des­tens sechs Men­schen, dar­un­ter allein fünf alba­ni­sche Bau­ar­bei­ter beim Sturz in einen acht Stock­werke tie­fen Schacht im Okto­ber 2023. Nach dem Unfall kam her­aus: Schon mehr­fach waren zuvor gra­vie­rende Sicher­heits­män­gel auf der Bau­stelle fest­ge­stellt wor­den. Trotz­dem war die Bau­stelle nicht geschlos­sen wor­den – und auch nach dem Unfall ging alles wei­ter wie zuvor. Die Ange­hö­ri­gen der Ver­un­glück­ten war­ten bis heute auf Auf­klä­rung und Entschädigung.

Die Eröff­nung der Mall war des­halb von laut­star­kem Pro­test beglei­tet. Wäh­rend die Ham­bur­ger Würdenträger:innen Fei­er­laune aus­strahl­ten, waren etwa hun­dert Pro­tes­tie­rende den Auf­ru­fen der Jun­gen BAU und der anar­cho­syn­di­ka­lis­ti­schen Freien Arbeiter*innen-Union (FAU) zum Geden­ken an die Ver­un­glück­ten und zu Pro­tes­ten gegen die Fei­er­lich­kei­ten gefolgt. Die FAU betonte in ihrem (auf ihrer Web­site doku­men­tier­ten) Rede­bei­trag, dass der Tod der sechs Arbei­ter ver­meid­bar gewe­sen wäre und dass die Bedin­gun­gen, die zum Unglück führ­ten, sys­te­mi­sche Ursa­chen im Bau­ge­werbe haben – einer Bran­che, die auf dem Ver­schleiß der Arbei­ter1Da auf den Bau­stel­len nahezu aus­nahms­los Män­ner arbei­ten, wird hier keine gegen­derte Form ver­wen­det. beruhe, die oft pre­kär beschäf­tigt sind und mitt­ler­weile zu mehr als einem Drit­tel aus Ost­eu­ropa kommen.

Auf der Westfield-Baustelle habe vor allem der vom Inves­tor wei­ter­ge­ge­bene Preis­druck zu Sicher­heits­män­geln geführt. URW habe dadurch schwere Unfälle mit Ver­letz­ten und Toten offen in Kauf genom­men. Die­sen Vor­wurf bekräf­tigt auch eine kurz vor der Eröff­nung erschie­nene SPIEGEL-Recherche. Unter­la­gen, die dem SPIEGEL vor­lie­gen, bele­gen, dass es schon lange vor dem Unfall lebens­ge­fähr­lich war, auf der Bau­stelle zu arbei­ten: »Der Inves­tor wusste das; er war gewarnt und wurde es immer wie­der, vor­her, nach­her, auch das ist belegt durch Mails. So wie es aus­sieht, nahm er mög­li­che Todes­op­fer und Ver­letzte in Kauf, damit der Ter­min­plan nicht noch mehr ins Rut­schen kam auf einer Bau­stelle, auf der Zeit- und Preis­druck, Chaos und Leicht­sinn, Gier und Gleich­gül­tig­keit gera­dezu chro­nisch waren.«

Doch nicht allein der Inves­tor steht in der Kri­tik. Ver­sagt haben der FAU zufolge auch die Bau­se­na­to­rin Karen Pein, der Senat und die Bür­ger­schaft, außer­dem »sämt­li­che Behör­den und Ämter für Arbeits­schutz sowie die oberste Bau­auf­sicht« und die Berufs­ge­nos­sen­schaft Bau. Und auch an der IG BAU, der Mut­ter­ge­werk­schaft der Jun­gen BAU, und an ihrem Grund­satz der Sozi­al­part­ner­schaft übt die FAU Kritik.

