Klima der Judenfeindschaft
Der Überfall der radikal-islamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und das folgende Massaker mit über 1.200 Todesopfern sind eine Zäsur, selbst in der an grauenvollen Ereignissen keineswegs armen Geschichte des Antisemitismus. Ihre globalen Nachwirkungen – keine Ächtung anti-humanistischer Ideologien und Politik, sondern im Gegenteil eine Enthemmung der aggressiven Dämonisierung des Judenstaats und der Bedrohung von Jüdinnen und Juden – sind auch in Hamburg zu spüren.
Schon der Blick auf die Zahlen ist erschreckend: Bundesweit ist die Zahl antisemitischer Vorfälle nach dem 7. Oktober dramatisch gestiegen, dasselbe gilt für Hamburg. Hier machte Antisemitismus 2023 24% aller erfassten Fälle von Hasskriminalität aus – wobei weniger als 0,2% der Hamburger:innen jüdischen Glaubens sind. Im vierten Quartal hat sich die Fallzahl gegenüber dem Vorjahreszeitraum verfünffacht, auf 67 gegenüber 12 Fällen (siehe die Kleinen Anfragen der Linksfraktion zur Hasskriminalität in Hamburg in 2022 und 2023). Im Rahmen einer im Sommer 2024 erschienenen Studie unter anderem der Hochschule der Akademie der Polizei Hamburg gaben mehr als drei Viertel der befragten Hamburger Jüdinnen und Juden an, innerhalb der letzten zwölf Monate Antisemitismus erfahren zu haben.
Nach allen Erkenntnissen bleibt ein großer Teil der dahinter liegenden Fälle antisemitischer Diskriminierung und Gewalt außerhalb der Wahrnehmung von Öffentlichkeit und Behörden – die erwähnte Studie schätzt den Anteil auf 80%. Zivilgesellschaftlich gesammelte Daten, die dieses große Dunkelfeld erfahrungsgemäß erhellen könnten, standen für Hamburg allzu lange nicht zur Verfügung: Die 2021 gegründete, öffentlich geförderte digitale Hinweis- und Meldestelle memo veröffentlicht im Gegensatz zu den Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) in anderen Bundesländern keine Fälle oder (aussagekräftige) Zahlen. Ein nun vom Träger der Meldestelle, der Beratungsstelle für Betroffene rassistischer, antisemitischer und rechter Gewalt Empower, vorgelegter Bericht gibt 282 Fälle von Antisemitismus in Hamburg für 2023 an – mehr als ein Drittel der ingesamt dort bekannt gewordenen menschenfeindlichen Taten; im Zeitraum nach dem 7. Oktober verdoppelten sich auch hier die Fälle.
Plakativer Judenhass
Die Wände und die Öffentlichkeit der Stadt erlauben uns einen weiteren Einblick in die Realität des Antisemitismus. Wenige Tage nach dem 7. Oktober beginnend, werden auf Hauswänden und Laternen fortlaufend sogenannte pro-palästinensische Slogans, Aufkleber etc. angebracht. Neben die seit Jahrzehnten obligatorischen nationalistischen Parolen wie »Free Palestine« treten immer wieder auch Israel dämonisierende, manifest antisemitische Bilder: So wurde laut Bericht eines Anwohners auf St. Pauli z.B. nach dem 7. Oktober ein Graffito mit blutroten Handabdrücken platziert – eine Chiffre, die sich zustimmend auf den Lynchmord an zwei israelischen Soldaten zu Beginn der Zweiten Intifada ab 2000 bezieht; aus Eimsbüttel meldeten Anwohner:innen der Instagramseite Civil-Watch against Anti-Semitism Anfang Juli 2024 Aufkleber mit dem roten Dreieck (der Zielmarkierung der Hamas-Propaganda) und dem Slogan »Bring Them Back to Europe – Decolonize Palestine«. Israelsolidarische oder auch nur antisemitismuskritische Botschaften, sogar Plakate, die an die von der Hamas festgehaltenen Geiseln erinnern, werden abgerissen, beschädigt oder übermalt.
Jegliche israelsolidarische Kundgebung und antisemitismuskritische Veranstaltung hat mit Störungen und mit mindestens verbalen Bedrohungen zu rechnen
Jegliche israelsolidarische Kundgebung und antisemitismuskritische Veranstaltung hat mit Störungen und mit mindestens verbalen Bedrohungen zu rechnen: Im Anschluss an eine Solidaritätskundgebung mit Israel Mitte Oktober 2023 etwa wurden zwei Organisator:innen beschimpft und physisch angegriffen, eine israelische Fahne wurde gewaltsam entwendet; auf einer Podiumsdiskussion in den Bücherhallen Ende Januar 2024 wurden die jüdischen Podiumsteilnehmerinnen als »Nazis« und »KZ-Wächter« beschimpft und physisch bedroht.
