Schlanker Staat und schlanke Körper

Schlanker Staat und schlanke Körper

Mit der »Active City«-Stra­te­gie will Ham­burg sich als Sport­stadt pro­fi­lie­ren, den Stadt­raum even­ti­sie­ren und die Bevöl­ke­rung akti­vie­ren. Es geht also um mehr als etwas Bewe­gung im All­tag. Der Sport wird zum Trans­mis­si­ons­rie­men des vor­an­schrei­ten­den Umbaus von Stadt, Staat und Gesell­schaft ent­lang neo­li­be­ra­ler Pro­gramme. Nun steht eine erneute Olympia-Bewerbung im Raum.

Mehr als nur etwas Bewe­gung im All­tag: Die »Active City«-Strategie ist auch Aus­druck des Umbaus der Stadt ent­lang neo­li­be­ra­ler Pro­gramme. Para­dig­ma­tisch dafür ist die Hafen­City – sie wird die­sen Arti­kel foto­gra­fisch beglei­ten. Hier zu sehen ist ein Teil des »Baa­ken­parks«. Foto: privat.

Es ist keine zehn Jahre her: Ende Novem­ber 2015 stimmte eine Mehr­heit der Hamburger:innen aus guten Grün­den dage­gen, dass sich ihre Stadt als Aus­tra­gungs­ort der olym­pi­schen Spiele 2024 bewirbt. Gewor­den ist es dann Paris. Die Bil­der der dies­jäh­ri­gen Som­mer­spiele waren für Sport­se­na­tor Andy Grote »mit­rei­ßend und inspi­rie­rend«. Vor allem, so Grote, hät­ten sie »einen Ein­druck« davon ver­mit­telt, »wie es auch für Deutsch­land sein könnte.« Kein ›hätte sein kön­nen‹, son­dern ein in die Zukunft gerich­te­ter Kon­junk­tiv: Tat­säch­lich läuft die Stadt sich wie­der ein­mal warm, um die olym­pi­sche Fackel nach Ham­burg zu tra­gen – die­ses Mal soll es das Jahr 2040 werden.

Diese Pläne ste­hen im Zusam­men­hang mit der vom Ham­bur­ger Senat im Jahr 2022 beschlos­se­nen »Active City«-Strategie. Sie ist den meis­ten Hamburger:innen wohl bis­lang eher bei­läu­fig begeg­net, etwa in Form einer tem­po­rä­ren Sport­arena auf dem Hei­li­gen­geist­feld. Ein genaue­rer Blick auf diese Stra­te­gie lohnt sich jedoch. Sie ist Teil des vor­an­schrei­ten­den Umbaus von Stadt, Staat und Gesell­schaft. So besteht ein Ele­ment besag­ter Stra­te­gie, die auch aus der geschei­ter­ten Olympia-Bewerbung her­vor­ge­gan­gen ist, darin, noch mehr Gro­ße­vents nach Ham­burg zu holen. Ironman-Triathlons, Beachvolleyball-Weltmeisterschaften und nun wohl auch Olym­pia tra­gen, so die Idee, nicht nur zu einem der ver­kün­de­ten Ziele bei – der Akti­vie­rung der Bevöl­ke­rung. Die Groß-Events sol­len der »Marke Ham­burg« auch zu wei­te­rer inter­na­tio­na­ler Bekannt­heit ver­hel­fen. Vor dem Hin­ter­grund glo­ba­ler Stand­ort­kon­kur­renz ist das schließ­lich not­wen­dig und ver­spricht nicht zuletzt Gewinne in staat­li­chen wie pri­va­ten Kassen.

Es geht also um deut­lich mehr als ein wenig Sport und Bewe­gung im All­tag. Das ver­schweigt das Stra­te­gie­pa­pier auch gar nicht und darin liegt nicht das Pro­blem – ebenso wenig wie im (Breiten-)Sport selbst und sei­ner För­de­rung, die einen wei­te­ren gro­ßen Teil der Stra­te­gie aus­macht. Der moderne Sport war und ist seit jeher Pro­dukt und Pro­du­zent gesell­schaft­li­cher Ver­hält­nisse. Die Frage ist jedoch, wel­che Vor­stel­lun­gen von Gesell­schaft über den Sport in die poli­ti­sche Pra­xis über­führt wer­den. Im Falle der »Active City«-Strategie zeigt sich, wie eng sozi­al­de­mo­kra­ti­sches Regie­ren mitt­ler­weile mit einer neo­li­be­ra­len Pro­gram­ma­tik ver­wo­ben ist. Aus­zah­len dürfte sich das indes nur für die wenigs­ten Hamburger:innen. Die Stra­te­gie ver­spricht zwar mehr »Lebens­qua­li­tät« für alle – neun­zehn­mal kommt der Begriff allein im Kon­zept­pa­pier vor. Die Kehr­seite der Klimm­stange im Park und des even­ti­sier­ten Stadt­raums wird sich jedoch unter ande­rem in stei­gen­den Mie­ten und sozia­len Aus­schlüs­sen zeigen.