Doch worin genau liegt das Ver­sa­gen von Poli­tik, Bau­auf­sicht und Gewerk­schaf­ten? Dar­über sowie über die gene­rel­len Pro­bleme auf Bau­stel­len und über die Her­aus­for­de­run­gen für gewerk­schaft­li­che Arbeit und die pre­käre Situa­tion migran­ti­scher Bau­ar­bei­ter spra­chen wir mit Sam und Niklas von der Sek­tion Bau und Hand­werk der FAU Ham­burg. Im Inter­view erklä­ren sie, warum die Unfälle auf der Westfield-Baustelle ver­meid­bar gewe­sen wären – und warum die Mall in ihrem jet­zi­gen Zustand nicht hätte eröff­net wer­den dürfen.

Gut aus­ge­schil­dert ist das neue Ein­kaufs­zen­trum schon ein­mal. Foto: privat

Untie­fen: Die DGB-Gewerkschaft IG BAU hat nach dem Unglück im Okto­ber 2023 ein Spen­den­konto für die Ver­letz­ten und Hin­ter­blie­be­nen ein­ge­rich­tet, sie hat die Bedin­gun­gen auf der Bau­stelle im Beson­de­ren und im Bau­haupt­ge­werbe im All­ge­mei­nen kri­ti­siert und sie hat den Auf­ruf zur Kund­ge­bung der Jun­gen BAU unter­stützt. Trotz­dem übt ihr Kri­tik an der Gewerkschaft.

Niklas: Nicht die IG BAU selbst, son­dern ihre Jugend­or­ga­ni­sa­tion, die Junge BAU, hat das Thema auf­ge­grif­fen und den Auf­ruf ver­öf­fent­licht. Es war also zwar der­selbe Dach­ver­band, aber eben nicht die Chef­etage. Die IG BAU hat 2023 den Spen­den­auf­ruf orga­ni­siert, das war sehr gut, aber die Initia­tive dafür kam, wie die IG BAU selbst gesagt hat, von außen. Unser Vor­wurf ist aber vor allem, dass es für aus­län­di­sche Arbeiter:innen in Deutsch­land sehr schwer ist, sich in der IG BAU zu orga­ni­sie­ren. Man musste zum Bei­spiel noch bis vor Kur­zem min­des­tens drei Monate in der IG Bau sein, um Rechts­hilfe in Anspruch neh­men zu kön­nen.2Inzwi­schen gibt es eigens für Wanderarbeiter:innen die Mög­lich­keit einer Jah­res­mit­glied­schaft bei der IG BAU: https://igbau.de/Jahresmitgliedschaft.html (d. Red.). Um Arbei­ter aus dem Aus­land wird gar nicht aktiv gewor­ben, da schei­tert es oft schon allein an feh­len­den Über­set­zun­gen. Wir bei der Bau-FAU ver­su­chen hin­ge­gen, mög­lichst viele Spra­chen zu berück­sich­ti­gen. Den Auf­ruf zu unse­rer Kund­ge­bung haben wir in fünf nicht­deut­sche Spra­chen über­setzt: Eng­lisch, Rus­sisch, Tür­kisch, Alba­nisch und Rumä­nisch. Für eine Gewerk­schaft wie die IG BAU mit ihren Res­sour­cen sollte ein Auf­ruf in meh­re­ren Spra­chen ein Kin­der­spiel sein.

Sam: Wir machen der IG BAU nicht zum Vor­wurf, dass sie an der Bau­stelle ver­sagt hätte. Wir wis­sen, dass auf der Bau­stelle fast nie­mand in der IG BAU orga­ni­siert ist, und es wäre auch nicht deren Auf­gabe gewe­sen, die Bau­stelle dicht­zu­ma­chen. Aber die IG BAU hat es eben auch nicht geschafft, die Arbeits­be­din­gun­gen auf der Bau­stelle zu ver­bes­sern, obwohl sie viel eher die Mit­tel dazu gehabt hätte als wir. Sie hat keine ech­ten Anstren­gun­gen unter­nom­men, auch migran­ti­sche Beschäf­tigte zu mobi­li­sie­ren oder zu ver­tre­ten. Das Pro­blem liegt auf struk­tu­rel­ler Ebene: Wir in der FAU sind eine selbst­ver­wal­tete Basis­ge­werk­schaft. Wir füh­ren Arbeits­kämpfe so, dass immer die Men­schen in den Betrie­ben alle Ent­schei­dun­gen tref­fen. Kon­flikte wer­den inner­halb der Betriebs­gruppe aus­ge­han­delt und nicht von oben herab ent­schie­den. Die IG BAU als Stell­ver­tre­ter­ge­werk­schaft hand­habt das ganz anders. Sie ver­han­delt für ihre Mit­glie­der, und zwar häu­fig auch in völ­lig intrans­pa­ren­ten Hin­ter­zim­mer­ge­sprä­chen mit den Arbeitgebervertreter:innen.