Boykotte und alltäglicher Antisemitismus
Konkrete Positionierungen sind dabei zunehmend irrelevant: So war z.B. das Punkfestival Booze Cruise massiven Anfeindungen im Netz und international einem faktischen Boykott ausgesetzt, weil der Veranstalter als »Zionist« und »Gen0cide-Supporter« [sic!] markiert wurde. Seit Anfang Mai 2024 konnte nach US-amerikanischem Vorbild von palästinensisch-nationalistischen Gruppen und Aktivist:innen ein »Protest-Camp« am Rande der Universität Hamburg etabliert werden. Aus dessen Umfeld kam es am 8. Mai im Anschluss an eine antisemitismuskritische Vortragsveranstaltung in der Universität zu einer wohl spontanen, aber gezielten verbalen und physischen Attacke auf ein Vorstandsmitglied der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, wenige Tage später zu einer als Angriff zu verstehenden kurzzeitigen Besetzung der Roten Flora.
Nach einer kurzen Phase medialer Diskussion direkt nach dem 7. Oktober sind die Hamburger Schulen aus dem Fokus der Öffentlichkeit verschwunden. Die Zahl von Anfragen für Antisemitismus-Workshops an Akteure der politischen Bildung ist jedoch seither weiter gestiegen und zumindest an einigen Schulen ist das Niveau der Vorfälle hoch. Wie Lehrer:innen von Harburger Schulen gegenüber Untiefen berichteten reichen diese Vorfälle bis hin zu demonstrativer Verherrlichung des antisemitischen Massenmords und der Bedrohung engagierter Lehrkräfte. Nur Weniges überschreitet die Schwelle der öffentlichen Wahrnehmung: In der Antwort des Senats auf eine Kleine Anfrage in der Bürgerschaft vom November 2023 werden vier Bombendrohungen gegen Schulen »im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt« erwähnt, die von der Polizei jedoch als »keine Gefährdungslage« eingestuft worden seien.
Wie sich deutlich zeigt, eröffnet die Dynamik der Ereignisse – von den Morden, Vergewaltigungen und Entführungen am 7. Oktober in Israel bis hin zum grausamen Kriegsgeschehen in Gaza und dessen medialer Dauerpräsenz – auch in Hamburg Möglichkeitsräume und Gelegenheitsstrukturen für judenfeindliche Aggressionen und Affekte. Gefüllt und genutzt werden diese Räume ebenso im persönlichen Umgang und Umfeld – offline oder online – wie von öffentlichen Akteur:innen.
In der Sache geeint: IslamistInnen und autoritäre Linke
Antisemitismus bezeichnet Judenhass – eine auf Jüdinnen und Juden bezogene Praxis der Gewalt in Wort und Tat und deren gleichzeitige Rechtfertigung, und tritt in allen gesellschaftlichen Schichten und politischen Spektren auf. Der Aussage, Israel mache im Prinzip mit den Palästinensern dasselbe wie die Nazis mit den Juden, stimmte zuletzt 2022 43% der deutschen Wohnbevölkerung zu. Gleichwohl sind es bestimmte Milieus, die gegenwärtig eine hervorgehobene Rolle spielen. Namentlich sind dies islamistische Milieus, Teile der autoritären Linken sowie aktivistische, selbsterklärt »pro-palästinensische« Kreise. Die Chiffre »Palästina« sowie Israelhass und Antisemitismus dienen hier – in jeweils unterschiedlicher Weise – als Agitationsmittel, die einen großen emotionalen Rückhall in postmigrantischen und/oder aktivistischen Milieus versprechen, vor allem unter Jugendlichen und bis in die bürgerlich-liberale Mitte hinein.
Vorfeldorganisationen der islamistischen Hizb ut-Tahrir hatten bereits kurz nach dem 7. Oktober in St. Georg eine »spontane« anti-israelische Kundgebung organisiert. 2024 folgten zwei weitere, angemeldete Demonstrationen, die bundesweit breit thematisiert wurden. Über Social Media als Bilder der Stärke inszeniert, sollen darüber Anhänger mobilisiert und Sympathisanten für eine misogyne, juden- und minderheitenfeindliche, insgesamt islamistische, demokratiefeindliche Agenda gewonnen werden. Autoritär-linke, »rote« oder »kommunistische« Gruppen veröffentlichten zügig Israel dämonisierende Statements (»Der Terrorist heißt Israel» u.ä.) und agitieren entsprechend. Die Bündnisdemo dieses Spektrums zum 1. Mai 2024 wurde weitgehend von palästinensisch-nationalistischen Parolen und Symbolen dominiert. Neben der Mobilisierung dient diese Positionierung als Instrument, um anti-autoritäre Linke im Kampf um Einfluss, Deutungen (v.a. von Antisemitismus) und Kontrolle von Räumen unter Druck zu setzen.