Die Kehr­seite der Klimm­stange im Park: stei­gende Mie­ten und soziale Aus­schlüsse. Foto: privat.

Ein Blick zurück: Olympia und die »wachsende Stadt« um das Jahr 2000

Der olym­pi­sche Traum begann in Ham­burg vor über 20 Jah­ren. Im Jahr 2002 hatte der Ham­bur­ger Senat unter Ole von Beust das Leit­bild »Metro­pole Ham­burg – Wach­sende Stadt« ver­ab­schie­det. Ein Teil die­ser Stra­te­gie bestand darin, die Som­mer­spiele im Jahr 2012 nach Ham­burg holen zu wol­len. In dem Leit­bild, so wird es auch anhand eines 2004 ver­öf­fent­lich­ten Arti­kels aus der Feder von Beusts deut­lich, war das Sport­event vor allem ein Mar­ke­ting­ve­hi­kel. Galt es doch ange­sichts beschwo­re­ner glo­ba­ler Stand­ort­kon­kur­renz »Ham­burg zu einer unver­wech­sel­ba­ren Marke [zu] machen«. Ganz neu war diese Idee nicht: Bereits im Jahr 1983 hatte der dama­lige sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Bür­ger­meis­ter Klaus von Dohn­anyi vom »Unter­neh­men Ham­burg« gespro­chen, das sich auf eine neue Stand­ort­po­li­tik ein­stel­len müsse.

Aber wieso eigent­lich sollte Ham­burg als Unter­neh­men agie­ren und sich selbst ver­mark­ten? Dafür lohnt es, in gebo­te­ner Kürze beim Leit­bild der 2000er Jahre und der his­to­ri­schen Situa­tion, die es her­vor­ge­bracht hat, zu ver­wei­len. Denn nicht nur fin­det sich der Begriff der »wach­sen­den Stadt« auch noch im aktu­el­len Stra­te­gie­pa­pier der »Active City« wie­der. Son­dern dar­über hin­aus wird in der Zeit um die Jahr­tau­send­wende eine stadt­po­li­ti­sche Matrix sicht­bar, die bis heute prä­gend ist.

Das Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« war eine Reak­tion auf die lang­an­hal­tende Krise der for­dis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nisse und des inter­ven­tio­nis­ti­schen Wohl­fahrts­staa­tes seit den 1970er Jah­ren.1Diese hat­ten sich im wirt­schaft­li­chen Auf­schwung des Wie­der­auf­baus nach dem Zwei­ten Welt­krieg her­aus­ge­bil­det. Ein hohes Wirt­schafts­wachs­tum ging ins­be­son­dere auf­grund des boo­men­den indus­tri­el­len Sek­tors mit Voll­be­schäf­ti­gung ein­her. Ideen staat­li­cher Pla­nung und öko­no­mi­scher Glo­bal­steue­rung gedach­ten nicht nur die Markt­kräfte zu besänf­ti­gen, son­dern auch den Klas­sen­kom­pro­miss durch Teil­habe aller an Wohl­stand und Kon­sum zu beför­dern. Ab den 1970er Jah­ren geriet die­ses Modell jedoch vor dem Hin­ter­grund einer kri­seln­den Welt­wirt­schaft in die Schief­lage. Erst­ma­lig stie­gen seit Ende des Krie­ges die Arbeits­lo­sen­zah­len wie­der, Indus­trie­be­triebe muss­ten schlie­ßen. Sin­kende Steu­er­ein­nah­men brach­ten auch den immer umfang­rei­che­ren Wohl­fahr­staat an seine Gren­zen. Nun wur­den Stim­men lau­ter, die Kon­zepte for­der­ten, die sich bereits in den 1930er Jah­ren her­aus­ge­bil­det hat­ten, dem dama­li­gen Abge­sang auf den laissez-faire-Kapi­ta­lis­mus in der Welt­wirt­schafts­krise jedoch nichts ent­ge­gen­set­zen konn­ten. Diese wer­den heute gemein­hin unter dem Label Neo­li­be­ra­lis­mus gefasst. Es speist sich aus Kon­zep­ten, die heute gemein­hin unter dem Label Neo­li­be­ra­lis­mus gefasst wer­den und unter ande­rem auf den Abbau (wohlfahrts-)staatlicher Ein­griffe, eine Hin­wen­dung zum Markt und die zuneh­mende Pri­va­ti­sie­rung staat­li­chen Eigen­tums zielen.