Ihr seht also eine man­gelnde Orga­ni­sie­rungs­fä­hig­keit und ‑wil­lig­keit der IG BAU im Baugewerbe?

Sam: Wir haben schon das Gefühl, dass die IG BAU die Kri­tik in Tei­len auf­ge­nom­men hat. In der Ana­lyse der Pro­bleme passt das eini­ger­ma­ßen, auch wenn sie struk­tu­relle Ursa­chen nur ober­fläch­lich beschrei­ben. Aber in Bezug auf die Frage, was dar­aus für sie in ihrer Gewerk­schafts­pra­xis folgt, sind sie unse­rem Ein­druck nach kom­plett blank. Es gab eine Gedenk­kund­ge­bung, aber das bleibt ein »Lecken der Wun­den«, wenn überhaupt.

Niklas: Ein rela­ti­vie­ren­der Satz aber viel­leicht noch dazu: Auch wir haben es nicht geschafft, den Unfall zu ver­hin­dern. Aber wir set­zen uns dafür ein, dass die Arbeiter:innen selbst für sichere Bedin­gun­gen auf dem Bau sor­gen kön­nen, anstatt sich auf eine externe Stelle zu ver­las­sen. Wie wir in unse­rer Rede sagen: »Es wird schwer. Wir müs­sen Sprach­bar­rie­ren über­win­den. Aber vor allem müs­sen wir unsere Spal­tung überwinden.«

Die gewerk­schaft­li­che Pra­xis hinkt noch hin­ter­her: Bro­schüre der IG BAU von März 2024 (Aus­schnitt)

Inwie­fern hängt diese Kri­tik mit dem Kon­zept der Sozi­al­part­ner­schaft zusam­men, dem die IG BAU anhängt? In wel­cher Hin­sicht trägt es eurer Ansicht nach dazu bei, dass auf Bau­stel­len häu­fig Ver­hält­nisse herr­schen, die zu sol­chen Unfäl­len füh­ren wie bei der Westfield-Mall?

Niklas: Der Begriff Sozi­al­part­ner­schaft bezeich­net ja die Idee, dass Unter­neh­men und Lohn­ab­hän­gige zusam­men­ar­bei­ten, dass »alle im sel­ben Boot sit­zen« und dass es gelin­gen könne, die Wider­sprü­che zwi­schen Kapi­tal und Arbeit aus­zu­glei­chen, indem man Kom­pro­misse schließt – vor allem natür­lich durch einen Tarif­ver­trag. Das setzt aber ein beid­sei­ti­ges Ver­trauen vor­aus: Einer­seits das Ver­trauen der Unter­neh­men in ihre Arbeiter:innen, etwa dass sie ihre Maschi­nen nicht zer­stö­ren oder dass sie zur Arbeit kom­men; ande­rer­seits aber auch das Ver­trauen der Arbeiter:innen gegen­über den Unter­neh­men, etwa dass sie zuver­läs­sig den Lohn zahlen.