Gegenüber den islamistischen und autoritär-linken Gruppen ist das als aktivistisch umschriebene Milieu deutlich heterogener in Zusammensetzung und Ausrichtung. Anders als diese kann man eine Wirkung in die weitere politische Öffentlichkeit hinein entfalten. Dies gilt auch für organisierte Gruppen der »Palästina-Solidarität« wie Thawra, deren Grundstrukturen bereits länger etabliert sind und die mindestens ideologisch auch Überschneidungen mit den zuvor beschriebenen Gruppen aufweisen. Sie betreiben Kampagnenpolitik und radikalisieren sich in widerspruchsfreien Echokammern wie dem »Protest-Camp«. Wie bereits skizziert, werden entgegen der Selbstbeschreibung als sich der ganzen Macht von Staat und Gesellschaft entgegenstellenden Widerstandskämpfer:innen, vor allem »weiche«, nicht-staatliche und in diesem Sinn ungeschützte Ziele aus Subkultur und Bildungssektor gewählt: Man versucht jedweden linken Protest und jede Struktur vereinnahmend zu kapern und bedroht ein besetztes autonomes Zentrum; man demonstriert regelmäßig gegen eine universitäre Vorlesungsreihe zu Judenfeindschaft und stört diese mehr oder weniger organisiert. (Alles praktischerweise meist nur einen kurzen Fußweg oder eine S‑Bahnstation vom »Protest-Camp« entfernt.)
Israelhass als kultureller Code
Eine wesentliche Zielgruppe dieser nationalistischen Kampagnenpraxis ist ein weiteres, eher diffuses, formal unorganisiertes, aktivistisch-künstlerisches Milieu von Personen an oder im Umfeld von Kulturinstitutionen oder Hochschulen, die sich mehrheitlich als links oder linksliberal verstehen würden. Im Fokus standen in jeweils anderer Weise die Hochschule für bildende Künste Hamburg (HfBK), das Kulturzentrum Kampnagel und seit dem Frühjahr 2024 zunehmend die Universität Hamburg.
Der Kampagnenpolitik im Sinne eines undifferenzierten, kompromisslosen palästinensischen Nationalismus wird im weiteren künstlerisch-aktivistischen Milieu von einer Haltung Raum gegeben, in der das Ressentiment gegen Israel (als Schlagwort: »die Israelkritik«) affektiv verankert ist. Durchaus auch aufgrund dieser jahrzehntealten nationalistischen Kampagnen wie des entsprechenden Erbes der Neuen Linken nach 1968, fungieren die »Israelkritik«, der »Anti-Zionismus«, die Dämonisierung Israels als ein kultureller Code, wie dies die Historikerin Shulamit Volkov benannt hat (2000: 84ff.), d.h. als »Erkennungszeichen der Zugehörigkeit zu einem bestimmten, subkulturellen Milieu« und einer emotionalisierten moralisch-politischen Haltung: Im Mittelpunkt, so Volkovs Analyse, stehen nicht die tatsächlichen Fragen, sondern »der symbolische Wert, ihnen gegenüber einen Standpunkt zu beziehen.« Und heute gilt umso deutlicher was Volkov bereits in den 1980er Jahren festgehalten hatte, dass global anscheinend »die Juden oft zum Symbol für all das geworden [sind][…], was man am Westen gehaßt und verabscheut hat«: namentlich Kolonialismus, Nationalismus und Rassismus, Ausbeutung, Ausgrenzung und Unterdrückung.[1]
Dämonisierender Israelhass muss nicht selbst propagiert werden, sondern dessen Normalisierung als ein kultureller Orientierungspunkt ist das entscheidende Moment, wie es Lukas Betzler an dieser Stelle anhand des Klimafestivals im Januar auf Kampnagel exemplarisch beschrieben hat. In diesem kulturellen Klima aus offener Aggression und bestenfalls verunsicherter Derealisierung angesichts eines »kontroversen Themas« – Antisemitismus und ein politisch komplexer, historisch aufgeladener Konflikt – bilden sich die Möglichkeitsräume und Gelegenheitsstrukturen, die ein Medium von Judenhass in der Gegenwart darstellen.