Kon­kur­renz um  Human­ka­pi­tal: Im Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« gal­ten groß­zü­gige und damit hoch­prei­sige Eigen­tums­woh­nun­gen – hier der Marco-Polo-Tower – als Stand­ort­fak­tor. Foto: privat.

In Ham­burg äußerte sich die Krise for­dis­ti­scher Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nisse darin, dass sich für die Stadt zen­trale Indus­trie­zweige wie etwa der Schiffs­bau samt Zulie­fe­rer­be­trie­ben nur bedingt hal­ten konn­ten. Auch die Einwohner:innenzahl nahm bis Ende der 1990er Jahre kon­ti­nu­ier­lich ab. Ergo musste die Stadt wach­sen, konnte dafür jedoch nicht auf die bis­he­rige indus­tri­elle Pro­duk­tion set­zen. Ver­stärkt kon­zen­trierte man sich etwa auf den Dienst­leis­tungs­sek­tor, den Tou­ris­mus und auf die soge­nannte Krea­tiv­bran­che. Ham­burg ver­stand sich zuneh­mend als Medien- und bald auch als Musi­cal­stadt. Die Stadt sah sich darin jedoch einem glo­ba­len Wett­be­werb um Human- und Finanz­ka­pi­tal aus­ge­setzt. Und die­ses Kapi­tal strömt, so die Vor­stel­lung, ins­be­son­dere in jene Metro­po­len, die über ent­spre­chende Stand­ort­fak­to­ren – und die ent­spre­chende Bekannt­heit – ver­fü­gen. Hier schließt sich nun der Kreis zu Olym­pia. Die Stadt setzte näm­lich nicht nur ver­mehrt auf wei­che Stand­ort­fak­to­ren wie Kul­tur und Sport­events. Gerade wäh­rend der Olympia-Bewerbung, so schrieb es Ole von Beust in obi­gem Arti­kel, stellte der Senat fest, »dass das Stand­ort­mar­ke­ting […] ver­stärkt wer­den muss«.

Eine wei­tere Folge der neu­jus­tier­ten Stadt­po­li­tik war die mas­sive Pri­va­ti­sie­rung zuvor staat­li­chen und genos­sen­schaft­li­chen Wohn­raums sowie des zukünf­ti­gen Woh­nungs­baus. Einer­seits lie­ßen sich so die klam­men Staats­kas­sen sanie­ren. Ande­rer­seits gal­ten grö­ßere und luxu­riö­sere (Eigentums-)Wohnungen als Stand­ort­fak­tor im Wett­be­werb um die begehr­ten unter­neh­me­ri­schen und krea­ti­ven Köpfe. Der Anteil an Sozi­al­woh­nun­gen sank in Ham­burg von 45 Pro­zent im Jahr 1980 auf 11 Pro­zent im Jahr 2010.2Ich ver­danke der Lek­türe von Arndt Neu­manns Unter­neh­men Ham­burg viele der hier nur knapp und daher sehr ver­kürzt wie­der­ge­ge­be­nen Ein­sich­ten. Vgl. Arndt Neu­mann, Unter­neh­men Ham­burg. Eine Geschichte der neo­li­be­ra­len Stadt, Göt­tin­gen 2018. Zwar ist das keine unmit­tel­bare Folge der Olympia-Bewerbung, doch kor­re­spon­diert die Ver­mark­tung bezie­hungs­weise Ver­markt­li­chung des Stadt­raums not­wen­di­ger­weise mit sei­ner Privatisierung.