In man­chen Bran­chen in Deutsch­land funk­tio­niert das Kon­zept noch ganz gut, auch für die Arbeiter:innen, etwa in der Metall­in­dus­trie oder im Hand­werk. Das sind Bran­chen, wo Arbeiter:innen unter rela­tiv guten Bedin­gun­gen arbei­ten – rela­tiv auch des­we­gen, weil auf dem Bau zu arbei­ten immer ein gefähr­li­cher und ver­schlei­ßen­der Job ist. Aber wenn man sich die Real­lohn­ver­luste in den letz­ten Jah­ren und die pre­kä­ren Arbeits­be­din­gun­gen gerade im Bau anschaut, kann ich nicht ver­ste­hen, dass Gewerk­schaf­ten immer noch dar­auf ver­trauen. Das zeigte sich auch an den Tarif­ver­hand­lun­gen im Bau­haupt­ge­werbe Anfang 2024. Da wurde zum ers­ten Mal seit 20 Jah­ren wie­der gestreikt. Die Abschlüsse haben auch teil­weise ganz gute Ergeb­nisse gebracht, etwa die weit­ge­hende Anglei­chung der Löhne in Ost- und West­deutsch­land. Aber in der Summe bedeu­tet die Tarif­ei­ni­gung unse­ren eige­nen Berech­nun­gen zufolge trotz­dem einen Real­lohn­ver­lust von zwei Pro­zent im Jahr 2026 ver­gli­chen mit 2021. Da wer­den die Gren­zen von sozi­al­part­ner­schaft­lich ver­han­del­ten Ver­trä­gen deutlich.

Ein ande­rer Akteur, den ihr in eurem Rede­bei­trag kri­ti­siert habt, ist die Berufs­ge­nos­sen­schaft der Bau­wirt­schaft (BG BAU). Was wäre deren Auf­gabe gewe­sen, und wo hat sie versagt?

Sam: Vor dem Unfall im Okto­ber 2023 gab es meh­rere Bege­hun­gen auf der Bau­stelle, bei denen Sicher­heits­män­gel fest­ge­stellt wur­den. Dass Män­gel bean­stan­det wer­den, ist nicht so unge­wöhn­lich. Aber ins­ge­samt bestan­den hier so gra­vie­rende Män­gel, dass man hätte sagen müs­sen: Die Bau­stelle muss dicht­ge­macht wer­den, bis diese Män­gel besei­tigt sind. Inso­fern – und das behaup­ten nicht nur wir, son­dern u.a. sogar ein Mit­ar­bei­ter der BG selbst – hätte der Unfall auf jeden Fall ver­hin­dert wer­den können.

Um ein greif­ba­res Bei­spiel zu nen­nen: Von Leu­ten, die selbst auf der Bau­stelle gear­bei­tet haben, wis­sen wir, dass 2022, also noch lange vor dem Unfall, ein sechs oder sie­ben Stock­werke hohes Fas­sa­den­ge­rüst falsch herum demon­tiert wurde. Die Bau­ar­bei­ter, sicher keine gelern­ten Gerüst­bauer, haben von unten ange­fan­gen das Gerüst abzu­bauen! Das kom­plette Gebiet musste gesperrt und eva­ku­iert wer­den, weil das Gerüst umzu­kip­pen drohte. Wenn man als BG so etwas erfährt, muss man doch erken­nen: Das ist nicht nur das Pro­blem eines ein­zel­nen Unter­neh­mens, son­dern zeigt: Das gesamte Sys­tem Westfield-Baustelle ist voll­kom­men inakzeptabel.

Die BG hätte also die Mög­lich­keit gehabt zu sagen, bis zur Behe­bung die­ser Sicher­heits­män­gel muss die Bau­stelle geschlos­sen werden?

Sam: Ja, oder von mir aus auch Berei­che. Ein Pro­blem ist auch, dass diese Bau­stelle ein­fach so groß war. Die BG ist per­so­nell sehr schlecht auf­ge­stellt. Die paar Hand­voll Kontrolleur:innen der BG kön­nen gar nicht jedes Gerüst kon­trol­lie­ren, die sehen immer nur Teil­be­rei­che der Bau­stelle. Aber selbst nach dem Unfall wurde kein Arbeits­ver­bot aus­ge­spro­chen. Spä­tes­tens zu die­sem Zeit­punkt hätte man diese Bau­stel­len dicht­ma­chen müs­sen. Statt­des­sen war der Schacht drei oder vier Tage spä­ter wie­der gestri­chen und es wurde wei­ter­ge­ar­bei­tet, als sei nichts gesche­hen. Da frage ich mich: Wozu hat man dann die BG?