»Berechtigter« Antisemitismus?
Aufrufe zu Gewalt gegen Jüdinnen und Juden, Israelis, »Zionisten« – auf Social Media oder zumindest einigen Hamburger Schulhöfen immer weniger codiert zu hören –, sind dabei ein Moment. Entscheidender sind die Derealisierung und Konsequenzlosigkeit der für sich sprechenden Taten und Tatsachen, die Verschiebung der Debatte auf den »Antisemitismusvorwurf« statt den Antisemitismus, und die Verweigerung von Empathie gegenüber den Erfahrungen von Jüdinnen und Juden. Entscheidender ist das Misstrauen, das derart entsteht. Die immer hemmungslosere Aggression zieht ihre Ziele – Jüdinnen und Juden; Akteure, die sich gegen Antisemitismus und Israelhass positionieren; beliebige Festivalveranstalter, die ein unterwerfendes Bekenntnis verweigern – mit in Verdacht. In diesem kulturellen Klima prägt sich Antisemitismus als sogenannter sekundärer aus, als Entlastungs- oder Schuldabwehrantisemitismus: Die Opfer werden für Gewalt, Hass und Verfolgung, die auf sie gerichtet werden, verantwortlich gemacht. Oder wie der Soziologe Detlev Claussen in Grenzen der Aufklärung sarkastisch formulierte (2005, XIV): »Unter Antisemitismus wird eine unberechtigte Aggression gegen Juden verstanden; aber berechtigte Angriffe sind denk- und artikulierbar geworden.«
Die Wände und Räume der Stadt sind ein passendes Bild für das, was heute Antisemitismus heißt, die aktuellste Rechtfertigung von antijüdischer Aggression in Wort und Tat: Von jeder Wand muss es herunter schreien. Jeder Raum soll mit der absoluten Gewissheit besetzt werden. Nichts Abweichendes mag noch ertragen werden. Der sich stetig selbst radikalisierende, kompromissunfähige, hoch emotionalisierte Modus der anti-israelischen Camps, Graffitis, Kampagnen und Bekenntnisse enthält das Ressentiment gegen Geist, Dialog und Reflexion und zwingt die unübersichtliche Welt in sein eindeutiges Schema von Gut und Böse. Und von solcher in widerspruchslosen Räumen verstärkten (Selbst-)Gewissheit ist es nur noch ein kurzer Weg dahin, den von den eigenen martialischen Parolen erzeugten Mythos als Rechts- und Machtanspruch in die (Gewalt-)Tat umsetzen zu dürfen, ja geradezu: umsetzen zu müssen.
Man wäge genau ab, wo man hingehe, berichtet eine aus der Ukraine geflüchtete Hamburger Jüdin der taz: »Ich frage mich: Wann werde ich angegriffen?« Die allgegenwärtige, Israel dämonisierende Propaganda, die Vereinnahmung des Raums der Stadt, das kulturelle Klima erzeugen für Jüdinnen und Juden eine Atmosphäre der Bedrohung und des Ausschlusses von Orten ihres Alltags. Gegen die allzu breit akzeptierte, falsche Wahrnehmung zweier gleichermaßen kompromiss- und dialogunfähiger »Gegner« ist festzuhalten: Während die anti-israelischen Aktivist:innen selbsterklärt für ein politisches Anliegen eintreten und die Freiheit reklamieren, Menschen mit abweichenden Haltungen zu bedrohen, wollen Jüdinnen und Juden einfach in Freiheit von solcher Drohung in ihrer Stadt leben.
– Dieser Artikel erschien in einer früheren Version auf vernetztgegenrechts.hamburg –
Florian Hessel, August 2024
Der Autor lebt in Hamburg und hat allzu oft keine Wahl als über diese Gesellschaft und ihren Antisemitismus zu lehren und zu schreiben.
Der Autor dankt Janne Misiewicz und Olaf Kistenmacher sowie der Redaktion Untiefen.
[1] Ähnliches gilt auch für einige postmigrantische, stärker türkisch- oder arabisch-nationalistisch geprägte Milieus. Hier verbindet sich ähnlich wie im Islamismus der einigende, dämonisierende Israelhass mit Ressentiments gegen Minderheiten wie Kurd:innen oder Yezid:innen – gerade wo diese ihre eigene Verfolgungserfahrung im Massaker vom 7. Oktober und dessen Relativierung reflektiert sehen.
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