Die Stadt als Unternehmen…

Das Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« war vor allem von einem Papier der Unter­neh­mens­be­ra­tung McK­in­sey inspi­riert. Wie es Dohn­anyi gefor­dert hatte, gerierte sich Ham­burg ab den 2000er Jah­ren zuneh­mend als Unter­neh­men. Für die »Active City«-Strategie beauf­tragte die Behörde für Inne­res und Sport nun keine Unter­neh­mens­be­ra­tung, son­dern das pri­vat­wirt­schaft­li­che Ham­bur­gi­sche Welt­Wirt­schafts­in­sti­tut (HWWI), das dar­auf­hin im Jahr 2020 eine Stu­die über die Öko­no­mi­schen Effekte einer vita­len Sport­stadt ver­öf­fent­lichte. Gegen­über dem Leit­bild der »wach­sen­den Stadt« zeigt sich: Sport und Sport­events sol­len nicht mehr aus­schließ­lich der Hamburg-PR die­nen. Es geht auch nicht mehr allein um die För­de­rung des Breiten- und Leis­tungs­sports, wie noch bei den Vor­gän­ge­rin­nen der aktu­el­len Stra­te­gie.3Ver­wie­sen sei auf den 2016 beschlos­se­nen »Mas­ter­plan Active­City« und die »Deka­denstra­gie Sport« aus dem Jahr 2011. Mit der »Active City«-Strategie sol­len durch eine akti­vierte Bevöl­ke­rung, so die Stu­die, nun auch »Pro­duk­ti­vi­täts­ef­fekte« auf indi­vi­du­el­ler Ebene erzielt wer­den: »gerin­gere Aus­fall­zei­ten, bes­sere psy­chi­sche Gesund­heit und höhere Motivation«.

In der Logik der HWWI-Studie fun­giert die Stadt in der Tat als Unter­neh­men. Sie tätigt Inves­ti­tio­nen in der Erwar­tung von Gewin­nen. Es geht nicht zuvor­derst um das das gute Leben für alle, son­dern um schwarze Zah­len in der Staats­kasse. So errech­ne­ten die Wissenschaftler:innen des HWWI für das Jahr 2017 einen »Gesamt­ef­fekt von rund 2,4 Mil­li­ar­den Euro Wert­schöp­fung«. Jeder von der Stadt in den Sport inves­tierte Euro gene­riere »lang­fris­tig eine öko­no­mi­sche Wert­schöp­fung von rund zwei Euro«. Über die Hälfte die­ser Ein­nah­men solle sich wie­derum aus soge­nann­ten Gesundheits- und Wohl­fahrts­ef­fek­ten spei­sen. Eine akti­vierte Bevöl­ke­rung sei nicht nur sel­te­ner krank, ver­ur­sa­che weni­ger Kos­ten und habe mehr Zeit zu arbei­ten. Der Sport hätte auch »posi­tive Aus­wir­kun­gen auf die Moti­va­ti­ons­fä­hig­keit von Men­schen, deren Pro­duk­ti­vi­tät oder Teil­habe am sozia­len Leben«.

…und das unternehmerische Selbst

Bewe­gung, Sport und Spiel sind die­sem Den­ken zufolge nicht in ers­ter Linie wich­tig, weil sie etwa Freude berei­ten. Sie wer­den zunächst und vor allem als Inves­ti­tio­nen ver­stan­den. Eine Inves­ti­tion, die der Stadt­staat in den Kol­lek­tiv­kör­per der Bevöl­ke­rung tätigt, sowie Inves­ti­tio­nen, die die ange­ru­fe­nen Sub­jekte in ihre Indi­vi­du­al­kör­per vornehmen.

Doch wie wird aus die­ser markt­för­mi­gen Logik eine all­täg­li­che Pra­xis? Ein Bei­spiel dafür ist die »Active City«-App, die die Stadt vor eini­gen Jah­ren ent­wi­ckeln ließ. Diente sie anfäng­lich vor allem dazu, einen Über­blick über Sport­an­ge­bote zu erhal­ten, kamen nach und nach neue Funk­tio­nen hinzu. Die App adap­tierte darin Tech­ni­ken des soge­nann­ten Self-Trackings – also der indi­vi­du­el­len Daten­auf­nahme zur Selbst­op­ti­mie­rung. Aus dem Stadt­raum wurde ein vir­tu­el­ler »Play­ground«. Die Nutzer:innen zeich­nen darin per Schritt­zäh­ler ihre Akti­vi­tät etwa bei der Lauf­runde im Park auf und sam­meln »Coins«. Für »jede Bewe­gung«, so heißt es in der Beschrei­bung der App, wer­den »Punkte gut­ge­schrie­ben«. Die »Coins« brin­gen »satte Extra-Punkte«. In die­sem digi­ta­len Pan­op­ti­kum, so die Idee, sta­cheln die Nutzer:innen sich selbst und unter­ein­an­der zu mehr Bewe­gung an und ver­bes­sern ste­tig ihr »Wochen-Level« – Ver­lo­sun­gen für die Best­plat­zier­ten inklu­sive. Dass die Nutzer:innen nun Mün­zen sam­meln, wäh­rend sie sport­lich aktiv sind, ist eine schöne Alle­go­rie: So wie die Stadt als Unter­neh­men tätig ist, sol­len ihre Einwohner:innen zu Unternehmer:innen ihrer selbst werden.