Aller­dings hat da nicht nur die BG ver­sagt, son­dern auch andere Akteure wie das Amt für Arbeits­schutz, die Stadt­ent­wick­lungs­be­hörde usw. Es gab meh­rere Stel­len, die von die­sen Zustän­den wuss­ten und nichts unter­nom­men haben. Wir wis­sen von Betrie­ben, die sich von der Bau­stelle zurück­ge­zo­gen haben, weil sie gesagt haben, sie kön­nen so nicht arbei­ten, etwa wegen des man­gel­haf­ten Brand­schut­zes. Und wir tref­fen immer wie­der Leute, die sagen: Es ist eigent­lich ein Wun­der, dass auf die­ser Bau­stelle »nur« sechs Leute gestor­ben sind.

Die FAU war ja auch schon vor zehn Jah­ren an Arbeits­kämp­fen im Zuge des Baus der Mall of Ber­lin betei­ligt, wo rumä­ni­schen Arbei­tern ihr Lohn nicht bezahlt wurde. Wür­det ihr sagen, dass Bau­stel­len von Shop­ping Malls beson­ders pro­ble­ma­tisch sind in Bezug auf die Arbeits­be­din­gun­gen? Oder hat das womög­lich ein­fach mit der Größe der Bau­stelle zu tun, weil auf so einer rie­si­gen Bau­stelle, auf der hun­derte Unter­neh­men und Sub­un­ter­neh­men arbei­ten, nie­mand den Über­blick hat?

Sam: Ich würde nicht behaup­ten, dass große Bau­stel­len per se pro­ble­ma­tisch sind. Im Gegen­teil, es kann auch Groß­bau­stel­len geben, auf denen es gut läuft. Aber klar, auf die­ser Bau­stelle haben 700 Unter­neh­men mit­ein­an­der zusammengearbeitet.

Niklas: Die Bau­un­ter­neh­men wuss­ten teil­weise selbst nicht, wer »am ande­ren Ende« der Sub­un­ter­neh­mer­kette für sie arbei­tet. Da herrsch­ten Zustände wie in der Tex­til­in­dus­trie, wo nie­mand weiß, woher die auf dem Markt gehan­delte Baum­wolle stammt. Diese Struk­tur ist unge­heuer intrans­pa­rent. Wir ken­nen viel­leicht zehn Unter­neh­men vom Namen her oder aus Erzäh­lun­gen. Ganz genau wis­sen wir daher auch nicht, was die Gründe für die Zustände auf der Bau­stelle sind. Nicht auf jeder URW-Baustelle lief es so kata­stro­phal. Das Chaos auf der Westfield-Baustelle ist aber auf jeden Fall auch ent­stan­den, weil es keine Haupt­bau­lei­tung gab, in deren Hän­den alles zusam­men­ge­lau­fen ist. Es gab kein Team, das den Über­blick hatte, bzw. eben nur den Inves­tor URW selbst, der aber kein Bau­un­ter­neh­men ist. Und es gab auf der Bau­stelle teil­weise ein­fach nie­man­den, der Deutsch gespro­chen hat, und auch keine Übersetzer:innen. Die Toten, der man­gelnde Brand­schutz, man­gel­hafte Pro­to­kolle sind Sym­ptome der kata­stro­pha­len Pla­nung und Organisation.

Wie viele Kräne pas­sen auf eine Bau­stelle? 2023 stie­ßen zwei Kräne zusam­men. Foto (2021): Lusi Lindwurm/Wiki­me­dia.

Im Rede­bei­trag spracht ihr auch vom Zeit- und Preis­druck, den der Inves­tor aus­ge­übt habe.