Diese Logik kommt nicht von unge­fähr. Das HWWI ist ein pri­vat­wirt­schaft­lich finan­zier­ter neo­li­be­ra­ler Think Tank, der seit jeher per­so­nell wie ideo­lo­gisch mit ein­schlä­gi­gen Insti­tu­tio­nen wie der Initia­tive Neue Soziale Markt­wirt­schaft oder der Stif­tung Ord­nungs­po­li­tik ver­bun­den ist. Dass die dort ver­brei­te­ten Ideen mitt­ler­weile fes­ter Bestand­teil sozi­al­de­mo­kra­ti­scher Poli­tik sind, wurde zu Beginn der 2000er Jahre mit dem Wan­del vom sor­gen­den zum akti­vie­ren­den Sozi­al­staat in der »Agenda 2010« der rot­grü­nen Koali­tion deut­lich. Der der­zei­tige rot­grüne Ham­bur­ger Senat schreibt im Stra­te­gie­pa­pier aus dem Jahr 2022: »Active Citi­zens« sol­len »Ver­ant­wor­tung über­neh­men« und »nicht die Frage stel­len, was der Staat für sie tun kann«. Die akti­vier­ten Einwohner:innen »fra­gen, was sie für ihre Stadt, ihren Staat und ihre Gesell­schaft tun können.«

In den neuen Regi­men der Arbeit las­sen sich Arbeits- und Frei­zeit kaum mehr tren­nen. Der Sport dient nicht allein der Stei­ge­rung der Pro­duk­ti­vi­tät der Mitarbeiter:innen – er wird selbst zu einer markt­för­mi­gen Pra­xis. Foto: privat.

Im »Zeitalter der Fitness«

Dass eine wei­tere Pri­va­ti­sie­rung und Even­ti­sie­rung des Stadt­raums – auch durch eine nun dro­hende Olympia-Bewerbung – mit stei­gen­den Mie­ten ein­her­geht und den öko­no­mi­schen Druck auf den Ein­zel­nen erhöht, hat die Kam­pa­gne NOlym­pia bereits im Jahr 2015 kri­ti­siert. Aber wo liegt das Pro­blem einer akti­vie­ren­den Poli­tik, die wie im Fall der »Active City«-Strategie doch vor­der­grün­dig zu mehr Bewe­gung im All­tag anre­gen möchte? Der His­to­ri­ker Jür­gen Mart­schukat spricht, so auch der Titel sei­nes Buchs, vom »Zeit­al­ter der Fit­ness«, des­sen Beginn nicht nur zeit­lich, son­dern auch ideo­lo­gisch mit der neo­li­be­ra­len Wende seit den 1970er Jah­ren zusam­men­fiel. »Das Indi­vi­duum soll an sich arbei­ten, das Leben im Griff haben, sich fit machen, für die eigene Leis­tung Sorge tra­gen«. Die Öko­no­mi­sie­rung des Sozia­len und die stär­ker ein­ge­for­derte Eigen­ver­ant­wor­tung pro­du­zier­ten jedoch neue soziale Aus­schlüsse und ver­schärf­ten bestehende (Klassen-)Gegensätze.