Niklas: Ja, der Haupt­fak­tor für die Pro­ble­ma­tik der Überseequartier-Baustelle war mei­ner Mei­nung nach Geld: An allen Ecken und Enden sollte gespart wer­den. Es gab einen unge­heu­ren Preis­druck, auch wegen äuße­rer Fak­to­ren wie den Kos­ten­stei­ge­run­gen seit Beginn des Krieg in der Ukraine 2022. Es gab gro­ßen poli­ti­schen Druck, dass das Pro­jekt umge­setzt wird. Das konnte man auch jetzt bei der Eröff­nung mit Peter Tsch­ent­scher erken­nen. Für die Poli­tik war klar: Das Pro­jekt darf nicht schei­tern, was immer auch kommt. Die Stadt hat dem Inves­tor daher etli­che Zuge­ständ­nisse gemacht, er hat Mehr­flä­che erpresst, er konnte Regeln miss­ach­ten, ohne dass es Sank­tio­nen oder sons­tige Kon­se­quen­zen gege­ben hätte, und so wei­ter. URW hat so das Gefühl bekom­men, alles machen zu kön­nen. Wir kön­nen auch nur spe­ku­lie­ren, aber: Dass trotz der gra­vie­ren­den Sich­ter­heits­män­gel, die allen bekannt waren, nie­mand Maß­nah­men ergrif­fen hat, kann man sich eigent­lich nicht anders erklä­ren als durch poli­ti­schen Druck von oben. Das muss unbe­dingt auf­ge­klärt werden.

Ihr habt schon gesagt, dass auf der Bau­stelle teil­weise nie­mand Deutsch sprach. Der Anteil aus­län­di­scher, vor allem ost­eu­ro­päi­scher Arbei­ter ist im Bau­haupt­ge­werbe sehr hoch. Extreme Pre­ka­ri­tät, Lohn­skla­ve­rei, ille­gale Beschäf­ti­gungs­ver­hält­nisse, usw. sind an der Tages­ord­nung, beson­ders für Wan­der­ar­bei­tende. Wie seht ihr die Situation?

Niklas: Ins­be­son­dere migran­ti­sche Bau­ar­bei­ter sind gene­rell ent­rech­tet und unsicht­bar. Die­ses Pro­blem ist nicht nur auf die Bau­bran­che beschränkt, son­dern betrifft bei­spiels­weise auch die Gebäu­de­rei­ni­gung, die Pflege oder die Fleisch­in­dus­trie. Das sind Men­schen, die Arbei­ten für die gesell­schaft­li­che Grund­ver­sor­gung leis­ten, aber kein sicht­ba­rer Teil die­ser Gesell­schaft sind. Das macht es dem Senat und der Bür­ger­schaft leicht, weg­zu­schauen – diese Men­schen haben keine Lobby und kaum Rechte. In dem Fall auf der Ber­li­ner Mall-Baustelle von vor zehn Jah­ren wurde das extrem deut­lich: Weil den rumä­ni­schen Arbei­tern ihr Lohn vor­ent­hal­ten wurde, ver­lo­ren sie ihre Woh­nun­gen, dadurch wie­derum konn­ten sie keine Briefe vom Amt mehr bekom­men und so wurde ihnen schließ­lich ihre Auf­ent­halts­er­laub­nis ent­zo­gen. Das ist kras­seste Prekarität!

Gab es denn auf der Bau­stelle hier in Ham­burg auch Fälle, in denen Sub­un­ter­neh­men ihren Arbei­tern kei­nen oder nur einen Bruch­teil des ver­ein­bar­ten Lohns gezahlt haben?

Sam: Bis­lang gab es kaum mediale Berichte dazu, aber man muss davon aus­ge­hen, dass es etli­che sol­cher Fälle gab. Im ver­gan­ge­nen Okto­ber ist ein Gerüst­bau­un­ter­neh­men aus Bre­mer­ha­ven wegen »Zah­lungs­aus­fäl­len« bei der Westfield-Baustelle insol­vent gegan­gen. Und dann gab es den Fall des ukrai­ni­schen Hilfs­ar­bei­ter Yev­hen A., der im Novem­ber 2023 einen schwe­ren Arbeits­un­fall hatte und über den die Zeit berich­tete. Yev­hen A., der durch sei­nen Unfall wahr­schein­lich dau­er­haft arbeits­un­fä­hig blei­ben wird, erhielt sei­nen Lohn in pol­ni­schen Złoty, umge­rech­net 640 Euro monat­lich. Das sind 3,20 Euro pro Stunde! Und da war er sicher keine Aus­nahme. Außer­dem ist es extrem ver­brei­tet, dass Men­schen auf dem Bau Fach­tä­tig­kei­ten aus­füh­ren, aber einen Hel­fer­lohn erhal­ten, also die unterste Lohn­stufe.3Baum­gar­ten, M., Beck, L. & Firus, A. (2024): »Hel­fer oder doch Fach­kräfte? Migran­ti­sche Beschäf­tigte im deut­schen Hoch­bau.« FES dis­kurs. Mai 2024. Online: https://library.fes.de/pdf-files/a‑p-b/21208.pdf