Das »Active City«-Strategiepapier schwärmt indes vom inklu­si­ven Cha­rak­ter des Sports. Dage­gen lässt sich mit Mart­schukat ein­wen­den, dass Fit­ness stets um Fat­ness kreist und gerade Über­ge­wich­tige häu­fig mehr­fa­cher Dis­kri­mi­nie­rung ent­lang von race, class und gen­der aus­ge­setzt sind – der His­to­ri­ker ver­weist hier auf die Situa­tion in den USA. Die neuen Exklu­si­ons­me­cha­nis­men wer­den jedoch nicht mehr bio­lo­gi­siert in dem Sinne, dass sie als unver­än­der­bar gel­ten. Für die Fit­ness ist das Indi­vi­duum ebenso ver­ant­wort­lich wie für die damit ver­bun­dene eigene Gesund­heit und vor allem auch den wirt­schaft­li­chen Erfolg. Wer, aus wel­chen guten Grün­den auch immer, nicht mit­hal­ten kann, hat eben nicht genug inves­tiert und bleibt auf der Strecke.

Wohl nicht zufäl­lig schweigt das »Active City«-Strategiepapier zu öko­no­mi­scher Ungleich­heit. So ver­spricht die neo­li­be­rale Stadt, deren Kon­tu­ren sich seit den 2000er Jah­ren immer deut­li­cher abzeich­nen, in ihren Pro­gram­men und Leit­bil­dern zwar eine höhe­ren Lebens­qua­li­tät für alle. Von gro­ßen Sport­events und einer akti­vier­ten Bevöl­ke­rung wer­den jedoch nur wenige pro­fi­tie­ren. Einer erneu­ten Olympia-Bewerbung gilt es daher wie­der ent­schie­den ent­ge­gen­zu­tre­ten. Wenn sie tat­säch­lich kommt, wäre sie jedoch als PR-Vehikel für die »Marke Ham­burg« vor allem Aus­druck einer tie­fer­lie­gen­den Ursa­che: des Umbaus von Stadt, Staat und Gesell­schaft ent­lang neo­li­be­ra­ler Programme. 

Johan­nes Rad­c­zinski, Okto­ber 2024

Der Autor über­denkt seine Argu­mente am liebs­ten bei bei einer Jog­ging­runde im Park – »Coins« sam­melt er dabei aber noch nicht. Auf Untie­fen schrieb er zuletzt über den soge­nann­ten »grü­nen Bun­ker«.

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    Diese hat­ten sich im wirt­schaft­li­chen Auf­schwung des Wie­der­auf­baus nach dem Zwei­ten Welt­krieg her­aus­ge­bil­det. Ein hohes Wirt­schafts­wachs­tum ging ins­be­son­dere auf­grund des boo­men­den indus­tri­el­len Sek­tors mit Voll­be­schäf­ti­gung ein­her. Ideen staat­li­cher Pla­nung und öko­no­mi­scher Glo­bal­steue­rung gedach­ten nicht nur die Markt­kräfte zu besänf­ti­gen, son­dern auch den Klas­sen­kom­pro­miss durch Teil­habe aller an Wohl­stand und Kon­sum zu beför­dern. Ab den 1970er Jah­ren geriet die­ses Modell jedoch vor dem Hin­ter­grund einer kri­seln­den Welt­wirt­schaft in die Schief­lage. Erst­ma­lig stie­gen seit Ende des Krie­ges die Arbeits­lo­sen­zah­len wie­der, Indus­trie­be­triebe muss­ten schlie­ßen. Sin­kende Steu­er­ein­nah­men brach­ten auch den immer umfang­rei­che­ren Wohl­fahr­staat an seine Gren­zen. Nun wur­den Stim­men lau­ter, die Kon­zepte for­der­ten, die sich bereits in den 1930er Jah­ren her­aus­ge­bil­det hat­ten, dem dama­li­gen Abge­sang auf den laissez-faire-Kapi­ta­lis­mus in der Welt­wirt­schafts­krise jedoch nichts ent­ge­gen­set­zen konn­ten. Diese wer­den heute gemein­hin unter dem Label Neo­li­be­ra­lis­mus gefasst. 
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    Ich ver­danke der Lek­türe von Arndt Neu­manns Unter­neh­men Ham­burg viele der hier nur knapp und daher sehr ver­kürzt wie­der­ge­ge­be­nen Ein­sich­ten. Vgl. Arndt Neu­mann, Unter­neh­men Ham­burg. Eine Geschichte der neo­li­be­ra­len Stadt, Göt­tin­gen 2018.
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    Ver­wie­sen sei auf den 2016 beschlos­se­nen »Mas­ter­plan Active­City« und die »Deka­denstra­gie Sport« aus dem Jahr 2011.

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