Und wie sieht es jetzt im Über­see­quar­tier aus? Bei einer der­art des­or­ga­ni­sier­ten Bau­stelle liegt die Ver­mu­tung nahe, dass noch viele Män­gel bestehen, die im lau­fen­den Betrieb beho­ben wer­den müs­sen, oder?

Niklas: Ja, wir wis­sen tat­säch­lich, dass auch noch jetzt, nach der Eröff­nung, zahl­rei­che Män­gel am Gebäu­de­kom­plex bestehen, etwa beim Ent­fluch­tungs­kon­zept. Teil­weise ist da die Elek­trik feh­ler­haft ange­bracht, außer­dem sind die Flucht­wege falsch geplant wor­den. Ein Flucht­weg endet oben auf dem Glas­dach. Auch der Feu­er­alarm, der am Don­ners­tag nach der Eröff­nung los­ging, hat Pro­bleme auf­ge­zeigt. Es ging näm­lich keine Sirene los, die alle alar­miert hätte. Statt­des­sen lie­fen bloß die offen­bar völ­lig über­for­der­ten Secu­ri­ties von West­field durchs Gebäude und rie­fen: »Es besteht Brand­ge­fahr, bitte ver­las­sen Sie das Gebäude!«

Sam: Das Gebäude ist in einem Zustand, in dem die Eröff­nung nicht hätte statt­fin­den dür­fen. Es geht dabei nicht um kleine Män­gel, also dass irgendwo ein Kabel unsau­ber run­ter­hängt, son­dern um sicher­heits­re­le­vante Dinge. Da setzt sich das Sys­tem fort, das schon auf der Bau­stelle für kata­stro­phale Unfälle gesorgt hat.

Danke für das Gespräch!


Sam ist seit 2018 Tisch­le­rin, auf Ham­bur­ger Bau­stel­len unter­wegs und setzt sich auch im Azu­bi­hilfe Netz­werk für die Rechte von Azu­bis und all­ge­mein für (mehr) FLINTA*Personen im Hand­werk ein.

Niklas ist Inge­nieur und seit Som­mer 2024 Teil der Sek­tion Bau und Hand­werk der FAU.

Die Freie Arbeiter*innen Union (FAU) ist eine kämp­fe­ri­sche Basis­ge­werk­schaft, die sich für die Rechte aller Arbeiter:innen ein­setzt. Ihre etwa 2500 Mit­glie­der orga­ni­sie­ren sich in Syn­di­ka­ten, die es in den meis­ten deut­schen Groß­städ­ten und ver­ein­zelt auch in länd­li­chen Räu­men gibt. Seit 2024 arbei­tet die Ham­bur­ger Sek­tion Bau und Hand­werk (»bau­fau«) zum Unrecht auf Baustellen. 


  • 1
    Da auf den Bau­stel­len nahezu aus­nahms­los Män­ner arbei­ten, wird hier keine gegen­derte Form verwendet.
  • 2
    Inzwi­schen gibt es eigens für Wanderarbeiter:innen die Mög­lich­keit einer Jah­res­mit­glied­schaft bei der IG BAU: https://igbau.de/Jahresmitgliedschaft.html (d. Red.).
  • 3
    Baum­gar­ten, M., Beck, L. & Firus, A. (2024): »Hel­fer oder doch Fach­kräfte? Migran­ti­sche Beschäf­tigte im deut­schen Hoch­bau.« FES dis­kurs. Mai 2024. Online: https://library.fes.de/pdf-files/a‑p-b/21208.pdf